(c) Oliver Uschmann 2013 - E-Werk

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(c) Oliver Uschmann 2013
Oliver Uschmann
Überleben beim Fußball
Expeditionen am Ball
(VÖ: März 2014, Heyne Hardcore)
(vorläufiger Entwurf, falscher Untertitel)
(c) Oliver Uschmann 2013
Das Buch
Ein Buch der Überleben-Reihe pünktlich zur WM 2014.
Eine Rückkehr zum Format des ersten Teils, Überleben auf Festivals, mit
„Gattungen“ von Spielern, Besuchern, Veranstaltungen, Ritualen auf und
abseits des Feldes sowie satirischen Erläuterungen der wichtigsten
Phrasen beim Reden über das Spiel. Sowie: Kurzporträts von 27 Ländern,
die größtenteils auch in Brasilien mitspielen werden. Kurze, knackige
Karikaturen in Text, die quer durch das Buch von Karikaturen in Bild
begleitet werden, beigesteuert vom bekannten und bissigen Cartoonisten
Michael Holtschulte.
Ein Buch, das der Menschheit mittels humoristischer Überspitzung
wirklich mal erklärt, was ein „Sechser“ oder ein „Neuner“ ist, was es
bedeutet, „gegen den Ball“ zu spielen und wieso man manchen „Krimi“
heute nur noch so anschauen kann, dass man anderen Männern beim
Anschauen zusieht.
Ein Buch, das Aktive und Publikum neu einteilt und erklärt, was ein
„Floh“, ein „Bollwerk“ oder ein „Manischer“ ist, wo die Schiedsrichter
wirklich ausgebildet werden und warum Portugal stets überschätzt wird.
Ein Buch, dessen Material dem Autor so sehr in den Schoß fällt, wie die
vielen markanten Details in Überleben auf Festivals, denn ebenso, wie er
sich ein Leben lang mit Rockmusik beschäftigt hat, hat der Fußball sein
Leben geprägt – auch, wenn dies in den Serien um die Romanhelden
Hartmut sowie Finn nur beiläufig Ausdruck findet und der Schritt in den
Sportjournalismus nie gelang.
Fakt ist: Oliver Uschmann ist ein Fußball-Nerd. Ein Besessener.
Einer, der sämtliche Spieler aller Teams und Länder kennt, alle Phrasen
und Pointen eingeatmet hat und den Tonfall, die Seele, die Faszination
dieser Welt genauso in eine humoristische Hommage zu verwandeln
vermag wie die Rockwelt im ersten Buch.
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Einer, dessen Vater 40 Jahre lang als Spieler und Trainer bis zur
damaligen 3. Liga agierte und seinem Sohn für immer die Erinnerung an
das Klackern von Stollen auf braunen Umkleidefliesen und den Geruch
von Frantz Branntwein an Männerwaden bescherte.
Einer, der die Stimmung und den Vibe in den kleinen Stadien des
Amateursports genauso kennt wie die Facetten der großen Show … von der
obskuren, perfekt zu karikierenden Fachsimpelei am Stammtisch oder bei
der Liga Total! Spieltaganalyse bis hin zu Fankurve und Ultra-Kultur als
letztem Refugium rustikaler männlicher Entfesselung.
Das Buch zieht dabei durch den Kakao, was der Autor selbst liebt. Es
verschreckt die Zielgruppe nicht, sondern erzeugt am laufenden Band
„kenn ich auch, hätte ich aber nie so sagen können!“-Effekte.
Vor allem aber drängt es nach draußen, da sich in Oliver Uschmanns
Leben über 30 Jahre lang Fußballpointen angesammelt haben, die bislang
keinen freien Auslauf bekamen.
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Die Kapitel
Das Buch unterteilt sich in sechs große Abschnitte mit jeweils neun
Kapiteln bzw. 27 Kapiteln im Länderabschnitt.
Die Aktiven
Der 6er * Der 9er * Der 10er * Der Beau * Das Bollwerk * Der Floh
Der Schiedsrichter * Der Torhüter * Die Vision
Das Publikum
Die Alten * Die Couch Potatoes * Der Fachmann * Die Hooligans
Der Manische * Die Menschen auf der Gerade * Die Sänger * Die Ultras
Die VIPs
Die Veranstaltungen
Das 0:0 * Der Abstiegskampf * Die Bolzplatzpartie * Das Finale
Das Kreisligaspiel * Der Krimi * Das Public Viewing * Das Spaßspiel
Das Qualifikationsspiel
Rituale und Phänomene auf und um den Platz
Die Anreise * Das Ignorieren * Das Pleitegehen * Das Reden * Das Rotzen
Das Schrumpfen * Die Schwalbe * Die Verwandlung * Das Warten auf die
Action
Die wichtigsten Phrasen und ihre Bedeutung
„Die Null muss stehen!“ * „Sie müssen die Räume eng machen.“
„Er dringt einfach nicht mehr zur Mannschaft durch!“
„Wichtig ist das Spiel gegen den Ball.“ * „Es gibt keine Kleinen mehr.“
„Wenn er rauskommt, muss er ihn haben!“ * Er kriegt das vom Kopf her
einfach nicht hin!“ * „Auf dem Papier haben sie die bessere Mannschaft.“
„Wenn der runterkommt, ist Schnee dran!“
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Die Länder
Äthiopien * Albanien * Argentinien * Australien * Belgien * Brasilien *
China * Costa Rica * Dänemark * Deutschland * Elfenbeinküste * England
Frankreich * Ghana * Griechenland * Iran * Island * Italien * Jamaika
Japan * Kamerun * Kolumbien * Kroatien * Mexiko * Niederlande
Norwegen * Österreich * Portugal * Russland * Schottland * Schweden *
Schweiz * Spanien * Südafrika * Tunesien * Turks- und Caicos-Inseln *
Uruguay * USA * Wales (wird noch gekürzt)
Sonderkapitel / Nachwort
Es wird eventuell noch ein Schlussteil angefügt.
„1. Verlängerung“
 Ein Gastkapitel zum Thema „Das Derby“ von Rüdiger Alke
„2. Verlängerung“
 Ein kleiner Artikel von mir zum Thema „Fantasiefußball“, der auch im
Core-Magazin steht.
„Elfmeterschießen“
 Eine obskure Liste
Ferner am Ende eine Auflistung aller Orte, an denen das Buch entstanden
ist (Hotels, Imbissbuden, Rasthöfe), da es fast vollständig auf Tournee
geschrieben wurde.
Es folgen nun je drei Kapitel aus jedem Überabschnitt
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Die Aktiven
Der Beau
Stellen Sie sich vor, Uwe Seeler macht Werbung für die Unterwäsche von
Giorgio Armani. Oder Berti Vogts. Lasziv räkelt sich der Terrier in einem
gläsernen Mailänder Studio auf schwarzem Samt, nur bekleidet mit den
eng sitzenden Pants, der Schriftzug stramm an Bertis erotischen Hüften:
Emporio Armani. Ein Mann, der die Welt erobert. Schwer denkbar? Für
David Beckham kein Problem. Der Brite war mal Weltfußballer und ist
jetzt in der Hauptsache Designerinnen-Mann … das ist die Entsprechung
zur Spielerfrau. Wo Spielerfrauen allerdings selten aufs Feld springen,
färbt der Beruf seiner Gattin auf David Beckham ab: Zog er für Armani nur
blank, hat er für H&M sogar eine eigene Unterhosenkollektion entworfen.
Sie heißt David Beckham Bodywear. Bei Berti Vogts hätte sie
wahrscheinlich Papas praktische Schlüpfer geheißen.
David Beckham, der den Männern durch seine krankhaft sorgsame
Körperpflege und seinen ausgeprägten Sinn für Mode rund um die
Jahrtausendwende den manierierten Trend der Metrosexualität bescherte,
ist das Paradebeispiel der Spielergattung „der Beau“. Standen Fußballer
früher für Schweiß und Zotteln, stehen einige von ihnen heute für
gepflegtes Haar und Duft. Hugo Boss bestäubt für seine Kampagne „Stil
über das Spiel hinaus“ die deutschen Nationalspieler Mario Gomez, Lukas
Podolski und Serdar Tasci mit seinen Parfüms. Den Mario mit Boss
Bottled, den Lukas mit Motion White Edition und den Serdar mit Hugo
Man, einem seit 1995 angebotenen Klassiker, dessen Flakon an eine
Feldflasche erinnern soll, um seine Männlichkeit zu betonen. Leider hat
Tascis wohlriechende Männlichkeit nicht zum Dauerstammplatz in der
Nationalelf ausgereicht.
Neben den paradiesisch duftenden Achseln haben Beaus wie Mario Gomez
oder Serdar Tasci auch noch die Haare schön. Das wiederum ist ein Trend,
der auf den ersten, hundertprozentigen Vollbeau der deutschen
Nationalmannschaftsgeschichte zurückgeht: Oliver Bierhoff. Der heutige
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Team-Manager der Nationalmannschaft – von Karl-Heinz Rummenigge
liebevoll „die Ich-AG vom Starnberger See” genannt – hatte zu seiner
aktiven Zeit als Spieler bis zu acht Werbeverträge gleichzeitig; der
berühmteste davon war sicherlich der Deal mit dem Haarpflegegiganten
Wella. Blond gewellt und perlweiß lächelnd teilte er sich den Rasen damals
noch als einziger Beau mit Maurergesicht Dieter Eilts oder
Schießschartenblick Thomas Hässler. Selbst Sturmkollege Jürgen
Klinsmann war als bebender Blondschopf im Vergleich zu ihm nur ein
bäuerlicher Bäckermeister.
Da der Beau vor allem auf seine Frisur und die Unversehrtheit seines
apollinischen Körpers achten muss, arbeitet er auf dem Feld wenig. Er
kann sich nicht leisten, schon nach zehn Minuten wie ein Ackergaul zu
stinken. Zwar gibt es noch kein Geruchsfernsehen, doch er weiß: Kleben
ihm die Haare zu kletschig im Gesicht, greift in der Shampoofirma schon
der Marketingleiter zum Hörer. Eigens für Oliver Bierhoff wurde daher bei
der Europameisterschaft 1996 das „Golden Goal“ erfunden (und danach
sofort wieder abgeschafft) – eine Regel, die dem Beau wie keiner anderen
Spielergattung zu Gute kommt. Durch dieses eine Tor, das ein Spiel in der
Verlängerung sofort entscheidet, kann der Beau als Held in die Geschichte
eingehen, auch wenn er sonst nichts getan hat und seine unattraktiven und
sponsorenfreien Kollegen längst hechelnd am Boden liegen. Mit seinem
goldenen Tor schoss Beau Bierhoff die Deutschen das letzte Mal zu einem
internationalen Titel. Sie dankten es ihm mit dem Amt des TeamManagers und Beteiligungen an rund 500 deutschen Firmen, darunter
allein 27 DAX-Unternehmen. Bierhoffs eigene Agentur managet neben
Meistertrainer Jürgen „Kloppo“ Klopp auch den Koch der deutschen
Nationalmannschaft, Denzel Washington, die Scorpions und Batman. Die
Haare sitzen bei der ganzen Arbeit weiterhin perfekt.
Für aktuelle Beaus ist Oliver Bierhoff daher bis heute ein Vorbild, sportlich
wie finanziell. Zählen kosmetisch herausgeforderte Arbeitsfußballer wie
protestantische Puritaner ihre gelaufenen Kilometer pro Spiel, führt
Gomez darüber Buch, wie viele unnötige Schritte auf dem Platz er
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vermieden hat. Auch, um gegenüber dem Boss von BOSS bei den
jährlichen Sekttreffen in Metzingen belegen zu können, dass er seinen
duftenden Körper nicht unnötig für dieses Fußballspiel ruiniert. Gomez ist
trotz (noch) fehlendem Titel mit der Nationalelf der beste Beau-Erbe von
Bierhoff, gelingt ihm doch mit minimalem Aufwand eine maximale Anzahl
von Toren und somit das, was jeder Beau gleich im doppelten Sinne
perfekt drauf hat: Jederzeit gut auszusehen. Die Beaus im Defensivbereich
haben es damit schwerer. Einem Mats „Orlando Bloom“ Hummels merkt
man an, wenn er den Ball unnötigerweise dem Gegner überlässt, weil er
sich wie jeder Beau lieber der Raum- als der Manndeckung verschreibt,
weil es die Frisur und die Nerven schont. Ein Ansatz, der dem eingangs
erwähnten Berti Vogts sein Leben lang fremd war. Er hing nicht nur als
besessener, kleiner, sabbernder „Terrier“ die ganzen 90 Minuten lang
beißend und kratzend an den Fersen des Gegners – er sah dabei auch
genauso aus. Die Kollektion Papas praktische Schlüpfer hat er nie
entworfen. Er machte Werbung für Danone Obstgarten.
Das Bollwerk
Ich sitze im Bordbistro des Intercity auf dem Rückweg von zwei
Vorlesetagen. Ich will arbeiten, aber ich kann nicht. Ich bin schwach.
Müde, weich und schwach. Durch meine verklebten Augen beobachte ich
meinen Tischnachbarn. Er ist stark. Wach, hart und stark. Auf seinem
stahlgebürsteten Laptop gestaltet er coole Werbelogos in stoischer,
eiserner Konsequenz. Wahrscheinlich hat er in den letzten Tagen weniger
geschlafen als ich, aber er arbeitet. Neben seinem linken Handgelenk mit
der schwarzen Militäruhr, die den Umfang einer Untertasse hat, steht eine
Dose Red Bull. Um seinen muskulösen Hals hängt eine zum Schmuck
umfunktionierte Fahrradkette. Sein schwarzer Kinnbart reicht ihm bis
zum T-Shirt. Er erinnert an einen kaukasischen Krieger oder an den
Gitarristen von Anthrax. Kurzum: Wäre dieser Mann ein Fußballer, würde
er zur Gattung Das Bollwerk gehören.
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Bollwerke sind Männer in der Innenverteidigung, die grundsätzlich ihren
Job machen. Immer. Sie kennen keine Schwäche, keine Müdigkeit, kein
Zaudern. Sie irritieren den gegnerischen Angreifer nicht durch ihre
Schönheit wie der im vorherigen Kapitel vorgestellte Beau, denn sie sind
nicht schön, und sie haben das auch nicht nötig. Ein Mann der Gattung
Bollwerk ist immer schon genau da, wo der Stürmer gerade hinwill, und
der Stürmer weiß: Wenn ich jetzt weiterlaufe, kommen die Schmerzen. Die
fürchterlichen Schmerzen. Der Bollwerkmann muss gar nicht viel mehr
tun, als im Weg stehen. Er ist ein Baum, eine Statue, eine Wand. Rennt
man als Stürmer in ihn hinein, ist jede Berührung so, als fahre man mit
Vollgas gegen einen Brückenpfeiler.
Das beste Bollwerk, das der deutsche Fußball jemals hatte, hieß Jürgen
Kohler, Weltmeister von 1990 und einer jener Männer, die schon mit 25
aussahen, als hätten sie 45 Jahre Lebenserfahrung. Die Wurzeln dieses
Ausnahmeverteidigers liegen beim SV Waldhof Mannheim, einem
Traditionsverein, den heute kaum noch ein junger Mensch kennt, der aber
auch zu seinen Glanzzeiten nicht glänzte, sondern Sinnbild für harten,
unnachgiebigen Arbeitsfußball war. Ein Club, der auch Nationalverteidiger
Christian Wörns hervorbrachte, der rund eine Generation nach Kohler für
Angst und Schrecken im deutschen Hinterland sorgte. Oder Dieter
Schlindwein, genannt „Eisen-Dieter“, der sich beim letzten Spiel seiner
Karriere stilecht mit der roten Karte verabschiedete. Ja, Waldhof
Mannheim, ein Club wie eine Kampfsportschule, die Cobra Kai des
Ballsports. Ein Verein, der die Fremdenlegion beherbergen würde, wäre
sie in Deutschland beheimatet. Ein Verein wie ein Ascheplatz. Jürgen
Kohler jedenfalls hatte als Verteidiger eine Aura wie kein Zweiter. Betrat er
den Rasen, begannen Gegner und Grashalme zu zittern wie australisches
Sensitivgras. Seine Funktion in der Mannschaft nannte man damals nicht
bloß Verteidiger, sondern Vorstopper. Eine Position, die ausgestorben ist
wie der Säbelzahntiger oder der grundehrliche Politiker. Ein Wort wie
gemeißelt: Vorstopper. Will sagen: Ihr könnt ruhig versuchen, uns
anzugreifen, der Jürgen stoppt euch dann schon mal, bevor ihr überhaupt
soweit seid. Jürgen Kohler kannte keine Schwächen, keine Formtiefs.
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Wenn Jürgen Kohler rannte, stand er eigentlich auf der Stelle und drehte
den Erdball unter sich hinweg wie ein Laufband. Wenn er schläft, bleibt
bis heute das Licht an, weil die Dunkelheit Angst vor ihm hat … mal
abgesehen, davon, dass Jürgen Kohler niemals schläft, sondern nur aus
Höflichkeit auf den Tagesbeginn wartet. Jürgen Kohler kann Drehtüren
zuknallen. Jürgen Kohler verzehrt Steaks, ohne vorher die Kuh zu
schlachten. Jürgen Kohler hat bis Unendlich gezählt - zwei Mal! Jürgen
Kohler bringt Zwiebeln zum Weinen. Ist eines Tages seine Zeit gekommen,
wird der Tod nicht den Mut haben, es ihm zu sagen.
Was viele nicht ahnen: Bollwerke sind eigentlich recht sensibel. Wer
Jürgen Kohler jemals in die Augen sah, wird das wissen, nur dass es aus
Furcht nie einer tat. Eine Chance hatte man bei der TV-Übertragung seines
Abschiedsspiels ( S. XY) zum Karriereende am 12. Oktober 2002 in
Dortmund. Da standen dem guten Mann die Tränen der Rührung in den
Augen und auch ich flennte bei diesem Anblick in meiner Bochumer
Studentenwohnung bitterlich, obwohl ich gerade meine heftigste
Männlichkeitsphase hatte: Hinter mir auf dem Schreibtisch standen die
Gesamtausgabe der Werke von Hardcore-Macho-Philosoph Friedrich
Nietzsche und eine Flasche Jack Daniels. Denn so hart die Bollwerke auf
dem Feld auch sind, so liebevoll und sanft sind die abseits der Seitenlinie.
Bernd Hollerbach zum Beispiel, ehemals Hamburger SV. Er war sogar zu
heftig, um Nationalspieler zu werden, schließlich wollte man nicht
zulassen, dass ein Deutscher bei einer Weltmeisterschaft ein paar
Jahrzehnte nach Kriegsende wieder auf freiem Feld fremde Völker
dezimiert. Wo Jürgen Kohler so gut war, immer schon vor dem Stürmer an
Ort und Stelle zu sein, musste Bernd Hollerbach häufig erst noch hin. Der
Stürmer war also schon vorbei und Bernd verfolgte ihn, die nächste
Blutgrätsche im Sinn. Was dann passierte, war oft von solcher
Grausamkeit, dass die ARD bei der Sportschau aus heiterem Himmel
Testbilder einspielte. Zahllose Partien des Hamburger SV wurden damals
von vorneherein erst ab 18 freigegeben. Beim Eingang ins Stadion gab es
Passkontrollen und psychologische Prüfungen auf die seelische
Belastbarkeit der Zuschauer. Bernd Hollerbach war auf dem Rasen die
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Kanonen von Navarrone, der Wirbelsturm Kyrill, der Napalmregen am
Morgen. Und er hatte kein schlechtes Gewissen. Im Gegenteil. Den
Designer seiner Autogrammkarte beauftragte er, ihn als Ritter zu
zeichnen, komplett mit Rüstung. Eine Idee, die sich womöglich der
ehemalige Frankfurter und heutige Herthaner Maik Franz zum Vorbild
nahm, der unter dem Künstlernamen Iron Maik auftritt und auch seine
Webseite so genannt hat. Schaut man sich die genau an, findet man beim
König der roten Karten allerdings einen lieben, treuen Menschen vor, der
seine Freizeit am liebsten mit Frau und Kind verbringt und sich für den
Verein Kinderträume und den Förderverein zur Unterstützung der
onkologischen Abteilung der Kinderklinik in Karlsruhe einsetzt. Bernd
Hollerbach wiederum, so erzählte mir der Bochumer Kultspieler Michael
„Ata“ Lameck einmal aus erster Hand, war „nur auf dem Rasen“ der
gnadenlose Krieger. Pfiff der Schiri ab, war auf Knopfdruck wieder
freundschaftliche Kumpeligkeit angesagt.
„Meine Damen und Herren, in Kürze erreichen wir Bielefeld, der Ausstieg
bitte in Fahrtrichtung links.“
Der bärtige Designer im Bordbistro arbeitet immer noch. Ich hänge in den
Seilen. Wahrscheinlich spielt er privat Basketball. Oder eben, Vorstopper,
auch, wenn es nicht mehr so heißt. Die letzten Bollwerke im deutschen
Fußball bestechen weniger durch Härte, als durch reine Körpergröße. An
einem Per Mertesacker kommt auch keiner vorbei, außer er gehört zur
Gattung „Der Floh“ ( S. XY) und ist so klein, dass der lange Per ihn dort
oben gar nicht sehen kann. Meine Augen fallen zu. Der Grafikgigant zieht
ein neues Red Bull aus der Tasche. Der Wirt will ihm sagen, dass
Fremdverzehr hier nicht erlaubt ist, aber er traut sich nicht. Schließlich
arbeitet der Riese gerade. Das Spiel ist noch nicht abgepfiffen.
Der Floh
Das absolute Gegenteil des Bollwerks ist der Floh. Der Floh tritt in zwei
Varianten auf – der offensiven und der defensiven. In der defensiven heißt
er auch „Wadenbeißer“. Berti Vogts war ein solcher, Untergattung
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„Terrier“. Er setzte sich am Gegner fest und verfolgte ihn wie ein kleiner
Kläffer den Postboten. Wie hartnäckig solche Wadenbeißer sein können,
sieht man auch daran, dass er sich als Trainer die letzten Jahre damit
beschäftigt hat, eine solide Fußballkultur in Aserbaidschan aufzubauen.
Der Wadenbeißer unserer heutigen Nationalmannschaft ist Philipp Lahm,
Untergattung allerdings nicht Terrier, sondern eher Jagdhund, wenn man
bedenkt, wie schnell er zu offensiven Flügelläufen ansetzen kann. Zu voller
Blüte und absolutem Weltruhm gelangen Spieler der Gattung „Floh“
allerdings vor allem als Stürmer oder 9er. Der berühmteste Floh der Welt
ist natürlich Lionel Messi, mehrfacher Weltfußballer und einer der fünf
besten Spieler aller Zeiten. Der 1,69 Meter kleine Supertechniker maß im
Alter von 13 Jahren erst 1,40 Meter und wuchs aufgrund einer
Hormonstörung (Somatotropinmangel) auch einfach nicht mehr weiter.
Seine Eltern wanderten im Alter von 13 Jahren mit ihm nach Spanien aus,
wo ein Jugendtrainer des FC Barcelona das Talent des kleinen Lionel
erkannte und der Club ihm sofort einen Vertrag anbot sowie die teuren
Behandlungskosten für die Hormontherapie übernahm. Seither verzaubert
der Mann, der namensgebend für die ganze Gattung auch von
Sportjournalisten „der Floh“ genannt wird, die Fußballwelt durch seine
unglaubliche Wendigkeit und seine Ballsicherheit bei gleichzeitigem
Tempo. Er umspielt Gegner wie Slalomstangen, dribbelt Verteidiger in ein
Schleudertrauma und läuft an einem Abwehrriesen der Gattung
„Bollwerk“ ein bis zwei Mal auf und ab, bevor er weiterrennt und das Tor
macht. Viele kleinwüchsige Offensivkräfte, die sich als Stürmer nicht
durch körperliche Präsenz oder Kopfballstärke durchsetzen können, haben
sich Lionel Messi zum Vorbild genommen und sich auf die Vollendung
ihrer Spieltechnik konzentriert, so dass auch deutsche Flöhe wie Mario
Götze oder Marco Reus bereits in jungen Jahren zu den teuersten Spielern
der Welt gehören.
Zwei Erkenntnisse lassen sich aus dem evolutionären Aufstieg der Flöhe
im Fußball für das Leben gewinnen.
Erstens: Übung macht den Meister.
Zweitens: Als Meister gilt schon, wer einfach seinen Job macht.
(c) Oliver Uschmann 2013
Erstens: Meister fallen nicht vom Himmel.
Sie entstehen durch Training. Das ist in der Musik so, das ist in der
Literatur so, in der Wissenschaft, im Sport. Wunderkinder gibt es nicht.
Selbst Mozart, der schon mit sechs Jahren seine erste Symphonie
komponierte und für den dieses Wort überhaupt erst erfunden wurde, hat
sich am Klavier die Fingerkuppen wund geübt. Wer als Mathematiker
eines Tages komplizierte Beweise führen will, muss erst mal Jahre lang
studieren, um das Problem, das er zu lösen gedenkt, überhaupt zu
verstehen. Ich für meinen Teil benötigte rund 2.500 Seiten Training, bis
das erste Wort von mir irgendwo veröffentlicht wurde. Der Psychologe
Anders Ericsson prägte die Faustregel, dass man rund 10.000 Stunden
üben muss, um in einer Sache meisterlich zu werden. Jede Stunde mehr
führt einen dann Richtung Genie. Im Fußball ist das offensichtlicher als in
anderen Bereichen. Lionel Messi begann seine Profession mit fünf Jahren
und hat dann ab dem 13. Lebensjahr in der heftigen Mühle des FC
Barcelona im Grunde nichts anderes mehr getan, gesehen, gefühlt und
gedacht als Fußball, Fußball, Fußball. Die großen Talente der Gegenwart
werden nicht mehr als Teenager irgendwo auf der Straße entdeckt,
sondern durch sehr früh greifende Züchtung direkt bei den Spitzenclubs
ausgebildet. Pionierarbeit leistete hier die Akademie von Ajax Amsterdam,
in der alle Schüler konsequent das Gleiche einüben: Technischen und
kreativen Offensivfußball im Spielsystem 4-3-3. Selbst für Schriftsteller
gibt es heute einen sichere Methode, auf geradem Weg vom Jungtalent zur
Buchmessen-Attraktion zu werden: Sie studieren Poetik an den
Literaturinstituten von Tübingen, Hildesheim oder Leipzig und haben mit
diesem Diplom im Rücken den ersten Buchvertrag so gut wie in der
Tasche. Wer zielstrebig ist, fleißig bis fanatisch und clever genug, beim
Üben auch zu lernen (!), der wird seinen Weg machen. Ob er dann auch
noch den letzten Funken hat, um in die absolute Weltspitze vorzustoßen,
ist eine andere Frage. Als gut bezahlter Profi von seinem Können zu leben,
wird allerdings zu 99,9% gelingen. Im Grunde ist es wie in der Musik:
Technisch bräsige Sänger, Gitarristen oder Schlagzeuger können durch
ihren ureigenen Stil oder eine dramatische Lebensgeschichte ihren Weg
(c) Oliver Uschmann 2013
machen und sogar Legenden werden: als einer von tausend. Technisch
virtuose Musiker werden ohne Seele in ihrem Spiel zwar häufig nicht zur
Legende, machen aber auf jeden Fall ihren Weg in der Branche, weil man
sie unbedingt braucht. Was uns zum zweiten Punkt führt.
Zweitens: Fehler vermeiden reicht schon.
Was macht eigentlich so ein Lionel Messi, das uns immer wieder
verzaubert? Was löst diese Glücksgefühle aus, ihn einfach spielen zu
sehen? Es ist die simple Tatsache, dass er die Dinger reinmacht! Dabei
sollte das für einen gut bezahlten Stürmer eigentlich selbstverständlich
sein, oder? Ist es aber nicht.
Bei „Meistern“ im Handwerk findet sich unter zehn Malern, Installateuren,
Automechanikern oder IT-Fachleuten immer nur einer, der wirklich weiß,
was er tut und perfekte Arbeit abliefert. Die anderen stehen mit den
Händen in den Hüften im Hausflur und sagen: „Besser geht das nicht bei
der verwinkelten Decke.“ Oder: „Wenn Sie den Herd nicht sachgemäß
nutzen, kann ich auch nichts dafür. Was kochen Sie auch so viel?“ Meine
Frau und ich haben schon Zimmerleute erlebt, die ein Parkett abschleifen,
als ob sie sich zum Nachbarn durchfräsen wollen und Server-Anbieter, die
aus Versehen 250 Foren löschen. Im Zivildienst arbeitete ich für einen
Arzt, der was konnte und einen, der nett war. Auf der Autobahn verlor
meine Frau fast mal ein Rad, weil der Mechaniker vergessen hatte, alle
Schrauben fest anzuziehen. Bei einem Langstreckenflug USA Großbritannien sind Ende September 2012 beide Piloten einfach
eingeschlafen, da sie anscheinend der Auffassung sind, fliegen wäre in der
Luft nicht unbedingt die wichtigste Aufgabe. Im letzten Hotel, in dem ich
unterkam, konnte ich mit meiner Zimmerkarte alle (!) Türen öffnen, da die
Rezeptionistin beim Codieren des Streifens offensichtlich überfordert war.
Und die beste, die mit Abstand großartigste Zusammenfassung deutscher
Dienstleistungsmoral hörte ich von einer Bäckereifachverkäuferin in der
Shopping Mall FORUM am Bahnhof von Wolfenbüttel. Die Dame
antwortete auf eine Brötchenbestellung mit den Worten: „Ich bin nicht da,
ich will nach Hause!“
(c) Oliver Uschmann 2013
Profifußballer werden geringfügig besser bezahlt als
Bäckereifachverkäuferinnen, spielen aber ebenfalls häufig so, als wollten
sie sagen: „Ich bin nicht da, ich will nach Hause!“ Verteidiger spielen ohne
Not einen Rückpass zum Torwart, der im Fuß des Gegners landet.
Mittelfeldspieler verlieren den Ball an den Gegner, weil sie gerade Siesta
halten wie spanische Piloten. Stürmer ballern selbst bei so genannten
hundertprozentigen Chancen den Ball über das Tor und werfen danach
brüllend den Kopf in den Nacken, als könne der Fußballgott ( S. XY)
dort oben im Himmel was für ihre Inkompetenz. Es ist wie bei den
„Meistern“ des Handwerks: Läuft ein „professioneller“ Stürmer alleine auf
den Keeper zu, kann man sich als Fan oder Trainer noch lange nicht sicher
rein, dass er trifft. Anders bei Menschen wie Messi. Sie heben den Ball mit
der Fußspitze über den Torwart oder tanzen ihn aus, manche von ihnen
spielen vor lauter Unterforderung kurz vorm Tormachen einfach noch
einen Doppelpass mit sich selbst. Sie machen ihren Job. Fehlerlos. Immer.
Und sie sind meistens Flöhe.
Der einzige Mensch in unserem Leben, der stets einen herausragenden Job
ohne Ausfälle macht, ist eine Frau. Unsere Zahnärztin Dr. Carla Hellkuhl
aus Lüdinghausen hat sich unter sämtlichen Dentisten Deutschlands als
die größte Virtuosin am Angststuhl erwiesen. Schrieben meine Frau und
ich jemals ein Buch mit dem Titel Kompetenz – das rarste Gut der Welt,
bekäme sie das erste der zwanzig Kapitel. Frau Dr. Hellkuhl ist ein „Floh“,
zu dem wir aufsehen … und das nicht nur, weil sie die perfekte Größe für
ein Laufstegmodel hat.
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Das Publikum
Die Couch Potatoes
Die am meisten verbreitete Art, in Deutschland Fußball zu gucken, besteht
darin, sich faul auf dem Sofa zu fläzen und dabei über die müden Beine der
Sportler zu schimpfen. Ob nun Männerfreunde in Trikots, den Blick
gebannt auf dem Plasmafernseher und die Bierflaschen auf den
aneinandergepressten Schenkeln abgestellt, Rentner in Wintergärten und
Vorzelten auf Campingplätzen oder ganze Familien mit Vätern, Onkeln
und Opas, über deren breite Schultern kleine Jungs klettern wie
Kapuzineräffchen: Eine Gruppe von Menschen vor der grün gefärbten
Glotze ist das Bild, das Außerirdische zu sehen bekommen sollten, um
einen Einblick in unsere Gesellschaft zu bekommen.
Zoomen die Aliens mit ihrer Analyselupe aus den Wohnzimmern und
Wintergärten wieder heraus und auf die Straße zum gleichzeitig
stattfindenden Public Viewing stellen sie erstaunt fest, wie sehr sich die
Stubenhocker von den Frischluftfanatikern unterscheiden. Die Couch
Potatoes heißen schließlich nicht umsonst Sofakartoffeln. Sie erhielten
ihren Namen einst aufgrund ihrer Körperform, die von abenteuerlichen
Asymmetrien geprägt ist. Straffer Bierbauch und schlaffe Oberarme,
fleischige Wangen und kaum auf gleicher Höhe stehende Augen, Haare in
Nase und Ohren, fliehende Stirn, die riesigen Füße untergebracht in
Badeschlappen von der Größe illegaler Flüchtlingsbote. Kurzum: Die
Couch Potatoes bilden den körperlichen Normalfall, man könnte sie ihrer
Physis nach genauso gut „Couch Kürbisse“, „Couch Avocados“ oder „Couch
Turnbeutel“ nennen. Sie sind das absolute Gegenteil der schönen,
strahlenden, lachenden, athletischen und werbespottauglichen Menschen,
denen beim Public Viewing ( S. XY) das Betreten der Fanmeilen erlaubt
wird, um attraktive Bilder fürs Fernsehen zu kriegen; all dieser
durchtrainierten Werbetexter und Sonnenmilch-Models aus Berlin-Mitte,
die mit Fußball gar nichts am Hut haben und speziell für Spiele der
deutschen Nationalmannschaft gecastet werden, während die Couch
(c) Oliver Uschmann 2013
Potatoes sich alles ansehen, was ihnen einen Grund gibt, auf dem Sofa
sitzen zu bleiben – von der „besten zweiten Liga der Welt“ bis hin zu
Übertragungen publikumsfreier Regionalligaspiele in Niedersachsen durch
Sondersendungen des NDR.
Dabei sind die Sofakartoffeln gar nicht mal so unbeweglich, wie es in den
ersten acht Minuten einer Partie scheinen mag, wenn die Teams auf dem
Platz sich noch gemächlich abtasten und auf dem Sofa erst ein halber Liter
Bier und 300 Gramm Chips ihren Weg in den Leib der menschlichen
Kartoffel gefunden haben. Nimmt das Spiel Fahrt auf, entstehen
schließlich unter den faulen Fläzenden Regungen und Verwirbelungen, als
rühre ein Sturm im vorher windstillen Gewässer. Die Couch Potatoes
geraten in Erregung und vollführen je nach Spielverlauf mehrere Dutzend
Male einen der folgenden Moves:
Hard Headshaking
Auslöser:
Fehlpass, unschlüssiger Pass, Rückpass auf Torwart
Bewegung:
Zurücklehnen des Oberkörpers und starkes Schütteln des
Schädels in einer Weise, als wolle man freihändig eine lästige
Brille loswerden.
Shake & Snort
Auslöser:
Vergebene Torchance, „unberechtigte“ gelbe Karte
Bewegung:
Heftiges Kopfschütteln plus lautes, sehr speichelintensives
Prusten. Benetzt im Laufe des Abends sämtliche Möbel,
Flaschen und Mitmenschen mit einem feinen Film aus
Speichel und Mundsud.
Hand Thrower
Auslöser:
Vergebene Torchance, „unberechtigte“ rote Karte
Bewegung:
Die Hände werden beide gleichzeitig mit einem heftigen
Ruck nach vorne geworfen, als wolle man sie von den
ausgestreckten Armen abschießen wie zwei Extrawaffen, die
in den Fernseher auf das Feld fliegen, den Schiri abwatschen
und ähnlich eines Bumerangs wieder zurückkommen.
(c) Oliver Uschmann 2013
Headhand Drums
Auslöser:
Vergebener Elfmeter, unerwartete Niederlage kurz vor
Schluss
Bewegung:
Die Hände werden zunächst mit beiden Handflächen flach
vor die Stirn geklatscht. Danach wandern sie schnell weiter
auf den Kopf, wo die Finger entweder das Resthaar rupfen
oder einfach nur rhythmisch auf den eigenen Schädel
einschlagen, während aus den Mündern unbegreifliche
Flüche und Laute entweichen.
Diese vier Standard-Moves sind selbstverständlich in Stärke, Dauer und
Intensität variierbar und können in besonders dramatischen
Spielsituationen zu sogenannten „Combos“ zusammengeführt werden, wie
man sie aus Kampfvideospielen kennt, wo es für direkt
aufeinanderfolgende Aktionen glitzernde Bonuspunkte hagelt.
Die Couch Potatoes drücken ihre Empörung über das Geschehen auf dem
Feld nicht nur durch das Ausführen schwungvoller Moves aus. Sie
begleiten die Partie gleichzeitig mit verächtlichen Kommentaren. Dies ist
ein weiterer Unterschied zu den Happy-Go-Lucky-Figürchen beim Public
Viewing, die bereits einen einfachen Pass von Sami Khedira wie ein Tor
bejubeln, weil Sami sie mit seiner Frisur an sie selbst erinnert und auch
gut an einem sonnigen Freitagnachmittag im Alfa Romeo-Cabrio vor der
Agentur vorfahren könnte. Als Kenner und Könner im Geiste sind die
Couch Potatoes wie strenge Väter aus den Fünfzigern – sie kritisieren
lieber Hundert Mal, bevor sie einmal loben. Zugleich aber betrachten sie
wie der strenge Nachkriegsvater damals seine elf Söhne, jeden Spieler auf
dem Platz als ihre eigene Familie. Daher sagen Couch Potatoes im
Gespräch über die Fußballprofis auf dem Bildschirm sogar dann
manchmal „wir“, wenn diese kolossal gescheitert sind. Das ist
ungewöhnlich, da es in Deutschland eher üblich ist, das „wir“ nur bei
großen Erfolgen zu verwenden. „Wir sind Papst!“, lautete die legendäre
Schlagzeile der BILD nach der Wahl Joseph Ratzingers zu Gottes
(c) Oliver Uschmann 2013
Stellvertreter auf Erden. Als dieser kündigte, war allerdings nirgendwo ein
Aufmacher „Wir treten zurück!“ zu finden. Im Fußball läuft es häufig
gleich. „Wir sind im Finale!“, freut sich das Land und beim Gegenteil: „Die
Mannschaft ist rausgeflogen!“ Unter väterlich strengen Sofakartoffeln hört
man jedoch tatsächlich Sätze wie: „Wie können wir da in der 15. Minute so
sträflich die linke Seite offen lassen???“ oder: „Mit so einer Einstellung,
wie wir sie heute an den Tag gelegt haben, fliegen wir schon in der
Vorrunde raus!“ Am Ende sind sie sich – den Bierkasten geleert und die
Hauskatze knisternd in den leeren Chipstüten nach Restkrümeln nestelnd
– bei sanftem Vibrieren des Bauchfetts und der hängenden Wangen sicher:
„Da war heute von uns überhaupt keine Laufbereitschaft zu sehen! Keine
Laufbereitschaft. Mann, Mann, Mann …“
Meine größte Zeit als Couch Potatoe hatte ich in meinem ersten Jahr als
Student. Ich hauste in einem Wohnheim, das von außen wie ein kleiner
Borgwürfel aus Star Trek aussah – ein quadratischer, asbestverseuchter
Klotz mit Fenstern, komplett verschalt mit schwarzen Schieferplatten. Das
Sofa für mich und die anderen Kartoffeln stand in der Wohnheimbar im
Erdgeschoss. Wir schrieben die Neunziger. Es waren unschuldige,
urtümliche Zeiten, in denen der Wirt der Wohnheimkneipe noch keine
Bollywood-Filmnächte oder ironisch gebrochene Marathonsessions
südamerikanischer Seifenopern veranstaltete, sondern mit mürrischen
Mundwinkeln und Aufnähern von Rot-Weiß Essen auf seiner Jeansjacke
(womit die Mundwinkel erklärt wären …) hinter dem Tresen stand,
halbherzig Gläser putzte und jedes Fußballspiel über Premiere (so hieß
damals Sky) laufen ließ, das er finden konnte. Die Couch Potatoes und ich
hingen derweil in dem brutal ausgeleierten Sofa, das einen mangels
Federung bis auf den Kneipenboden sacken ließ. Ein gnadenloses
Möbelstück. Da der Hintern darin tiefer sackte als die Oberschenkel,
hatten großgewachsene Kartoffeln Mühe, an ihren eigenen Beinen vorbei
zum Fernseher zu schauen. Die hoch angewinkelten Beine hätten für einen
guten Blick weit nach links und rechts abgespreizt werden müssen, wo ihr
Raum allerdings durch die Beine des Nebenmanns oder die hohe
Sofalehne begrenzt wurde.
(c) Oliver Uschmann 2013
Saß man einmal drin in dieser schicksalhaften Kuhle aus Stoff und Muff,
war ein Aufstehen aus eigener Kraft im Grunde nicht mehr möglich. Diese
Tatsache kam mir gut gelegen, als ich eines Tages aufgrund privater
Probleme und pechschwarzer Bedrückung beschloss, in die innere
Emigration auszuwandern. Ich schloss im vierten Stock des Wohnheims
mein Zimmer ab, blieb noch einen Augenblick an der Klinke stehen,
atmete schwer aus, ging die Treppen hinab in die Bar, versank im Sofa –
und blieb. Ich verschmolz mit dem Sofa wie ein Insekt, das im Maul einer
gigantischen Kröte langsam zersetzt wird und sah nur noch kleine
Fußballer, wie sie entlang meiner Kniescheiben schossen und
gestikulierten. Ich aß nicht, trank nicht, während mein Blick zu den
unwirklichsten und unwichtigsten Spielen wanderte, die das Nischen-PayTV hergab. Nach Norwegen in die vom Eisregen durchtoste Tippeligaen.
Zu Freundschaftsspielen zwischen Chile und Bolivien auf dem
südamerikanischen Kontinent. In winzige Stadien von Siegen, Burghausen
oder Ahlen, in denen irgendein Lokalsender zwei Kameras aufgestellt
hatte. Die ersten paar Tage fanden alle es lustig und skurril. Wechselnde
Gäste setzten sich neben mich, inspizierten meinen starren, auf den
Fernseher gehefteten Blick, zogen an meinen Ohrläppchen und zogen mir
an der Nase und den Brustwarzen. Nach einer Woche hörte ich im
akustischen Nebel hinter dem Stadion Gespräche über „Polizei“,
„Psychiatrie“ und „Angehörige“. Mitte der zweiten Woche richtete der Wirt
seine ersten wirklich ernsten Worte an mich. Sie klangen gehaltvoller als
sein gewohntes Gemurre, ich glaube, er hatte hinter seiner harten Fassade
überhaupt noch nie so intim mit jemandem gesprochen. Seine Sorge
verpackte er in typisch männlichen Humor, eine Art kecken Fatalismus.
Das Sofa sei „eh schon hin“, hörte ich ihn sprechen, „das muss sowieso
raus, aber ich kann dich nicht mit auf den Sperrmüll packen“. Dem
widersprach ich und sagte ihm, er dürfe mich ruhig auf die Straße stellen,
so wie ich verwachsen bin mit dem Sofa. Ich hatte so viele Sorgen, ich
würde dann im Regen einfach auf meine Entsorgung warten. Gesagt,
getan. Der Wirt holte sich die Hilfe zweier hochgewachsener HispanistikStudenten aus der Appartementwohnung im Erdgeschoss, wuchtete mich
samt Sofa auf die Wiese am Rande des Bürgersteigs, wartete noch ein paar
(c) Oliver Uschmann 2013
Sekunden mit in die Hüfte gestemmten Armen ab und ging dann
kopfschüttelnd wieder ins Haus. Derart fußballfrei geworden und ohne
Input durch den durchkickenden Fernseher, hatte ich Gelegenheit, im
Wechsel der Wetter und der Gezeiten über meine scheinbar hoffnungslose
Lebenslage nachzudenken. Nach einer Weile – die Sonne briet täglich das
alte Sofaleder und der Regen weichte es wieder auf – kam der Wirt erneut
aus dem Wohnheim, strich sich mit der linken Hand durch den
Dreitagebart, so dass es klang wie eine Bürste auf einer groben
Wohnwagenfußmatte und hielt mir mit der rechten ein Buch hin. „Hier“,
sagte er, „vielleicht findest du darin eine Lösung.“ Mit gegerbtem Gesicht
blinzelte ich in die Sonne, die Silhouette des Wirtes darin wie ein Schatten,
und nahm das Buch. Es war ein Sammelband mit Fußballersprüchen. Und
nach drei weiteren Tagen – die Ratten knabberten nachts schon an meinen
Zehnägeln – fand ich ihn. Den einen Satz, der alles relativierte, was mir
Sorge und Gram bereitete. Den einen Satz, der mich bis heute beschäftigt
und trägt, da ich ihn in seiner endlosen Weisheit niemals vollständig
begreifen werde, der aber eine Ahnung in sich trägt, die bereits reicht. Ein
Gefühl, als habe man durch ihn beinahe alles verstanden, als fehle nur
noch ein Schritt. Er stammt von unserem deutschen Kaiser, Franz
Beckenbauer, und er lautet:
„Der Grund war nicht die Ursache, sondern der Auslöser.“
Ich klappte das Buch zu, stand auf, ging in die Bar, setzte mich an die
Theke, orderte ein Bier, schaute zum Fernseher und fragte den Wirt, als sei
nichts gewesen: „Na? Was wird gespielt?“
Die außerirdischen Beobachter ziehen aus derlei verschiedene Arten, auf
Sofakartoffelweise Fußball zu schauen, den Schluss: Der (männliche)
Homo Sapiens braucht die kleinen Männchen im Fernsehen entweder, um
miteinander nicht über seine Sorgen reden zu müssen oder, um alleine
nicht über seine Sorgen reden zu müssen. Ein letzter, sportlicher Aspekt
aber entgeht den Aliens bei dieser durchaus richtigen Schlussfolgerung: Es
sind die meckernden, mosernden, Moves machenden Couch Potatoes, die
(c) Oliver Uschmann 2013
tatsächlich als Einzige auf dem Planeten das Geschehen während des
Spiels korrekt zu deuten vermögen. Während der Schiedsrichter nie alles
gleichzeitig sehen kann, die Fans im Stadion parteiisch und abgelenkt
sind, die Spieler lügen und die Moderatoren trotz bester ihnen
vorliegender Bilder in Gedanken längst ihren nächsten Satz planen, haben
die Sofakartoffeln den Blick und die Ruhe, Zeitlupen und
Naheinstellungen präzise zu deuten. Bevor die FIFA also noch Jahre
benötigt, um den Chip im Ball oder den Videobeweis zu erlauben, kann sie
auch gleich in Zusammenarbeit mit den Herstellern neuer Smart-TVGeräte eine spezielle Couch-Potatoe-Beteiligungs-Fernbedienung erfinden,
bei der Millionen von Kartoffeln dem Schiedsrichter bei einer schwierigen
Entscheidung per Blitzvoting zur Hand gehen. Im Falle einer Abstimmung
von 98% zu 2% für den Elfmeter der deutschen Nationalmannschaft im
Finale trotz offensichtlicher Schwalbe durch einen doppelt
eingesprungenen Kruse darf der Schiedsrichter dann immer noch sein
Veto einlegen. Alles in allem jedoch würde die geballte Aufmerksamkeit
und Intelligenz des ebenso faulen wie fanatischen Schwarms den Fußball
in ganz neue Dimensionen führen.
Die Menschen auf der Gerade
Im Sommer tragen sie saubere Kurzarmhemden von Sinn Leffers oder
Peek & Cloppenburg. Im Winter ziehen sie die leicht angegrauten Köpfe
zwischen die Krägen ihrer schwarzen Fleece-Mäntel und pusten mit
spitzen Lippen auf die dampfende Stadionwurst. Sie sind friedlich und
freundlich. Sie sind alte Männerfreunde mit stabilen Ehen und
erwachsenen Kindern. Töchtern, die Sabrina heißen oder Celine und die in
Spanien Wirtschaft studieren oder wenigstens Pädagogik in Münster. Sie
sind aber auch Familien mit Oma, Opa, Eltern und Enkel, die einfach so
ins Stadion kommen und vorher nicht das Ritual der Verwandlung ( S.
XY) durchlaufen. Manchmal sieht man unter ihnen sogar Männer, die
alleine im ergonomischen Schalensitz hocken – ohne Freunde, Kind und
Kegel – und sich in Ruhe das Spiel anschauen, als müssten sie sich von
etwas oder von jemandem erholen. Sie sind Väter mit erwachsenen
(c) Oliver Uschmann 2013
Söhnen, die sich nach Jahren wieder annähern, indem sie gemeinsam ins
Stadion gehen. Sie sind Cliquen von Freundinnen, die statt ins Shopping
Center in die Fußballarena fahren, weil sie privat selber spielen und, wenn
sie ehrlich sind, am Samstag am liebsten hochklassige Männerspiele
sehen. Sie sind alle: Die Menschen auf der Gerade.
Die Gerade mit den vielen Sitzplätzen ist im Stadion das, was das
Wohnviertel mit den Einfamilienhäusern oder Doppelhaushälften in der
Gesellschaft ist. Die bürgerliche Mitte. Die Menschen auf der Gerade
haben weder mit der reichen Elite hinter den Fenstern der VIP-Lounge zu
tun noch mit der Basis der singenden, tobenden und Fahnen
schwenkenden Fans in der Kurve oder gar der Subkultur der Ultras. Die
Menschen auf der Gerade wollen nicht auffallen und machen alles in
einem gemütlichen Modus. Bier holen, Wurst essen, das Stadionklo
aufsuchen, selbst während der Partie – sie haben keine Angst mehr, etwas
zu verpassen und bewegen sich mit der Gelassenheit von Koala-Bären oder
Wasserbüffeln. Die Menschen auf der Gerade lassen sich nicht hetzen. Sie
sind angekommen. Begibt man sich zwischen sie, sollte man genau das
Gegenteil von dem tun, was in der Kurve angesagt ist. Wo man dort
negativ auffällt, wenn man nicht singt, grölt, springt und flucht, ist Ruhe in
der Gerade genau das Richtige. Nur wenige tragen hier einen Fanschal
oder ein Trikot, um sich zu einer Mannschaft zu bekennen und selbst
wenn, springen sie bei einem Tor des eigenen Teams nicht sofort auf,
rammen der vor ihnen sitzenden Lehrerin die Kniescheibe in den Nacken
und brüllen, auf dass die Spucke über die Fleece-Mäntel fliegt: „Ihr –
könnt – nach – Hause fahren, ihr könnt nach Hause fahren, ihr könnt, ihr
könnt, ihr könnt nach Hause faaaaaaaaaaaaaaaaahrn!!!“
Wer sich eine Karte für die Gerade kauft, muss sich einfach vorstellen, er
ginge gar nicht in ein Fußballstadion, sondern auf den Weihnachtsmarkt.
Die geruhsame Art, mit der man dort plaudernd vor dem Glühweinstand
steht, mit vereinzeltem Lachen und Nicken, Grüßen und Grinsen – sie ist
genau angemessen für die wohltemperierte Stimmung auf den
kultivierten, geordneten Sitzplätzen.
(c) Oliver Uschmann 2013
Jetzt kann man natürlich sagen: Was will man in einem Stadion mit ein
paar Tausend Schlaftabletten, die sich höchstens bei Weltmeisterschaften
dazu bewegen lassen, eine Laola mitzumachen, sich ansonsten aber
während der Partie so unparteiisch und unaufgeregt über das Spiel
unterhalten, als ginge es dabei um nichts und als wäre es ihnen tatsächlich
Recht, wenn „der Bessere“ am Ende gewinnt? Wofür braucht man diese
Menschen?
Weil das Leben dialektisch ist.
Will sagen: Es gibt keinen Tag ohne die Nacht. Das Salz wäre ohne Suppe
ungenießbar. Klänge alles wie Heavy Metal, wäre nichts mehr wirklich
hart. Und ohne Spießer existierten keine Rebellen.
Das gilt sogar für das Wohnviertel, in dem meine Frau und ich leben, als
kleiner Welt für sich. Unser Haus liegt an einem Ende der
verkehrsberuhigten Zone, es ist sozusagen die Südkurve, von der aus wir
auf die zwei geraden Tribünen schauen, die von den Häusern der
Nachbarn rechts und links des Pflasters gebildet werden, unterbrochen
nur von der Zufahrt durch die Querstraße. Am anderen Ende des Weges
liegt dann wieder ein Anwesen, die Nordkurve sozusagen. Die Leute, die
dort leben, kennt niemand so richtig. Sie haben ihren Teich mit einem
Sonnensegel aus militärischer Tarnfleckplane überspannt und statt
Blumen oder Rosenstöcken stehen bei ihnen Stahlskulpturen im
Steingarten. Uns kennen die Nachbarn durchaus, halten uns aber
trotzdem für komisch. Für anders. Sind wir ja auch. Die Nachbarn von den
zwei Geraden, sie arbeiten ganz normal. Als Krankenpfleger, Lehrer,
Polizisten, Buchhalter. Und sie sind Mitglied in allen dörflichen Clubs.
Schützenverein, Tennisverein, Heimatverein. Meine Frau und ich sind
nirgendwo Mitglied und „arbeiten“ kann man das, was wir machen, aus
Sicht dieser Menschen auch nicht nennen. Was soll das? Bücher
schreiben? Die meiste Zeit sehen die Nachbarn mich, wie ich im Garten
mit mir selbst Fußball spiele oder den Kater aus dem Apfelbaum pflücke,
während Sylvia in ihrem virtuellen kleinen Dorf im Videospiel Animal
Crossing auf dem Nintendo DS ihr Haus verschönert, Spekulation mit
Rüben betreibt und einen seltenen Skorpion jagt oder, wahlweise, oben in
(c) Oliver Uschmann 2013
ihrem Atelier mit großem, farbverschmierten Kittel abstrakte Motive auf
die Leinwand bringt oder am Schreibtisch über den schwersten
Logikrätseln der Menschheit grübelt, die sie mit ihrem IQ braucht, denn
beim Verein Mensa Deutschland für Hochintelligente, da ist sie Mitglied.
Ich übrigens nicht. Ich bin Hochbegabtinnengatte. Wir jedenfalls,
„die komischen Künstler“ am einen und die Militärsegelfreaks am anderen
Ende der Straße sind sozusagen die Ultras des Alltags, von den Nachbarn
auf der Gerade gleichermaßen mit Respekt wie mit Skepsis beäugt.
Denn – schaut man im Stadion einmal ganz genau in die Augen der
sanften Sitzplatzreservierer stellt man fest, dass ihr Blick hin und wieder
weg vom Spiel Richtung Fankurve wandert. Dann schauen sie sich an, wie
die wilden Horden dort aus sich herausgehen und bekommen heimlich
unter ihren Hemden und Mänteln eine Gänsehaut. Sanft legen sie den
Kopf zur Seite und drehen ihr Ohr den wuchtigen Schallwellen entgegen,
die aus den Kehlen und Trommeln der Ultras branden, während sich
gigantische Banner entfalten oder sogar bengalische Feuer gezündet
werden, die die Menschen auf der Gerade offiziell ganz böse finden
müssen, während sie tief in sich drin dieses Brennen im Bauch spüren,
dieses Feuer, das sie nicht mehr ausleben, weil sie „vernünftig“ geworden
sind, Menschen von Maß und Mitte, die Fußballfreund gewordene
Dreieckshandflächengeste von Angela Merkel.
Das Schöne beim Fußball ist, dass jeder in der Geraden dieses Feuer
ausleben und wieder den Platz wechseln könnte. Schon nächsten Samstag
könnte er sich verwandeln, die Fanklamotten entstauben, Position
beziehen, eine Stehplatzkarte kaufen, die Stimme mit Wicküler und
Whiskey vorschmieren und einfach wieder grölen, als wäre seine wilde Zeit
gestern gewesen. Und die Menschen bei uns im Viertel, sie könnten sich an
den Schreibtisch setzen und über die verrücktesten Erlebnisse im Dienst
Bücher schreiben oder uns aufs Diktiergerät sprechen, damit wir es für sie
tun. Oder sie könnten alle nervigen Büsche aus ihrem Garten reißen,
stattdessen Steine legen, Störche aus Stahl aufstellen und einen
Fahnenmast in den Boden rammen, an dem sie jeden Tag eine
(c) Oliver Uschmann 2013
vollkommen unsinnige Flagge hochziehen, nur um endlich mal verrückt,
seltsam und anders zu sein. Umgekehrt kann jeder, der der Kurve müde
ist, Schal und Kutte gegen Fleece-Kragen und Hemd tauschen, seine
Stimme schonen und in die Gerade wechseln.
Hauptsache ist, dass es neben denen an den Rändern und in den Kurven
auch immer genug Menschen auf der Gerade gibt. Denn ohne die Geraden
als stabile Seitenwände, da bräche wohl das ganze Stadion zusammen.
Die Hooligans
Ich muss gestehen: Ungefähr ein Jahr lang war ich ein Hooligan.
Keiner wusste davon. Denke ich heute an diese Phase meines Lebens
zurück, reibe ich die Kerbe, die mein Kinn unter dem Ziegenbart spaltet.
Wir trafen uns mit anderen auf Wiesen und Parkplätzen, im Stadtpark und
hinter Turnhallen. Zwanzig Leute, ungefähr, auf jeder Seite. Erlaubt waren
Fäuste, Füße, Stöcke und Knüppel. Keine Messer, kein Glas, aber auch
keine Baseballschläger, die den Hooligans so gerne im Kopf
klischeeverseuchter Zeitungsredakteure angedichtet werden.
Die Momente auf dem Weg zum Ort des Geschehens waren fast genauso
gut wie der Kampf an sich. Blieb uns ausreichend Zeit, liefen wir sogar
Umwege, damit es länger dauert. Damit wir ein paar Minuten mehr das
Gefühl auskosten konnten, durch die ganz normale Welt mit ihren
Tankstellen und Fahrradständern und Blumenkästen zu laufen und dabei
aber kein ganz normaler Teil mehr von ihr zu sein. Alles um uns herum
verwandelte sich in diesen Augenblicken in ein Spielfeld, einen Parcours,
ein Filmset für eine Schlacht mit echtem Blut. So, wie es besonders reizvoll
ist, wenn es für einen Ego-Shooter wie Counter Strike eine Map rund um
einen Supermarkt von ALDI gibt und sich ein Ort, in dem „zivilisierte“
Menschen einkaufen, plötzlich in eine Kulisse für eine Schlacht
verwandelt. Sich anzuziehen zuvor, die Trainingsjacke zu schließen und zu
wissen: Ich gehe nicht laufen, ich gehe mich schlagen. Alle Regeln darüber,
was machbar ist, denkbar, erlaubt, über Bord zu werfen. Das ist ein
unglaubliches Gefühl. Wie ein Schicksal, das man mit den anderen Jungs
(c) Oliver Uschmann 2013
teilt. Ein auserwählt sein. Anders als der brave Rest auf den
Schützenfesten und dem Rummel, der laut ist und grölt und trinkt, aber
diese Grenze niemals übertreten würde. Als Notwehr oder Affekthauerei
vielleicht, panisch und unkoordiniert, rasend nach außen und mit der
Angstpipi in der Hose nach innen. Aber niemals systematisch, regelmäßig,
einmal die Woche.
Unter uns gab es alles. Söhne von Medizinern. Söhne von Anwälten. Söhne
von Altenpflegern. Im Alltag halfen wir alten Omas über die Straße, gossen
sorgfältig im Garten die Blumen und kraulten stundenlang unsere Katze.
Aber hier, in der Konfrontation mit dem Gegner, ließen wir uns auf andere
Art auf unsere Mitmenschen ein. Wir lernten sie kennen, wie Männer sich
kennenlernen sollten. Ihre Angst, ihre Wut, ihre Ausdauer. Wir wussten,
wie sie rochen, ganz nah und wie sich ihre Knochen anfühlten unter der
dünnen Schicht von Haut. Viele von uns waren hagere Bohnenstangen,
keine Muskelmänner. Wir schlugen mit rudernden Armen aufeinander ein
wie heute die Unterhemdenträger beim „Violent Dancing“ auf Konzerten
von Hatebreed oder Terror. Wir waren uns nah. Wie sagt Seraph, der
Beschützer des Orakels, in Matrix Reloaded ganz richtig? „Man kennt
jemanden erst, wenn man mit ihm gekämpft hat.“
Eine Menge Leute denken, beim Hooliganismus geht es um Hass. Das
stimmt nicht. Es geht um Selbstbehauptung. Viele von uns waren eben
keine Außenseiter, keine Opfer, keine Benachteiligten wie Cass, das
jamaikanische Waisenkind aus Legend of a Hooligan, täglich von seinen
Mitschülern und seinen Lehrern in den 50er-Jahren gemobbt, verprügelt
und gedemütigt und das erste Mal im Leben Respekt erfahrend, als er als
Mitglied der Inter City Firm von West Ham United zum gefürchteten
Hooligan aufsteigt. Wir waren eher wie Elijah Wood in seiner Rolle als
Matt Buckner in Hooligans. Klein, kultiviert, klug und geprägt von
Müttern, die uns sagten: „Du hast es doch gar nicht nötig, dich zu
schlagen.“ Oder, noch besser: „Der Klügere gibt nach.“
Hass als Grundgefühl war in uns überhaupt nicht vorhanden. Nur der
Drang, bei allen Pflichten und Regeln und Bevormundungen wenigstens
(c) Oliver Uschmann 2013
einmal in der Woche zu leben. Es zu spüren, das Dasein. In seiner
ursprünglichsten Art.
Hätten wir damals schon den Film 66/67 gekannt, wären uns wohl die
Worte der Hauptfigur Florian (Fabian Hinrichs) über die Lippen
gekommen, der dort seiner kultivierten Freundin erklärt, was die
kindische „Klopperei“ überhaupt darstellt. Loyalität, Schulter an Schulter.
Den Versuch, „eine archaische, fast schon ausgestorbene Grundtugend
auszuüben.“
Zugegeben, dieser Florian aus Deutschlands bestem Hooliganfilm, ist ein
ziemlich krankes Arschloch. In einer Szene zerschlägt er einem längst
Wehrlosen das Gesicht so sehr, dass es selbst seine Leute entsetzt. Das
haben wir nie getan. Für uns galt immer, was der ehemalige Hamburger
Hooligan Alexander Hoh in seinem Lebensbericht In kleinen Gruppen,
ohne Gesänge schreibt. Wenn einer am Boden liegt, hörst du auf. Und
unterwegs sein mit den Jungs, mit der „Firma“, wie sich HooliganVereinigungen nennen, das ist nicht nur der Kampf, nicht nur das Match.
Auch Unsinn machen, Mist bauen wie die Kinder, sinnlos und frei.
Manchmal sogar mit dem Gegner, gemeinsam, nach der Schlägerei. Was
heute in Polen passiert, auf dem Balkan oder gar in Brasilien, wo
Hooligan-Vereinigungen bewaffnete Gangs sind, sie sogar aufeinander
schießen – wir hätten es nicht ahnen können.
Eines muss ich außerdem zugeben: Ich selbst habe sehr häufig im
Getümmel gestanden, ohne selbst viel zu tun. Wie ein Schauspieler in
einer Filmszene, der kurz innehält und sich umsieht, während um ihn
herum die Orks aufstieben und die Köpfe in Zeitlupe fliegen. Wie ein
Soldat in einem Kriegsspiel wie Operation Flashpoint, der die anderen
neun Teammitglieder die Schüsse abgeben lässt und selber kaum feuert.
Ich hatte kein großes Bedürfnis, den Klang eines gebrochenen Nasenbeins
häufig zu hören, so wie andere, auf beiden Seiten. Das olympische Motto
„Dabeisein ist alles“ hatte für mich seine ganz eigene Bedeutung.
Das ist nun alles lange her.
(c) Oliver Uschmann 2013
Die großen Hooligan-Firmen aus Manchester, West Ham, Eindhoven,
Rotterdam oder Cardiff existieren immer noch.
Unsere kleine Truppe aus Wesel ist längst Geschichte.
Sie hieß „Klasse 4a“, war stationiert an der Grundschule und traf sich mit
der konkurrierenden Firma „4b“ zur Keilerei auf Wiesen und Parkplätzen,
im Stadtpark und hinter Turnhallen. Eine Nase brach dabei nie. Und die
Kerbe in meinem Kinn, unter dem Bart, stammt von der kleinen, mit
feuchtem Moos bedeckten Mauer in der Nähe des Häuserblocks meiner
Oma, auf der ich beim Balancieren ausrutschte und mit dem Kopf
aufschlug.
Es waren wilde Zeiten.
(c) Oliver Uschmann 2013
Die Veranstaltungen
Das Bolzplatzspiel
Jedes Mal hatte ich Angst.
Und jedes Mal wollte ich hin.
Auf den Bolzplatz, die Keimzelle des Fußballs, die Basis aller Basen, den
wichtigsten Ort in der Entwicklung vom Jungen zum Mann.
Zu unserem Bolzplatz gingen wir damals immer mit fünf Jungs. Alle
hatten aufs Pöhlen, aber keiner entsprach den nötigen Anforderungen an
Körperkraft, Selbstbewusstsein und Machotum. Die braucht man, wenn’s
auf den Bolzplatz geht. Denn auf dem Bolzplatz, da warten schon die
Gegner. Und die sind aus ganz anderem Holz geschnitzt.
Das Holz, aus dem wir gefertigt wurden, war brüchig wie Pressspan.
Unsere Mütter hatten uns nicht zur Härte erzogen. Sie sagten immer so
Sachen wie: „Der Klügere gibt nach!“ Oder: „Ihr habt es doch gar nicht
nötig, zu hauen. Das ist unter Eurer Würde.“
So kamen wir dann also ganz würdevoll am Bolzplatz an und zitterten wie
Espenlaub, wenn Serkan und seine Jungs schon mit dem Fuß scharrten.
„Was seid ihr so spät, ihr Mongos?“, begrüßte er uns dann und seine
Kollegen lachten. Sie alle lebten in den Mietburgen ein paar hundert Meter
weiter nach Norden, vorbei an den Altglascontainern, der Trinkhalle, der
Spielhölle und dem Wettbüro. Unser zu Hause erreichte man in die andere
Richtung. Sie gingen auf die Hauptschule. Wir aufs Gymnasium. Sie hatten
Muskeln, überall. Nicht so viele wie Bodybuilder, aber man konnte sie
sehen, lauter definierte Hügel. Bizeps, Trizeps, sogar Bauchmuskeln.
Mustafa, der als einziger keine Muskeln hatte, war dafür ein Schrank. Er
hatte die Statue eines Wrestlers, der nicht wie The Rock oder The Edge als
Athlet auftritt, sondern als Attraktion von Körperfülle. Die kleinen Augen
in seinem großen Kopf saßen wie Knöpfe über den runden Wangen. Sein
Haar war fettig, seine Oberarme muskelfrei, aber dafür breiter als die
meisten jungen Birken hinter dem Bolzplatzzaun.
(c) Oliver Uschmann 2013
Wir sahen alle aus wie verbogene Fahrradständer oder Sonnenschirme,
von denen der Schirm selbst weggeflogen ist. Wir waren hagerer und
kleiner. Unsere Mütter hatten während der Schwangerschaft nicht etwa
mehr gegessen, damit wir was auf die Rippen kriegen, sondern im
Gegenteil mit dem Essen aufgehört, was ja selbst bei Fußballprofis zum
Schrumpfen der Spieler ( S. XY) führt. Vor allem aber hatten wir das
Gefühl, dass die Welt kein Platz ist, in der wir was zu bestimmen haben.
Und der Bolzplatz schon gar nicht.
Im Spiel gegen Serkans Truppe galt es nun, ständig abzuwägen, wie weit
man überhaupt gehen kann. Ein Bolzplatzspiel kennt keinen
Schiedsrichter. Es lebt vom gegenseitigen Vertrauen aller Beteiligten, die
richtigen Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Das klappt natürlich
nicht. Holte Serkan einen von uns von den Beinen, hieß es statt Elfmeter:
„Stellt euch nicht so an, ihr Mädchen!“ Wagte es einer von uns, die
Knöchel oder Schienenbeine der offensiven Osmanen auch nur zu
berühren, schrien sie im Kollektiv auf und bildeten sofort ein Rudel um
einen, brüllend und empört, so dass einem das Herz in die Hose rutschte
und niemand sich traute, zu sagen, dass da gerade wirklich nichts wahr.
Noch härter, als auf einem Bolzplatz zu spielen ist es, den Bolzplatz
überhaupt erst mal zu bekommen. Diesem Problem sieht man sich jedes
Mal ausgesetzt, wenn man statt auf seinen Stammplatz auf irgendeinen
anderen geht. Immer sind dann schon ein Dutzend andere da, die spielen
und spielen und dabei so tun, als stünden da nicht seit einer Stunde schon
fünf krumm gewachsene Jungs hinterm Zaun und würden bettelnd
gucken. Irgendwann erbarmen sie sich dann und sagen: „Wollt ihr
mitmachen?“ Dann läuft man auf den Platz wie ein junger, mit dem
Schwanz wedelnder Hund und freut sich schon, obwohl man weiß: Jetzt
kommt erst mal das schlimmste Ritual überhaupt. Mannschaften wählen.
Lassen einen Fremde mitspielen, stellen sie nämlich nicht die eigene
Gruppe geschlossen gegen die Gäste, sondern glauben, es sei besonders
gerecht und angemessen, die Teams erst mal neu zu wählen. Zwei selbst
ernannte Kapitäne laufen dann aufeinander zu und setzen einen Fuß
(c) Oliver Uschmann 2013
genau vor den anderen, ohne Lücke. Wer zuerst so auskommt, dass seine
Fußspitze auf dem Schuh des Gegenübers landet, darf mit dem Wählen
beginnen. Und dann steht man da, ein menschliches Wiesenkraut, und
wartet. Junge für Junge wird für die Teams nominiert, während man
schließlich selbst als ungeliebtes Mängelexemplar übrig bleibt und der
Captain einer Mannschaft laut seufzend winkt und sagt: „Ja, dann mach
halt bei uns mit.“
Dieses Gefühl, auf dem Bolzplatz irgendwie immer der Außenseiter zu
sein, der mitmachen darf, den aber keiner wirklich gebrauchen kann, hört
niemals auf. So war ich im Frühjahr 2011 zum Beispiel in Tunesien als
Gast unseres Bekannten Anouar, der als Chefanimateur in einem sehr
preisgünstigen Hotel mit Riesengelände arbeitet. Als er mitbekam, dass
ich gerne Fußball spiele, brachte er mich wie einen kleinen Jungen zum
täglichen Spiel der Animateure und Hauspagen auf dem Bolzplatz in
Strandnähe. Die Animateure trugen Trikots von Ronaldo, Figo oder Puyol
und sahen aus wie gnadenlos gute Liebhaber, die jedes Wochenende zwölf
Touristinnen vernaschen. Sie waren alle rund zehn bis fünfzehn Jahre
jünger als ich. Anouar befahl ihnen mit seiner tiefen, arabischen Stimme,
mich mitmachen zu lassen. Die Animateure ließen es zu. Nicht nur, weil
Anoaur ihr Boss und Ernährer ist, sondern auch, weil sie sich dachten:
Immerhin ist dieser Oliver ein Deutscher. Und den Deutschen, denen liegt
der Fußball im Blut.
Wir spielten fünf gegen fünf mit acht Männern in jedem Team und
fliegendem Wechsel. Eine Partie dauerte ohne Pause am Stück genau 25
Minuten. Die Sonne brannte auf den Platz und meinen kahlen Schädel,
während das Mittelmeer an den Strand brandete. Eine struppige Katze
pinkelte gegen die Ruine eines Toilettenhäuschens. Am Strand priesen
Teenager mit Pferden den Touristen Ausritte für Wucherpreise an.
Die tunesischen Animateure spielten anders als damals Serkan, Mustafa
und ihre Gang. Sie mussten nicht treten oder foulen. Sie ließen den Ball
laufen wie eine Flipperkugel. Dass ein Pass in meine Richtung kam, den
ich wiederum irgendwo hin hätte weiterspielen sollen, bemerkte ich immer
erst an dem enttäuschten Ausruf, als der Ball schon längst vorbei war. Ich
(c) Oliver Uschmann 2013
versuchte, mitzuhalten, doch es war zwecklos. Was konnte ich auch
erwarten? Diese Männer waren Tunesier. Und Animateure! Diese Jungs
traten morgens um acht ihren Dienst an, spielten mit den Kindern der
Gäste, zockten mittags in der Hitze Fußball, flirteten nachmittags mit den
jungen Müttern oder den solo angereisten Frauen, tanzten nachts bis um 3
Uhr in der Hoteldisko und verschwanden danach mit dem Date ihrer
Nacht auf dem Zimmer, um die Dame dort bis um 7:25 Uhr so artistisch zu
verwöhnen, als würden sie zusätzlich zum unfassbaren Liebesknochen
noch vier Armen und zwei Zungen gleichzeitig zum Einsatz bringen. Dann
schliefen sie 18 Minuten und standen wieder auf.
Der Bolzplatz ist ein Test. Ein ehrlicher Spiegel.
Er sagt dir: Du wirst niemals ein Serkan sein oder ein Anouar.
Er sagt dir aber auch: Aber wehe, du strengst dich nicht an.
So geschah es damals eines Tages, dass ich, als sich Serkan und seine
Jungs wieder mit breiter Brust um mich herum rudelten, da ich es gewagt
hatte, ihn leicht am Trikot zu ziehen, aus heiterem Himmel meinen
Rücken gerade machte, meine Augen mit Feuer füllte, die Oberlippe leicht
schürzte wie Billy Idol und einfach zurückbrüllte: „Das war gar nichts,
Alter! Und das weißt du auch!!!“ Diese Aussage unterstrich ich noch,
indem ich Serkan das erste Mal mit dem Finger auf die Brust tippte. Eine
Brust, die ich in den fünfzig Spielen zuvor noch niemals berührt hatte.
Für eine Sekunde war Ruhe.
Auf dem Platz, auf der Straße, im Wald.
Meine Freunde erstarrten vor Angst. Sie dachten: Jetzt verwandelt sich
Serkan in einen reißenden Zahnzyklopen und beißt mir den Kopf ab.
Die Baumwipfel stellten das Rascheln ein und ein Hund, der gerade eben
neben dem Stromkasten außerhalb des Zauns sein Bein gehoben hatte,
kniff die Augen zusammen und hielt ein.
Serkan atmete ruhig und langsam aus, hielt sich ein Nasenloch zu, rotzte
aus dem anderen einen Popel auf den Boden hinter sich, drehte sich
wieder zu mir, strich sein Trikot glatt, sah mir tief in die Augen und sagte
dabei laut zu seinen Leuten: „Gut. Dann weiter!“ Was sein Blick mir aber
gleichzeitig sagte, war: „Weiter so. Womöglich wirst du doch noch zum
(c) Oliver Uschmann 2013
Mann.“ Die Tunesier wiederum klopften mir zwei Jahrzehnte später auf
die Schulter und sagten: „Hast dich tapfer geschlagen.“ Zwar hatte ich so
gut wie keinen Pass sauber angenommen und meinen einzigen Treffer
dadurch erzielt, dass ich über den Ball gestolpert und mit ihm ins Tor
gefallen war, aber immerhin: Ich war die ganze Zeit gerannt. Bei 30 Grad
im Schatten. Als Nordlicht.
Der Bolzplatz lehrt das Überleben.
Beim Fußball.
Und auch darüber hinaus.
Auf dem Bolzplatz, der bei uns zu Hause oben auf dem Hügel am Ende des
Rapsfeldes liegt, habe ich eben Geräusche gehört. Das typische „Pling!!!“
des Balles, wenn er auf den Zaun trifft. Meine Ohren bewegen sich bei
diesem Geräusch jedes Mal. Sylvia sagt: „Geh hoch. Du willst es doch.“
Ich habe Angst.
Aber ich will hin.
Abspeichern.
Bis später.
Der Krimi
23. Mai 1999. Das Finale der Champions League in London. Bayern gegen
Manchester United.90 Minuten sind vorüber. Rund um die Bank der
Münchener werden schon die Kartons bereitgestellt und aufgerissen.
Darin: Die vorgedruckten T-Shirts und Mützen mit der Aufschrift:
Champions-League-Sieger 1999. Es werden drei Minuten Nachspielzeit
gegeben, aber das bringt die Kartonaufreißer nicht aus der Ruhe. Bayern
hat alles im Griff. Das ganze Spiel über waren sie drückend überlegen, die
beste Mannschaft der Welt, glanzvoll und souverän. Vor zehn Minuten hat
Lothar Matthäus den Platz verlassen. Er ist 38 Jahre alt und beendet sein
letztes großes Finale für den FC Bayern mit dem weltwichtigsten
Vereinstitel. Denkt er. Denken alle. Dann fallen zwei Tore für Manchester.
Innerhalb von 103 Sekunden. Niemand kann es begreifen. Spieler fallen
(c) Oliver Uschmann 2013
ins Gras wie Fichten beim Sturm Kyrill. Die Kartonaufreißer erstarren zu
Stein wie vom Blick der Medusa getroffen. Die Presse wird das Finale
später „Die Mutter aller Niederlagen“ nennen und damit ausnahmsweise
mal nicht übertreiben.
20. Mai 2000. Letzter Spieltag der Bundesliga-Saison in Unterhaching.
Bayer 04 Leverkusen ist Tabellenerster und hat drei Punkte Vorsprung auf
den FC Bayern. In der Gastkabine hat die Werkself bereits die
vorgedruckten T-Shirts gelagert. Was soll schon noch schiefgehen? Sie
haben es selbst in der Hand. Die erste Meisterschaft in der Geschichte der
Leverkusener wäre ihnen nur noch zu nehmen, wenn sie hier, in der
Provinz von Unterhaching verlieren. Sie haben Weltstars im Team,
Michael Ballack führt sie an. Die Schale ist sicher. Denkt er. Denken alle.
Dann fallen zwei Tore für Unterhaching. Das erste davon schießt Michael
Ballack selbst. Eigentor. In der 21. Minute. Die Leverkusener werden es
ausgleichen, da ist sich Deutschland sicher. Sie werden aufholen.
Stattdessen gibt ihnen Markus Oberleitner in der 72. den Gnadenstoß.
Spiele wie diese, die im letzten Moment kippen oder aber so enden, wie es
vorher absolut niemand erwartet hätte, nennt man Krimis. Zum einen
aufgrund ihrer Spannung, besonders, wenn der Fall erst ganz zum Schluss
aufgelöst wird und der Täter – also der Sieger – plötzlich doch jemand
anderes ist. Zum anderen, weil sie im Fernsehen zu den letzten Sendungen
gehören, die es noch schaffen, fast die gesamte Bevölkerung von der Straße
vor den Bildschirm zu holen. Das gelingt in Zeiten des Internets und der
600 Digitalsender bekanntlich sonst nur noch dem Tatort.
Problematisch wird es jetzt, wenn derlei bedeutsame Spiele nicht mehr
vom ganzen Volk geguckt werden können, weil sie nur noch im Pay TV
laufen. So wie zum Beispiel die Partie Dortmund gegen Malaga am 9. April
2013, das Viertelfinale der Champions League. Am Abend des Spiels habe
ich eine Lesung in der putzigen Buchhandlung Greif zu Eberbach. Kaum
fertig mit meiner Show, stürze ich durch die vom Regen glitzernden
Kopfsteinpflastergassen des Fachwerkstädtchens am Neckar ins Hotel und
(c) Oliver Uschmann 2013
greife hektisch nach der Fernbedienung, um den Rest der Partie zu sehen.
Und dann ist es wieder soweit: Keine Übertragung, nirgends. Die
Sendeverträge sahen für das Viertelfinale vor, die Bayern frei zu zeigen
und die Dortmunder verschlüsselt. Meine Schultern sinken hinab.
Schließlich aber fällt mir ein, dass diese Umstände des Bezahlfernsehens
eine ganz neue Art von Sendung hervorgebracht haben, bei der man nicht
live das Spiel anschaut, sondern andere Männer, die sich live das Spiel
anschauen!
Der Mobilat Fantalk auf Sport1 ist diese skurrile Notlösung. In der
Essener Sportkneipe 11 Freunde sitzen dann der Moderator Thomas
Herrmann sowie mehrere Sportprominente zusammen, darunter
Stammgäste wie Thomas Helmer, der Bochumer Trainer Peter Neururer
oder der ehemalige Wolfsburger und Hamburger Profi Stefan Schnoor.
Rund um diesen zentralen Stammtisch herum versammeln sich in der
Kneipe normale Fans und schauen sich alle gemeinsam das Spiel im Pay
TV an, das wir als Zuschauer nicht sehen dürfen. Wir selbst betrachten die
Kneipe vielmehr aus Sicht des Hauptfernsehers an der Wand. Das Spiel
bildet sich durch die Kommentare als Kopfkino in unserem Schädel. Wie
beim Radio, nur mit dem Unterschied, dass wir die gesamte Gestik und
Mimik der Kommentierenden beobachten können und dass diese nicht
rein sachlich bleiben, sondern immer dann, wenn gerade wenig passiert,
Anekdoten aus dem Sport erzählen und sich gegenseitig mit rauen,
kratzigen Stimmen und verschmitzt funkelnden Augen aufziehen, wie
Sportsmänner es vor dem Fernseher nun einmal tun. Der Mobilat Fantalk
ist Fußballgucken zweiten Grades, die quadratische Gleichung des
Gratisfernsehens in Zeiten ausgesperrter Übertragungen.
Am Abend des 9. April in Eberbach setze ich mich also ins Hotelzimmer
und schaue gebannt dabei zu, wie einige andere Männer ein Spiel gucken,
weil sie Pay TV haben. Das Spiel ist ein Krimi. Dortmund scheitert, wie es
aussieht, ausgerechnet gegen den Außenseiter Malaga. Nach 90 Minuten
liegen sie 1:2 zurück. Keiner kann es fassen, nicht die Männer in der Bar
im Fernsehen, nicht ich neben meinem Hotelbett und nicht die Menschen
(c) Oliver Uschmann 2013
irgendwo im Nachbarhaus, die fluchen und stampfen. Wie „eiskalt“ der
Konter der Spanier zur Führung wirklich war, kann ich nicht beurteilen.
Auch nicht, ob der Torschütze so überdeutlich im Abseits stand, dass es
eigentlich nicht hätte zählen dürfen. Ich habe es ja nicht gesehen und muss
glauben, was man mir sagt. Wie sehr Malaga nun den Rest der Zeit mauert
und den eigenen Strafraum zustellt, kann ich mir ebenfalls nur vorstellen.
Eines aber scheint sicher – Dortmund bräuchte zum Weiterkommen noch
ganze zwei Tore in der Nachspielzeit und wird sie nicht machen. Die
Besucher der Bar auf dem Bildschirm schütteln mit den Köpfen und
pressen die Lippen zusammen. Thomas Helmer ist „mehr als skeptisch“,
ob hier noch ein Wunder geschehen kann. Thomas Herrmann beginnt so
enttäuscht wie gemächlich, Ballbesitzstatistiken auszuwerten. Man spricht
über die Fehler, die Dortmund gemacht hat und die Schelte, die es in den
kommenden Tagen geben wird, als plötzlich einer „jetzt aber!“ ruft und aus
heiterem Himmel das 2:2. fällt. Im Hotelzimmer bleibt mir der Löffel, mit
dem ich gebackene Bohnen aus der Dose schaufle, im Mund stecken.
Thomas Herrmann sagt: „Noch drei Minuten!“ Er klappt seine Finger aus.
Dann wiederholt er es wie ein Mantra noch weitere zwei Mal. „Noch drei
Minuten! Noch drei Minuten!“ Im Nachbarhaus brüllt einer: „Jockel!
Komm wieder her! Sie haben ausgeglichen!“ Rote Bohnensoße tropft mir
aus dem Mundwinkel auf den runden, lasierten Zimmertisch.
Für einen kurzen Augenblick bringt die Kamera des Mobilat Fantalk einen
zweiten Fernseher ins Bild, der ebenfalls in der Kneipe hängt. Auf ihm
sieht man, wie sich eine Laola durch das Dortmunter Stadion zieht. Für ein
paar Sekunden wird auf Vollbild aufgeblendet. Wenige Sekunden Pay TV
for free. Entweder eine subversive Tat von Sport1 oder eine Gesetzeslücke,
die es erlaubt, Bilder einzublenden, solange sie nichts mit dem Geschehen
auf dem Feld zu tun haben. Thomas Helmer fragt: „So, was ist denn los
hier? Wollen wir den BVB mal nicht ein bisschen anfeuern?“ Die Kneipe
beginnt zu johlen und zu klatschen, doch die Stimmung versiegt schon
nach wenigen Sekunden, weil niemand daran glaubt, dass Dortmund nun
in den restlichen zwei Minuten noch ein Tor erzielen kann. Und
schließlich, nur wenige Momente später, springt Thomas Herrmann auf,
die Augen auf dem Fernseher, die Nasenflügel flatternd, aufgeregt und
(c) Oliver Uschmann 2013
außer sich wie ein ganz normaler Fan. „Er macht das Ding!“, schreit er, „er
macht das Ding!“, und ich hüpfe im Hotelzimmer auf dem Stuhl herum,
fluche „Wer denn? Wer denn? Und wie?“, da der fürs Kommentieren
bezahlte Kommentator gar nicht mehr richtig kommentiert und werfe
glasige, rote Bohnen Richtung Wand, die wie glitzernde Riesenpopel an
der Tapete kleben bleiben. Die Kneipe im Fernsehen rastet aus. Alle. Fans
und Ex-Profis, Experten und der Moderator. Mikrofone übersteuern vor
lauter Gebrüll und Taumel. Thomas Helmer ruft: „Unfassbar!“ Stefan
Schnoor bricht in hysterisches Lachen aus. Die Wiederholung des Tores
durch Felipe Santana belegt anscheinend, dass auch das Dortmunder Tor
abseits war und die Männer am Stammtisch freuen sich über diese
ausgleichende Gerechtigkeit.
Nach diesem Krimi im Hotelzimmer der verregneten Kleinstadt bin ich
irgendwie seltsam zufrieden. Wegen des Sieges, sicher, aber vor allem,
wegen der Art der Sendung. Das indirekte Schauen war intensiv. Es regte
die Phantasie an. Die Männer in der Bar beim Leiden und Jubeln zu
beobachten? Pure Emotion.
Ich stelle mir vor, wie es wäre, würde man einen echten Krimi auf diese Art
übertragen. Der Tatort ist ans Pay TV verkauft und läuft nicht mehr im
ersten. Phoenix überträgt daraufhin im freien Fernsehen den Ibuprofen
Mörder-Talk. Der Moderator Markus Lanz sitzt mit ehemaligen TatortDarstellern, Fernsehexperten und echten Polizisten in einer Kneipe
zusammen und schaut umringt von Kriminalfans den Film, den wir nicht
sehen dürfen. Der Fall bildet sich durch die Kommentare als Kopfkino in
unserem Schädel. Wie beim Hörspiel, nur mit dem Unterschied, dass wir
die gesamte Gestik und Mimik der Kommentierenden beobachten können
und dass diese nicht rein sachlich bleiben, sondern immer dann, wenn
gerade wenig passiert, Anekdoten von früheren Drehtagen oder dem Alltag
bei der echten Kripo erzählen und sich gegenseitig mit intellektuellen
Kommentaren die Egos kraulen, wie Medienmänner es vor dem Fernseher
nun einmal tun. Was schade wäre. Amüsanter fände ich es, würden sie
stattdessen so reden, wie normale Menschen es vor dem Fernseher am
(c) Oliver Uschmann 2013
Sonntagabend tun und – den Blick gebannt auf dem Bildschirm abseits
der Kamera – sagen:
„Es ist die Schwägerin, das ist doch ganz klar!“
„Ach komm, was machst du denn jetzt? Es ist der Bruder!“
„Der Bruder? Niemals!“
„Wie soll es denn die Schwägerin sein, wenn …?“
„Warte, warte, warte. Guck da! Da! Da! Sie wartet hinterm Vorhang. Die
sticht ihn auch noch ab gleich. Ich glaub, mein Schwein pfeift! Sie sticht
ihn ab!“
Sonst bin ich ja kein großer Tatort-Fan, aber ich glaube, diese Art von
Krimiübertragung würde ich mir zur Gemüte führen. Ob sich allerdings
ganz am Ende, wenn der vermeintliche Täter sich doch noch in der
Nachspielzeit als unschuldig entpuppt, ebenfalls so viel Stimmung in der
Kneipe breitmachen würde wie bei den Fußballfreunden, wage ich zu
bezweifeln.
Das WM-Qualifikationsspiel
Während ich mich fußballerisch grundsätzlich nur auf Bolzplätzen der
Ruhrstadt oder mit Betriebsmannschaften in Soccerhallen herumtrieb,
spielte ich in meiner Jugend als Vereins- und Turniersport Tischtennis.
Nun war es in dieser Disziplin so, dass selbst innerhalb der Spielklasse, in
welcher sich meine Mannschaft herumtrieb, die Leistungsunterschiede so
groß waren wie anderswo zwischen drei Ligen. Spitzenreiter der damaligen
Kreisklasse im Jugendtischtennis war zum Beispiel der SV Ringenberg, ein
Dorfclub im Vergleich zur Größe der Kreisstadt Wesel, in welcher wir
ansässig waren. Ringenberg war lediglich ein Ortsteil des angrenzenden
Hamminkeln und dieses damals, zu Beginn er 90er, noch nicht einmal
berechtigt, den Titel „Stadt“ zu tragen. Ringenberg selbst war mit seinen
damals vielleicht 1600 Einwohnern ein Kuhdorf gegen unsere pulsierende
Metropole am Niederrhein, besäße es nicht das Schloss, in dem
Hochzeiten und Kunstausstellungen stattfinden, wüsste niemand
überhaupt von seiner Existenz, größere Laster würden bei Stau auf der A3
(c) Oliver Uschmann 2013
einfach drüber weg fahren und sich fragen, was das gerade für sein
seltsamer Hubbel gewesen sei. Gegen die Jungs vom SV Ringenberg waren
wir vom Weseler TV II so was wie New Yorker gegen ein paar
Farmersöhne aus Ohio. Ihre Turnhalle war klein und finster und sie roch
nach dem abgeblätterten Leder von einsam vor sich hin rottenden Böcken
und Kästen. Es waren ja keine Schüler mehr da, um die Böcke zu
bespringen, niemand pflanzte sich fort in Ringenberg, das fand alles nur in
Wesel statt, man konnte gleichsam froh sein, wenn es an Spieltagen im
Winter überhaupt Licht in der Halle gab.
Ja.
Und dann begannen die Spiele.
Und Ringenberg wurde zu New York und wir wurden nicht mal zu
Farmersöhnen aus Ohio, sondern zu dreckigen, zahnlosen Gehilfen
irgendeiner Rinderzucht in Weißrussland, die austauschbar sind wie
namenlose Melkautomaten. Die Höhe, in der wir die Spiele verloren, hätte
selbst bei Reinhold Messner Sauerstoffmangel ausgelöst. Wir waren derart
chancenlos gegen die spielerischen Fähigkeiten dieser Nerds aus dem Dorf
mit dem Schloss, die wahrscheinlich mangels Diskothek, Club,
Freizeitzentrum oder sonst einer Form von Leben zwanzig Stunden am
Tag trainierten, dass wir uns auf der Heimfahrt, betroffen vom bitteren
Schweigen des Coachs, fragten, ob wir überhaupt den selben Sport wie die
Jungs aus Ringenberg ausüben.
Ähnlich schlimm ging es bei Turnieren zu, bei denen alle Sportler aus dem
Bezirk oder dem Kreis gegeneinander antraten wie Tennisspieler bei
Wimbledon, wo die erste Runde 128 Teilnehmer hat. Natürlich traf man
auch dort als Frischfleisch zum Ausweiden sehr früh auf einen der
„gesetzten“ Spieler, den langen Ralle zum Beispiel, Kapitän der
Mannschaft aus Ringenberg, ein Mal im Jahr freigelassen aus dem
muffigen Dunkel seiner Halle, um die langen Arme und Beine im grellen
Neonlicht der Zentralhalle zum Einsatz zu bringen und mich mit 0:21 und
2:21 von der Platte zu schicken. Meine Schuhe quietschten auf dem
Hallenboden, während ich als positiv denkender Mensch Stolz darüber
(c) Oliver Uschmann 2013
verspürte, dem Ringenberger Ralle zwei ganze Punkte abgeluchst zu
haben.
So wie das Tischtennis meiner Jugend in den frühen 90ern funktionieren
auch die Spiele zur WM-Qualifikation, die weltweit die Wartezeit auf das
eigentliche Turnier verkürzen. Sicher gibt es auch in dieser Phase
spannende Partien Spiele zwischen einander ebenbürtigen Nationen, die
sich gegenseitig bereits ausschalten können, weil sich mal wieder
unerwartet die Isländer oder irgendwelche Hochbegabten aus dem Balkan
dazwischen geschlichen haben und einem der Favoriten bei einer
Niederlage desselben den ansonsten sicheren Platz 2 wegnehmen. Aber im
Grunde hat die WM-Qualifikation nur einen Zweck – in mühseliger
Kleinarbeit all die Teams auszusortieren, die sowieso niemals eine Chance
gehabt hätten, an der Endrunde teilzunehmen. Die WM-Qualifikation ist
wie die parlamentarische Demokratie oder ein interaktives
Kennenlernspiel bei einem Seminarwochenende. Wenn Brasilien gegen
Peru antritt oder die armen Armenier den spanischen Conquistadoren
zum Fraß vorgeworfen werden, entspricht das der Behauptung einer
Kanzlerin oder eines Seminarleiters, jede Stimme würde gehört. Das wird
sie ja auch, aber dann macht die Kanzlerin sowieso, was sie will und der
Seminarleiter zieht seinen Stiefel durch, egal, was die Teilnehmer beim
Kennenlernspiel als „Erwartungen und Wünsche“ geäußert haben.
Ein typisches Teilnehmerland an einer WM-Qualifikation ist San Marino.
Die meisten wissen von der Existenz dieses Staates sowieso nur, weil er an
der WM-Qualifikation teilnimmt, womit ein werbetechnischer Vorteil
dieser Veranstaltung schon mal geklärt wäre. San Marino ist grob gesagt
nur unwesentlich größer als Ringenberg, dafür allerdings wesentlich
sonniger, es gehört auch nicht zum grauen Hamminkeln, sondern zum
vitalen Italien, und es ist – das immerhin bleibt Rekord – der älteste Staat
der Welt.
San Marino nimmt an Qualifikationen teil, um zu verlieren. Das geht auch
nicht anders, denn der Leistungsunterschied zwischen all den
(c) Oliver Uschmann 2013
Profifußballern der größeren Sportnationen und den Hobbykickern des
kleinen Landes ist noch größer als der zwischen uns Weselern und den
finsteren Ringenbergern. Ebenso gut könnte man einen Verein aus der
Landesliga Odenwald oder Südbaden in die WM-Qualifikation schicken,
den TSV Unterschüpf zum Beispiel, oder den Vfb Gaggenau.
In der Qualifikation zur Weltmeisterschaft 2010 kassierte San Marino
allein gegen Polen (0:10), Tschechien (0:7) und die Slowakei (0:7) satte 24
Tore. Kein einziger der san-marinesischen Fußballspieler besitzt daheim
noch einen Kompass, selbst dann nicht, wenn Campen und Trampen seine
Hobbys sind, denn sobald sich der Zeiger nach Osten dreht, bekommt er
Schnappatmung und duckt sich, weil er den harten Schuss eines Mannes,
dessen Namen auf „-owksi“ oder „czek“ endet, bereits kommen sieht. Die
gesamte Qualifikationsrunde beendete das kleine Land mit einer Bilanz
von 0 Punkten und einem Tor aus 10 Spielen. Ich kann mir gut vorstellen,
dass sie das eine Tor genauso stolz machte wie mich meine zwei Punkte
gegen den Ringenberger Ralle bei den Kreismeisterschaften.
Der italienische Kleinstaat San Marino teilt sich den letzten Platz der
Fußballweltrangliste mit dem bergigen Bhutan, in dessen zerfurchten
Höhen des Himalaya Fußball überhaupt nur auf fünf Plätzen möglich ist,
alle davon in einem Zustand wie hierzulande Kreisligaplätze, deren
Beschriftung abblättert und in deren Vereinsheimkühlschrank die
hinterste Flasche Cola als Ablaufdatum den März 1997 verzeichnet, da der
Vorrat immer wieder von vorne aufgefüllt wird, aber niemals bis hinten
abverkauft wurde. Plätze nach europäischem Profimaßstab sind in Bhutan
nicht vorhanden. Ein Stadion ist in Planung, ähnlich wie der
immerwährende weltweite Frieden oder das Raumschiff Enterprise. Es
wird kommen, das Stadion, irgendwann, später als der immerwährende
weltweite Frieden, aber immerhin früher als der Berliner
Hauptstadtflughafen.
Da Länder wie Bhutan oder San Marino also offensichtlich keine Chance
haben, jemals über die Qualifikation hinaus in die Endrunde der
Weltmeisterschaft zu gelangen, sollen nach Informationen des Instituts für
geheime Generalstabsplanungen (IfgG) in Guggenheim führende
(c) Oliver Uschmann 2013
Umweltpolitiker innerhalb der EU an einem Erlass arbeiten, der die
absolut hoffnungslosen Fußballzwerge künftig von der Teilnahme an der
Qualifikation ausschließt.
„Den Kommissaren der Europäischen Union ist klar, dass eine solche
Vorgehensweise einerseits den Antidiskriminierungsgesetzen zuwider
läuft“, berichtet Professor Günther Grieshold vom IfgG, „allerdings
betrachten sie in diesem Fall die Einsparungen im Energiebereich als
zwingenderen Aspekt.“ So habe die Kommission bei führenden
Klimawissenschaftlern eine Studie in Auftrag gegeben, die belege, dass
beim Ausschluss chancenloser Teams von der Qualifikationsrunde durch
den Ausfall von rund 127 Spielen ganze 79.992 mg CO2 eingespart werden
könnten. Mit Berufung auf interne Gesprächsprotokolle bestätigt Professor
Grieshold die Worte eines der Kommissare, der in der Sitzung auf
überzeugende Weise die Frage und mit großem, weltschweren Seufzen die
Frage in die Runde geworfen haben soll: „Wollen wir künftigen
Generationen, die aufgrund unserer Sünden unter gläsernen
Schutzkuppeln leben, etwa sagen, dass es uns wichtiger war, Fußballspiele
wie Myanmar gegen Osttimor auszurichten, während langsam der Himmel
verbrannte?“ Angeblich soll die geheime EU-Kommission bereits in noch
geheimere Gespräche mit der FIFA eingetreten sein und dieser im
Gegenzug für den Ausschluss der kleinen Länder von der WMQualifikation enorme Finanzspritzen für die Umrüstung westlicher
Stadien auf Ökostrom und Biobratwurst versprochen haben.
Der niederländische Regisseur Johan Kramer, der von den Planungen
zufälligerweise an einer Brüsseler Hotelbar Wind bekam, hat bereits die
Gründung einer Protestgruppe angekündigt, um den Fußball der
Zwergstaaten zu bewahren. Er drehte 2002 die Dokumentation The Other
Final über das Spiel Bhutan gegen Montserrat in Thimphu, das parallel
zum Finale der Weltmeisterschaft stattfand und für beide Länder ein
bedeutsames, historisches Ereignis darstellte. Es bescherte Bhutan einen
triumphalen 4:0-Sieg mit drei Toren ihres „Stars“ (Vorname) Dorji. Die
FIFA weigerte sich damals, die in jeder Hinsicht ambitionierte
Veranstaltung mit auch nur einem Cent zu unterstützen. Die EU-
(c) Oliver Uschmann 2013
Kommissare sehen den Weltverband daher auch schon im Rückblick „auf
einem guten, vernünftigen Weg.“
(c) Oliver Uschmann 2013
Rituale und Phänomene auf und um den Platz
Das Rotzen auf den Rasen
Für meine Frau ist es das Ekligste, was ein Mann tun kann. Und das
Unmöglichste. Selbst Soldaten, die mit der Railgun ganze Bataillone aus
dem Weg mähen, so dass ihnen das Blut der Zerschossenen ins Gesicht
spritzt, sind ihr lieber als das Rotzen und Spucken. In Bochum, zur
Studienzeit, hatte ich zwei Balkone weiter einen Nachbar, der dafür sorgte,
dass ich meiner Frau in ihrer Abneigung gegen das menschliche Lamatum
absolut beipflichten muss. Herrn Beifang. Stand Herr Beifang hinter
seinen Blumenkästen, hörte man schon, wie es sich anbahnte. Mit einem
zunächst leisen und dann stetig lauter werdenden Gurgeln holte er die
giftgrüne Galle von ganz tief unten, von dort, wo niemals Licht ist,
malochte sie Zentimeter für Zentimeter seine Kehle hinauf und
schmetterte sie schließlich über die Petunien hinweg auf den Rasen des
Gemeinschaftsgartens.
Was der Bochumer Nachbar Beifang damals mit dem Garten anstellte,
vollzieht jeder Fußballer ausnahmslos mit dem Rasen auf dem Platz. Es
gibt kein live übertragenes Fußballspiel auf der ganzen Welt, in der die
Kamera nicht mehrfach spuckende Sportler zeigt. Selbst, wenn die Chefs
von Sat1, ZDF, ARD und Sport1 ihren Kameraleuten unter Androhung von
Strafen zwingen würden, Rotzbilder zu vermeiden, wäre es den armen
Männern und Frauen statistisch unmöglich, 90 Minuten lang so zu filmen,
dass nicht doch irgendwo ein Klumpen fliegt.
Warum ist das so?
Der Grund scheint zu sein: Die ganze Rennerei.
Wenn der Mann läuft, muss er spucken. Bei Frauen ist das nicht so. Wer
weiß, warum? Des Mannes Körper aber drängt ihn dazu, den Ballast
loszuwerden. Ich sage das unter dem Eindruck, dass ich heute, wo ich
dieses Kapitel schreibe, das erste Mal seit langer Zeit wieder joggen war.
Ich bin mit meinen Jugendromanen auf Lesereise durch die Schulen von
Niedersachsen. Habe ich so gegen 13 Uhr Feierabend, muss ich das
(c) Oliver Uschmann 2013
aufgestaute Adrenalin nach den ganzen Auftritten vor vollen Aulen und
Sälen irgendwie loswerden. Meistens gehe ich Schwimmen, im Stadtbad
oder im Hotelpool, oder ich schwinge drei, vier Mal meine 16-KiloKettlebell (ein Kanonenkugelgewicht mit Griff) vor dem laufenden
Fernseher im Hotelzimmer, zertrümmere dabei die Nachttischlampe, die
Garderobe und Teile der Fensterdekoration und denke mir: Das reicht fürs
Erste. Manchmal aber sticht mich der Hafer und ich gehe laufen, obwohl
ich längst nicht mehr dafür geschaffen bin. Ich bin alt und gebrechlich. Als
ich jung war, schob man noch Disketten in Commodore-Computer, die 512
MB Festplattengröße hatten. Als ich jung war, lief Mac Gyver im
Fernsehen und Hans Meiser mit seinem Notruf und bei Quelle verkauften
sie noch täglich Leerkassetten. Als ich jung war, sah man Rudi Völler noch
als Spieler in der Nationalmannschaft. Ich bin in einem Alter … wäre ich
Profifußballer, könnte man mich höchstens noch der Gattung „Der
Heimkehrer“ ( S. XY) zuordnen. Trotzdem lief ich heute Nachmittag los,
stadtauswärts Richtung Waldwohnviertel, wider alle Vernunft. Schon nach
drei Kilometern stach es in meiner Brust, und ein Brand loderte in meiner
Kehle, als stemmten boshafte Zwerge meinen Kehlkopf samt
Stimmbändern mit heißen Schaschlikspießen nach oben. Schwindel ließ
mich wanken, der Schmalz presste mit jedem Schritt aus meinen Ohren,
mir wurde schlecht. Ich japste. Und dann: Rotzte ich. Weil das nicht
anders geht bei Amateuren, die sich selbst überschätzen, keinerlei
Kondition haben und dann nach vier Kilometern Lauf in eine Richtung
begreifen, dass sie den Rückweg nicht mehr schaffen und mangels Geld in
der taschenfreien Sporthose neben einem Stromkasten vor einem
bürgerlichen Miethaus niedersinken und so lange jammern und winseln,
bis der gutherzige Besitzer sich erbarmt und mit seinem Bully rüber zum
Hotel fährt.
Aber: Fußballprofis haben Ausdauer.
Bei denen sticht keine Brust, brennt keine Kehle, lodert kein Feuer in den
Tiefen. Und schon gar nicht nach vier Kilometern. Gute, fleißige
Mittelfeldspieler bringen es auf bis zu 11 oder 12 Kilometer Laufdistanz pro
Spiel. Trainieren sie unter Felix Magath und rollen somit täglich einen
(c) Oliver Uschmann 2013
Medizinball von 200 Kilo Gewicht den Todeshügel hinauf, könnten sie
auch 30 oder 40 Kilometer zurücklegen, wenn es denn sein müsste.
Profis sind Leistungsmaschinen aus pumpendem Ausdauergewebe.
Muskeln mit Gesicht.
Lungen auf Beinen.
Profis also – die müssten nicht spucken.
Und tun aber es doch.
Der eigentliche Grund, warum sie es machen ist also nicht die tatsächliche
Anstrengung, sondern die wortlose Geste, die dahinter steckt und die sagt:
„Seht her, wie ich maloche!“
Das Rotzen ist die Entsprechung zu vielen anderen Gesten im Alltag, mit
denen Männer demonstrieren wollen, dass sie sich unglaublich abmühen.
Das „Arme in die Hüften stemmen“ auf Baustellen zum Beispiel, vor allem
auf privaten, wo Udo oder Lutz oder Manfred oder einer der anderen
Schwippschwager, die „zum Helfen“ gekommen sind, den ganzen Tag nur
Saufen, Wurstsalat essen und dann – nach dem Schieben einer Karre oder
dem Anreichen eines Ziegels – schon die Arme in die Hüften stemmen,
laut auspusten und sich seufzend nach hinten lehnen, als hätten sie bereits
jetzt von der unfassbaren Anstrengung Rückenschmerzen. Oder damals,
das „den Kopf schwer in die Hände legen“ bei Arbeiten in der Schule oder
beim Erledigen der Hausaufgaben. Natürlich hatte man nicht so harte
Geistesarbeit zu erledigen, dass man die Stirn in den Händen vergraben
und sich die Augen rot reiben musste … aber man wollte, dass der Lehrer
oder die Mutter daheim sehen, wie sehr man leidet. Für sie. Der Fußballer
will das Gleiche. Der Trainer, die Fans, der Vorstand und die eigenen
Mitspieler – sie alle sollen denken, dass man kurz davor ist, die Lunge
selbst blutrot herauszuwürgen. Es ist ein Gruppenzwang, denn wer als
einziger von 11 Spielern in der Mannschaft nicht rotzen würde, käme
ähnlich faul rüber wie einer, der nicht schwitzt. Daher gibt es die eklige
Spuckerei nicht in Sportarten, die keinem Gruppenzwang ausgesetzt, aber
mindestens genauso anstrengend sind. Oder hat irgendjemand schon mal
einen Roger Federer kurz vor dem Aufschlag gemütlich und laut in die
Stille hinein auf den Tennisplatz speien sehen?
(c) Oliver Uschmann 2013
Als mich heute Nachmittag nach dem Joggen der gutherzige Bullybesitzer
würdelos und waschlappenweich vor der Tür des Hotels ablieferte und ich
an der Rezeption vorbei mit milchigen Augen und hängender Zunge zum
Fahrstuhl kroch, überkam mich schließlich zum Thema Spucke in meinem
Erschöpfungsdelirium eine Vision.
Wenn sich, so dachte ich, der Rasen großer Fußballstadien im Laufe der 90
Minuten mit der Rotze von mindestens 22 verschiedenen Männern füllt,
wenn jeder von ihnen pro Partie bis zu hundert Mal spuckt und wenn hin
und wieder Spieler eingewechselt werden, die – kaum, dass sie zehn Meter
gelaufen sind, das Grün erstmals mit ihrem Auswurf begrüßen – dann
dürfte es folglich 250 bis 300 verschiedene Stellen auf dem Platz geben, an
denen sich die Spuren des Sportlerlebens finden lassen. Wäre der Platz ein
Tatort, könnte ein Forensiker bei genauer Durchsuchung des Rasens somit
das Genmaterial millionenschwerer Profis finden und einsammeln, achtlos
hinterlassen zwischen den Halmen.
Und was ist nun, so dachte ich, während der Aufzug kam, sich die Türen
öffneten und ich hineinkroch wie ein Terminator mit abgerissenen Beinen,
der nur noch Kabel hinter sich herzieht … was ist also nun, wenn das
längst geschieht, mit dem Einsammeln des Genmaterials? Was ist, wenn
die Chinesen und die Nordkoreaner sich nach dem Spiel die DNA eines
Messi, eines Ribéry oder eines Balotelli schnappen könnten, um dann in
ihren geheimen Laboren in Peking und Pjöngjang lauter neue
Fußballgenies zu klonen? Mit den Fähigkeiten der Stars und den
Gesichtern der Einheimischen? Und wer sagt uns, so dachte ich, während
der Fahrstuhl nach unten statt nach oben fuhr, dass dies nicht schon
längst geschieht? Ist es nicht so, dass wir in den letzten zehn Jahren viel
mehr Flitzer hatten als zuvor, also in genau der Zeit, in der die Genetik so
richtig Fahrt aufgenommen hat? Und kann es nicht sein, dachte ich, dass
diese Flitzer, wenn sie angezogen sind und lange Fanschals um die Arme
geschlungen haben, in Wirklichkeit Agenten sind, die bei ihrem wilden
Gerenne über den Platz mit den Fransen am Schal durch den Rasen
streifen, da es Spezialfransen zum Aufsammeln von Spucke sind? Fransen,
die der DNA-Sammler dann nach der Entlassung durch die Stadion-
(c) Oliver Uschmann 2013
Security schnell abschneidet, eintütet und beim nächsten Postamt per
Express Richtung Osten schickt? Wer weiß denn, dachte ich, und der
Fahrzug öffnete sich und spuckte mich um Untergeschoss des Hotels im
Fitnessraum aus, als wolle er mich verspotten … wer weiß denn, ob die
asiatischen Messis, Ribérys und Balotellis nicht schon längst wie
erwachsene Embryos in ihren Brutkästen schwimmen und nur darauf
warten, die Chinesen oder die Nordkoreaner spätestens bei der WM 2022
in Quatar zum Sensationssieg zu führen?
„Wer weiß es denn?“, sagte ich nun auch laut und starrte auf die in weiße
Hotelfrotteeschlappen gekleideten Füße eines braun gebrannten,
sportlichen Vin Diesel-Verschnitts vor den Butterfly-Pressen und
Saunatüren. „Wer weiß es denn?“
Der Mann nahm mich auf, trug mich wie ein Klapprad nach oben, fragte
an der Rezeption nach meiner Zimmernummer und sagte, bevor er mich
zudeckte: „Schuster, bleib bei deinen Leisten.“
Ich glaube, ich sollte nicht mehr joggen gehen.
Das Schrumpfen der Spieler
Früher sahen Fußballprofis grundsätzlich älter aus, als sie waren. Das fällt
einem erst im Nachhinein auf, wenn man selbst erwachsen ist, in seinen
Pass schaut und feststellt, dass man mit 36 Jahren als Profisportler längst
daran denken müsste, seine Karriere gemächlich bei einem Fünftligisten
oder in Dubai auslaufen zu lassen. Heute erscheinen einem 36 Jahre nicht
viel, aber damals, als man noch ein Junge war, galten selbst 25-jährige
schon als „alt“. Die größten in der Schule, die aus der Oberstufe, hatten
nicht mal eine 2 vorne stehen, und sie rauchten bereits zwischen den
Müllcontainern und steckten den Mädchen mit den glänzenden Lippen
und den übergroßen Ohrringen zwischen zwei Zügen an der Lucky Strike
glücklich die Zunge in den Hals. 1990, als Deutschland in Italien
Weltmeister wurde und Frank Rijkaard unserem Rudi Völler zwischen die
Locken in den Nacken spuckte, war ich 13 Jahre jung und verbrachte die
Ferien mit meinen Eltern sowie Onkel und Tante in Mittenwald. Wir
hatten eine Pension gemietet, deren Hausflur und Garten mein Vater,
(c) Oliver Uschmann 2013
mein Onkel und ich regelmäßig mit Fußbällen kaputt schossen. Vasen,
Lampen, Flaschen und Pflanzen gingen regelmäßig zu Bruch, während wir
die kommenden Spiele der WM schon mal simulierten. Ich selbst spielte
zu der Zeit wahlweise Pierre Littbarski aus dem deutschen Team oder den
Überraschungsstar des Turniers, Roger Millard aus Kamerun. Als das
Team um Franz Beckenbauer am Abend des 12. Juni tatsächlich den Titel
holte, fluteten die Menschen in dem kleinen, idyllischen Ort aus den
Ferienpensionen und Fachwerkhäusern und fuhren Hupkolonnen, deren
Dröhnen in allen Flanken des Gebirges widerhallte. Ausgerechnet ein
Abwehrspieler hatte das 1:0 gegen Argentinien mit einem Elfmeter
klargemacht. Andreas Brehme, damals Kaiserslautern, ein Mann, der
schon länger dabei war, sich aber im Prinzip im selben Alter befand wie
heute ein Lukas Podolski, ein Andres Iniesta oder ein Sebastian Kehl.
Und das ist eben das Unglaubliche.
Stellt man heute ein Foto von Andreas Brehme neben die eben genannten,
könnte man sich gut vorstellen, wie Herr Brehme mit dem Lukas, dem
Andres oder dem Sebastian an der Hand in die Sparkasse marschiert und
sagt: „Guten Tag, ich möchte gerne das Sparkonto für meinen Sohn
auflösen.“ Nahezu jeder Weltmeister von 1990 ginge ganz locker als Papa
heutiger, gestandener Profis durch. Guido Buchwald wirkte mit seinen 26
Jahren wie ein gutmütiger Geografielehrer im 20. Berufsjahr. Thomas
Häßler hätte man sich gut als gestandenen, ehemaligen Mitreisenden von
Kirmesfahrgeschäften vorstellen können, der als „junger Mann“ auf den
Aushang reagiert hatte und erst zwei Jahrzehnte später wieder von der
Raupe abgesprungen war. Und Rudi Völler sah nicht nur wegen seiner
epochenresistenten Frisur damals schon genauso aus wie heute. Schaut
man noch weiter in die Fußballhistorie zurück, verstärkt sich dieser
Eindruck sogar. Ein Günther Netzer mit seiner Tolle, ein Berti Vogts mit
seinem Mönchshaarkranz oder ein Uwe Seeler mit seinem
Mainzelmännchenkopf – sie waren alle bereits als junge Männer in vollem
Umfang die alten Männer, die sie heute sind. Der Fußball – dieser harte,
körperliche, Haut und Herz gerbende Sport – ließ Männer früher altern
und tatsächlich schon wie Männer aussehen, wenn sie kaum zehn Jahre
(c) Oliver Uschmann 2013
mehr auf dem Buckel hatten als ich flaumloser Teenager, der mit Papa und
Onkel zwischen Bergen und Bächen die Pension zerschoss.
Im 21. Jahrhundert ist das genau umgekehrt.
Heute sehen die meisten Spieler aus wie Kinder und Jugendliche, allenfalls
wie die hippen, hübschen und manchmal sogar heißen Mittzwanziger, die
sie tatsächlich sind, niemals aber wie mürrische Malocher, die bereits ein
paar Jahrzehnte als Steiger oder Stellwagenführer auf dem Buckel haben.
Beträte Andreas Brehme nicht mit Sebastian Kehl oder Andres Iniesta die
Sparkasse, sondern mit Marco Reus, Julian Draxler oder Mario Götze,
würde der Bankbeamte sich über den Schalter beugen, den kleinen Mann
neben Herrn Brehme auf dem alten Rautenteppich der Filiale erkennen
und sagen: „Das ist aber schön, Sie haben Ihren Enkel mitgebracht.“ Sahen
Völler und Vogts schon in jungen Jahren aus wie alte Sportvorstände,
werden Götze und Draxler auch in alten Jahren immer noch aussehen wie
gerade eben aus der B-Jugend geschlüpft. Der hochmoderne Tiki-TakaFußball spanischer Prägung, der „kleine, leichte und wendige Spieler
erfordert“ und den klassischen Hünen oder Stoßstürmer überflüssig
macht, ist in Folge des massiven Schrumpfens junger Männer entstanden
und nicht etwa, weil die sportliche Evolution es so wollte. Mitnichten
haben irgendwann Pepe Guardiola oder Joachim Löw eine neue Art des
Spiels erfunden und daraufhin die passenden Spieler dafür gezüchtet.
Kurzpassspiel, Tiki-Taka, schnelles Rotieren – die neue Schönheit des
Fußballs ist in Wahrheit eine Notlösung. Eine verzweifelte Reaktion
darauf, dass es im Nachwuchs nur noch Spieler gibt, die das Körperbild
und Laufverhalten von Speedy Gonzalez, der kleinen Maus aus Mexiko,
haben. Jeder Trainer muss mit dem arbeiten, was er vorfindet.
Die Frage ist: Wie konnte es dazu kommen?
Die Antwort lautet: Schuld sind die Mütter. Und die Mode. Der Zeitgeist.
Wer in den 50ern oder den frühen 60ern geboren wurde, war Kind der
Kriegsgeneration, Sohn einer Trümmerfrau. Die Trümmerfrauen haben
Häuser und Heimat aus Schutt und Schrott wieder aufgebaut, warme
Mahlzeiten zwischen Ruinen hergestellt und das Wirtschaftswunder
(c) Oliver Uschmann 2013
möglich gemacht. Sie hatten eine gesunde Haltung zu Körper und
Nahrung und zählten sie Kalorien, dann nur, um herauszufinden, ob sie
sich und ihren Jungen heute annähernd genug zugeführt hatten.
Als das Land wieder aufgebaut war, begann der Verfall.
Junge Frauen fingen an, sich Zeitschriften zu kaufen und sich ein Model
wie Twiggy zum Vorbild zu nehmen, die erste Magersüchtige der
Modegeschichte, eine Ikone ihrer Epoche. Im Grunde keine Frau, sondern
ein burschikoser Strich in der Landschaft. Die Modeschöpferin und
Parfümerfindern Coco Chanel stieß in dasselbe Horn. „Eine Frau“, sagte
sie und meinte es womöglich noch feministisch, „kann nie zu schlank und
nie zu reich sein.“ So fing es also an, dass die Mütter keine Muttis mehr
waren und schon gar keine Trümmerfrauen. Statt an Häusern und Heimen
bastelten sie fortan an ihrem eigenen Körper herum und hörten sogar
dann auf, ihren Instinkten zu folgen, wenn es dringend nötig ist – in der
Schwangerschaft. Mit einem kleinen, künftigen Fußballer im Bauch hatten
sie immer noch die Gelüste, die jede Schwangere hat, gingen ihr aber – die
Frauenzeitschrift auf dem Nachttisch – nicht mehr nach. Schrie ihr Körper
„Gurke mit Nutella!!!“, schlichen sie zum Kühlschrank, nahmen sich die
Gurke und ließen die Nutella weg. Wurden sie trotzdem rund, weil der
Mario, der Marco oder der Julian beim Wachsen nun mal ein wenig Platz
weg nehmen, regte sich in ihnen der Groll gegen die Verschandelung ihres
Körpers durch den frechen Mittelstürmer und sie aßen noch weniger, um
dem Unbill entgegenzuwirken. So fehlen den jungen Männern seit einigen
Jahrzehnten eine Menge Nährstoffe. Ihre Mütter setzen sie auf Zwangsdiät
im eigenen Körper. Das Ergebnis sind winzige Körper, Fliegengewichte,
mangelnder Bartwuchs und Tiki-Taka-Fußball.
Erste Ansätze dieses Trends sahen mein Vater, mein Onkel und ich 1990 in
Mittenwald allenfalls bei Andreas Möller. Der war bekanntlich Zeit seiner
Karriere als weinerliche Heulsuse verschrien und hatte schon damals
etwas Bubenhaftes. Heute würde man sagen, er war ein Emo. Und immer
haarlos im Gesicht. Die wenigen Männer, die heute im Fußball noch
Gesichtsfell tragen, wie etwa der Mittelfeldmacho Andrea Pirlo von
Juventus Turin, ziehen zur Belohnung sogar leisen Spott auf sich. „Wie
(c) Oliver Uschmann 2013
man bei der Oscar-Verleihung gesehen hat, scheint der Vollbart wieder in
Mode zu kommen“, sagte Thomas Müller mit einem Schmunzeln auf der
Pressekonferenz vor dem Champions League-Spiel der Bayern gegen den
italienischen Meister. Ausgerechnet Thomas Müller, der zwar keinen Bart
trägt, aber aussieht wie aus der Zeit gefallen. Jung, freilich, aber jung, wie
man in den 50ern jung war. Thomas Müller könnte mit einer Lederjacke in
Denn sie wissen nicht, was sie tun oder American Graffiti mitspielen.
Im Augenblick, in dem diese Zeilen entstehen, liegt neben Kaffeetasse,
Schlabberlatz und Kugelschreiber eine aktuelle Ausgabe von Europas
meistverkaufter Sportzeitschrift, zufällig aufgeschlagen an einer Stelle, an
der rechts ein Foto der aktuellen Nationalmannschaft und links ein Bild
aus der Bundesligasaison 1976/77 abgedruckt ist. Auf dem
Schwarzweißfoto geht der Belgier Roger van Gool kraftvoll zum Ball. Der
erste Spieler in der Geschichte der Liga, für den eine Millionen Mark
gezahlt wurden. Vier Jahre machte der Rechtsaußen dem 1. FC Köln große
Freude. Sein Gegner auf dem alten Foto sieht aus wie Tom Selleck in
Magnum: Breiter Schnauzer, dunkle Koteletten, markante
Wangenknochen. Van Gool selber ließ sich die Koteletten als Wangenbart
bis zum Kieferrand wachsen und hatte ein Antlitz wie ein Holzschnitt.
Beide Männer wirken dreifach so alt wie Götze, Schmelzer und
Schweinsteiger auf dem Foto gegenüber. Bastian Schweinsteiger erinnert
mich zudem seit seiner Existenz im Profifußball unglaublich an die
Tochter unserer Hausvermieterin, die während meiner Kindheit mit ihrer
Mutter und Schwester die zweigeschossige Wohnung unterm Dach
bevölkerte.
Eine gewisse Beruhigung stellt sich ein, wenn man sich vor Augen führt,
dass die kleinen, leichtgewichtigen und bartlosen Fußballmäuse trotz ihres
offensichtlichen Testosteronmangels keine Balletttänzerinnen sind.
Dribbelkünstler Patrick Herrmann etwa, der angibt, bei seinem ersten
Profieinsatz gerade mal „66 Kilo“ gewogen zu haben, beging in der
vergangenen Saison die meisten Fouls für Borussia Mönchengladbach. Als
Mittelfeldzauberer! „Ich gehe halt in jeden Zweikampf voll rein“,
(c) Oliver Uschmann 2013
kommentierte er diese altmodische Härte. Und mag auch er wie die
meisten seiner Kollegen sehr jung aussehen, hat er im Gegensatz zu ihnen
eine an Billy Idol oder alte Wildwest-Cowboys erinnernde, grob, groß und
gefährlich wirkende Mundpartie. Ein Beißer, sozusagen. Womöglich hat
seine Mutter beim nächtlichen Gang an den Kühlschrank als erste nach
vielen Jahrzehnten die saure Gurke nach listigem Schulterblick endlich
mal wieder ins Nutellaglas getaucht.
Das Warten auf die Action
Es gibt ein großes Geheimnis unter den meisten Menschen, die Fußball
gucken. Niemand spricht darüber. Keiner würde es jemals zugeben. Und
doch ist es wahr: Die Mehrheit langweilt sich beim Zusehen. Der größte
Teil der Zeit ist keine große Unterhaltung. Der größte Teil der Zeit ist
Warten auf die Action.
Seien wir ehrlich: Den Menschen aus dem alten Rom, die sich regelmäßig
im Circus Maximus versammelten, um den Gladiatoren zuzusehen, wie sie
von Löwen zerfleischt werden, würden beim Anblick eines Fußballspiels
entweder in Gelächter ausbrechen oder in Ohnmacht fallen. „Was soll das
sein?“, würden diese alten Römer fragen. „Die spielen sich doch bloß
gemütlich den Ball zu!“ Einen kleinen, einen winzigen Hauch, eine vage
Ahnung von dem, was früher bei öffentlichen Spektakeln üblich war,
würden diese Leute erkennen, wenn es zwischen zwei Spielern in den
Zweikampf geht. Oder eine Torraumszene kommt. Doch wann kommt die
schon? Es gibt Phasen in Fußballspielen, da passiert 25 Minuten lang
nichts. Überhaupt nichts. Die Reporter sagen dann: „Die Mannschaften
sind noch in der Abtastphase.“ Bei einer 25 Minuten langen Abtastphase
wären die Menschen im alten Rom längst auf die Barrikaden gegangen. Sie
schimpften und buhten schon, wenn sich die Gladiatoren im Duell
gegeneinander auch nur länger als zehn Sekunden ohne Schlag
umkreisten. Nach 10 Minuten hatten die Torwächter längst schon die
Löwen und anderen Bestien in die Arena gelassen. Und nach 25 Minuten
war nicht nur die Abtastphase schon längst gelaufen, sondern auch die
Auffressphase bereits vollendet.
(c) Oliver Uschmann 2013
Gerade bei Männern ist es erstaunlich, dass sie so viel Geduld haben. In
einem durchschnittlichen Fußballspiel gibt es mit viel Glück drei Tore,
zwölf Ecken, ein paar Freistöße und eine Handvoll harter Fouls und
Karten. Nur alle paar Jahrzehnte passiert außergewöhnliches und ein
Torwart beißt einem Mittelfeldspieler das Ohr ab. Oft passiert auf dem
Platz so wenig, dass die Fernsehkameras sich Nebenschauplätze suchen.
Jürgen Klopp etwa, wie er gerade wieder zur Bestie verwandelt, den
vierten Offiziellen mit dem Kopf voraus unter seine Trainerbank faltet
oder Jürgen Klinsmann, der damals bei einem wütenden Tritt gegen eine
Werbetonne mit dem gesamten Bein im harten Plastik stecken blieb und
sich den Oberschenkel aufriss. Würde in einem Ballerfilm so wenig
passieren wie beim Fußball, bestünden Terminator 2, The Transporter
oder Delta Force zu 85% aus Dialogen und Landschaftsaufnahmen. Wäre
Fußball ein Porno, gäbe es darin gerade mal drei Sexszenen in 90 Minuten.
Den Rest der Zeit spräche der Klempner mit seiner halbnackten Kundin
über energiesparende Heizungen und Flanschbreiten.
„Das Palaver, das Menschen beim Fußballgucken schon wegen der
kleinsten gelben Karte machen, entspringt der freudigen Erregung, dass
endlich überhaupt mal was passiert“, sagt meine Frau, und ich denke, da
hat sie Recht.
Eine Ausnahme von dieser Regel machen allerdings zwei
Menschengruppen im Publikum, die sanftmütig und ruhig die gesamten
90 Minuten genießen. Der Fachmann ( S. XY), dem in diesem Buch ein
einzelnes Kapitel gewidmet ist, und ich.
Ich habe nämlich beim Schauen von Fußball eine ganz seltsame
Empfindung, die womöglich niemand teilt und wenn doch, dann möge
man mir einen Leserbrief schreiben, damit ich weiß, dass ich nicht so
allein bin. Ich warte nicht nur nicht ungeduldig auf die Action – ich finde
die unspektakuläre Ruhe zwischendurch sogar besonders gut.
Den langweiligen Rückpass.
Die uninspirierte Flanke.
(c) Oliver Uschmann 2013
Das unspektakuläre Klären.
Es beruhigt mich, es ist wie Meditation.
Spiele ich FIFA 13 auf der PlayStation 3 wähle ich eben gerade nicht die
großen und spektakulären Mannschaften aus und simuliere auch nicht die
bedeutsamen Finalspiele. Ich setze mich auf das Sofa, entscheide mich für
den SV Sandhausen, Twente Enschede, Wacker Innsbruck oder
irgendeinen vollkommen unbekannten Zweitligisten aus Frankreich oder
Drittligisten aus England, wähle als Gegner eine ähnlich graue Maus und
spiele dann gemütlich in der Defensive den Ball hin und her.
Wie das sein kann, weiß ich nicht. Eine Erklärung mag darin liegen, dass
es mir schon reicht, einfach nur Spieler zu aktivieren, die in Wirklichkeit
gar nicht sooft drankommen oder wenig Fernsehzeit haben. Spiele ich
doch mal mit Dortmund, Bayern oder Barcelona, stelle ich die zweite
Garnitur auf den Platz. Ich freue mich, wenn ich am Joypad jemanden
einsetze, von dem ich irgendwo im Sonderheft des Kicker mal ein Wort
gelesen habe. Es fühlt sich dann an, als hätte ich nach langer Zeit einem
vernachlässigten Freund geschrieben oder statt Burger King in einer Stadt
auf Tournee absichtlich die kleine Imbissbude besucht. Das allein ist es
aber nicht, das gilt ja nur für deutsche Mannschaften. Spiele ich mit
LB Châteauroux aus der französischen Ligue 2 oder gar
Al Faisaly aus der saudi-arabischen Profiliga, kenne ich die Spieler nicht
und kann daher auch keine Wiedersehensfreude empfinden.
Ich denke, meine seltsame Freude am Unspektakulären hat damit zu tun,
dass die Action und das Große mir Druck machen. In der Musik zum
Beispiel höre ich gerne die Platten bekannter Bands, die als „schwächste“
oder „unwichtigste“ in ihrem Schaffen gelten. Das nimmt mir irgendwie
den Zwang, sie gut finden zu müssen. Natürlich plätschert ein Ballbreaker
von AC/DC belangloser vor sich hin als ein Back In Black (auch wenn
diese Band scheinbar immer gleich klingt) und natürlich ist ein spätes
Soloalbum von Paul McCartney nicht so gottgleich wie ein Rubber Soul der
Beatles. Aber das ist es ja gerade! In der alten Videothek meiner Jugend
war es ein Hobby von mir, am Wochenende gerade eben nicht den
neuesten Blockbuster zu leihen, sondern irgendeinen innovationslosen
(c) Oliver Uschmann 2013
08/15-Film mit Michael Dudikoff, der laut Filmmagazin „lieblos
runtergedreht“ wurde und von dem Dudikoff selber sagte: „Ich mache
einen Film und vergesse ihn wieder.“ Beim Wrestling bedauere ich es sehr,
dass in den Fernsehshows von Raw oder Smackdown! heutzutage immer
sofort Star gegen Star kämpft und es nicht mehr das gibt, was in den 90erJahren jede Sendung erst mal ganz gemächlich eröffnete: Kämpfe eines
Stars gegen einen absoluten No-Name-Kämpfer, einen so genannten
„Jobber“, der kein Image hatte, keine Figur darstellte, nur einen
stinknormalen Namen wie Mike Jackson trug und in jedem Fall ohne jede
Chance verlieren würde. Romane, die den Buchpreis bekommen, lasse ich
für „ordentliche“ Thriller links liegen, da sie mich einschüchtern.
Bekommt ein Videospiel im Test überall nur mittelmäßige Noten, werde
ich sofort darauf aufmerksam. Meine Lieblingsformulierung aus 25 Jahren
Phrasendrescherei in den Fachmagazinen zu Musik, Film oder Spielen, die
bei uns daheim schon zum geflügelten Wort geworden ist, lautet:
„Grundsolide Genrekost für Fans.“
Fußball, das ist in der Mehrheit der Spiele und der Zeit auf dem Platz,
nicht mehr und nicht weniger als grundsolide Genrekost für Fans. Und die
meisten davon Warten auf die Action. Deswegen schaut auch keiner
ernsthaft Aufzeichnungen von Spielen, die er nicht live sehen konnte und
wenn doch, macht er es wie beim Porno: Er spult zur Action vor.
Ich nicht.
So, nun beende ich dieses Kapitel. Mein Teller ist auch leer. Die Pizza
Gorgonzola war grundsolide. Ich sitze nicht bei einem Edelitaliener,
sondern im Ali Baba Grill in Engen, einer kleinen Stadt im Schwarzwald.
Da zurzeit die Nationalteams in der WM-Qualifikation spielen, fielen am
Wochenende die erste und die zweite Bundesliga aus. Sport1 zeigte also
vorgestern statt des üblichen Montagabendspiels aus der 2. Liga als Ersatz
die Partie Kickers Offenbach gegen Hessen Kassel. Ein Spiel aus der
vierten Klasse, der Regionalliga Nordwest. So unspektakulär, dass der
Klempner überhaupt nicht zum Rohrverlegen kommt.
(c) Oliver Uschmann 2013
Es muss sich dennoch gelohnt haben, denn ohne Quote macht ein
Fernsehsender gar nichts.
Womöglich gibt es doch ein paar Menschen, die so sind wie ich.
(c) Oliver Uschmann 2013
Die wichtigsten Phrasen und ihre Bedeutung
„Die Null muss stehen!“
Unter Fußballfans kann man niemals etwas falsch machen, wenn man sich
als Realist gibt. Also, in Deutschland. Skepsis ist schließlich unser zweiter
Vorname und wer im Leben als abgeklärt und erwachsen gelten möchte,
sagt Sätze wie: „Mach erst mal eine ordentliche Ausbildung, Junge!“ Oder:
„Wer Visionen hat, muss zum Arzt gehen!“ Ein Satz dieser Güteklasse im
Fußball lautet: „Die Null muss stehen!“ Das reicht eigentlich schon. Laut in
die Runde gepoltert darf man danach sein Glas abstellen und noch ein
wenig nachnicken, den Blick an den Leuten vorbei zur lockeren Schraube
in der Garderobe neben dem Eingang der Kneipe, die Augen leicht getrübt
vom Bier und zugleich klar vor Realitätssinn. Will man noch einen
drauflegen, setzt man nach zwei Sekunden Sprechpause neu an und sagt:
„Es ist doch so: Offensive gewinnt Spiele, aber Defensive gewinnt Titel.“
Wie wahr diese Weisheit ist, erlebte ich im Sommer 2004 in einem
italienischen Restaurant in Berlin-Wedding. Am Vormittag hatte ich für
180 Euro im Monat eine winzige Wohnung zur Untermiete in Pankow
ergattert, in der ich bald ein Jahr lang leben würde, um mein Praktikum in
Berlins größter Werbeagentur anzutreten. Mein Nachtzug heim in den
Ruhrpott ging erst um Mitternacht. Als Freund aller Stadtviertel, die man
nicht auf Postkarten sieht, schlurfte ich den Rest des Tages durch
Kreuzberg, Friedrichshain, Neukölln und eben Wedding, misstrauisch
beobachtet von den Einheimischen, einer latent bedrohlichen Mischung
aller möglichen Subkulturen von Asselpunk bis Gangster-Rapper. In einer
Pizzeria nahe des Cineplex Alhambra fand ich Zuflucht, Wärme und vor
allem: Fußball. In einem kleinen Fernseher sah ich beim Mümmeln
meiner mächtigen Margarita das Viertelfinale der Europameisterschaft:
Griechenland gegen Frankreich. Es war eine Sensation, dass die Griechen
damals überhaupt bis unter die letzten acht vorgedrungen waren. Nun
bestaunte ich gemeinsam mit dem Wirt, seinem Bruder, seinem anderen
Bruder, seinem dritten Bruder, seinem Schwager und seines Schwagers
(c) Oliver Uschmann 2013
Bruder, wie die Helden aus Hellas sogar die haushoch favorisierten
Franzosen beseitigten. Fünf Tage später besiegten sie die Tschechen im
Halbfinale. Am 4. Juli errangen sie unter den ungläubigen Augen der
ganzen Welt den Europameistertitel gegen die Portugiesen. Die Anzahl der
Tore, welche die Griechen gegen Frankreich, Tschechien und Portugal
benötigten, lautete: Drei.
Eins pro Spiel.
Das reicht vollkommen aus, wenn, ja wenn … hinten die Null steht.
Der Schöpfer des griechischen Wunders 2004 war bekanntlich ein
Deutscher. Otto „Rehakles“ Rehhagel, ein Mann wie ein Baum, mit der
Stimme eines Nebelhorns, den Gesichtszügen eines Höhenkamms und
dem Selbstbewusstsein eines germanischen Gottes. Und: Mit einer
Überzeugung. Offensive gewinnt Spiele. Defensive gewinnt Tore.
Wie keiner vor ihm, trainierte Rehhagel seine Mannschaft darauf, so
trocken, humorlos und hart zu verteidigen, dass der Gegner 90 Minuten
lang gegen eine Burgmauer rennt. Rehhagel war es egal, wie diese
Strategie auf das Publikum wirkte und wie sehr die Kritiker schimpften. Er
scherte sich nicht darum, dem Fußball angeblich die Schönheit zu
nehmen. Er wollte nicht schön spielen, sondern mit einem Personal den
Titel gewinnen, dass technisch dazu eigentlich gar nicht in der Lage war.
Brauchte es auch nicht. Denn hinten stand die Null. Die Gegner
verzweifelten an der Zwecklosigkeit ihrer Angriffe, und den Griechen
genügte jeweils ein präziser Wespenstich hinein in das offen liegende
Nervensystem.
Etwas Vergleichbares erlebte ich in meiner Zeit als Vereinsspieler im
Tischtennis, wo einer von 100 Gegnern sich auf reine Verteidigung verlegt
hatte. Solche grausamen Menschen beklebten ihre Schläger mit den zwei
fiesesten Belägen überhaupt. Auf der einen Seite lange Noppen, die dafür
sorgen, dass der zurückgeschlagene Ball eiert wie ein Matrose auf
Landgang, auf der anderen Seite Anti-Spin, ein Spezialmaterial, das den
Schnitt aus den Angriffsbällen nimmt. Beide Beläge verzichten in so einem
Fall auf die gelbe Gummiunterlage, um noch mehr Tempo rauszunehmen.
(c) Oliver Uschmann 2013
Jedes Rückspiel, das von so einem Spielgerät kommt, klingt wie pures
Holz.
KLOCK!
KLOCK!
Wer so ein Spiel beherrscht, steht einfach nur da und bringt alles, aber
auch wirklich alles, was man ihm um die Ohren schießt, mit stoischem
Blick wieder zurück.
KLOCK!
KLOCK!
Man wird vollkommen wahnsinnig, weil es gegen diese Defensive kein
Mittel gibt und es sich anfühlt, als würde man vom Ball verfolgt wie von
einem besessenen Hund, den man aus dem Haus jagt und der sofort
wieder knurrend hinter einem steht, obwohl man gerade die Tür
geschlossen hat.
KLOCK!
KLOCK!
Man weiß rational, dass man den buddhistischen Irren auf der Gegenseite
nur besiegen kann, indem man eben nicht ständig schmettert und sich zu
Fehlern provozieren lässt – und dann passiert es doch wieder, da man
nach fünfzig Ballwechseln im Schneckentempo schlichtweg denkt, dass es
nie mehr endet. Man sieht die Jahre draußen vor der Turnhalle
vorüberziehen. Man weiß, man sieht seine Freunde nie wieder, die
Familie, und Oma, „die wird ja auch nicht jünger“, wie Mutter immer sagt.
Prozessionen der Trauer werden an der Halle Richtung Friedhof
vorüberziehen, die Oma aufgebahrt, und drinnen, hinter dem dreckigen
Milchglas, wird immer noch das KLOCK! KLOCK! Der Partie ertönen, da
der tibetanische Geduldsmensch mit den langen Noppen alles zurück auf
die Platte bringt, da er nie essen und trinken muss und da sein Bart nicht
wächst, während man selber schon über ihn stolpert.
Genauso ist es den Gegnern der Griechen bei der EM 2004 ergangen und
auch, wenn es so aussah, als wäre dieser Trend eine Eintagsfliege gewesen,
hat Otto Rehhagel in Wirklichkeit die eine, große Wahrheit des Fußballs
damit manifestiert. Defensive gewinnt Titel. Bis heute. Spanien wurde
(c) Oliver Uschmann 2013
2010 zwar vorne heraus mit schönem Tiki-Taka Weltmeister, hatte aber
mit Pique und Puyol auf dem Höhepunkt ihrer Kraft auch das beste
Innenverteidigungsduo der Welt. Italien erkämpfte sich den WM-Titel
2006 mit knüppelharten Typen wie Cannavaro und Materazzi in der
Verteidigung. Bayern München gewann 2012/2013 das Triple auch
deshalb, weil sich für die Abwehrreihe Lahm – Dante, Boateng – Alaba mit
Javi Martinez und Schweinsteiger als Sechsern und Manuel Neuer als
Torwart alle Clubs der Welt zu der Zeit ein Bein ausgerissen hätten.
Überträgt man das Prinzip „Die Null muss stehen!“ auf das Leben, fallen
einem zwei wichtige Bereiche ein. Die Finanzen und die Ordnung.
Reichtum – so begreift es der Nachfolger von Rehakles im Geiste – ist
nicht die reine Höhe des Einkommens, sondern die Differenz zwischen
Einnahmen und Ausgaben. In Berlin sollte ich in den Monaten nach dem
denkwürdigen griechischen Abend beim Italiener in der Musikbranche
und in der Werbewelt Menschen kennenlernen, die 1 Millionen Euro im
Jahr einnahmen, aber 1,5 Millionen ausgaben. Ständig nah am Herzinfarkt
und vollkommen verwirrt darüber, warum sie eigentlich Schulden haben,
waren sie ärmer als die Menschen aus der Buchbranche oder der
Kleinkunst, die mir begegneten und die es irgendwie schafften, von 25.000
Euro im Jahr noch 8.000 zur Seite zu legen, weil sie ihre Kosten auf ein
Minimum reduzierten. Sie hatten begriffen, was es heißt, wenn die
Defensive funktioniert. In Sachen Ordnung wiederum bedeutet „die Null
muss stehen!“ die ebenso bittere wie wahre Erkenntnis, dass es Arbeit
bedeutet, Ordnung überhaupt nur aufrechtzuerhalten. Tut man nichts,
kippt alles in den Abgrund und schneller, als man denkt, steht jede freie
Fläche im Haus mit Sachen zu und die Fruchtfliegen fressen den
Dachstuhl. Das Käsebrot von letzter Woche findet sich auf der Rückseite
des Steuerordners unter den Prospekten auf dem Schreibtisch und der
Fernseher fällt aufgrund von Wandschimmel aus der Verankerung.
Wer stets nur „angreift“ – also sich um alles Mögliche kümmert, statt erst
mal zu spülen, zu waschen und den Müll rauszubringen – mag wichtige,
neue Geschäftskontakte knüpfen, kann sie aber niemals zu sich nach
Hause einladen, da sie sich sonst genötigt fühlen, auf der Stelle den
(c) Oliver Uschmann 2013
RTLII-Messie-Hilfstrupp zu holen. Wer immer nur Akquise macht, aber
über das, was gewesen ist, keine Buchhaltung führt, hat irgendwann den
Steuerfahnder vor der Tür, der alle Gewinne zunichtemacht. Wer (wie viele
Workaholics) über die Arbeit sogar sich selbst und seinen Körper
vernachlässigt, mag das Dreifache an Terminen unterkriegen, sieht sich
aber irritierten Blicken ausgesetzt, da ihm unbemerkt die Popel in der
Nase hängen und sich an den Haaren, die aus den Ohren wachsen, gerade
eine Spinne abseilt. Ordnung in Haus, Hof, Papieren und am Mann
erfordert ständiges Pressing und Druck gegen den Ball, ist aber essenziell
für ein würdevolles Leben. Es ist Arbeit, dafür zu sorgen, dass die Null
steht. Am Ende zahlt es sich aus.
Als ich an dem Sommerabend in Wedding mit vollem Bauch und
beeindruckt von der griechischen Leistung die Pizzeria verließ, dachte ich
an diese Erkenntnis und sah auf dem Weg zum Bahnhof plötzlich überall
Baustellen. Die abgeplatzten, gelben Fliesen in der U-Bahn-Station. Eine
Schaukommode für Plakate mit kaputter Scheibe. Ein Fahrkartenautomat,
dessen Geldschlitz mit einem längst festgetrockneten Kaugummi verklebt
wurde.
Alles marode.
Alles unter null.
Und ich dachte mir: Der Staat kapiert es nicht, mit der Defensive. Er baut
gigantische, neue Bahnhöfe aus achtzig Trilliarden Tonnen Glas und Stahl.
Er baut Philharmonien, neue Flughäfen, Prestigeobjekte. Alles eine große,
schillernde, glamouröse Offensive. Aber hinten, in der Fläche, da geht alles
den Bach runter. Hinten steht keine Null.
Der Nachtzug kam eine halbe Stunde zu spät.
Als ich gegen 1 Uhr in der Koje einschlief, träumte ich von der alten
Tischtennisturnhalle, und das Geräusch der Bahnschwellen wurde im
Traum zu einem steten, gnadenlosen … KLOCK!
KLOCK! KLOCK!
…
KLOCK!
(c) Oliver Uschmann 2013
„Wenn er rauskommt, muss er ihn haben!“
Der Torwart hat beim Fußball scheinbar die einfachste Aufgabe. Er steht
zwischen den Pfosten, beobachtet in Ruhe das Spiel und wartet ab, bis der
Ball auf ihn zufliegt. Er muss weniger laufen, hat mehr Zeit, zu reagieren
und da, wo ihm die Zeit nicht bleibt, gilt der Schuss, wenn er reingeht, im
Nachhinein sowieso als „unhaltbar“.
So denkt sich das der Laie.
Nichts könnte unwahrer sein.
Wer nach außen wie sogar nach innen ein echtes Verständnis für den
Fußball entwickeln möchte, sollte sich klarmachen, wie schwer es der arme
Torhüter hat. Und er (oder sie) sollte sich einen Satz merken, der im
Doppelpass zwar dazu führt, ins Phrasenschwein spenden zu müssen, der
aber abseits von professionellen Fußball-Talkshows im Fernsehen unter
normalen Fans immer gut kommt: „Wenn er rauskommt, muss er ihn
haben!“
Dieser Satz ist – laut, vorwurfsvoll und mit Betonung auf dem „raus“ wie
auf dem „haben“ – immer dann zu äußern, wenn folgende Spielsituation
eintritt. Die Abwehrreihe hat nicht aufgepasst oder sich doof angestellt.
Ein oder zwei Angreifer des Gegners sind durchgebrochen und nicht im
Abseits. Oder ein Mittelfeldspieler des Gegners hat gerade einen schönen,
hohen Pass über die Köpfe der Abwehrspieler gelupft und ein Stürmer
läuft los und wird diesen hohen Pass gleich aufnehmen. In diesem
Augenblick muss der Torwart in Sekundenbruchteilen entscheiden, was er
nun angesichts der dunklen Bedrohung tut.
Stehenbleiben?
Oder Rauskommen?
Bleibt er stehen, macht er sich auf der Torlinie so breit wie möglich,
fletscht die Zähne und hofft, dass der Stürmer so nervös wird, dass er
danebenschießt. Das war rund 100 Jahre lang die Taktik des Titanen
Oliver Kahn, der so lange Nationaltorhüter war wie vor ihm Helmut Kohl
unser Bundeskanzler. Kahn blieb stets dort, wo sein Lebensraum nun
einmal war – im Tor –, es sei denn, das Tor wurde gerade gar nicht
(c) Oliver Uschmann 2013
angegriffen und er hatte Zeit, aufs Feld zu laufen und einem Gegner das
Ohr abzubeißen oder die eigenen Mannschaftskameraden zu
Motivationszwecken zu würgen wie Homer Simpson seinen Sohn Bart, bis
ihm die Augen aus dem gelben Schädel quellen. Lief ein Angriff auf das
bayerische oder deutsche Tor, stand Kahn … und stand … und stand.
Während er stand, fixierte er den Gegner mit den Augen und brachte ihn
völlig aus dem Konzept. Was viele nicht wissen: Oliver Kahn war ein
Telepath. Er vermochte es, in den Kopf eines Gegners einzudringen und
ihm schreckliche Bilder ins Gehirn zu speisen. Der Stürmer sah dann für
eine Sekunde keinen Menschen mehr im Tor vor sich stehen, sondern
glaubte, er renne auf das riesige Maul eines vorsintflutlichen Ungeheuers
zu oder auf den größten aller Fische, das Wassermonster im Ozean des
Planeten Naboo in Star Wars – Episode 1. War der Angreifer etwas
willensstärker, konnte Oliver Kahn keine komplett neuen Phantasien in
seinen Kopf pflanzen, aber zumindest sein eigenes Aussehen ins Groteske
verzerren. Sein blonder Schopf mutierte dann zur Mähne, seine Augen zu
den funkelnden Jagdscheinwerfern eines Löwen in der Savanne und sein
ohnehin großer Mund zu einem aufgerissenen Brüllen mit scharfen
Zähnen. Da an seinem rechten Schneidezahn ohnehin noch ein Fetzen
Haut vom Ohr Heiko Herrlichs klebte, war dieses Drohgeste gleich doppelt
glaubwürdig.
Heißt man nicht Oliver Kahn und fühlt man sich außerdem dem
„modernen Spiel“ verpflichtet und entscheidet sich nicht fürs
Stehenbleiben, sondern fürs Rauskommen. Wobei dieses Spiel gar nicht so
modern ist, wie es immer heißt, wenn man bedenkt, dass Deutschlands
„Torhüter des Jahrhunderts“, Sepp Maier, zu seiner Zeit Ende der 60er
bis Anfang der 70er stellenweise der König der Rauskommer war. Solche
Details vergessen die Menschen allerdings schnell. Der „moderne“ oder
sagen wir dann besser, der „flexible“ Torwart verlässt jedenfalls häufig
seine Grundlinie und rennt auf das Geschehen zu. Entweder auf den
ballführenden Angreifer oder auf den hoch Richtung Tor fliegenden Ball,
den gleich einer annehmen könnte. Rennt er auf den ballführenden
Angreifer zu, dient das dem Zweck, „den Winkel zu verkürzen“. Je näher
(c) Oliver Uschmann 2013
der Stürmer dem Torwart kommt, desto schwerer kann er an ihm
vorbeischießen. Und alle versuchen ja, links oder rechts am Torwart
vorbeizuschießen, denn wo talentierte Ärzte nach einigen Jahren des
Studium und der praktischen Übung als Assistent Operationen am offenen
Gehirn ausführen können, sind 99% der Fußballer auch nach einem
Jahrzehnt der Züchtung im Sportinternat nicht fähig, den Ball einfach mit
der Fußspitze vom Rasen zu heben und über den Torwart drüber zu
lupfen. Im Grunde beherrscht das immer nur ein Spieler pro Generation,
zurzeit Lionel Messi … oder jeder zehnjährige Junge auf den Straßen von
Rio und Búenos Aires.
Rennt der Torwart nicht auf einen ballführenden Stürmer, sondern auf
den hoch Richtung Strafraum fliegenden Ball zu, muss er ihn mit den
Fäusten wegboxen, bevor ein Angreifer ihn einköpfen oder weiterleiten
kann. In diesem Fall trifft er mit seinen Fäusten häufig statt des Balls den
Angreifer oder einen eigenen Verteidiger in der Spielertraube. In den
wenigen Fällen, in denen Oliver Kahn in seiner Karriere mal „rauskam“,
stand nach der „Faustabwehr“ im Umkreis von 25 Metern niemand mehr.
Der Torhüter hat es also deshalb so viel schwerer, als der eingangs
erwähnte Laie immer denkt, weil er bei jedem Angriff eine gewichtige
Entscheidung treffen muss. Eben: Stehenbleiben oder Rauskommen.
Bleibt er stehen, gibt ihm kaum jemand die Schuld am Tor, da die
Situation auf der Grundlinie der beim Elfmeter ähnelt. Kommt er aber
raus und kann das Tor trotzdem nicht verhindern, liegt die Schuld
grundsätzlich bei ihm. Denn, was sagen wir dann?
„Wenn er rauskommt, muss er ihn haben!“
Dass dieser vorwurfsvolle Satz immer so gut funktioniert, liegt vor allem
am Nachfolger Oliver Kahns in der Legendengalerie des deutschen
Fußballs, Manuel Neuer. Der gilt seit Jahren als „bester Torhüter der Welt“
und verkörpert das „moderne Spiel“ zugleich wie kein Zweiter. Er kommt
so gerne und so häufig raus, dass man den Eindruck bekommt, der beste
Keeper der Welt könne das Torwartsein überhaupt nicht leiden und wolle
viel lieber mitspielen. Getrieben von heilloser Hibbeligkeit benimmt sich
(c) Oliver Uschmann 2013
der ehemalige Schalker Ultra aus der Nordkurve wie ein Junge auf dem
Bolzplatz, der zwar eigentlich Torwart spielt, aber bei Aktionen seiner
Mannschaft immer mit nach vorne rennt. Rückpässe seiner Verteidiger
liebt er über alles, da er sie ja mit dem Fuß annehmen muss und die
ungeliebten Hände dabei weglassen darf. Gerne wartet er daraufhin ab, bis
sich ein Angreifer nähert, um ihn wie früher auszufummeln. „Als
Feldspieler ist er gut genug für die 3. Liga“, heißt es in der Presse immer
und wenn er kann, bereitet er mit weiten Einwürfen sogar direkt Tore vor.
Weitwurf liebt er sowieso, da bekam er bei den Bundesjugendspielen
immer die „Ehrenmedaille“ (tz, Oktober 2011). Ferner spielt er, wo er
kann, nebenbei Tennis, bis ins 14. Lebensjahr sogar im Verein. Muss er im
Tor einfach nur warten, dass endlich was passiert – was bei Bayern sehr
oft vorkommt – nimmt seine innere Unruhe unglaubliche Ausmaße an. Er
löst dann im Kopf Algorithmen und mathematische Rätsel, diktiert
Aufsätze und Gedichte in sein kaum sichtbares, über das Vereinswappen
eingenähte Diktiergerät oder gräbt mit den Stollen heimlich dezente
Stolperlöcher für die Angreifer, die er mit der gelösten Grasnarbe lose
wieder bedeckt wie eine Klappfalle im Dschungel. Kommt er dann
schließlich raus und wehrt einen Angriff erfolgreich ab, müssen ihn seine
Kollegen aus der Verteidigung jedes Mal bremsen, beim Konter nicht mit
nach vorne zu laufen. Gelingt es ihm nicht, beim Rauskommen das Tor zu
verhindern, wird es ihm als einzigem Torhüter der Welt ein jedes Mal
verziehen. Zwar ruft auch dann jeder Fan vor dem Fernseher auf dem Sofa
oder in der Kurve „Mann, wenn er rauskommt, muss er ihn doch haben!“,
an seinem Status als Stammkraft in der Nationalmannschaft ändert das
aber aufgrund von Löws paranoider Personalpolitik ( S. XY) nichts. Dort
bliebe er sogar dann unangetastet, wenn er sich beim Angriff des Gegners
umdrehen und versuchen würde, den Ball mittels eines Fallrückziehers aus
dem Tor zu dreschen.
Ich für meinen Teil nutze den Torhüter-Satz privat, um unserem Kater
Vorwürfe zu machen. Darf er schließlich zwischendurch in den Garten und
erspäht dort augenblicklich eine fiepende, zwischen dem Storchenschnabel
und den Thujen verborgene Maus, gelingt es ihm meistens nicht, sie zu
(c) Oliver Uschmann 2013
kriegen, obschon er bei den Übungsrunden mit dem Laserpointer im Haus
den huschenden, kleinen Punkt sogar bekommt, wenn dieser an der
Zimmerdecke neben dem Halogenstrahler zuckelt. „Boah!“, rufe ich dann
laut über die Hecke, „wenn du schon rausdarfst, musst du sie haben!“ Man
darf als Trainer eben auch nicht lockerlassen.
„Wenn der runterkommt, ist Schnee dran!“
Der Ball fliegt hoch in der Partie Bochum gegen Barcelona. Sie findet
natürlich nicht in Wirklichkeit statt, sondern auf der PlayStation. Ich
spiele die Jungs aus dem Ruhrpott und Michael die Spanier. Der
Moderator des Spiels, Manni Breuckmann, sagt: „Wenn der wieder
runterkommt, dann ist Schnee dran!“ Michael drückt auf Pause und
springt von der Couch auf: „Da war er!“
„Wer?“
„Der Spruch! Mit dem Schnee!“
Tatsächlich. Ist mir noch nie aufgefallen. Spiele ich alleine gegen die
Konsole, kam er bislang nicht vor.
„Wie geil!“, sagt Michael, ungewöhnlich erfreut. Die meisten Spieler der
beliebten Reihe FIFA halten nur wenig von den Kommentaren, die von
den echten Fußballmoderatoren Manni Breuckmann und Frank
Buschmann für das Game eingesprochen wurden. Es sind tausende von
Sätzen und Einzelworten für viele verschiedene Situationen, die mal
passend und mal nicht ganz so passen geladen werden. Aber selbst
Tausende reichen freilich nicht aus, um es so klingen zu lassen, als sei der
Kommentar tatsächlich individuell der Partie angepasst. Spielt man viel,
wiederholt sich alles irgendwann. Das nervt die meisten. Ich finde es gut.
Der Grund, warum ich es gut finde, ist meine Kindheit. Also die, die ich bis
weit über die 18 Jahre hinaus gestreckt habe. Mein Vater hatte seine aktive
Laufbahn hinter sich, als Spieler sowieso, aber auch als Trainer. Wenn ich
meine Eltern fortan am Wochenende besuchte, ging ich mit ihm als
Besucher sonntags zu den Spielen des örtlichen Vereins. Wir kauften
Kuchen mit Kaffee oder Bier mit Wurst und gesellten uns zu den Alten (
(c) Oliver Uschmann 2013
S. XY) an der Blechbande. Dieses Rudel forscher Männer sagte auch nicht
mehr Sätze als die vorprogrammierten Stimmen in der Konsole. Im
Grunde sogar viel weniger. Wie alle Fußballgucker, auch und gerade in den
Amateurligen, hatten sie für jede Spielsituation eine feste Phrase. Schoss
in den ersten fünf Minuten noch keine Mannschaft aufs Tor, sagten sie:
„Die tasten sich erst mal noch ab.“
Entschied sich das Heimteam, heute mal keinen Fußball zu spielen,
sondern den Gegner nur durch Rennen, Beißen und Treten
niederzuringen, sagten sie: „Beim Fußball gibt es keinen Schönheitspreis
zu gewinnen.“ Oder wahlweise: „Fußball ist kein Mädchenpensionat.“
Geriet die Mannschaft unter Druck und bekamen im eigenen Strafraum
ständig den Ball um die Ohren geschossen, senkten sie ihre Stimme,
schüttelten mit kullernden Augen den Kopf und dröhnten: „Oh Mann, da
hinten brennt es lichterloh!“
Während solche Sätze einfach nur die Lage polemisch in Worte fassen,
tragen andere eine witzige Pointe in sich. Sie überspitzen und erschaffen
ein originelles Bild. Daher liebte ich es besonders, als mein Vater das erste
Mal sagte: „Wenn der runterkommt, ist Schnee dran!“ Ich lachte mich
kaputt, begeistert und zufrieden. Es fühlte sich an, als glitzerten Flocken
auf seinem Schnauzbart, mitten im August. Da war ich fünf und schlürfte
auf den Stufen hinter der Bande eine Caprisonne Kirsch. Dreizehn Jahre
später, die Ellbogen auf dem Geländer und ein Bier in der Hand, sagte
mein Vater den Satz vom Schneeball immer noch. Und ich lächelte. Die
Regel, einen Witz nicht zwei Mal zu machen, ist im Fußball vollkommen
aufgehoben. Die Tatsache, dass die programmierten Stimmen auf der
PlayStation immer dasselbe sagen, passt insofern sogar gut zur
Wirklichkeit. Der Small Talk am Spielfeldrand dient nicht dem
Informationsaustausch oder dem Erkenntnisgewinn über das Spiel. Er
dient dazu, sich gegenseitig verbal das Fell zu kraulen. Die Männer
könnten ebenso gut lediglich Geräusche von sich geben wie Lemuren,
Schimpansen oder Koboldmakis. Wobei diese Tiere wahrscheinlich, würde
man ihre Sprache übersetzen, viel mehr Verschiedenes erzählen als der
Homosapiens. Allerdings – das ist ganz wichtig für das Überleben an der
(c) Oliver Uschmann 2013
Bande – dürfen die Phrasen nicht willkürlich angewendet werden. „Wenn
der runterkommt, ist Schnee dran!“ zum Beispiel gilt nur für Bälle, die
sehr steil in den Himmel fliegen und nur sehr langsam wieder
heruntergekommen. Sie gilt nicht für Torschüsse, die weit über die
Querlatte gehen. Sie gilt nicht für großzügig geschlagene Flanken. Ferner
ist sie unpassend bei hohen Ecken, Lupfern oder normalen
Torwartabschlägen. Im Grunde genommen gibt es nur zwei Situationen, in
denen sie angebracht ist.
Erstens: Der Torwart schlägt den Ball nicht normal ab, sondern
übertrieben steil, fast senkrecht nach oben, was meistens ein Versehen ist
und bei Profis so gut wie niemals vorkommt.
Zweitens: Ein Stürmer zieht Vollspann ab und ein Verteidiger bringt ganz
eng den Fuß dazwischen, so dass der Ball davon abspringt und statt
geradeaus in den Himmel saust.
Beide Szenen kommen selten vor, weshalb die Schneeballphrase ihre
weihnachtliche Frische nicht bei jedem Spiel entfalten kann.
Auch im echten Leben lerne ich mit der Zeit Menschen, die immer das
Gleiche sagen, mehr und mehr zu schätzen. Klar habe ich als Schriftsteller
das Bedürfnis, interessante Gespräche zu führen und beim Schreiben
selber werfe ich immer wieder einen Blick auf das große Faltblatt mit
verbotenen Phrasen und verbrauchten Metaphern, die man in einem
Roman auf keinen Fall verwenden darf. Und ein Grund, warum ich meine
Frau so liebe ist, dass die Gespräche, die ich mit ihr führe, selbst am
Handy unterwegs und bei rauschendem Fahrtwind schon nach fünf
Minuten zu Themen wie Platons Höhlengleichnis, Quantenphysik oder der
Suche nach der Weltformel führen.
Aber so, im Alltagsleben, unter Halbfremden, da gibt es eine Weisheit in
der Wiederholung. Die Entlastung der Menschen von der Anstrengung,
beim Sprechen jedes Mal auch noch denken zu müssen. Man weiß eben,
(c) Oliver Uschmann 2013
was man im Supermarkt, beim Bäcker oder gar beim SchnittchenEmpfang auf der Buchmesse so zu sagen hat. So wie man, wenn man mal
ganz entspannt gar nicht denken will, beim Fußball an der Bande einfach
die Phrasen aneinanderreiht:
„Das war ein Auftakt nach Maß.“
„Im Fußball ist alles möglich.“
„Man merkt, dass sie es wollen.“
„Die Tagesform wird heute entscheidend sein.“
Klingelt bei uns an der Haustür der Postbote, beginnt automatisch
folgender Ablauf:
Ich: Hallo.
Postbote: Hallo.
Ich: Wetter heute, oder?
Postbote: Ja, Wetter.
Ich: Aber ist ja angenehm.
Postbote: Man kann es sich nicht aussuchen, oder?
Ich: Nein. Man steckt nicht drin.
Postbote: Ein paar Kataloge habe ich auch noch.
Ich: Immer her damit. Die Wirtschaft muss auch leben.
Und so weiter.
Locker und angstfrei kann man sich fallen lassen in das Hin und Her
vorprogrammierter Wendungen und innerlich dabei ganz woanders
bleiben. Nach langen Nachtsitzungen am Rechner soll es schon
vorgekommen sein, dass ich diesen Dialog an der Tür im Schlaf geführt
habe, ohne einen Fehler zu machen. Hat man mir gesagt. Ich weiß nichts
darüber.
In Freundeskreis oder Herkunftsfamilie wird es sogar zum
Charaktermerkmal, welche Sätze ein Mensch immerfort wiederholt. Sie
sind so etwas wie die persönliche Titelmelodie, ein Markenzeichen. Meine
Großmutter väterlicherseits etwa lobt sich, seit ich sie kenne und die
(c) Oliver Uschmann 2013
menschliche Sprache verstehen kann, selber dafür, dass sie „mit den
Leuten immer Späße macht“ und mit niemandem streiten kann. „Die
kennen die Oma!“, sagte sie schon, als sie vom Alter her noch keine Oma
war, und sitze ich heute bei ihr als meiner letzten lebenden Verwandte
dieser Generation, wiederholt sie jedes Mal die Geschichten von der
ehemaligen Nachbarskatze, die von ihrem Frauchen mit dem Stock
geschlagen wurde, meiner Oma allerdings im wahrsten Sinne des Wortes
aus der Hand fraß. Ich höre es mir zu Ende an, jedes Mal und weiß, die
Story endet mit den Worten: „Ja, Oliver. Du weißt das ja. Wir sind halt
verrückt mit den Tieren.“ Wir, die Katzenfreunde. Ich kann den gesamten
Text seit Jahren nachsprechen. Ich habe sie sehr, sehr lieb.
Einen anderen Text, den ich auswendig nachsprechen kann, ist sämtlicher
Dialog aus Quentin Tarantinos Film Jackie Brown, den ich stets in Hotels
als DVD bei mir trage und in den Laptop schiebe, sobald ich Stress habe.
Wiederholung beruhigt mich, wie ein Kind, das seine Hörspiele immer und
immer wieder hört, nur dass die Lieblingssätze der Tarantino-Figuren
kaum kindertauglich sind. Der Gangster Ordell Robbie (Samuel L.
Jackson) erzählt seinem Kumpel Louis (Robert deNiro) im Film ständig
ungefragt seine Lieblingsphrasen über Handfeuerwaffen. Ich kann jede
einzelne davon mitsprechen. „AK-47. The very best there is. When you
absolutely, positively got to kill every motherfucker in the room, accept no
substitutes.” Solche Sachen sage ich in Hotels laut vor mich hin, noch im
Flur auf dem Weg zum Frühstück, in breitestem Gangster-Englisch. Die
Leute gucken seltsam, aber was soll’s. Ich brauche mein beruhigendes
Mantra. Also brummele ich weiter: „That there is a TEC. Little cheap-ass
spray gun made outta South Miami.“ Der pure Buddhismus.
Michael und ich haben bei FIFA 13 eine neue Partie angefangen, aber es
geht nicht voran, weil ich kaum ernsthaft spiele, sondern die ganze Zeit
nur versuche, Manni Breuckmann noch mal zu dem Spruch mit dem
Schnee am Ball zu bewegen. Aber es klappt nicht.
„Du kannst es nicht erzwingen“, sagt Michael.
(c) Oliver Uschmann 2013
„Der Ball muss nur hoch genug“, sage ich. „Stell dich noch mal mit einem
Spieler vor mich und lass die Pille abprallen.“
„So geht das nicht“, sagt Michael.
Ich versuche einen hohen Abstoß. Manni Breuckmann sagt gar nichts.
Ich grummele.
Es klingelt an der Tür.
Der Postbote.
Michael schaltet im Wohnzimmer kurzfristig auf den TV-Kanal um. Ich
öffne die Tür und sage: „Hallo.“
Dann nehmen die Dinge ihren Lauf.
(c) Oliver Uschmann 2013
Die Länder
Deutschland – Die humorlosen Streber
Es gibt ein großes Geheimnis unter den meisten Menschen, die Fußball
gucken. Niemand spricht darüber. Keiner würde es jemals zugeben. Und
doch ist es wahr: Die Mehrheit wünscht sich manchmal heimlich, unsere
Deutschen würden endlich mal einen auf den Sack kriegen.
Natürlich nur in den unwichtigen Spielen! Das ist klar. Denn gerade in
diesen Partien benimmt sich die deutsche Nationalmannschaft so nervig
wie die Schulstreber früher in der Klasse. Die, die vor und nach jeder
darüber klagten, wie schwer alles sei und dass sie bestimmt versagt hätten
und dann doch wieder je-de-s ver-fluch-te Mal ihre glatte Eins bekamen.
Ich schreibe diesen Text einen Tag nach dem letzten Gruppenspiel der
Deutschen in der WM-Qualifikation gegen Schweden. Es ging um nichts
mehr, nur um die Ehre und die Schweden gingen 2:0 in Führung. Der
ungeschlagene Tabellenführer Deutschland drohte, das erste Mal besiegt
zu werden und das, obwohl die Schweden ohne ihren Leitwolf Ibrahimovic
antraten. Und dann? Macht André Schürrle alleine drei Tore! Und die
Deutschen insgesamt fünf! Aus einem 0:2. Und so läuft das immer! Sie
verlieren solche Spiele einfach nicht. Gehen sie in Rückstand, aktiviert sich
wie von selbst das Strebernaturgesetz. Zwerggegner bezeichnen sie erst
Recht als „schwer“, lassen dann eine ganze Halbzeit lang zu, dass die
Außenseiter ihnen ein 0:0 abzwingen und hauen dann am Ende, als hätten
sie einfach nur gewartet, wieder ein paar Buden rein. Spielerisch viel
schöner und ansehnlicher als früher, ist der deutsche Fußball unverändert
humorlos. Er hat das Verlieren nicht eingeplant und stets alle Mittel parat,
es rechtzeitig zu verhindern. Die Gegner wiederum scheitern an der
Urangst aller Länder dieser Welt, dass die Deutschen am Ende doch ihre
Interessen durchsetzen. Die Nationalmannschaft im Fußball folgt da dem
Beispiel der Kanzlerin. Sie lächelt harmlos durch und am Ende finden sich
alle Minister, die ihr gefährlich werden konnten, in der Arbeitslosgkeit
wieder. Nur in Finalspielen, da gilt die Regel von Gary Lineker aufgestellte
Regel „Ein Spiel dauert 90 Minuten und am Ende gewinnen die
(c) Oliver Uschmann 2013
Deutschen“ nicht mehr. Da haben die Streber seit nunmehr 14 Jahren
Angst vor ihrer eigenen Courage.
Irland – Die grünen Hobbits
„Die Iren sind in der Stadt.“ Das war noch nie ein bedrohlicher Ausruf.
Während englische Fans je nach Tagesform dazu fähig sind, eine Stadt wie
Dresden wieder in den Zustand von 1944 zu versetzen, sind die Green Boys
grundsätzlich friedlich. Friedlich und lukrativ. Die Kneipen und
Gaststätten des Spielortes, in dem die irische Nationalmannschaft zu Gast
ist, verzeichnen am Tag des Spiels den fünffachen Umsatz, ohne dass vor
ihrer Tür auch nur eine einzige Geranie aus dem Bottich gerissen wird. Der
Alkohol, den sich die Iren fässerweise in den Hals schütten, hat überhaupt
keine Auswirkung auf ihr Aggressionszentrum. Ihre Augen bleiben lieb
und zutraulich wie die verspielter Hunde. Ihre Lippen öffnen sich zum
Absingen rustikaler Lieder ohne Pause. Mit ihren angewinkelten Armen
suchen sie nach Schunkelpartnern und mit dem Kopf nach der nächsten
großen Schulter zum bierseligen Anlehnen. Die Iren sind die Hobbits unter
den Menschen. Sogar das absolute Rauchverbot in Kneipen, das
ausgerechnet das Land der Pubs 2005 als erstes in der ganzen Welt (!)
einführte, nahmen sie hin (das wäre bei den Pfeifenfreaks im Auenland
schwieriger geworden), ohne die Regierung zu stürzen. Im Oktober 2013
verließen sie nach nur zwei Jahren wieder den Euro-Rettungsschirm und
hatten alle nötigen Reformen erledigt, ohne jeden Tag mit manischen
„Merkel = Hitler“-Plakaten durch die Straßen zu stampfen. Die „Boys in
Green“ auf dem Rasen sind ähnlich einfach zu nehmen. Ihr Fußball ist
rustikal schlicht und voller Herzblut. In Musik gesprochen, tanzen die
Brasilianer Samba, die Franzosen geben die Drama Queen des Chanson
und die Iren machen aus jeder Partie einen herzhaften Irish Folk-Abend.
Der irische Kapitän und Gallionsfigur Roy Keane spielt seit Ende des
Bürgerkriegs von 1921 für die kernigen Kelten. Ihren größten Erfolg bei
der Weltmeisterschaft 1990, wo sie es bis ins Viertelfinale schafften und
dort an Italien scheiterten, werden sie in absehbarer Zeit nicht
(c) Oliver Uschmann 2013
wiederholen, was weder die Spieler noch die Fans aus der Ruhe bringt.
Man hat ja Zeit.
Vor allem für noch ein Bierchen.
Oder fünf.
Portugal – Die majestätischen Mitfavoriten
Eines der wichtigsten Worte beim Fußball, das bislang in diesem Buch
noch nicht vorkam, lautet: „Mitfavorit“. Bei einer WM werden die
teilnehmenden Teams üblicherweise in drei Mengen aufgeteilt. Vier,
höchstens fünf Mannschaften gelten als „Favoriten“ auf den Titel. Bei der
WM 2014 dürften das Brasilien, Spanien, Deutschland, Argentinien und
die Niederlande sein. Ach, was … wenn man ehrlich ist, sind es im Grunde
immer Brasilien, Spanien, Deutschland, Argentinien und die Niederlande.
Diesem „Favoritenkreis“ steht eine große Menge an „Außenseitern“ und
wegzuräumenden Statisten gegenüber. Aber dazwischen, als Puffer, kleben
die „Mitfavoriten“, auch „der erweiterte Favoritenkreis“ genannt. Hier
leben die Mannschaften, denen man jedes Mal einen Titel zutraut, auch,
wenn es unwahrscheinlicher ist. Frankreich, England, Italien … und
Portugal. Allein: Im Gegensatz zu ihren Kollegen haben die Portugiesen
noch nie irgendeinen Titel gewonnen. Noch nie! Wie kann es dann sein,
dass sie jedes Mal wieder als „Mitfavorit“ gehandelt werden? Die Antwort
lautet: Sie sehen so aus. Würden sie ihre Rolle ablehnen und wütend
fragen: „Was? Sehe ich aus wie ein Favorit?“, könnte man diese Frage klar
mit „Ja!“ beantworten. Und das gilt nicht nur für den Weltstar Christiano
Ronaldo, der Torhüter wie Frauen weltweit weinen lässt, sondern für alle.
In der Verteidigung steht dort mit Pepe das angsteinflößendste Bollwerk
( S. XY) der ganzen Fußballwelt, ein gnadenloser Menschenzerleger.
Linksaußen wiederum das Gegenteil: Fábio Alexandre da Silva Coentrão.
Eine Mischung aus Jürgen Klinsmann und dem ganz jungen Rod Steward.
Im Mittelfeld: João Moutinho, der portugiesische Bradley Cooper, der
problemlos eine Rolle in Hangover 4 übernehmen könnte. Oder Nani, ein
unglaublich viriler Athlet, der den Kampfsport-Tanz Capoeira beherrscht
und eine Zeit lang auch als Torjubel benutzte. Eine Figur, wie man sie in
(c) Oliver Uschmann 2013
einem Martial Arts-Videospiel oder einer neuen Folge von Bloodsport im
Halbfinale gegen Jean-Claude van Damme antreten lassen könnte. Gegen
solche Männer wirkt beim Gegner die Eifersucht … und die ist stark. Daher
wird für Portugal auch weiterhin nur der Titel der am besten aussehenden
Elf übrig bleiben.
(c) Oliver Uschmann 2013
Der Autor
Oliver Uschmann weiß, worüber er schreibt. Als Sohn eines passionierten Spielers
und Trainers (Jürgen Uschmann), der es als junger Mann bis in die damalige 3.
Liga schaffte, begleitete ihn der Fußball sein Leben lang. Er selbst blieb
Bolzplatz-Held, Hobbykicker und Nerd. Seit Jahrzehnten studiert er die KickerSonderhefte wie Bibeltexte, spielt Fantasiefußball mit imaginären Ligen im
Garten, führt laut Interviews mit sich selbst hinter der Hecke und verbringt keinen
Tag ohne Ball am Fuß oder FIFA 13 auf der PlayStation.
In den Romanen zu Hartmut und ich sowie der Jugendbuchreihe Finn spielt
Fußball immer wieder eine Rolle. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia Witt
versorgt Uschmann das Publikum vom Dorf im Münsterland aus mit Romanen
und Ratgebern für junge Menschen von 11 bis 99, interaktiven Webseiten,
Schreibworkshops, Textcoaching sowie Briefen und Päckchen ans eigene
Publikum, wenn es Fehler in den Büchern entdeckt oder einfach nur nett
geschrieben hat. Die Bücher werden in WG-Küchen und LKW-Kojen ebenso
gelesen wie in Schulen oder Unis. Sie gewinnen Literaturpreise und haben
trotzdem schon über 500.000 Exemplare verkauft. Zur „Hui-Welt“ der Hartmut
und ich-Romane gab es 2010 mit Ab ins Buch! auf dem Kulturgut Haus Nottbeck
sogar eine große Event-Ausstellung mit Lesungen, Konzerten, Begegnung … und
einem großen Fußballtag, versteht sich.
www.hartmut-und-ich.de // www.wortguru.de
www.facebook.de/oliveruschmann
Uschmann wälzt sich nach simuliertem Foul an sich selbst
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