Die deutsche Perspektive – Nationalsozialismus und Auschwitz

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Die deutsche Perspektive – Nationalsozialismus und Auschwitz
Ein Referat von Andreas Kraus
Ich beginne mit einem Zitat, von dem ich glaube, dass es wie in einem Fokus das Wesentliche
enthält, was nach Auschwitz und unter Bezug auf Auschwitz zu sagen ist: „Hitler hat den
Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr
Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches
geschehe.“ (Adorno, Negative Dialektik, S. 358) Adorno, der jüdische Philosoph und
Soziologe, von den Nazis ins amerikanische Exil getrieben und nach dem Krieg nach
Frankfurt zurückgekommen, richtet sich in diesem Zitat explizit an alle Menschen, nicht nur
an die Deutschen, betont also die universale Perspektive der ethischen Verpflichtungen, die
aus Auschwitz zu ziehen sind. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Aufforderung, eine
Wiederholung von Auschwitz oder ähnliche Ereignisse nicht zuzulassen, nicht beliebig ist.
Sie ist eine moralische Verpflichtung, der unmittelbar, unbedingt und jederzeit zu folgen ist –
das ist der Sinn des philosophischen Terminus vom „kategorischen Imperativ“, wie ihn
Immanuel Kant im 18. Jahrhundert verwandte. Und diese Forderung bezieht sich nicht nur auf
das praktische Handeln, sondern auch auf das Denken der Menschen.
Wenn man akzeptiert, dass es sich hierbei um eine allgemeine ethische Verpflichtung
handelt, der alle Menschen zu folgen haben und die etwa auch in der UNMenschenrechtscharta dem Sinn nach enthalten ist, so kann man sicherlich mit guten Gründen
argumentieren, dass es für die Deutschen (und die Österreicher, auf die ich hier aber nicht
weiter eingehen werde) eine besondere ethische Verpflichtung gibt, diesem neuen
kategorischen Imperativ entsprechend zu handeln. Um einige dieser Gründe wird es im
Folgenden gehen. Ich möchte aber für meine Zuhörer aus Israel und Polen darauf hinweisen,
dass diese ethische Verpflichtung in Deutschland keinesfalls ein zentraler Bestandteil des
moralischen Alltagsbewusstseins oder der politischen Kultur ist. Man kann aber sicherlich
behaupten, dass sich wesentliche Auseinandersetzungen in der politischen und kulturellen
Arena der Nachkriegsgeschichte Deutschlands um moralische und rechtliche Implikationen,
die mit Auschwitz und dem Nationalsozialismus verbunden sind, drehten und bis heute
drehen – und voraussichtlich, mit nachlassender Schärfe, auch in Zukunft noch drehen
werden. Aber dazu auch im Laufe meines Referates mehr.
Wenn hier von „Auschwitz“ die Rede ist, dann ebenfalls in einem besonderen Sinn. Er ist,
wie wir wissen, zunächst der deutsche Name für das Konzentrations- und Vernichtungslager
beim gleichnamigen Städtchen, das heute in Polen liegt. Er war also ein geographischer und
administrativer Begriff; in der Regel wurden alle Lager nach in der Nähe liegenden Orten
benannt. „Auschwitz“ wurde nach dem Krieg weltweit zum bekanntesten aller Lager und zum
Synonym für das nationalsozialistische Lager- und Vernichtungssystem überhaupt, kurz: für
den menschenverachtenden und –vernichtenden Terrorzusammenhang des NS-Regimes, der
in besonderer Weise im Todeslager - und speziell in diesem - kulminierte. Der Ortsname ist
damit zu einer historisch - universalen Chiffre, einer fast schon tranzendentalen Kategorie
geworden, entkoppelt von der exakten geographischen Zuschreibung. Vermutlich wissen sehr
viele Menschen auf dieser Welt zwar, dass es sich um ein Todeslager während der Nazizeit
handelt, können aber nicht angeben, wo es sich befand oder wo sich jetzt Gedenkstätte und
Museum befinden.
Jeder Begriff, den wir als historischen Terminus Technicus verwenden, um das Geschehen,
auf das wir uns beziehen möchten, zu kennzeichnen, hat einen eingeschränkten semantischen
Hof und erhält von dorther auch die Perspektive, unter der er betrachtet wird. „Holocaust“
und „Shoah“ z.B. bezeichnen vor allem die Perspektive der jüdischen Opfer des NS-Terrors;
in der historischen Semantik der Volksrepublik Polen war (und ist) „Oswiecim“ vor allem der
Ort, an dem zuerst die polnische Nation gelitten hat. Es ist schwierig, einen Begriff zu finden,
der das komplexe historische Geschehen treffend charakterisiert, den verschiedenen
Perspektiven Rechnung trägt und den Opfern gerecht wird. In Ermangelung eines
geeigneteren Begriffes werde ich hier also im oben erwähnten Sinn von „Auschwitz“ reden
und beziehe dabei ausdrücklich alle Lager und alle Gruppen von Menschen mit ein, die dem
NS-Regime zum Opfer gefallen sind. Damit möchte ich aber die semantischen Probleme
weder lösen noch verschweigen; im Gegenteil, die Auseinandersetzung um die Begriffe ist ein
wesentlicher Aspekt der Erinnerungsdiskurse.
Strafe, Schuld, Verantwortung
Karl Jaspers, ein deutscher Philosoph, hat in seiner kleinen Schrift „Die Schuldfrage“
unmittelbar nach dem Krieg vier Schuldbegriffe unterschieden, auf die man sich im
wesentlichen auch heute noch sinnvoll beziehen kann.
Die elementarste und eindeutigste Schuld ist nach Jaspers diejenige im strafrechtlichen Sinn.
Ihr zufolge sind nach den allgemein anerkannten Maßstäben des Strafrechts die Menschen zu
verfolgen und zu bestrafen, die das Leben, den Körper, die Psyche, den Besitz anderer
Menschen vorsätzlich und mutwillig zerstört oder beschädigt haben, kurz: die die Rechtsgüter
anderer Menschen missachtet haben. Die Bilanz zur Strafverfolgung der NS-Täter fällt für die
bundesrepublikanische Strafjustiz und die Strafverfolgungsbehörden nicht positiv aus. In den
unmittelbaren Nachkriegsjahren waren die alliierten Militärgerichte zuständig, nach 1949
dann die west- bzw. ostdeutsche Justiz. Strafrecht und Strafverfolgung gerieten in den
Windschatten des Kalten Krieges. Während in der DDR die Strafverfolgung von NS-Tätern
häufig propagandistisch genutzt wurde um den Klassenfeind zu attackieren und die eigene,
zumeist nur kommunistische Opfermythologie zu konstruieren, ging es in Westdeutschland
darum, innenpolitische und wirtschaftliche Stabilität und Westintegration zu erreichen. Das
primäre politische Interesse bestand nicht darin, NS-Täter zu fassen und zu bestrafen. Zumal
der Justizapparat zu großen Teilen aus der NS-Zeit übernommen wurde. Vor deutschen
Gerichten war es bis zu den großen Auschwitz-Prozessen in Frankfurt in den 60er Jahren
durchaus üblich – wenn es überhaupt zu Anklagen kam - , dass unter Hinweis auf den
sogenannten „Befehlsnotstand“ Freisprüche bzw. nur geringe Strafen ergingen. Die Justiz,
die im III. Reich willfähriges Instrument des Terrorstaates war, mutiert im demokratischen
Deutschland zu einer „Mörderwaschmaschine“, einem Instrument der Exkulpation. Während
die Praxis der Strafverfolgung rechtsstaatlich gesehen sicherlich ein Skandal war (und
teilweise ist), muss man zugestehen, dass auf der Ebene der Rechtsnormen, die die
Bundesrepublik aus Auschwitz abgeleitet hat, durchaus Sinnvolles zustande kam. Die
Grundrechte mit ihrer Präferenz für die Würde und den Schutz des Individuums vor
staatlichen Zugriffen, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und auf Asyl für politisch
Verfolgte (was leider in den 90ern eingeschränkt wurde), Antidiskriminierungsgesetze, das
strafrechtliche Verbot der sogenannten „Auschwitzlüge“ und des Verwendens
verfassungsfeindlicher Symbole stehen sicherlich auf der positiven Seite.
Der zweite Schuldbegriff, den Jaspers nennt, ist derjenige der politischen Schuld. Er betrifft
vor allem die politischen und gesellschaftlichen Eliten, die das System an die Macht gebracht
und gestützt haben, und die Wähler der Nationalsozialisten. Während mit der allgemeinen
gesellschaftlichen Strukturveränderung in der DDR hier in der Tat eine Entmachtung der
traditionellen Eliten stattfand (wenngleich um den Preis der Etablierung einer
antidemokratischen neuen Elite), so mussten die Eliten in der Bundesrepublik keinen
nennenswerten politischen Preis für ihre Kollaboration mit dem Nazi-Regime zahlen. Die
Naziorganisationen wurden zwar aufgelöst und verboten, aber der weitaus größte Teil der
Mitglieder fand sich, nach einer kurzen Re-Education-Phase, als gewendeter Demokrat im
neuen Deutschland erstaunlich gut zurecht. Juristen, Ärzte, Intellektuelle, Wissenschaftler,
Manager, Unternehmer, sie alle, die ihre Aspirationen mit den Nazis und der Nazi-Ideologie
verknüpft hatten, wurden nicht zur politischen Rechenschaft gezogen und etablierten sich gut
in den oberen Rängen der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft. Der Journalist
Ernst Klee hat übrigens gerade in diesen Wochen ein Buch veröffentlicht, das den
empirischen Nachweis zu dieser These führt. Erst mit der Studentenbewegung, mit der
Rebellion der jungen gegen die alte Elite, einem klassischen Generationenkonflikt, geriet
dieser modus vivendi etwas in die Schräglage. Die junge Elite war nicht länger bereit, die
Lebenslügen der alten mit zu tragen. Das hat zwar an den Machtverhältnissen nicht viel
geändert, aber zumindest den Zwang zu einer politisch-moralischen Rechtfertigung für die
Kollaboration mit den Nazis in die politische Arena der Bundesrepublik gebracht, der seitdem
nicht wieder verstummt ist.
Auch bei diesem politischen Schuldbegriff lässt sich feststellen, dass auf der Ebene der
politisch-normativen Fundierung der Bundesrepublik weitergehende Konsequenzen aus dem
Geschehen von Auschwitz gezogen wurden. Wir haben ein stabiles demokratisch-politisches
System mit befriedigenden Partizipationschancen und eine republikanische Öffentlichkeit, die
weitgehend nach rationalen und normativen Standards funktioniert. Man würde sich
wünschen, dass mehr gegen Rechtsradikalismus und Antisemitismus vorgegangen würde,
aber im Großen und Ganzen funktionieren die politischen Reflexe und rechtsstaatlichen
Instrumentarien. Als Motor der europäischen Einigung und als Skeptiker hinsichtlich
militärischer Konfliktlösungen ist die jetzige bundesrepublikanische Polit-Elite eingebunden
in zivilgesellschaftliche und internationale Strukturen, die eigene Rückfälle in politische
Irrationalität und Barbarei unmöglich machen sollen. Das scheint auch ein überparteilicher
Konsens zu sein. Ebenso ist es unumstritten, dass die heutige politische Elite für das
Existenzrecht des Staates Israel und für die Aufnahme Polens in die EU eintritt – auch das
sind besondere politisch-moralische Verpflichtungen, die andere Staaten dieser Welt nicht
ohne weiteres unterschreiben würden.
Der dritte Schuldbegriff ist der moralische. Er betrifft die deutsche Tätergesellschaft vor allem
als Gesellschaft von Mitläufern und Zuschauern, von „Bystanders“. Im Unterschied zur
strafrechtlich relevanten Schuldkategorie, die in der Regel nach rechtsstaatlichen Kriterien
öffentlich vor Gericht verhandelt wird und zur politischen Schuldkategorie, die in der
politischen Arena der Gesellschaft verhandelt wird, ist moralische Schuld eine individuelle
Gewissenskategorie, die vor dem eigenen inneren Gerichtshof, wie Kant es anschaulich
bezeichnete, ausgetragen wird. Selbst wenn nur ein verschwindend kleiner Teil der Deutschen
zu den unmittelbaren Tätern und Mördern gehört hat, so muss man doch zugestehen, dass der
überwiegende Teil zwar nicht unmittelbar und unbedingt sympathisierte mit dem Vorgehen
gegen politische Gegner, behinderte Menschen und jüdische Bürger, aber sich doch
weitgehend indifferent wenn nicht gar zustimmend verhielt. Zivilcourage und aus moralischen
Einsichten vermittelter Widerstand gegen Entrechtung, Deportation und Vernichtung waren
die ganz große Ausnahme. Das Dilemma dieser Generation ist, dass ihr moralisches
Selbstbewusstsein zerstört ist, ob aus Angst vor dem Terror, aus Anpassungsbereitschaft oder
klammheimlicher Zustimmung.
Weil Moral eine „weiche“ Kategorie ist, keine, die sich unmittelbar in Strafrecht, politische
Institutionen oder politisches Handeln umsetzen lässt, wissen wir wenig über die innere
moralischpsychologische Verfasstheit der Mitläufergeneration. Moralisches Handeln besteht
im wesentlichen darin, zu den Taten zu stehen, sie nicht zu verleugnen oder zu verdrängen.
Große Teile der bundesrepublikanischen Erinnerungsdiskurse sind daher Debatten vor dem
Hintergrund eines schlechten Gewissens. Und das sollten sie auch sein. Die Gereiztheit, in der
sie geführt werden, ist dabei ein Indikator, dass diese Vergangenheit (noch?) nicht vergehen
will. Das unwürdige und hinhaltende Gebaren der deutschen Wirtschaft bei der
Entschädigung der Zwangsarbeiter zeigt, welche Widerstände es zu überwinden galt, als eine
konkrete ethische Verpflichtung aus Auschwitz anstand. Im kollektiven nationalen
Gedächtnis werden Auschwitz und der Nationalsozialismus vermutlich noch lange für ein
schlechtes Gewissen sorgen, mindestens aber für Scham. Trotzdem hat im Laufe der Zeit eine
moralische Transformation stattgefunden. Die Kategorie der moralischen Schuld wandelt sich
in der Generationenfolge zur Kategorie der moralischen Verantwortung und greift damit den
Verpflichtungsimpuls aus dem neuen kategorischen Imperativ auf, wie ihn Adorno
formulierte. Wie oben schon erwähnt: für uns Deutsche gilt er in besonderer Weise, nicht nur
in allgemeiner. Das impliziert für uns viel stärker als für alle anderen Nationen, die von
Auschwitz und dem Nationalsozialismus betroffen waren, dass wir moralisch in der
Verantwortung und Pflicht stehen, Erinnerung und Scham historisch zu bewahren.
Die letzte Schuldkategorie, die Jaspers erwähnt, ist die metaphysische. Sie ist etwas schwer zu
fassen, weil mit dem Begriff eine Menge Voraussetzungen verbunden sind, und Jaspers nicht
genau erläutert, was er damit verbindet. Vielleicht soviel: Das Geschehen von Auschwitz ist
ein absoluter Bruch mit der Humanität, ein Zivilisationsbruch, wie es ihn vorher nie gab und
wie er auch kaum noch gesteigert vorgestellt werden kann. Es passierte im 20. Jahrhundert, in
Europa, begangen von einer Nation, die die Menschheit mit Kultur bereichert hatte – und nun
mit dem meisterhaften Tod. Zwangsläufig wirft dieses Ereignis fundamentalere Fragen auf,
als jedes historische oder physikalische Ereignis vor ihm und nach ihm. Theologie und
Religion, Geschichte und Wissenschaft, ja das menschliche Selbstverständnis selbst sind in
Frage gestellt, weil sie nicht vermocht hatten, im Zivilisationsprozess ein Verhalten des
Menschen zu sich selbst zu etablieren, das Auschwitz verhindert hätte. Vielleicht noch mehr:
Dass es der Zivilisationsprozess selber war, der Auschwitz mit hervorgebracht hat. Ich kann
das hier nur andeuten und auf die Überlegungen von Adorno in der „Negativen Dialektik“
dazu verweisen. Jedenfalls geht es im Rahmen dieser Schuldkategorie darum, die
außerhistorische Bedeutung von Auschwitz zu fassen. Mag sein, dass diese Dimension für uns
heute, mehr als 50 Jahre danach und mit den Erfahrungen des weitergehenden Weltlaufes im
Rücken nicht mehr so tragend ist wie für die mittelbar oder unmittelbar Betroffenen. Aber ich
wollte sie doch erwähnen. Und diese Schuld, so Jaspers, tangiert uns alle, weil wir fragende
und suchende Menschen sind.
Erinnerung und Gedenkstätten
„Im Hause des Henkers spricht man nicht vom Strick“ – diese psychologische Binsenweisheit
gilt naturgemäß für Deutschland in besonderem Maße. Ich beginne zur Illustration mit einem
Beispiel, das ich selbst erlebt habe und das sicherlich idealtypisch steht für den Umgang mit
der Vergangenheit. Die protestantische Kirchengemeinde der Kleinstadt, in der ich lebe, lädt
zu einer Veranstaltung ein. Der ehemalige Stadtarchivar hat sich nach seiner Pensionierung
mit dem Schicksal der jüdischen Mitbürger dieser Kleinstadt beschäftigt und akribisch
recherchiert, wo und wie sie lebten und was mit ihnen zwischen 1933 und 1945 passierte. Ein
durchschnittliches Bild: in dem Städtchen lebten etwas mehr als 50 Bürger mit jüdischer
Religionszugehörigkeit, was prozentual dem Durchschnitt im damaligen Deutschen Reich
entsprach. Auch ihr Schicksal fällt nicht aus dem Rahmen: Boykott-Maßnahmen, Arisierung,
Entrechtung, Emigration, Brand der kleinen Hinterhaus-Synagoge (und Löschung durch die
ortsansässige Feuerwehr), Deportation, Tod. Der Stadtarchivar hatte die Zeit als Kind und
Jugendlicher selbst mit erlebt, ja er war Augenzeuge des Synagogenbrandes während der
Pogromnacht vom 9.11.38.
Also, auf Einladung der Kirchengemeinde berichtet er unprätentiös und sachlich vor etwa 60
meist älteren Zuhörerinnen und Zuhörern über das Schicksal der verschwundenen Nachbarn,
nennt Namen, Straßen und Hausnummern, sagt, was er als letzte Nachricht des Verbleibens
vor dem mutmaßlichen Tod (deportiert nach Warschau, deportiert nach Riga, nach
Auschwitz) von einigen in Erfahrung gebracht hat. Nach ca. 45 Minuten endet der Bericht –
die Reaktion: keine! Nicht eine Nachfrage, keine Äußerung des Bedauerns, nichts –
Stockschweigen, Aufstehen, raus. Dabei kannte die überwiegende Mehrheit der Zuhörer die
Verschwundenen, sie kamen aus der gleichen Alterskohorte. In einer Kleinstadt mit wenigen
tausend Einwohnern kennt man den jüdischen Arzt, den Rechtsanwalt, den Kaufmann, den
Viehhändler.
So mag diese kleine Episode als typisches Bild erscheinen: die bundesdeutsche Gesellschaft
wird von einzelnen (Historikern, Theaterleuten, Pädagogen) konfrontiert mit den
Geschehnissen. Der mainstream schweigt – vor allem, wenn er involviert war.
Die Herstellung von diskursiver Öffentlichkeit und Erinnerung ist ein schmerzhafter Prozess,
der auf die schweigende Mehrheit trifft und immer wieder gegen sie, selten mit ihr,
durchgesetzt werden muss. Ich zitiere aus den letzten Sätzen des Kommentars zum Film
„Nacht und Nebel“, der den Sinn von Gedächtnis und Erinnerung in diesem Zusammenhang,
bezogen auf die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland, lyrisch verdichtet: „Wer
also ist schuld? Während ich zu Euch spreche, dringt das Wasser in die Totenkammern. Es ist
das Wasser der Sümpfe und Ruinen. Es ist kalt und trübe wie unser schlechtes Gedächtnis.
Der Krieg schlummert nur. Auf den Appellplätzen und rings um die Blocks hat sich das Gras
angesiedelt. Die Krematorien sind außer Gebrauch. Die Nazimethoden außer Mode. Diese
Landschaft, die Landschaft von 9 Millionen Toten! Wer von uns wacht hier und warnt uns,
wenn die neuen Henker kommen. Haben sie wirklich ein anderes Gesicht als wir? (...) .Es gibt
noch all jene, die nie daran glauben wollten, oder nur von Zeit zu Zeit. Und uns, die wir beim
Anblick dieser Trümmer aufrichtig glauben, der Rassenwahn sei darunter für immer
begraben. Uns, die wir tun, als schöpften wir neue Hoffnung. Als glaubten wir wirklich, dass
alles dies nur einer Zeit und nur einem Lande angehöre. Uns, die wir vorbeisehen an den
Dingen neben uns und nicht hören, dass der Schrei nicht verstummt.“
Es geht also explizit nicht um rituelle Formen des Gedenkens, sozusagen eines Gedenkens um
des Gedenkens willen, sondern primär um eine reflexive Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit, eine, die Bezüge zur Gegenwart herstellt. Die Gedenkstätten sind
gewissermaßen die topographischen Merkposten im Erinnerungsdiskurs. Verteilt über
Deutschland und das damals okkupierte Europa können sie ein Netzwerk der erinnerten
Verbrechen bilden. Leitend wäre dabei die Intention, auf der Folie der Vergangenheit
Entrechtungsprozesse in der Gegenwart schärfer wahrzunehmen.
Der innere Zusammenhang zwischen Selbstreflexion als Erinnerung und einer
demokratischen Kultur der Anerkennung des anderen Menschen als Person wird deutlich,
wenn man sich das Beispiel der Türkei anschaut. Der Völkermord an den Armeniern ist dort
nicht relevanter Gegenstand schulischer Bildungsprozesse; Gedenkstätten, die an das
Schicksal der deportierten und ermordeten Armenier erinnern, gibt es nicht. Also eine
Strategie der gezielten Ausblendung, um die Gegenwart nicht mit Selbstkritik hinsichtlich der
Situation von Menschenrechten im eigenen Land zu belasten. Europa verweigert der Türkei
nicht zuletzt deshalb, also wegen der unbefriedigenden menschenrechtlichen Situation, die
Mitgliedschaft in der Europäischen Union.
Insofern ist es kulturgeschichtlich eine Leistung, wenn nicht nur der eigenen zu beklagenden
Opfer gedacht wird, sondern wenn man im Land der Täter selbst der Ermordeten gedenkt.
Das geplante und nun im Bau befindliche große Holocaust-Mahnmal in Berlin, auch kritisch
als „offizielle Kranzabwurfstelle“ bezeichnet, kann und muss gerade wegen seiner
herausgehobenen Position in der Topographie der deutschen Hauptstadt diese Wunde in der
kollektiven Erinnerung der Deutschen offen halten. Vieles hängt allerdings davon ab, wie
diese Erinnerung in den kommunikativen Prozessen der Gesellschaft mit sich selbst gestaltet
wird. Sie bleibt aber eine negative Erinnerung, dass heißt eine, die sich an „die anderen“
erinnert, an diejenigen die, soziologisch gesprochen, nicht zur eigenen Gruppe gehören,
sondern zur Gruppe der Fremden. Im Hause des Henkers muss daher vom Strick gesprochen
werden – leider gibt es in unserem Haus zu viele Stricke, über die kaum geredet wird.
Auschwitz, moderne Gesellschaft und Zukunft
Die moderne Gesellschaft ist, wenn man den Soziologen Glauben schenken möchte, vor allem
zweckrational. Sie interessiert sich wenig für Geschichte, Ideologien und Religionen; ihre
Imperative sind Effizienz und Funktionalität, gesteuert von Wirtschaft und Recht. Folgt man
dem vorsichtigen und skeptischen Geschichtsoptimismus von Kant, dann entspricht der
unprätentiöse Prozess der europäischen Einigung diesem soziologischen Modell einer an
Sachlichkeit und Problemlösung orientierten Entwicklung moderner Gesellschaften auf
supranationaler Ebene. Es ist im Moment schlecht vorstellbar, dass europäische Staaten aus
dem Verbund der EU aus religiösen, ideologischen, imperialistischen oder sonstigen Gründen
Krieg gegeneinander führen. Handelskriege sind das höchste der Gefühle.
Kriege, Hass, Gewalt haben aus europäischer Sicht etwas merkwürdig Anachronistisches und
Surrealistisches, etwas, das nicht in die Welt hochmoderner Gesellschaften mit ihren
funktionalen Konfliktlösungsmodellen passt. Staaten und Nationen, sofern sie republikanisch
verfasst sind, so war auch Kants Hoffnung, machen so etwas nicht mehr, es sei denn
völkerrechtlich legitimiert und moralisch sanktioniert, etwa im Gefolge von UNO-Missionen.
Auschwitz ragt daher wie ein Relikt aus der Vergangenheit in die europäische und auch
deutsche Gegenwart, repräsentiert einen Typus von menschlicher Geschichte, in dem das
große Schlachten noch üblich war. Auch die Massenmorde auf dem Balkan, erst vor wenigen
Jahren begangen, entziehen sich dem befriedeten Blick auf menschliches Miteinander.
Allenfalls unter kriminalistischen und forensischen Blickwinkeln kann man sich dem
Geschehen auf dem Balkan aus der Perspektive postmoderner Gesellschaften noch nähern,
verstehen kann man nicht mehr, weshalb Menschengruppen aus religiösen und
nationalistischen Gründen einander massakrierten.
Was das Gedenken an und in Auschwitz angeht, so wird es einen Formwandel geben müssen.
Wir beobachten es schon in der Architektur der Gedenkstätten, die Elemente der Postmoderne
und des Dekonstruktivismus in sich aufnehmen, etwa im jüdischen Museum in Berlin, beim
Holocaust-Memorial in Washington oder auch beim geplanten Holocaust-Mahnmal in Berlin.
Gedenken und Erinnerung lösen sich vom direkten historischen Kontext und gewinnen
symbolisch-abstraktere und ethisch-universalistische Züge. Wer die Mörder waren und
warum gerade sie es taten, wird sekundär im historischen Prozess, weil die Mörder selbst
nicht mehr leben und ihre Nachkommen in ein paar Jahrzehnten in keiner Weise mehr haftbar
gemacht werden können – vor allem dann nicht, wenn sie selbst sich von den Mördern
distanziert haben. Ob eine japanische oder eine deutsche Touristengruppe in 50 Jahren durch
die Gedenkstätte Auschwitz geht - vermutlich werden beide gleichermaßen erstaunt und
erschrocken sein über das, was vor 100 Jahren in Europa passierte. Der Unterschied bei den
Deutschen wird wahrscheinlich sein, dass sie etwas bessere Kenntnisse über die
Geschehnisse haben und die ausgestellten Dokumente ohne Übersetzung lesen können.
Moderne Gesellschaften sind rational und erinnerungslos im Sinne mythologischen Erinnerns;
sie können aber die ethischen Ansprüche an sich selbst, die im Tod der Ermordeten liegen,
bewahren, wenn sie sich analytisch und reflexiv in Lernprozessen auf die Gewalt – und
Herrschaftsstrukturen und auf die Ideologeme beziehen, die damals, in der unmenschlichen
Zeit der Barbarei, Menschen dazu gebracht haben, Menschen zu ermorden. Das bleibt von
Auschwitz.
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