Europa und der weiße Stier Eine Europa -Geschichte Die Europa war eine adrette Königstochter aus Phönikien, die vom Zeus entführt wurde. So dachten es sich jedenfalls die alten Griechen aus. Der Chefgott hatte sich bei diesem Kidnapping in einen weißen Stier verwandelt. Er expedierte die Europa nach Kreta, das damals nicht zu Griechenland und damit auch nicht zum Europa jener Zeit gehörte - dass auch heutzutage die Zugehörigkeit zu Europa diffus gesehen wird, belegt der momentane Streit um den Beitritt von ganz Zypern und der nahen Türkei zur EU! Der weiße Stier machte Europa zur dreifachen Mutter, indem er ihr Gewalt antat, doch sie hatte womöglich auch etwas Freude daran - beim Zustandekommen dieser EU walteten, so denke ich, ähnliche Verhältnisse! Eines der drei Kinder der Europa war Minos, der spätere Vater von Ariadne, jener Erfinderin des „Ariadnefadens“, mit dessen Hilfe der Ausweg aus einem überaus verwinkelten Labyrinth möglich ist - vielen Europapolitikern wäre ein solcher Leitfaden zu wünschen! Um den Stier jetzt bei den Hörnern zu packen: ich halte von dem Europa der Politiker nicht viel. Auf jene trifft zu, was schon Bismarck, seinerzeit ein tatkräftiger Europäer, festgestellt hatte: „Ich habe das Wort „Europa“ immer im Mund derjenigen Politiker gefunden, die von anderen Mächten etwas verlangten, was sie in eigenem Namen nicht zu fordern wagten." Ohne Zweifel ist die EU von enormer wirtschaftlicher Bedeutung, mit Vorzügen und Nachteilen, sogar weltweit. In meiner kleinen Welt überwiegen bedauerlicherweise die Nachteile. Die, leider unabwendbare, Globalisierung macht selbstredend ein ökonomisch wettbewerbsfähiges Europa notwendig, auch im Interesse seiner Bürger, also auch in meinem. Es wäre allerdings von großem Vorteil, wenn die Politiker ihre Arbeit allein auf dieses Eine ausrichten würden (so wie damals Zeus auch nur das Eine, wenn auch Andere, von der Europa wollte). Stattdessen drängen sie und ihre Ämter sich in alle möglichen Gefilde der menschlichen Beziehungen. Sie begründen solche Aufdringlichkeit, indem sie Gemeinschaftlichkeiten apostrophieren, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt - womöglich hatte Zeus seine Kopulationsbegierde mit dem Abbau sozialer Unterschiede und die Verwandlung zum Stier als Kompromissangebot bemäntelt! Dabei schrecken die Politiker selbst vor der Vergötterung von Begriffen im Namen Europas nicht zurück - da ist neuerdings sogar von einer „europäischen Heimat" die Rede. Was überhaupt ist Heimat? Ich weiß es nicht so genau, und die aktuelle Ausgabe der 'Brockhaus Enzyklopädie' benötigt zwei komplette Druckseiten, um sich diesem Begriff auch nur anzunähern. Bei Zeus!, es geht um den Menschen. „Der Mensch ist das Maß aller Dinge", hatte vor zweieinhalb Jahrtausenden der griechische Philosoph Pythagoras festgestellt Er wurde schon zur Lebzeit fast wie ein Gott bewundert - wovon Politiker träumen! Es müssen schließlich die Menschen zueinander finden, was aber keineswegs im Selbstlauf passiert. Ich war eingebunden in ein europäisches Projekt mit dem Namen 'Grundtvig', der kaum jemand etwas sagt. Verständlicher hieß unser Unterprojekt „Persönliche Stadtgeschichten": „Town stories“. Mit uns Berliner waren Menschen aus Rom und Madrid, Prag, Ulm und Macomer, was auf Sardinien liegt. Ab und an trafen wir uns, ansonsten stehen bis heute die Wege des Internets offen.Zu Weihnachten hatte mir Armando aus Rom eine Karte geschickt, dass es ihm gut geht, und das freute mich / über „Meine Stadt am Fluss" hatten wir alle etwas geschrieben / wie hoch ist die Arbeitslosigkeit in Rom-Garbatella und in Berlin-Treptow? / der Oberbürgermeister von Ulm stand bei seinen Begrüßungsworten stolz unter dem Modell des Flugapparates vom Schneider von Ulm / die Methoden der Technischen Universität Prag bei der Heranführung von Senioren an die Computer / der Text über mein Leben direkt an der „Berliner Mauer“ fand reges Interesse / gemeinsame Bierverkostung im „U Fleku“ und anschließende Oldtimerstraßenbahnfahrt mit Jazz- Musik durch Prag / „wo fühle ich mich zu Hause?“ war eine weitere gemeinsame Schreibaufgabe / welche Rolle spielt in der Öffentlichkeit noch die faschistische Vergangenheit in Rom, Madrid und Berlin? / Ladislav aus Prag hat über Smetanas „Moldau“ erzählt, Carla aus Rom zum Singen animiert und Consuelo aus Madrid war im Tanz vertieft / die Teilnehmer von der Ulmer Universität haben im Internet ein „Forum" zum Gedankenaustausch angelegt. Die Begrüßungszeiten wurden wegen der herzlichen Umarmungen von Mal zu Mal länger. Das alles sind nur Winzigkeiten aber woraus sonst besteht die Welt? In der fließt alles, hatte bekanntlich Heraklit, ein Zeitgenosse des Pythagoras, ergründet. . Inzwischen sind wir Berliner in einem neuen Europa-Projekt zu Gange, dem unsere römischen Freunde als „Leitstiere“ den Titel „Telling Europe“ gegeben haben. Wir möchten einerseits durch Interviews, andererseits durch das Studium von Tagebüchern heraus finden, wie einzelne Menschen ganz persönlich zu einem neuen Europa stehen. Neben Rom und Berlin sind noch Pieve in der Toscana und Rocadel Valles bei Barcelona dabei; Interessenten gibt es schon in Griechenland, Belgien, Litauen. Noch liegt die Wegstrecke nicht gut ausgeleuchtet und hindernislos vor uns, doch einen „Ariadnefaden“ haben wir schon in der Hand! Es muss, um solche europäischen Projekte mit Leben zu erfüllen, auch Geld fließen, womit die alten Griechen schon im 7. Jahrhundert vor der Zeitenwende umzugehen lernten. Nun hatte besagter Heraklit seine Lehre vom Fließen, dem berühmten „panta rhei“, mit folgendem Satz bildhaft gemacht: „Kein Mensch badet zweimal im gleichen Fluss.“ Ist die Quelle des Geldflusses eine EU-Behörde, dann erfordert die Begutachtung, Bezuschussung und Bewertung solcher europadienlicher Machenschaften durch die Ämter so viel Zeit, dass aus dem Fluss ein stehendes Gewässer zu werden droht. Dem gegenüber ginge man mit trefflichen Schritten auf das von den Griechen erstrebte „Arkadien“ zu, wenn jene behördlichen Akte näher an den aktiven Menschen getan würden, getreu der bereits erwähnten Mahnung des Pythagoras, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei. Dass es damals mit Europa und dem weißen Stier so unkompliziert ging, lag allerdings daran, dass ein Gott in dem Tier steckte – dennoch sollen die EU-Behörden, um Himmels Willen, nicht auch noch Göttern gleich gestellt sein! (veröffentlicht in der Anthologie „...nur etwas weiterweg von Zuhause“ des Verlages KARO Berlin)