Geld oder Leben. Hintergründe sozialer Sicherheit Albert Brandstätter (Eurodiaconia, Brüssel) In der Problemstellung des Titels „Geld oder Leben“ werden grundlegende Dilemmata der europäischen Gesellschaften deutlich. Diese Dilemmata bezeichnen auch Krisensituationen der gesellschaftlichen Veränderungen und auch Chancen zur Veränderung: Ich kann Geld oder Leben mit einem Punkt, einem Fragezeichen oder einem Rufzeichen versehen. „Geld oder Leben. (Punkt)“: Die Gegenüberstellung beschreibt zwei analytische Grundmöglichkeiten, gesellschaftliche Identität zu beschreiben. Einerseits ist für den modernen Menschen das Leben die zentrale Kategorie, ja sogar die „letzte Gelegenheit“, andererseits gewinnt in der neuen Kultur des Kapitalismus Geld eine neue Rolle. Einerseits ist „Arbeit“ eine zentrale Kategorie, die Identität der Gesellschaft („Arbeitsgesellschaft“) zu beschreiben, gleichzeitig aber wird „Geld“ zum sozialen Operateur und symbolisiert gesellschaftliche Kohärenz. „Geld oder Leben? (Fragezeichen)“ fragt nach der ethischen Relevanz und nach impliziten Gerechtigkeitsvorstellungen. Der Diskurs über Gerechtigkeitsvorstellungen in den Umformungen des Sozialstaats wird in Europa und in Österreich nicht genug und nicht genug öffentlich geführt. Der Diskurs um soziale Grundrechte und um ein soziales Europa rauch den öffentlichen Raum. Hie bieten sich zivilgesellschaftliche Foren, besonders aber auch die Ökumene an. Kirchen, und dabei besonders ihre Wohlfahrtsverbände wie Caritas und Diakonie werden gerne als Wertestifter bezeichnet. Gut. So stiften wir denn. Allerdings beißen die Fragen, die wir zu stellen haben, wenn wir Unruhe bei den Entscheidungsträgern stiften oder auch bei den einzelnen Menschen: Bei der Frage um Grundsicherung geht es um politische Entscheidungen und um eine Werteveränderung der Gesellschaft und auch bei den Einzelnen. Wenn Arbeit, Zeit, Einkommen tendenzielle entkoppelt werden, so werden sich auch Konsum- und Freizeitverhalten der Menschen ändern. „Geld oder Leben! (Rufzeichen)“: Ja, das ist wohl dringlich. Und bedeutet Eile, kurzfristige Entscheidung. Hat das etwa etwas Räuberisches an sich? Geld oder Leben!! Ich beziehe es auf die doppelte Krisensituation, in der sich unsere Gesellschaften befinden: Erstens kann die Umformungskrise der Gesellschaft durch Entnationalisierung, Internationalisierung der Information, des Handels und der Finanzströme, durch den Wettstreit von sich angeblich selbst regulierenden Märkten, also den widersprüchlichen Phänomenen, die unter dem Sammeltitel „Globalisierung“ laufen, gekennzeichnet werden. Damit parallel läuft eine drohende oder im neoamerikanischen kapitalistischen Modell des Kapitalismus bereits bestehende soziale Entbettung der Wirtschaft. Eine Polarisierung der Arbeitsbedingungen, Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse, Fragmentierung der Lebenswelten, der einzelnen Erfahrungen, der kulturellen Entwicklungen sind die andere Seite der Globalisierung. Zweitens sind die Individualisierungsprozesse der einzelnen Staatsbürger weit fortgeschritten, neue Formen der Vergesellschaftung, der Solidarität, der Gemeinschaften bilden sich, ohne dass hier schon gemeinsame europäische oder nationalstaatliche verbindliche Formen gefunden wurden. Die Frage nach dem neuen Regieren der governance, die die EU ihren Bürgern nun stellt, ist hier von entscheidender Bedeutung. „Geld oder Leben!“ heißt dabei Verlust sozialer Sicherheiten und die gleichzeitige Zunahme autoritärer Tendenzen in den Demokratien. Die Vorstellung eines Minimalstaats, ein betriebswirtschaftliches Unternehmertum auf staatlicher Ebene haben häufig die Tendenz, fehlende soziale Integrationskraft und gesellschaftlichen Zusammenhalt durch staatliche Pressionen zu ersetzen. Das könnte sich als Illusion erweisen.. Hier ist eine öffentliche und kontrovers geführtre Debatte um Grundsicherung eine zukunftsweisende Aufgabe zur vernetzten Neuformulierung unserer Staatsziele. Dabei stehen zwei grundlegende Modelle der Grundsicherung zur Debatte: Die bedarfsorientierte Grundsicherung ist ein Bündel von Maßnahmen, das das bestehende Sicherungssystem nach unten hin sockelt und für alle grundsätzlich erweitert. Es ist aber an Erwerbsarbeit und Einkommen weiterhin gekoppelt. Die Grundeinkommensmodelle stellen die materielle Existenzsicherung in den Vordergrund und fordern eine Entkoppelung von Arbeit, Zeit und Einkommen. Eine systemimmanente und eine tendenziell systemverändernde Strategie stehen also zur Disposition. Wichtig ist eine kontrovers geführte öffentliche Debatte, die allerdings nicht ob ihrer Grundsätzlichkeit eine rasche Einführung einer Form der Grundsicherung verhindern sollte! Ein wesentliches Motiv sollte aber in den Debatten nicht aus den Augen verloren werden: Das vorrangige Ziel ist es, in einem reichen Land Armut zu verhindern. Der Fall von Menschen, die von Armut und Ausgrenzung bedroht sind, in den sozialen Keller soll verhindert werden. Die gesellschaftliche Teilhabe soll für alle ermöglicht werden. Armut verhindert gesellschaftliche Teilhabe für einen großen Teil unserer Bevölkerung. Hier kann eine Grundsicherung wesentlich zur demokratischen Kultur beitragen. Soziale Grundrechte müssen gesichert, wenn nötig an neuer Stelle formuliert werden. Das soll durch diese Debatte befördert, reflektiert, moderiert, aber nicht behindert werden. 1) Hauptsache Arbeit oder Hauptsache Leben? Das Grunddilemma begleitet beinahe alle Debatten über Erwerbsarbeit: Die Arbeit, das heißt natürlich die Erwerbs-Arbeit, wird immer weniger. Die gegenläufige Tendenz: Wir alle arbeiten immer mehr. In einer extremen Ausdeutung könnte das heißen: Immer weniger arbeiten immer mehr, und umgekehrt: Immer mehr arbeiten immer weniger im herkömmlichen Sinn einer traditionellen Vollbeschäftigung. Kurt Tucholsky hat einmal geschrieben: „Für die Arbeit ist der Mensch auf der Welt, für die ernste Arbeit, die wo den ganzen Mann ausfüllt. Ob sie einen Sinn hat, ob sie schadt oder nützt, ob sie Vergnügen macht ... das ist alles ganz gleich. Es muß eine Arbeit sein. Und man muß morgens hingehen können. Sonst hat das Leben keinen Zweck.“ Diese Zeitdeutung vom Anfang des letzten Jahrhunderts werden noch da beschworen, wo am Mythos einer Vollbeschäftigungsgesellschaft festgehalten wird. Der Begriff „Vollbeschäftigungsgesellschaft“ meint „eine Gesellschaft, deren zentrale Institutionen auf Vollbeschäftigung in Form von Normalarbeit aufbauen und in der das Muster individueller Normalbiografie auf abhängiger Erwerbsarbeit beruht“ (Beck 2000, 8). Das dies sich natürlich auf eine Fiktion bezieht, ist klar, wenn man erstens die Arbeitslosenzahlen in der Europäischen Union ansieht, die gegen 20 Millionen tendieren, und gleichzeitig in Erwägung zieht, dass Vollbeschäftigung immer hieß: Vollbeschäftigung der Männer („Arbeit, die wo den ganzen Mann ausfüllt“), also eine „halbierte Vollbeschäftigung“ (S. Rosenberger). Mittlerweile wird deutlich, dass der Abschied von der traditionellen Erwerbsarbeit bevorsteht. Die rasanten Prozesse der Internationalisierung und Digitalisierung, die theoretische Verfügbarkeit unzähliger Billigarbeitskräfte, die Veränderungen der Arbeitsformen (Ausweitung der Dienstleistungsgesellschaft, Flexibilisierung, Teamwork, neues Unternehmertum), lassen ahnen, dass zumindest die gewohnten Arbeitsverhältnisse zu Ende gehen. Damit sind aber die Erwerbsbiografien der Menschen betroffen, die Verhältnisse der Geschlechter werden erneut zur Disposition gestellt, die Veränderung der Arbeit wird zu einem wesentlichen Moment der zukünftigen Demokratie überhaupt. 2.) Flexibel sei der Mensch, kooperativ und mobil In einem berührenden und aufrüttelnden Buch schildert der US-amerikanische Soziologe Richard Sennett den „flexiblen Menschen“, der im Lauf seines Arbeitslebens verschiedenste Berufsfelder an verschiedenen Orten zu durchlaufen hat. Dabei ist auch mindestens eine Phase der Erwerbslosigkeit, zwei bis drei Ortswechsel, wobei einmal die Frau dem Mann, dann der Mann der Frau folgt. Sehr eigenständige Tätigkeit wird gefolgt von Teamarbeit oder von Selbständigkeit, wo der neue Selbständige natürlich jede kleinste Arbeit selbst verrichten muss und jegliche Zeitplanung vom potentiellen Kunden abhängig macht. Diese Tendenz ist auch bei uns steigend. Die atypischen Beschäftigungsverhältnisse sind selbst Ausdruck und oft Ursache extremer Flexibilität, die meist von den Arbeitgebern verordnet wird. Der sympathischste Aspekt der Flexibilität wird meist in der flexiblen Zeitgestaltung, in Zeitarbeitskonten (in denen Freizeit auch auf lange Sicht angesammelt werden kann) und auch in den Möglichkeiten gesehen, Sozialzeit mit Arbeitszeit zu kombinieren. Lust und Last der Flexibilisierung ist allerdings gut durchmischt. In der Kultur des „neuen Kapitalismus“ (Sennet) werden flexible Arbeitsverhältnisse forciert, gleichzeitig soziale Sicherheiten tendenzielle abgebaut. Die Armutsfährdung der Erwerbslosen wird in der EU durchaus als zentrales Problem gesehen. Wer aber meint, nur Erwerbslose sind von Armut gefährdet (workless poor), irrt. Arbeit schützt vor Armut nicht! Man kann in Österreich sehr wohl arbeiten und nicht genug zum Leben haben. Wir sprechen hier von den working poor: Über 200.000 Menschen leben in Österreich in Haushalten, wo unselbständige Erwerbstätigkeit und aktuelle Armut gleichzeitig vorliegt Das sind in der Regel Familien mit nur einem Verdiener und Haushalte mit niedriger bzw. atypischer Beschäftigung. Das am rasantesten zunehmende und gesamtgesellschaftlich vermutlich riskanteste Phänomen der Beschäftigungswelt ist die sogenannte „atypische Arbeit“. Teilzeitbeschäftigung, Geringfügige Beschäftigung, Befristete Beschäftigung, Neue Selbständigkeit, Telearbeit, Leiharbeit) „Muß man morgens hingehen können?“Der Trend zu atypischen Beschäftigungsverhältnissen ist in allen EU-Ländern steigend. Das bedeutet Diskontinuitäten im Erwerbsleben, einer Aufspaltung der Gesellschaft in Vollzeitarbeitende und job-holders von atypischen Beschäftigungen. Das bedeutet aber auch gravierende Einschränkungen im sozialstaatlichen Bereich. Zu einem überwiegenden Anteil werden atypische Beschäftigungsverhältnisse von Frauen wahrgenommen. Da nach wie vor den Frauen die Zuständigkeit für Haushalt, Familie und Kindererziehung zugewiesen wird, wird das Angebot von Teilzeitjobs verstärkt von Frauen mit Familie wahrgenommen, um Berufs- und Privatleben leichter vereinbaren zu können. Tatsächlich stecken in den Möglichkeiten der atypischen Beschäftigungen viele Chancen für die berufliche Integration, für die Vereinbarung von Job und Familie, für eine flexible Arbeitsbalance innerhalb einer Familie oder Partnerschaft. Dies kommt auch den Bedürfnissen hochindividualisierter, mobiler Menschen entgegen. Dennoch: Wirklich attraktiv ist ein Teilzeitjob nur für hoch Qualifizierte und entsprechend hoch verdienende. Die überwiegende Mehrheit von Teilzeitarbeitenden haben schlechte Aufstiegschancen, niedrigere Entlohnung und instabilere Arbeitsverhältnisse im Verhältnis zu Vollzeitbeschäftigten. Sehr häufig ist mit Teilzeitarbeit kein existenzsicherndes Auskommen möglich, sodass in den USA oder zunehmend auch in den Niederlanden zwei, oft sogar drei Jobs nebeneinander ausgeführt werden. Ein wesentlicher Risikofaktor vor allem für Frauen ist das erwerbsarbeitsorientierte Sozialversicherungssystem: Einem niedrigeren Erwerbseinkommen entsprechen nach dem Äquivalenzprinzip nicht-existenzsichernde Leistungen. In jedem dieser Fälle wäre die Frau von einem Partner abhängig, als Alleinunterhalterin oder später in der Pension von Armut massiv betroffen. „In der EU kann man einen doppelten Strukturwandel beobachten: Erstens einen sektoralen Wandel in Richtung Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft; zweitens einen Wandel der Arbeitsverhältnisse und –bedingungen weg vom Normalarbeitszeitverhältnis hin zu temporären, sozialrechtlich nicht abgesicherten flexiblen Arbeitsform.“ (Rosenberger 421). Daher ist hier die Diskussion von Sicherungsstandards auch auf europäischer Ebene zu fordern. Gerade aber in einer Situation der steigenden persönlichen Risiken ist die Perspektive einer grundlegenen Sicherung wichtig. 3.) Ich arbeite - bin ich also? Die Arbeit geht nicht aus, sie ist allerdings radikalen Veränderungsprozessen unterworfen. Gleichzeitig stehen wir am Ende einer Entwicklung, die in Europa den Aufstieg der Arbeit von etwas Minderwertigem, etwas zu Erleidendem zur zentralen Metapher des Gesellschaftsvertrages sah. Es ist wohl eine der wesentlichsten Kulturleistungen der Reformation, dass der „Beruf“ (von vocatio – Berufung) zu einer wichtigen Alltagsleistung der Menschen wurde. Von da an hat die Vokabel Arbeit eine „Tellerwäscherkarriere“ gemacht, bis sie zur „Achse der Lebensführung“ (Ulrich Beck) wurde, die die individualisierte Biografie der Menschen zentral prägte. Nicht nur, dass die Erwerbsarbeit zunehmend die Grenzen des Häuslichen durchdringt (Telearbeit, die ständige Anrufbereitschaft durch das Handy, der Zwang, emails auch zu hause abzurufen), nein alles wird zur Arbeit: Sie „wird tatsächlich immer mehr, weil sie selbst ein universeller Ausdruck für Lebenstätigkeit geworden ist, ...weil wir fast alle unsere Lebenstätigkeiten zunehmend als Arbeit klassifizieren lassen müssen. Denn die Arbeit ist längst zur einzig relevanten Quelle und zum einzig gültigen Maßstab für die Wertschätzung unserer Tätigkeiten geworden.“ (Liessmann 86f.) Beispiele? Bekomme ich Geld für eine Tätigkeit, arbeite ich, zu Hause leiste ich Hausarbeit, mit meiner Frau Beziehungsarbeit, mit meinem kleinen Sohn Erziehungsarbeit, im Trauerfall Trauerarbeit, beim Schifahren Regenerationsarbeit, bei der Supervision arbeite ich an mir selbst, ich gehe leider nicht zum Workout um dort Körperarbeit zu treiben. Viele Ehrenamtliche leisten in Bildungswerken (welch ein Begriff in seiner Mischung aus vorindustriellem Handwerk und modernem Kunstwerk!) Bildungsarbeit, manchmal sogar in Form von Zukunfts-werkstätten. Man kann durchaus von einer Verarbeitlichung (Liessmann), einer Laborisierung unserer Tätigkeiten sprechen. Das Problem dabei ist eine Ökonomisierung dieser Lebensbereiche, die dadurch den Effektivitätskriterien des Marktes unterworfen werden. Vor allem die Freizeit und Muße wird so der allumfassenden Markt- und Geldlogik unterworfen Umgekehrt wird die oft kritisierte Trennung von Haus und öffentlichem Raum im Bereich der Arbeit tendenziell aufgelöst. In diesem weiten Arbeitsbegriff kündigt sich eine Weiterentwicklung des engen Arbeitsbegriffs der Markt-Ökonomie an, in dem nur Erwerbsarbeit als „richtige“ sprich gesellschaftlich akzeptierte und natürlich bezahlte Arbeit gilt. Nicht bezahlte Tätigkeiten gelten noch immer als Nicht-Arbeit, sind daher wertlos, trotz des Versuches, sie als Arbeit zu begreifen. Dazu zählen auch Tätigkeiten wie ehrenamtliches Engagement, Leistungen der Care-Ökonomie, der Versorgungsökonomie (darunter werden alle Tätigkeiten begriffen, die zur Pflege und Versorgung von Menschen dienen, bezahlte wie unbezahlte). „Über Erwerbsarbeit wird die Zugehörigkeit zur Gesellschaft bestimmt. Der Kern des Gesellschaftsvertrages ist also der individuelle Arbeitsvertrag, der besagt: Gib Arbeit (genauer Arbeitskraft), so erhältst du Lohn, mit dem du Konsumgüter kaufen kannst (genauer: musst). Die gleichermaßen über diesen Vertrag geregelte Teilnahme an der Erwerbsgesellschaft wie an den Konsumgütern regelt somit die Zugehörigkeit zur Gesellschaft. (Biesecker, in: Die Armutskonferenz 1999, 48). Daher ist der Verlust des Arbeitsplatzes und damit auch der Konsumkraft in mehrfacher Weise traumatisch: Die Anerkennung „produktiver“ Arbeit fehlt, die soziale Dimension geht verloren und der Erhalt des Lebensstandards über die Konsummöglichkeit wird eingeschränkt. Die Bedeutung des Konsums für die Arbeitsgesellschaft kann dabei gar nicht unterschätzt werden. Man könnte sogar sagen: Nicht Arbeitslosigkeit ist das Problem, sondern Geldlosigkeit. Denn zunehmend werden sich Menschen anderer Tätigkeitsfelder bewusst, die auch als Arbeit bezeichnet werden. Jede menschliche Tätigkeit wird zunehmend als „Arbeit“ qualifiziert. Der homo oeconomicus ist also wesentlich ein animal laborans (Arendt). Ich arbeite, also bin ich? Arbeit ist das wesentliche Mittel zur Selbstverwirklichung, zu sozialen Kontakten, zur gesellschaftlichen Teilhabe. Von daher ist die Vermutung, dass bei einer grundlegenden Absicherung Menschen nicht arbeiten wollen, eher abzulehnen. Allerdings ist der durch die Industrialisierung verengte Arbeitsbegriff auf Erwerbs-Arbeit ist zu erweitern im Sinne von Tätigsein, einer Vita Activa Vita activa: hin zur Tätigkeitsgesellschaft Wenn die Arbeit stärker unter dem Gesichtspunkt der gesamten sozialen Lebenswelt und natürlichen Umwelt betrachtet wird, so werden Versorgungsarbeit (Hausarbeit, Kinder oder Krankenbetreuung, Gartenarbeit), Gemeinwesenarbeit und BürgerInnen-Arbeit in Vereinen oder NPO sowie Eigenarbeit (Arbeit für sich allein, wo Dinge für sich selbst hergestellt werden ) wichtig. Hannah Arendt greift in ihrem Buch Vita Activa die klassische aristotelische Differenzierung des tätigen Lebens auf. Aristoteles unterscheidet zwischen der Arbeit, dem Herstellen und dem Handeln. Die Dimension, in der sich der freie Mensch tatsächlich realisieren kann, ist das Handeln, die Praxis: Kommunikation, gemeinsamer Diskurs, Gestaltung der sozialen (bei Aristoteles: politischen) Beziehungen. Diesen drei Dimensionen stellt Aristoteles die vita contemplativa (den bíos theoretikós) die Anschauung und das Verstehen der Welt gegenüber. Im Mittelalter gewann die Vita contemplativa lange Zeit die Vorherrschaft, da sie als der dem mönchischen Lebensideal angemessenste Lebensausdruck im Gegensatz zur vita activa der Bauern und Handwerker verstanden wurde. Wenn nun Luther von der allgemeinen Priesterschaft der Gläubigen her argumentierend die Arbeit aufwertet, ja als Beruf und Gottesdienst im Alltag sieht, so hebt er dennoch nicht den sinnvollen Unterschied zwischen vita activa und contemplativa auf. Denn Arbeit und Gebet können ineinander übergehen; die Arbeit darf nicht Selbstzweck werden, sondern der Mensch soll den Erfolg der Arbeit Gott anheim stellen: „Nicht auff eigen erbeit und thun sich verlassen, sondern erbeiten und thun und doch alles von Gott allein gewarten.“ (WA 31/1, 437). In den Umformungen der evangelischen Arbeitsethik in den folgenden Jahrhunderten, vor allem unter dem Einfluss des Puritanismus wird der Leistungsaspekt der Arbeit zentral, wo Erfolg durchaus als sichtbarer Segen Gottes und Kontemplation als Zeitverschwendung und Genuss der Früchte der Arbeit als höchste Sünde betrachtet werden. Unter dem Einfluss des Ethos der Aufklärung tritt die Arbeit ihren Siegeszug an. Hannah Arendt beklagt am Ende ihres Buches den Erfahrungsverlust, der darin liegt, dass von den vier Dimensionen Arbeiten, Herstellen, Handeln und Kontemplation nur die Arbeit geblieben ist; denn in der Unterordnung des Handelns,des Denkens, des Herstellens unter die Arbeit droht die erhoffte Freiheit der Moderne in den Bindungen an Zeit, Termine, Verpflichtungen endgültig verloren zu gehen. Das Leben wird an Stelle des öffentlichen Raumes zur zentralen Kategorie der Moderne, und - wie wir heute in den Debatten um Bio-Politik sehen – das Leben (griechisch zoe) als solches, nicht eine bestimmte, vor allem politisch gedachte Lebensweise. Das Leben ist unsicher, auch die Sicherheit des Jenseits ist den Menschen abhanden gekommen, das Leben ist also „letzte Gelegenheit“ (Marianne Gronemeyer). Gerade deshalb brauchen aber Menschen eine Absicherung, damit der Zusammenhalt der Lebensverhältnisse gewahrt ist. 4.) Menschen-Recht auf Sicherheit? In den Wirtschafts- und Wohlfahrtstheorien kann man grob vereinfacht zwei Sichtweisen des Menschen herauslesen: Zum einen werden Menschen als über die Arbeit als Arbeitskräfte und damit als Produktionsfaktoren gesehen (instrumentelle Sichtweise). Zum anderen ist ihre Wohlfahrt das Leitmotiv für die staatliche Wirtschaftspolitik. Alternative und feministische ÖkonomInnen, aber auch zivilgesellschaftliche Gruppierung schlagen vor, die Menschenrechte als Ausgangspunkt für eine Wirtschaftspolitik zu nehmen. Das ist auch aus sozialethischer Sicht ein sinnvoller Ansatz. Grundrecht der Menschenrechte: „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“ (Artikel 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948). Davon abgeleitet ist das Recht auf soziale Sicherheit: "Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuß der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen." (Artikel 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948) Nun sind die Menschenrechte in der Mitte zwischen Recht und Ethik angesiedelt. Ihre Umsetzung in Rechtsetzung bedarf langer Prozesse. Dennoch ist dieser Prozess auf Europäischer Ebene nötig. Hier benötigen wir eine europäische politische Öffentlichkeit und gemeinsame, verbindliche soziale Grundrechte. Ein erster Schritt wäre es, das Recht auf Grundsicherung in die zu schreibende europäische Verfassung aufzunehmen. Die sollte als eine Staatszielbestimmung gelten – auf europäischer wie auf nationalstaatlicher Ebene. Das Problem der Einklagbarkeit und der verbindlichen Normsetzungen bleibt natürlich weiter bestehen. Aus einer Sozialethischen Sichtweise ist zu bedenken: Erstens resultiert der Selbstwert der Menschen auspersonale Wertschätzung und gleichzeitig ihrem öffentliche Wert. Was macht daher die Gesellschaft mit den Menschen, die außerhalb der nArbeitsprozesse stehen? Galater 3,28 (nicht Mann noch Frau, nichrt feier noch Unfreier) könnte in diesem Zusammenhang als Entgrenzung gegen die Einschränkungen gesehen werden. Die sozialen Teilhaberechte sind Abwehrrechte gegen die Eingriffe in das Leben bzw. gegen die Zugriffsmöglichkeit über die Menschen: Dazu zählt auch der Zugriff einer Kontrollierenden und arbeitsverpflichtenden Bürokratie. Zweitens: Beide Grundsicherungsmodelle sind nicht partikularistisch, legen also nicht leistungsabhängig Einzelmaßnahmen vor, sondern sind universalistisch angelegt, sollen also für alle und individuell gelten. Gerade unter den Bedingungen von Individualisierungsprozessen ist soziale Sicherheit nötig. „Soziale Sicherheit behindert Individualisierungsprozesse keineswegs, sondern ist deren notwedige Voraussetzung (Nullmeier – Vobruba 37). Wenn wir Individiualisierung positiv begreifen als Eigeninitiative, Verantwortlichkeit und Problemlösungskapazität, dann sollte sie durch garantierte Sicherheit gefördert werden. Nun sind die impliziten Gerechtigkeitsvorstellungen der Grundsicherungsmodelle differenziert zu betrachte. Hier ist nicht die Zeit dazu. Nur einige Andeutungen: Das Bedarfsorientierte Grundsicherungsmodell soll in das bestehende System der Sicherung eingebaut werden und ist daher tendenziell leistungsgerecht, da die Bereitschaft zur Erwerbsarbeit vorausgesetzt wird. Demgegenüber ist das Grundeinkommen stärker an Bedarfsgerechtigkeit. Dennoch ist beiden gemeinsam, „dass ein Recht auf Sozialleistungen nicht erworben werden muss, sondern den Individuen qua Mitgloiedschaft in der Gesellschaft zukommt. Nicht aufgrund von „tun“, sondern auf Grund von „sein“ hat man ein Recht“ auf diese Leitungen (ebd. 38). Daher beruhen beide Konzeption in all ihrer Unterschiedlichekeit auf dem Prinzip einer Teilhabegerechtigkeit. Ob sich diese Gerechtigkeitsvorstellung im medialen und politischen Diskurs durchsetzen kann, wird sich erweisen. 5.) Bausteine für die Zukunft Vordringlich ist eine Festlegung sozialer Mindeststandards und eine Bedarfsorientierte Mindestsicherung zur Unterstützung der bestehenden Formen der Sozialhilfe nötig. Gesellschaftlich sinnvolle Tätigkeit (Gemeinwesenarbeit, BürgerInnenarbeit, Tätigkeiten im Non-Profit-Bereich) sollte ermuntert und gefördert werden. Sie ist nicht als Verpflichtung, sondern als Chance zur Eigen- und Sozialbetätigung zu sehen. Daher ist es sinnvoll, Formen von zeitlich begrenztem oder auch unbegrenztem Grundeinkommen, das von Erwerbsarbeit unabhängig ist, einzuführen. Modellversuche etwa in Form eines Bürgerstipendiums für „Bürgerarbeit“ und die Einführung einer letzteinkommensunabhängigen Grundrente können Bausteine für den Anfang sein. Die Leitziele der Debatte sollten sein: Eine nachhaltige Entwicklung unserer europäischen Gesellschaften anstelel sozialer Entbettung, demokratische Inklusion anstelle sozialer Ausgrenzungund die Verankerung von Grundsicherung und von sozialen Rechten als Staatszielbestimmungen der Nationalstaaten und des künftigen europäischen Staatsgebildes. Dafür brauchen wir kontrovers geführte und offene Debatten in den öffentlichen Räumen der Gesellschaft. Das wünsche ich uns auch heute. Danke Albert Brandstätter ist evangelischer Theologe, war Leiter der Evangelischen Akademie Wien, Mitbegründer der Armutskonferenz und ist arbeitet als Generalsekretär von EURODIACONIA in Brüssel. Eurodiaconia ist der Europäische Verband für Diakonie mit 46 nationalen Mitgliedseinrichtungen in 25 europäischen Ländern. In diesen Einrichtungen arbeiten ca. 450.000 Hauptamtliche im Gesundheits-, Behinderten- und Sozialbereich.