Geld oder Leben. Hintergründe sozialer Sicherheit

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Geld oder Leben. Hintergründe sozialer Sicherheit
Albert Brandstätter (Eurodiaconia, Brüssel)
In der Problemstellung des Titels „Geld oder Leben“ werden grundlegende Dilemmata der
europäischen Gesellschaften deutlich. Diese Dilemmata bezeichnen auch Krisensituationen
der gesellschaftlichen Veränderungen und auch Chancen zur Veränderung:
Ich kann Geld oder Leben mit einem Punkt, einem Fragezeichen oder einem Rufzeichen
versehen.
„Geld oder Leben. (Punkt)“: Die Gegenüberstellung beschreibt zwei analytische
Grundmöglichkeiten, gesellschaftliche Identität zu beschreiben. Einerseits ist für den
modernen Menschen das Leben die zentrale Kategorie, ja sogar die „letzte Gelegenheit“,
andererseits gewinnt in der neuen Kultur des Kapitalismus Geld eine neue Rolle. Einerseits ist
„Arbeit“ eine zentrale Kategorie, die Identität der Gesellschaft („Arbeitsgesellschaft“) zu
beschreiben, gleichzeitig aber wird „Geld“ zum sozialen Operateur und symbolisiert
gesellschaftliche Kohärenz.
„Geld oder Leben? (Fragezeichen)“ fragt nach der ethischen Relevanz und nach
impliziten Gerechtigkeitsvorstellungen. Der Diskurs über Gerechtigkeitsvorstellungen in den
Umformungen des Sozialstaats wird in Europa und in Österreich nicht genug und nicht genug
öffentlich geführt. Der Diskurs um soziale Grundrechte und um ein soziales Europa rauch den
öffentlichen Raum.
Hie bieten sich zivilgesellschaftliche Foren, besonders aber auch die Ökumene an. Kirchen,
und dabei besonders ihre Wohlfahrtsverbände wie Caritas und Diakonie werden gerne als
Wertestifter bezeichnet. Gut. So stiften wir denn. Allerdings beißen die Fragen, die wir zu
stellen haben, wenn wir Unruhe bei den Entscheidungsträgern stiften oder auch bei den
einzelnen Menschen: Bei der Frage um Grundsicherung geht es um politische Entscheidungen
und um eine Werteveränderung der Gesellschaft und auch bei den Einzelnen. Wenn Arbeit,
Zeit, Einkommen tendenzielle entkoppelt werden, so werden sich auch Konsum- und
Freizeitverhalten der Menschen ändern.
„Geld oder Leben! (Rufzeichen)“: Ja, das ist wohl dringlich. Und bedeutet Eile,
kurzfristige Entscheidung. Hat das etwa etwas Räuberisches an sich? Geld oder Leben!!
Ich beziehe es auf die doppelte Krisensituation, in der sich unsere Gesellschaften befinden:
Erstens kann die Umformungskrise der Gesellschaft durch Entnationalisierung,
Internationalisierung der Information, des Handels und der Finanzströme, durch den
Wettstreit von sich angeblich selbst regulierenden Märkten, also den widersprüchlichen
Phänomenen, die unter dem Sammeltitel „Globalisierung“ laufen, gekennzeichnet werden.
Damit parallel läuft eine drohende oder im neoamerikanischen kapitalistischen Modell des
Kapitalismus bereits bestehende soziale Entbettung der Wirtschaft. Eine Polarisierung der
Arbeitsbedingungen, Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse, Fragmentierung der
Lebenswelten, der einzelnen Erfahrungen, der kulturellen Entwicklungen sind die andere
Seite der Globalisierung.
Zweitens sind die Individualisierungsprozesse der einzelnen Staatsbürger weit fortgeschritten,
neue Formen der Vergesellschaftung, der Solidarität, der Gemeinschaften bilden sich, ohne
dass hier schon gemeinsame europäische oder nationalstaatliche verbindliche Formen
gefunden wurden. Die Frage nach dem neuen Regieren der governance, die die EU ihren
Bürgern nun stellt, ist hier von entscheidender Bedeutung.
„Geld oder Leben!“ heißt dabei Verlust sozialer Sicherheiten und die gleichzeitige Zunahme
autoritärer Tendenzen in den Demokratien. Die Vorstellung eines Minimalstaats, ein
betriebswirtschaftliches Unternehmertum auf staatlicher Ebene haben häufig die Tendenz,
fehlende soziale Integrationskraft und gesellschaftlichen Zusammenhalt durch staatliche
Pressionen zu ersetzen. Das könnte sich als Illusion erweisen..
Hier ist eine öffentliche und kontrovers geführtre Debatte um Grundsicherung eine
zukunftsweisende Aufgabe zur vernetzten Neuformulierung unserer Staatsziele. Dabei stehen
zwei grundlegende Modelle der Grundsicherung zur Debatte: Die bedarfsorientierte
Grundsicherung ist ein Bündel von Maßnahmen, das das bestehende Sicherungssystem nach
unten hin sockelt und für alle grundsätzlich erweitert. Es ist aber an Erwerbsarbeit und
Einkommen weiterhin gekoppelt. Die Grundeinkommensmodelle stellen die materielle
Existenzsicherung in den Vordergrund und fordern eine Entkoppelung von Arbeit, Zeit und
Einkommen.
Eine systemimmanente und eine tendenziell systemverändernde Strategie stehen also zur
Disposition.
Wichtig ist eine kontrovers geführte öffentliche Debatte, die allerdings nicht ob ihrer
Grundsätzlichkeit eine rasche Einführung einer Form der Grundsicherung verhindern sollte!
Ein wesentliches Motiv sollte aber in den Debatten nicht aus den Augen verloren werden:
Das vorrangige Ziel ist es, in einem reichen Land Armut zu verhindern. Der Fall von
Menschen, die von Armut und Ausgrenzung bedroht sind, in den sozialen Keller soll
verhindert werden.
Die gesellschaftliche Teilhabe soll für alle ermöglicht werden. Armut verhindert
gesellschaftliche Teilhabe für einen großen Teil unserer Bevölkerung. Hier kann eine
Grundsicherung wesentlich zur demokratischen Kultur beitragen.
Soziale Grundrechte müssen gesichert, wenn nötig an neuer Stelle formuliert werden.
Das soll durch diese Debatte befördert, reflektiert, moderiert, aber nicht behindert
werden.
1) Hauptsache Arbeit oder Hauptsache Leben?
Das Grunddilemma begleitet beinahe alle Debatten über Erwerbsarbeit: Die Arbeit, das heißt
natürlich die Erwerbs-Arbeit, wird immer weniger. Die gegenläufige Tendenz: Wir alle
arbeiten immer mehr. In einer extremen Ausdeutung könnte das heißen: Immer weniger
arbeiten immer mehr, und umgekehrt: Immer mehr arbeiten immer weniger im
herkömmlichen Sinn einer traditionellen Vollbeschäftigung.
Kurt Tucholsky hat einmal geschrieben: „Für die Arbeit ist der Mensch auf der Welt, für die
ernste Arbeit, die wo den ganzen Mann ausfüllt. Ob sie einen Sinn hat, ob sie schadt oder
nützt, ob sie Vergnügen macht ... das ist alles ganz gleich. Es muß eine Arbeit sein. Und man
muß morgens hingehen können. Sonst hat das Leben keinen Zweck.“ Diese Zeitdeutung vom
Anfang des letzten Jahrhunderts werden noch da beschworen, wo am Mythos einer
Vollbeschäftigungsgesellschaft festgehalten wird.
Der Begriff „Vollbeschäftigungsgesellschaft“ meint „eine Gesellschaft, deren zentrale
Institutionen auf Vollbeschäftigung in Form von Normalarbeit aufbauen und in der das
Muster individueller Normalbiografie auf abhängiger Erwerbsarbeit beruht“ (Beck 2000, 8).
Das dies sich natürlich auf eine Fiktion bezieht, ist klar, wenn man erstens die
Arbeitslosenzahlen in der Europäischen Union ansieht, die gegen 20 Millionen tendieren, und
gleichzeitig in Erwägung zieht, dass Vollbeschäftigung immer hieß: Vollbeschäftigung der
Männer („Arbeit, die wo den ganzen Mann ausfüllt“), also eine „halbierte Vollbeschäftigung“
(S. Rosenberger).
Mittlerweile wird deutlich, dass der Abschied von der traditionellen Erwerbsarbeit bevorsteht.
Die rasanten Prozesse der Internationalisierung und Digitalisierung, die theoretische
Verfügbarkeit unzähliger Billigarbeitskräfte, die Veränderungen der Arbeitsformen
(Ausweitung der Dienstleistungsgesellschaft, Flexibilisierung, Teamwork, neues
Unternehmertum), lassen ahnen, dass zumindest die gewohnten Arbeitsverhältnisse zu Ende
gehen. Damit sind aber die Erwerbsbiografien der Menschen betroffen, die Verhältnisse der
Geschlechter werden erneut zur Disposition gestellt, die Veränderung der Arbeit wird zu
einem wesentlichen Moment der zukünftigen Demokratie überhaupt.
2.) Flexibel sei der Mensch, kooperativ und mobil
In einem berührenden und aufrüttelnden Buch schildert der US-amerikanische Soziologe
Richard Sennett den „flexiblen Menschen“, der im Lauf seines Arbeitslebens verschiedenste
Berufsfelder an verschiedenen Orten zu durchlaufen hat. Dabei ist auch mindestens eine
Phase der Erwerbslosigkeit, zwei bis drei Ortswechsel, wobei einmal die Frau dem Mann,
dann der Mann der Frau folgt. Sehr eigenständige Tätigkeit wird gefolgt von Teamarbeit oder
von Selbständigkeit, wo der neue Selbständige natürlich jede kleinste Arbeit selbst verrichten
muss und jegliche Zeitplanung vom potentiellen Kunden abhängig macht.
Diese Tendenz ist auch bei uns steigend. Die atypischen Beschäftigungsverhältnisse sind
selbst Ausdruck und oft Ursache extremer Flexibilität, die meist von den Arbeitgebern
verordnet wird. Der sympathischste Aspekt der Flexibilität wird meist in der flexiblen
Zeitgestaltung, in Zeitarbeitskonten (in denen Freizeit auch auf lange Sicht angesammelt
werden kann) und auch in den Möglichkeiten gesehen, Sozialzeit mit Arbeitszeit zu
kombinieren. Lust und Last der Flexibilisierung ist allerdings gut durchmischt.
In der Kultur des „neuen Kapitalismus“ (Sennet) werden flexible Arbeitsverhältnisse forciert,
gleichzeitig soziale Sicherheiten tendenzielle abgebaut. Die Armutsfährdung der
Erwerbslosen wird in der EU durchaus als zentrales Problem gesehen. Wer aber meint, nur
Erwerbslose sind von Armut gefährdet (workless poor), irrt. Arbeit schützt vor Armut nicht!
Man kann in Österreich sehr wohl arbeiten und nicht genug zum Leben haben. Wir sprechen
hier von den working poor: Über 200.000 Menschen leben in Österreich in Haushalten, wo
unselbständige Erwerbstätigkeit und aktuelle Armut gleichzeitig vorliegt
Das sind in der Regel Familien mit nur einem Verdiener und Haushalte mit niedriger bzw.
atypischer Beschäftigung.
Das am rasantesten zunehmende und gesamtgesellschaftlich vermutlich riskanteste Phänomen
der Beschäftigungswelt ist die sogenannte „atypische Arbeit“. Teilzeitbeschäftigung, Geringfügige
Beschäftigung, Befristete Beschäftigung, Neue Selbständigkeit, Telearbeit, Leiharbeit)
„Muß man morgens hingehen können?“Der Trend zu atypischen
Beschäftigungsverhältnissen ist in allen EU-Ländern steigend. Das bedeutet Diskontinuitäten
im Erwerbsleben, einer Aufspaltung der Gesellschaft in Vollzeitarbeitende und job-holders
von atypischen Beschäftigungen. Das bedeutet aber auch gravierende Einschränkungen im
sozialstaatlichen Bereich.
Zu einem überwiegenden Anteil werden atypische Beschäftigungsverhältnisse von Frauen
wahrgenommen. Da nach wie vor den Frauen die Zuständigkeit für Haushalt, Familie und Kindererziehung
zugewiesen wird, wird das Angebot von Teilzeitjobs verstärkt von Frauen mit Familie wahrgenommen, um
Berufs- und Privatleben leichter vereinbaren zu können.
Tatsächlich stecken in den Möglichkeiten der atypischen Beschäftigungen viele Chancen für
die berufliche Integration, für die Vereinbarung von Job und Familie, für eine flexible
Arbeitsbalance innerhalb einer Familie oder Partnerschaft. Dies kommt auch den
Bedürfnissen hochindividualisierter, mobiler Menschen entgegen.
Dennoch: Wirklich attraktiv ist ein Teilzeitjob nur für hoch Qualifizierte und entsprechend
hoch verdienende. Die überwiegende Mehrheit von Teilzeitarbeitenden haben schlechte
Aufstiegschancen, niedrigere Entlohnung und instabilere Arbeitsverhältnisse im Verhältnis zu
Vollzeitbeschäftigten. Sehr häufig ist mit Teilzeitarbeit kein existenzsicherndes Auskommen
möglich, sodass in den USA oder zunehmend auch in den Niederlanden zwei, oft sogar drei
Jobs nebeneinander ausgeführt werden.
Ein wesentlicher Risikofaktor vor allem für Frauen ist das erwerbsarbeitsorientierte
Sozialversicherungssystem: Einem niedrigeren Erwerbseinkommen entsprechen nach dem
Äquivalenzprinzip nicht-existenzsichernde Leistungen. In jedem dieser Fälle wäre die Frau
von einem Partner abhängig, als Alleinunterhalterin oder später in der Pension von Armut
massiv betroffen.
„In der EU kann man einen doppelten Strukturwandel beobachten: Erstens einen sektoralen
Wandel in Richtung Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft; zweitens einen Wandel
der Arbeitsverhältnisse und –bedingungen weg vom Normalarbeitszeitverhältnis hin zu
temporären, sozialrechtlich nicht abgesicherten flexiblen Arbeitsform.“ (Rosenberger 421).
Daher ist hier die Diskussion von Sicherungsstandards auch auf europäischer Ebene zu
fordern.
Gerade aber in einer Situation der steigenden persönlichen Risiken ist die Perspektive einer
grundlegenen Sicherung wichtig.
3.) Ich arbeite - bin ich also?
Die Arbeit geht nicht aus, sie ist allerdings radikalen Veränderungsprozessen unterworfen.
Gleichzeitig stehen wir am Ende einer Entwicklung, die in Europa den Aufstieg der Arbeit
von etwas Minderwertigem, etwas zu Erleidendem zur zentralen Metapher des
Gesellschaftsvertrages sah.
Es ist wohl eine der wesentlichsten Kulturleistungen der Reformation, dass der „Beruf“ (von vocatio –
Berufung) zu einer wichtigen Alltagsleistung der Menschen wurde. Von da an hat die Vokabel Arbeit eine
„Tellerwäscherkarriere“ gemacht, bis sie zur „Achse der Lebensführung“ (Ulrich Beck) wurde, die die
individualisierte Biografie der Menschen zentral prägte. Nicht nur, dass die Erwerbsarbeit zunehmend die
Grenzen des Häuslichen durchdringt (Telearbeit, die ständige Anrufbereitschaft durch das Handy, der Zwang, emails auch zu hause abzurufen), nein alles wird zur Arbeit: Sie „wird tatsächlich immer mehr, weil sie selbst ein
universeller Ausdruck für Lebenstätigkeit geworden ist, ...weil wir fast alle unsere Lebenstätigkeiten zunehmend
als Arbeit klassifizieren lassen müssen. Denn die Arbeit ist längst zur einzig relevanten Quelle und zum einzig
gültigen Maßstab für die Wertschätzung unserer Tätigkeiten geworden.“ (Liessmann 86f.) Beispiele? Bekomme
ich Geld für eine Tätigkeit, arbeite ich, zu Hause leiste ich Hausarbeit, mit meiner Frau Beziehungsarbeit, mit
meinem kleinen Sohn Erziehungsarbeit, im Trauerfall Trauerarbeit, beim Schifahren Regenerationsarbeit, bei
der Supervision arbeite ich an mir selbst, ich gehe leider nicht zum Workout um dort Körperarbeit zu treiben.
Viele Ehrenamtliche leisten in Bildungswerken (welch ein Begriff in seiner Mischung aus vorindustriellem
Handwerk und modernem Kunstwerk!) Bildungsarbeit, manchmal sogar in Form von Zukunfts-werkstätten.
Man kann durchaus von einer Verarbeitlichung (Liessmann), einer Laborisierung unserer Tätigkeiten sprechen.
Das Problem dabei ist eine Ökonomisierung dieser Lebensbereiche, die dadurch den Effektivitätskriterien des
Marktes unterworfen werden. Vor allem die Freizeit und Muße wird so der allumfassenden Markt- und
Geldlogik unterworfen
Umgekehrt wird die oft kritisierte Trennung von Haus und öffentlichem Raum im Bereich der Arbeit tendenziell
aufgelöst. In diesem weiten Arbeitsbegriff kündigt sich eine Weiterentwicklung des engen
Arbeitsbegriffs der Markt-Ökonomie an, in dem nur Erwerbsarbeit als „richtige“ sprich
gesellschaftlich akzeptierte und natürlich bezahlte Arbeit gilt. Nicht bezahlte Tätigkeiten
gelten noch immer als Nicht-Arbeit, sind daher wertlos, trotz des Versuches, sie als Arbeit zu
begreifen. Dazu zählen auch Tätigkeiten wie ehrenamtliches Engagement, Leistungen der
Care-Ökonomie, der Versorgungsökonomie (darunter werden alle Tätigkeiten begriffen, die
zur Pflege und Versorgung von Menschen dienen, bezahlte wie unbezahlte). „Über
Erwerbsarbeit wird die Zugehörigkeit zur Gesellschaft bestimmt. Der Kern des
Gesellschaftsvertrages ist also der individuelle Arbeitsvertrag, der besagt: Gib Arbeit (genauer
Arbeitskraft), so erhältst du Lohn, mit dem du Konsumgüter kaufen kannst (genauer: musst).
Die gleichermaßen über diesen Vertrag geregelte Teilnahme an der Erwerbsgesellschaft wie
an den Konsumgütern regelt somit die Zugehörigkeit zur Gesellschaft. (Biesecker, in: Die
Armutskonferenz 1999, 48). Daher ist der Verlust des Arbeitsplatzes und damit auch der
Konsumkraft in mehrfacher Weise traumatisch: Die Anerkennung „produktiver“ Arbeit fehlt,
die soziale Dimension geht verloren und der Erhalt des Lebensstandards über die
Konsummöglichkeit wird eingeschränkt. Die Bedeutung des Konsums für die
Arbeitsgesellschaft kann dabei gar nicht unterschätzt werden. Man könnte sogar sagen: Nicht
Arbeitslosigkeit ist das Problem, sondern Geldlosigkeit. Denn zunehmend werden sich
Menschen anderer Tätigkeitsfelder bewusst, die auch als Arbeit bezeichnet werden.
Jede menschliche Tätigkeit wird zunehmend als „Arbeit“ qualifiziert. Der homo oeconomicus
ist also wesentlich ein animal laborans (Arendt). Ich arbeite, also bin ich? Arbeit ist das
wesentliche Mittel zur Selbstverwirklichung, zu sozialen Kontakten, zur gesellschaftlichen
Teilhabe. Von daher ist die Vermutung, dass bei einer grundlegenden Absicherung Menschen
nicht arbeiten wollen, eher abzulehnen.
Allerdings ist der durch die Industrialisierung verengte Arbeitsbegriff auf Erwerbs-Arbeit ist
zu erweitern im Sinne von Tätigsein, einer Vita Activa
Vita activa: hin zur Tätigkeitsgesellschaft
Wenn die Arbeit stärker unter dem Gesichtspunkt der gesamten sozialen Lebenswelt und natürlichen Umwelt
betrachtet wird, so werden Versorgungsarbeit (Hausarbeit, Kinder oder Krankenbetreuung, Gartenarbeit),
Gemeinwesenarbeit und BürgerInnen-Arbeit in Vereinen oder NPO sowie Eigenarbeit (Arbeit für sich
allein, wo Dinge für sich selbst hergestellt werden ) wichtig.
Hannah Arendt greift in ihrem Buch Vita Activa die klassische aristotelische Differenzierung
des tätigen Lebens auf. Aristoteles unterscheidet zwischen der Arbeit, dem Herstellen und
dem Handeln.
Die Dimension, in der sich der freie Mensch tatsächlich realisieren kann, ist das Handeln, die
Praxis: Kommunikation, gemeinsamer Diskurs, Gestaltung der sozialen (bei Aristoteles:
politischen) Beziehungen.
Diesen drei Dimensionen stellt Aristoteles die vita contemplativa (den bíos theoretikós) die
Anschauung und das Verstehen der Welt gegenüber.
Im Mittelalter gewann die Vita contemplativa lange Zeit die Vorherrschaft, da sie als der dem mönchischen
Lebensideal angemessenste Lebensausdruck im Gegensatz zur vita activa der Bauern und Handwerker
verstanden wurde. Wenn nun Luther von der allgemeinen Priesterschaft der Gläubigen her argumentierend die
Arbeit aufwertet, ja als Beruf und Gottesdienst im Alltag sieht, so hebt er dennoch nicht den sinnvollen
Unterschied zwischen vita activa und contemplativa auf. Denn Arbeit und Gebet können ineinander übergehen;
die Arbeit darf nicht Selbstzweck werden, sondern der Mensch soll den Erfolg der Arbeit Gott anheim stellen:
„Nicht auff eigen erbeit und thun sich verlassen, sondern erbeiten und thun und doch alles von Gott allein
gewarten.“ (WA 31/1, 437).
In den Umformungen der evangelischen Arbeitsethik in den folgenden Jahrhunderten, vor allem unter dem
Einfluss des Puritanismus wird der Leistungsaspekt der Arbeit zentral, wo Erfolg durchaus als sichtbarer Segen
Gottes und Kontemplation als Zeitverschwendung und Genuss der Früchte der Arbeit als höchste Sünde
betrachtet werden. Unter dem Einfluss des Ethos der Aufklärung tritt die Arbeit ihren Siegeszug an.
Hannah Arendt beklagt am Ende ihres Buches den Erfahrungsverlust, der darin liegt, dass von
den vier Dimensionen Arbeiten, Herstellen, Handeln und Kontemplation nur die Arbeit
geblieben ist; denn in der Unterordnung des Handelns,des Denkens, des Herstellens unter die
Arbeit droht die erhoffte Freiheit der Moderne in den Bindungen an Zeit, Termine,
Verpflichtungen endgültig verloren zu gehen.
Das Leben wird an Stelle des öffentlichen Raumes zur zentralen Kategorie der Moderne, und
- wie wir heute in den Debatten um Bio-Politik sehen – das Leben (griechisch zoe) als
solches, nicht eine bestimmte, vor allem politisch gedachte Lebensweise. Das Leben ist
unsicher, auch die Sicherheit des Jenseits ist den Menschen abhanden gekommen, das Leben
ist also „letzte Gelegenheit“ (Marianne Gronemeyer). Gerade deshalb brauchen aber
Menschen eine Absicherung, damit der Zusammenhalt der Lebensverhältnisse gewahrt ist.
4.) Menschen-Recht auf Sicherheit?
In den Wirtschafts- und Wohlfahrtstheorien kann man grob vereinfacht zwei Sichtweisen des
Menschen herauslesen: Zum einen werden Menschen als über die Arbeit als Arbeitskräfte und
damit als Produktionsfaktoren gesehen (instrumentelle Sichtweise). Zum anderen ist ihre
Wohlfahrt das Leitmotiv für die staatliche Wirtschaftspolitik. Alternative und feministische
ÖkonomInnen, aber auch zivilgesellschaftliche Gruppierung schlagen vor, die
Menschenrechte als Ausgangspunkt für eine Wirtschaftspolitik zu nehmen. Das ist auch aus
sozialethischer Sicht ein sinnvoller Ansatz.
Grundrecht der Menschenrechte: „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und
Sicherheit der Person.“ (Artikel 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948).
Davon abgeleitet ist das Recht auf soziale Sicherheit: "Jeder Mensch hat als Mitglied der
Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche
Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und
der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuß der für seine Würde und die freie Entwicklung
seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu
gelangen." (Artikel 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948)
Nun sind die Menschenrechte in der Mitte zwischen Recht und Ethik angesiedelt. Ihre
Umsetzung in Rechtsetzung bedarf langer Prozesse. Dennoch ist dieser Prozess auf
Europäischer Ebene nötig. Hier benötigen wir eine europäische politische Öffentlichkeit und
gemeinsame, verbindliche soziale Grundrechte. Ein erster Schritt wäre es, das Recht auf
Grundsicherung in die zu schreibende europäische Verfassung aufzunehmen. Die sollte als
eine Staatszielbestimmung gelten – auf europäischer wie auf nationalstaatlicher Ebene. Das
Problem der Einklagbarkeit und der verbindlichen Normsetzungen bleibt natürlich weiter
bestehen.
Aus einer Sozialethischen Sichtweise ist zu bedenken:
Erstens resultiert der Selbstwert der Menschen auspersonale Wertschätzung und gleichzeitig
ihrem öffentliche Wert. Was macht daher die Gesellschaft mit den Menschen, die außerhalb
der nArbeitsprozesse stehen? Galater 3,28 (nicht Mann noch Frau, nichrt feier noch Unfreier)
könnte in diesem Zusammenhang als Entgrenzung gegen die Einschränkungen gesehen
werden. Die sozialen Teilhaberechte sind Abwehrrechte gegen die Eingriffe in das Leben
bzw. gegen die Zugriffsmöglichkeit über die Menschen: Dazu zählt auch der Zugriff einer
Kontrollierenden und arbeitsverpflichtenden Bürokratie.
Zweitens: Beide Grundsicherungsmodelle sind nicht partikularistisch, legen also nicht
leistungsabhängig Einzelmaßnahmen vor, sondern sind universalistisch angelegt, sollen also
für alle und individuell gelten. Gerade unter den Bedingungen von
Individualisierungsprozessen ist soziale Sicherheit nötig. „Soziale Sicherheit behindert
Individualisierungsprozesse keineswegs, sondern ist deren notwedige Voraussetzung
(Nullmeier – Vobruba 37). Wenn wir Individiualisierung positiv begreifen als Eigeninitiative,
Verantwortlichkeit und Problemlösungskapazität, dann sollte sie durch garantierte Sicherheit
gefördert werden.
Nun sind die impliziten Gerechtigkeitsvorstellungen der Grundsicherungsmodelle
differenziert zu betrachte. Hier ist nicht die Zeit dazu. Nur einige Andeutungen: Das
Bedarfsorientierte Grundsicherungsmodell soll in das bestehende System der Sicherung
eingebaut werden und ist daher tendenziell leistungsgerecht, da die Bereitschaft zur
Erwerbsarbeit vorausgesetzt wird. Demgegenüber ist das Grundeinkommen stärker an
Bedarfsgerechtigkeit. Dennoch ist beiden gemeinsam, „dass ein Recht auf Sozialleistungen
nicht erworben werden muss, sondern den Individuen qua Mitgloiedschaft in der Gesellschaft
zukommt. Nicht aufgrund von „tun“, sondern auf Grund von „sein“ hat man ein Recht“ auf
diese Leitungen (ebd. 38). Daher beruhen beide Konzeption in all ihrer Unterschiedlichekeit
auf dem Prinzip einer Teilhabegerechtigkeit. Ob sich diese Gerechtigkeitsvorstellung im
medialen und politischen Diskurs durchsetzen kann, wird sich erweisen.
5.) Bausteine für die Zukunft
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Vordringlich ist eine Festlegung sozialer Mindeststandards und eine Bedarfsorientierte
Mindestsicherung zur Unterstützung der bestehenden Formen der Sozialhilfe nötig.
Gesellschaftlich sinnvolle Tätigkeit (Gemeinwesenarbeit, BürgerInnenarbeit, Tätigkeiten
im Non-Profit-Bereich) sollte ermuntert und gefördert werden. Sie ist nicht als
Verpflichtung, sondern als Chance zur Eigen- und Sozialbetätigung zu sehen. Daher ist es
sinnvoll, Formen von zeitlich begrenztem oder auch unbegrenztem Grundeinkommen, das
von Erwerbsarbeit unabhängig ist, einzuführen.
Modellversuche etwa in Form eines Bürgerstipendiums für „Bürgerarbeit“ und die
Einführung einer letzteinkommensunabhängigen Grundrente können Bausteine für den
Anfang sein.
Die Leitziele der Debatte sollten sein: Eine nachhaltige Entwicklung unserer europäischen
Gesellschaften anstelel sozialer Entbettung, demokratische Inklusion anstelle sozialer
Ausgrenzungund die Verankerung von Grundsicherung und von sozialen Rechten als
Staatszielbestimmungen der Nationalstaaten und des künftigen europäischen Staatsgebildes.
Dafür brauchen wir kontrovers geführte und offene Debatten in den öffentlichen Räumen der
Gesellschaft. Das wünsche ich uns auch heute.
Danke
Albert Brandstätter ist evangelischer Theologe, war Leiter der Evangelischen Akademie Wien, Mitbegründer der Armutskonferenz und ist
arbeitet als Generalsekretär von EURODIACONIA in Brüssel. Eurodiaconia ist der Europäische Verband für Diakonie mit 46 nationalen
Mitgliedseinrichtungen in 25 europäischen Ländern. In diesen Einrichtungen arbeiten ca. 450.000 Hauptamtliche im Gesundheits-,
Behinderten- und Sozialbereich.
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