Inhaltsverzeichnis Karte ........................................................................................... 11 Chronologie .................................................................................. 13 Einführung in das Studienbuch .......................................................... 17 1. Wo liegt Lateinamerika? ............................................................. 1.1 Einheit und Vielfalt Lateinamerikas ....................................... 1.2 Land und Leute ................................................................. 1.3 Bevölkerungsentwicklung .................................................... 1.4 Urbanisierung ................................................................... 1.5 Modernisierung und Entwicklung ......................................... 1.6 Kultur – Politik – Modernität ............................................... 23 24 25 29 31 36 38 2. Gesellschaftsstruktur, soziale Schichten und Gruppen ........................ 2.1 Gesellschaftlicher Wandel .................................................... 2.2 Indigene Bevölkerung ......................................................... 2.3 Frauen ............................................................................ 2.4 Perspektiven ..................................................................... 51 51 61 68 71 3. Zur Lateinamerikaforschung (vor allem im deutschsprachigen Raum) ... 3.1 Allgemeiner Überblick: Übersee- und Regionalforschung, globale Studien ............................................................................ 3.2 Sozial- und politikwissenschaftliche Forschungen zu Lateinamerika ................................................................... 3.3 Zur wechselseitigen Perzeption und Rezeption ......................... 3.4 Hilfsmittel und spezialisierte Zeitschriften ............................... 75 4. Der Weg ins 20. Jahrhundert: Unabhängigkeitsbewegung, Modernisierung und Herrschaftsformen ......................................... 4.1 Kolonialzeit und spanisches Erbe .......................................... 4.2 Die Unabhängigkeitsbewegung und das 19. Jahrhundert ............. 4.3 Professionalisierung des Militärs und Urbanisierung .................. 4.4 Kriege und Konflikte .......................................................... 4.5 Formen der Diktatur und autoritäre Regime ............................ 75 81 84 87 93 93 97 101 102 103 5 Inhaltsverzeichnis 5. Nationalpopulismus, Revolution, Reform ....................................... 5.1 Nationalpopulismus ........................................................... 5.2 Revolution ....................................................................... 5.3 Reform ........................................................................... 5.4 Die Linke in Lateinamerika .................................................. 5.5 Alte und neue Guerillabewegungen ........................................ 6. Die technokratischen Militärregime ab 1964 und die ReDemokratisierung in den 1980er Jahren ......................................... 6.1 Die „neuen Militärregime“ .................................................. 6.2 Die „Doktrin der nationalen Sicherheit“ ................................. 6.3 Militärpotenzial, Rüstungstendenzen und Rüstungsproduktion seit den 1950er Jahren ........................................................ 6.4 Re-Demokratisierung und Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen ................................................ 6.5 Das Ende der Militärherrschaft? Fazit und Ausblick .................. 7. 8. 9. 6 113 113 116 120 123 128 139 140 147 149 155 164 Katholische Kirche und Religionen ................................................ 7.1 Zur Geschichte ................................................................. 7.2 Der lateinamerikanische Bischofsrat CELAM und das Aufkommen der „Theologie der Befreiung“ ............................. 7.3 Der Konflikt zwischen Amtskirche und Befreiungstheologie in ausgewählten Gesellschaften ................................................ 7.4 Religion und Religiosität im 21. Jahrhundert ........................... 167 167 Entwicklung der Unterentwicklung oder neuer Aufschwung? .............. 8.1 Wirtschaft und Weltmarktintegration im historischen Überblick ... 8.2 Die Rolle der lateinamerikanischen Wirtschaftskommission CEPAL ............................................................................ 8.3 Dependencia y desarrollo – Abhängigkeit und Entwicklung ......... 8.4 Die Öffnung und Neuorientierung der Wirtschaft seit den 1980er Jahren ............................................................................. 8.5 Zusammenfassung ............................................................. 187 188 Staat, Präsidentialismus, Formen der Rechtsstaatlichkeit .................... 9.1 Staat ............................................................................... 9.2 Präsidentialismus ............................................................... 9.3 Formen des Rechtsstaates .................................................... 9.4 Extrakonstitutionelle Formen der Politik ................................. 9.5 “Unsicherheit als Alltagserfahrung“ ....................................... 217 217 223 230 234 238 168 173 179 197 201 204 211 Inhaltsverzeichnis 10. Politische Parteien und Parteiensysteme .......................................... 10.1 Zur Rolle der Parteien ........................................................ 10.2 Entstehung, historischer Überblick und politische Familien ......... 10.3 Parteiorganisationen und innerparteiliche Demokratie ............... 10.4 Parteiensysteme ................................................................. 10.5 Die Entwicklung seit der Re-Demokratisierung ......................... 10.6 Anti-Politiker, Outsider und Neopopulisten ............................. 243 243 244 249 250 251 256 11. Demokratie und Wahlen ............................................................. 11.1 Historische Grundlagen ...................................................... 11.2 Zur Entwicklung und Organisation von Wahlen ....................... 11.3 Demokratie und Demokratisierung ........................................ 11.4 Rankings und Demokratiemessung ........................................ 11.5 Der neuere „Linksruck“ in Lateinamerika ............................... 11.6 Perspektiven ..................................................................... 263 263 265 273 277 280 284 12. Interessengruppen ..................................................................... 12.1 Unternehmerverbände ........................................................ 12.2 Gewerkschaften ................................................................ 12.3 Zivilgesellschaft ................................................................ 12.4 Eliten .............................................................................. 12.5 Perspektiven ..................................................................... 287 287 289 293 294 296 13. Politische Kultur in Lateinamerika ................................................ 13.1 Zum Begriff politische Kultur und zur Kulturdebatte in Lateinamerika ................................................................... 13.2 Empirische Untersuchungen zur politischen Kultur .................... 13.3 Ausblick .......................................................................... 299 299 302 312 14. Außenpolitik und Integrationsbemühungen ..................................... 14.1 Geographie, Geschichte und Konflikte .................................... 14.2 Die Außenbeziehungen Lateinamerikas: Ein Überblick ............... 14.3 Deutschland und Lateinamerika ............................................ 14.4 Integrationsversuche in Lateinamerika .................................... 14.5 Migration aus Lateinamerika ............................................... 14.6 Zusammenfassung und Ausblick ........................................... 315 316 318 327 332 335 338 15. Zusammenfassung und Ausblick: Politik in Lateinamerika .................. 343 7 1. Wo liegt Lateinamerika? Lateinamerika wurde auch als Extrême Occident bezeichnet, d.h. als eine kulturelle Verlängerung Europas im südlichen Amerika, sozusagen als „äußerster Westen“.1 Nirgendwo dauerte die 1492 einsetzende europäische Kolonisation so lange wie dort. Dagegen weisen die USA eine vergleichsweise kurze koloniale Phase von 1607 bis 1776 auf, also rund 160 Jahre. Die Region gilt als Teil der Westlichen Hemisphäre, unabhängig davon, dass in einzelnen Ländern auch Bezeichnungen wie Indoamérica2 und in jüngerer Zeit Afroamerika3 verwendet wurden. Nur ein Land wird zu den am wenigsten entwickelten Ländern (Least Developed Countries, LDC) gezählt – nämlich Haiti. In Afrika sind es 34, in Asien und Ozeanien 14. Was die zunehmende Berücksichtigung der Rechte von Minderheiten anbelangt, lassen sich Ähnlichkeiten mit neueren Entwicklungen in den USA feststellen. In den Zeiten des „Nord-Süd-Konflikts“,4 d.h. in den 1970er Jahren, nahm Lateinamerika eine mittlere Position zwischen den Industrienationen und der Blockfreienbewegung ein. Erleichtert wurde dies durch eine vergleichsweise lange demokratische Tradition. Nach dem Ende des Kalten Krieges hat diese Vermittlerrolle an Bedeutung verloren. Die engen Beziehungen zum Westen zeigen sich bei der Bevölkerung, dem Staatsaufbau, den Entwicklungsvorstellungen und bei der Kultur. Gemäß dem Selbstverständnis vieler Lateinamerikaner und der dortigen Eliten zählt der Halbkontinent also nicht zur Dritten Welt und den Entwicklungsländern,5 was der Realität in Teilen einiger Länder indessen nicht entspricht. Die Orientierung nach Westen bedeutet nicht, dass die politischen Institutionen – trotz mancher Ähnlichkeiten mit den politischen Systemen Westeuropas – mit ihnen identisch wären. So orientierten sich z.B. die Parteien zwar an den europäischen Parteienfamilien, was ihr Funktionieren anbelangt, weisen sie indessen manche Übereinstimmungen mit den nordamerikanischen Parteien auf. Und auch der lateinamerikanische Populismus unterscheidet sich von den seit den 1990er Jahren in Europa aufkommenden Varianten. 1 Alain Rouquié, Amérique Latine. Introduction á l’Extrême Occident, Paris 1987. 2 Die Bezeichnung Indoamerika wurde in den 1930er Jahren von dem peruanischen Denker und Antiimperialisten Haya de la Torre geprägt. 3 In den USA ist die Bezeichnung „afrikanische Amerikaner“ üblich, in Lateinamerika „Schwarze“ eher die Regel. Lioba Rossbach de Olmos/Bettina E. Schmidt (Hrsg.), Ideen über Afroamerika-Afroamerikaner und ihre Ideen, Göttingen 2001. 4 Solche und andere Begriffe können in: Dieter Nohlen (Hrsg.), Lexikon Dritte Welt, Reinbek bei Hamburg 2002 nachgeschlagen werden. 5 Grundlegend: Franz Nuscheler, Entwicklungspolitik. Lern- und Arbeitsbuch, Bonn 2012 (7. Aufl.). Das auch als Nachschlagewerk geeignete Buch kann nur am Rande auf einzelne Regionen und deren spezifische Probleme eingehen. Es behandelt das Politikfeld Entwicklungspolitik in fünf umfangreichen Teilen (Nord-SüdProblem, Armut – Unterentwicklung – Entwicklung, zentrale Welt- und Entwicklungsprobleme, Akteure der Entwicklungspolitik, Bilanz und Perspektiven). 23 1. Wo liegt Lateinamerika? In Zeiten der Globalisierung gewinnen Lateinamerika und die Latinos eine neue Bedeutung. Dass nach dem Chinesischen, dem Englischen und dem Hindi die spanische Sprache an vierter Stelle in der Welt steht, liegt vor allem an der demografischen und kulturellen Entwicklung des Halbkontinentes und an neueren Migrationsbewegungen. Schon ist Spanisch die am meisten studierte Sprache an den nordamerikanischen Universitäten und auch in Europa verzeichnen Spanischkurse einen starken Zulauf. Als eine Folge des Mercosur, d.h. des gemeinsamen Marktes des Südens, hat die brasilianische Regierung 2004 den obligatorischen Spanischunterricht an den Schulen erlassen. 1.1 Einheit und Vielfalt Lateinamerikas Die Idee einer Einheit Lateinamerikas tauchte bereits in den Vorstellungen des Befreiers Simón Bolívar (1783-1830) auf. Seitdem gehört das Ideal eines einigen Halbkontinents als Gegengewicht zu den USA zum Standardrepertoire von Nationalisten und Antiimperialisten, ohne dass es bislang umgesetzt werden konnte. Realistischerweise soll daher im Folgenden von Gemeinsamkeiten gesprochen werden. Sie zeigen sich in der Kolonialgeschichte (rund 300 Jahre), die mit der Ausnahme Brasiliens und einiger karibischer Staaten eine gemeinsame Sprache und die Prägung durch den Katholizismus brachte. Hinzu kamen ähnliche Strukturen in der Verwaltung und bei den politischen Traditionen. Die Unabhängigkeitsbewegung stellt ein weiteres verbindendes Element dar. Dies gilt auch unter einem eher negativen Vorzeichen für Teile des 19. Jhs. mit Zügen des Staatszerfalls und des Caudillismus. Hinzu treten gemeinsame Entwicklungsprobleme: Analphabetismus, das Latifundium/Großgrundbesitz vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jhs., Marginalität und Informalität, Unterentwicklung bzw. Fehlentwicklung etc., schließlich die Militärdiktaturen der Vergangenheit. Neben autoritären Merkmalen stehen positive Gemeinsamkeiten wie die Demokratisierungswellen (zuletzt in den 1980er Jahren), die Integrationsbestrebungen und eine idealistische Tradition. Verglichen mit Europa fällt die geringe Zahl von zwischenstaatlichen Kriegen und totalitären Regimen auf. Die Vielfalt bestand schon in der vorkolonialen Zeit. Bei den indianischen Völkern gab es Unterschiede zwischen Hochkulturen und unterworfenen Völkern. Während der spanischen Herrschaft war das Ausmaß kolonialer Durchdringung unterschiedlich ausgeprägt. Aufgrund gesellschaftlicher Merkmale, der jeweiligen Zusammensetzung der Bevölkerung und spezifischer politischer Kulturen verläuft der Prozess der Demokratisierung nicht einheitlich. Einige Länder können auf eine vergleichsweise lange demokratische Tradition zurückblicken (Costa Rica, Uruguay), einzelne Staaten hatten eine längere Phase populistischer Herrschaft (Argentinien, Brasilien), andernorts fällt diese Zeit sehr kurz aus (Chile). Die spanische Sprache weist in den einzelnen Ländern Besonderheiten auf, hinzu treten als Ergebnis nationalstaatlicher 24 1.2 Land und Leute Entwicklung spezifische politische Stile und Verhaltensweisen. An die Stelle der Dominanz der katholischen Kirche tritt eine religiöse Pluralisierung. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Einheit/Gemeinsamkeiten und Vielfalt gilt es bei der Lektüre der folgenden Kapitel zu berücksichtigen. Wie in Europa finden wir in Lateinamerika Besonderheiten auf der Ebene von Ländern und Regionen sowie in den unterschiedlichen sozialen Schichten und Milieus. Vor Verallgemeinerungen sei also gewarnt. Schaubild 1: “Einheit“ und Vielfalt Lateinamerikas Gemeinsamkeiten Vielfalt rund 300 Jahre Kolonialgeschichte gemeinsame Sprache (mit Ausnahme Brasiliens, der Karibik und einzelner Landesteile) katholische Religion viele indianische Völker unterschiedliche Zusammensetzung der Bevölkerung und länderspezifische Formen des Spanischen Regionale und lokale Traditionen/ Freikirchen/Kulte frühe Unabhängigkeit (Ausnahmen Brasi- intern: soziale Ungleichheit lien und Kuba) 19. Jh.: Staatszerfall, Caudillismus, Ausnahmen (Brasilien und Chile) zentralistische Diktaturen 20. Jh.: politische Demokratisierung, vom etatistischen Wirtschaftskonzept zu klassischer Populismus, Militärregime, den wirtschaftlichen AnpassungsproRe-Demokratisierung 1980er Jahre grammen Neuer Populismus ab Ende 1990 Post-Neoliberalismus kaum zwischenstaatliche Kriege interne Konflikte gemeinsame Entwicklungsprobleme Entwicklungspole und ‑gefälle, Schwellenländer Integrationsbemühungen Nationalismus Grenzstreitigkeiten 1.2 Land und Leute Die sichtbare und bewachte Grenze zwischen der anglo- und der iberoamerikanischen Welt verläuft am Rio Grande im Norden Mexikos. Seit 2003 die Hispanics oder Latinos in den USA die größte Minderheit vor den Afroamerikanern stellen, fällt die Grenzziehung indessen schwerer. Aber für die Vergangenheit und noch für weite Strecken des 20. Jhs. kann davon ausgegangen werden, dass hier zwei „Kul- 25 1. Wo liegt Lateinamerika? turerdteile“ aneinander grenzten.6 Das in den gemäßigten Breiten gelegene Nordamerika wurde zum bevorzugten Einwanderungsland von Nordeuropäern, die tropischen Gebiete Südamerikas dagegen vor allem von den romanischen Völkern Südeuropas kolonisiert. Dies schlägt sich in dem Namen Lateinamerika nieder, der auf diese Verbindung verweist. Einen wichtigen Unterschied markiert die ausgeprägtere „Rassenmischung“. Nur im Südzipfel (Argentinien, Chile, Uruguay) hat sich eine vergleichbare Dominanz der Weißen durchgesetzt, wie sie für Nordamerika galt. Ein geographischer Überblick ergibt folgendes Bild: Das an die USA angrenzende Mexiko bildet mit 116 Mio. Einwohnern das größte spanischsprachige Land der Erde. Darüber hinaus gehört Mexiko mit Brasilien zu den Staaten, die traditionell eine Führungsposition auf dem Halbkontinent beanspruchen. Die 1.800 Kilometer lange zentralamerikanische Landbrücke verbindet Nord- und Südamerika. Die sieben Kleinstaaten Zentralamerikas wurden als Bananenrepubliken und Kaffeeländer bezeichnet, im Spanischen spricht man auch von economías del postre, weil hier vor allem solche Lebensmittel hergestellt werden, die man zum Nachtisch isst. Man unterscheidet zwischen der tierra caliente, d.h. dem tropischen Gebiet, der zwischen 800 und 1.500 Meter gelegenen tierra templada, d.h. der gemäßigten Region, wo vor allem der Kaffee wächst, und dem sich anschließenden kalten Land (tierra fría), wo Mais, Bohnen und Weizen in Landwechselwirtschaft angebaut werden. Auch im 21. Jh. sind die Verkehrsverhältnisse schwierig. Eine durchgehende Autostraße, die Panamericana, gibt es zwar, sie weist jedoch im Grenzgebiet zwischen Panama und Kolumbien eine Unterbrechung von rund 90 Kilometern auf. Diese NordSüd-Achse Amerikas durchquert auf rund 30.000 Kilometern 17 Staaten. Eine 1962 gebaute Stahlbrücke (Puente de las Américas) verbindet in Panama beide Hälften des Kontinentes. Der zunächst von den USA geführte Panama-Kanal ging nach dem Vertragsabschluss 1977 zum Jahresende 1999 an Panama über, womit sich eine langjährige Forderung lateinamerikanischer Nationalisten und Antiimperialisten erfüllte. Südamerika gliedert sich unter geographischen Gesichtspunkten in drei Großräume: den 15.000 Kilometer langen Hochgebirgszug der Anden im Westen, die vom Amazonasbecken über den Gran Chaco und die Pampa bis Patagonien reichenden zentralen Tiefländer und das Brasilianische Bergland im Osten. Südamerika besteht aus neun spanischsprachigen Staaten, die zu Beginn des 19. Jhs. unabhängig wurden. Brasilien, das von manchen auch als eigener Kontinent bezeichnet wird, blieb nach der Loslösung von Portugal (1822) als Einheitsstaat bestehen. Amtssprache ist das brasilianische Portugiesisch; das Sprachgebiet umfasst ca. 8,4 Mio. Quadratkilometer und ist damit annähernd so groß wie der spanischsprachige Raum Südamerikas. In den Guayanas und Surinam sind Französisch bzw. Niederländisch sowie Formen 6 Dazu und zum folgenden: Herbert Wilhelmy, Lateinamerika: Ein Halbkontinent zwischen Tradition und Fortschritt, in: Der Bürger im Staat, 32(1982)1, S. 3-13. 26 1.2 Land und Leute des Kreolischen die vorherrschenden Sprachen. Von den insgesamt 35 Staaten, d.h. ohne abhängige Territorien, liegen 20 in Zentralamerika und der Karibik. Gerade die ehemaligen Kolonialgebiete der Karibik weisen eine Vielzahl von Sprachen und Kulturen auf. Wer das Spanische besser beherrscht, wird einen Argentinier, Mexikaner oder Peruaner unschwer an der Aussprache erkennen können. Bei manchen Übersetzungen belletristischer Texte findet sich deshalb der Zusatz: Übersetzt aus dem chilenischen oder uruguayischen Spanisch. Auch innerhalb der Einzelstaaten finden sich regionale und sprachliche Unterschiede. Es sind andere Untergliederungen möglich z.B. in ein indianisches Lateinamerika (Mittelamerika und Teile der Andenländer), dem schwarzen (im Nordosten und der Karibik) und dem weißen Südamerika (im gemäßigten Süden). Regionale Unterscheidungen finden sich auch in der Politik und lagen konzeptionell sogar der Außenpolitik der Bundesregierung zugrunde.7 In vielerlei Hinsicht sind die Spuren der Geschichte noch heute sichtbar: Die kolonialen Stadtgründungen folgten kolonialen bzw. politischen Interessen. So konzentrierten sich die Spanier zunächst auf die Andenländer, weil sie von dort die Edelmetalle extrahierten. Die Kolonisation war punktueller Natur, langsam und teilweise erst im 19./20. Jh. begann die Inbesitznahme und Besiedlung des Hinterlandes und des Landesinneren, das man als interior bezeichnet. Die Hauptstädte haben ihre Dominanz über die Jahrhunderte sogar verstärkt. Hier befinden sich die wichtigen politischen und wirtschaftlichen Institutionen, die bedeutenden Universitäten und Forschungseinrichtungen. Es erfolgt ein brain drain aus den Provinzen in die Metropole/en. Verglichen mit Deutschland, das über eine ziemlich ausgewogene Struktur von Klein- und Mittelstädten verfügt, fällt die räumliche Bevölkerungsverteilung ungleich und unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten ungünstig aus. Bis auf ganz wenige Ausnahmen – wie Brasília (Brasilien) und Quito (Ecuador) – stellen Hauptstadt und Regierungssitz jeweils auch die wirtschaftlich wichtigste Stadt des Landes dar. Lateinamerika hat sich lange Zeit als „Kontinent der Zukunft“ verstanden und wurde auch im Ausland so gesehen. Die Gründe liegen in einem auffälligen Fortschrittsoptimismus, der Jugendlichkeit seiner Bevölkerung und der unerschütterlichen Annahme von unerschöpflichen Bodenschätzen. Teil dieses Selbstverständnisses war die Vorstellung einer geglückten Synthese zwischen autochthonen und iberisch-europäischen Kultureinflüssen. Nach dem gewaltsamen Zusammenstoß zwischen indianischer und europäischer Kultur in der Kolonialzeit habe sich, so lautete die Geschichtserzählung der nationalen Regierungen im 20. Jh., etwas Neues ergeben. Die Vorteile lagen nicht zuletzt in den menschlichen Fähigkeiten seiner durch „Rassenmischung“ (mestizaje) gekennzeichneten Bewohner. Europäische Flüchtlinge vor dem Nationalsozialismus waren fasziniert von dem friedlichen Zusammenleben ganz 7 Auswärtiges Amt, Deutschland, Lateinamerika und die Karibik: Konzept der Bundesregierung, 2010. 27