Seite 1 von 4 Was ist der Mensch? Predigt zu Psalm 8,5-6 Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn wenig geringer gemacht als Gott mit Ehre und Hoheit hast du ihn gekrönt. Liebe Gemeinde, es gibt Fragen, welche die Menschen schon seit Urzeiten begleiten, Fragen, die geradezu zum Menschsein gehören. Die Frage des Psalmes „Was ist der Mensch?“ ist eine solche Grundfrage. Alle Religionen der Welt, alle Philosophien, alle Künste und auch alle Wissenschaften bemühen sich, dieser Frage auf die Spur zu kommen. Der letzte und vielleicht verrückteste Versuch, das Rätsel des Menschen zu lösen, ist die Entschlüsselung des genetischen Codes. Werden wir aber wirklich wissen, was der Mensch ist, wenn die Zusammensetzung der menschlichen Gene entziffert ist? Nein, mit Sicherheit wird die Frage auch dann weiter bestehen. Die christlich jüdische Tradition stellte seit jeher die Frage nach dem Menschen ins Zentrum ihres religiösen Denkens und Suchens. Mit dem Auftreten von Christus wurde die Urfrage nach dem Wesen des Menschen ganz neu aufgeworfen. Das christliche Glaubensbekenntnis erklärt doch: Gott, der Schöpfer des Universums, ist in Jesus Christus ein Mensch geworden. Dies ist die Weihnachtsbotschaft. Das ist das Evangelium. Durch die Identifikation Gottes mit dem Menschsein erhält der Mensch eine einzigartige, eine göttliche Würde. --- Es ist nun sehr spannend zu beobachten, in welcher geistesgeschichtlichen Epoche sich die christliche Botschaft zu verbreiten begann. Es war eine Zeit grösster, weltanschaulicher Umwälzungen. Sowohl in Griechenland als auch im römischen Gebiet waren die klassischen Götter wie Zeus, Jupiter, Athene, Arthemis, und wie sie alle hiessen, am Verbleichen. Der Glaube an die antiken Göttergestalten aus der Mythologie löste sich auf. Seite 2 von 4 An ihre Stelle trat eine breitgefächerte, philosophische Denkströmung, welche Gott als Weltengeist verstand, als ein geistiges Lebensprinzip, welches alles Sein durchdringt und allem, was existiert zugrunde liegt. Der menschliche Geist wurde als artverwandt oder als Teil dieses Weltengeistes angesehen. Man fasst diese religionsphilosophische Denkart zusammen unter dem Oberbegriff „Gnosis“. Bis heute sind viele Varianten der Gnosis weit verbreitet. Für die Anhänger der Gnosis gibt es den Sammelnamen „die Gnostiker“. Im religiösen Umfeld der ersten Jahrhunderte hatte das Judentum eine spezielle Stellung. Der Gott der Juden ist unsichtbar wie das allumfassende Sein des Weltgeistes auch. Der Gott der Juden darf auch nicht abgebildet werden. In diesem Sinne entsprach die jüdische Religion den Vorstellungen der aufkommenden Gnosis. In einem wesentlichen Punkt allerdings widersprach das Judentum der spätantiken Religiosität. Der jüdische Gott hat einen Namen, er ist ein Du und nicht ein unpersönliches Seinsprinzip. Noch viel stärker betonte dann jedoch der junge, christliche Glaube die Personalität Gottes, ist doch Christus der menschgewordene Gott in Person! Mitten in einer Epoche also, wo die antiken Götterpersonen abtraten, kam mit dem Christentum eine neue Religion auf, welche vehement die Personalität Gottes betonte. Während die alten griechischen Götterpersonen aber alle etwas Heroisches an sich hatten und sich auf den Höhen des Olymp tummelten, bewegte sich Christus als Mensch in einem durch und durch menschlichen Milieu. Ich staune, dass sich das Christentum in jenen ersten Jahrhunderten so schnell ausbreitete. Ausgerechnet in einer Zeit, in welcher Gott mehr und mehr als geistiges Prinzip angesehen wurde, verbreitete sich der Glaube an Christus, den persönlichen Gottessohn, mit Windeseile. Und dieser Christus lehrte zudem, Gott sei „unser Vater“. Ausgerechnet in jener Zeit bekam also die Personalität Gottes ein dreifaches Gewicht durch den christlichen Glauben an Gott Vater, Gott Sohn und Gott Heiligen Geist. - In keiner anderen Religion wird das Personsein Gottes so massiv betont wie im christlichen Glauben. Seite 3 von 4 Eigentlich bin ich ja ausgegangen von der Frage: „Was ist der Mensch?“ Der Mensch ist auch Person. Der Mensch ist ein Ich. Er ist ein Individuum. Wir nehmen dies ganz selbstverständlich hin. Dies ist jedoch gar nicht selbstverständlich. Der Personkern des Menschen, dass wir „ich“ sagen können und unser eigenes Ich bewusst wahrnehmen, das ist keineswegs selbstverständlich. Die Schöpfungsgeschichte berichtet uns, der Mensch sei als letztes Geschöpf in der Welt erschienen. Gott habe den Menschen als Krönung der Schöpfung erschaffen. Er habe ihn als Ebenbild seiner selbst erschaffen. Das Personsein des Menschen ist der Angelpunkt, wo wir die Gottebenbildlichkeit noch am stärksten widerspiegeln. Der Psalmvers sagt im zweiten Teil: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ Gott denkt an den Menschen. Er wendet sich ihm zu. Er schenkt ihm seine Aufmerksamkeit. - Mit andern Worten heisst das, Gott tritt in eine Beziehung zu uns ein, die im Gedenken, in Gottes eigener Bewusstwerdung besteht. An dieser Stelle, liebe Gemeinde, treffen wir auf das Urgestein unseres Glaubens, dass nämlich Gott und Mensch in einer personalen Beziehung stehen, dass sie einander als Du begegnen und ansprechen können. Der Anfang zu dieser Beziehung liegt dabei auf der Seite Gottes. Er geht als erster auf den Menschen zu seit dem Uranfang der Schöpfung. Wer aber angesprochen wird und antworten kann, dessen Leben steht in einer Ver-antwortung. Das ethische Bewusstsein, das Verantwortungsbewusstsein hat sich in der jüdischen und in der christlichen Religion deshalb sehr stark entwickelt. Einer Verantwortung kann man gerecht werden, eine Verantwortung kann man aber auch verfehlen. - Kein Wunder, dass sich das Schuldbewusstsein, aber auch die Notwendigkeit der Vergebung gerade in unserer Religion so stark ausgebildet hat. Auch das ist eine direkte Folge des Personseins im Gegenüber zu einem persönlichen Gott. Ich behaupte nun, dass nur auf diesem personalen Hintergrund eine Kultur mit Verantwortungsbewusstsein und Menschlichkeit entstehen kann. Unsere Kultur ist in diesen Dingen tief geprägt worden von der biblischen Botschaft. Seite 4 von 4 Heute haben viele Christen Mühe, Gott als Du, als personales Gegenüber zu verstehen. Sie neigen dazu, den Glauben an die Personalität Gottes aufzugeben. - Ich kann das gut begreifen. Ich kann es begreifen, weil eben die Personalität gar nicht selbstverständlich ist. Doch möchte ich folgende Frage stellen: „Könnte es sein, dass Gott noch viel, viel stärker Person ist als es irgend eine menschliche Person sein kann? Könnte es sein, dass wir deshalb das Personsein Gottes nicht fassen können?“ --- Ich muss schlichtweg staunen. mit welchem Nachdruck der Gott der Bibel als Du und immer wieder als Du auf uns Menschen zukommt. Der Mensch ist es, der das Du bestreitet, vielleicht weil er sich aus der Verantwortung gegenüber dem Du Gottes stehlen möchte. Eine letzte Konsequenz hat die Betonung der Person im Glauben an die Auferstehung. Die biblischen Schriften sagen uns ganz wenig darüber, wie das Leben nach der Auferstehung sein werde. Etwas wird jedoch klargestellt, dass nämlich das Ich, die Person, die Individualität des Menschen bestehen bleibt. - Viele andere Glaubensrichtungen erklären, der einzelne Mensch werde einst im allumfassenden Gottesgeist aufgehen wie ein Tropfen im Meer. Es gibt zwar auch in der Bibel Hinweise, dass nach diesem Leben eine viel stärkere Einheit mit Gott möglich sein wird. Gleichzeitig wird aber das weitere Bestehen der unverwechselbaren, einzelnen Personen betont. Es scheint einen tiefen, tiefen personalen Kern im Menschen zu geben, der als Ebenbild gegenüber Gott bestehen bleibt. Liebe Gemeinde, als ich die weihnächtlichen Gottesdienste vorbereitete und darüber nachdachte, dass Gott in Christus ein ganz bestimmter Mensch wurde, da drängte sich mir diese Frage aus dem Psalm auf: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ Und aus dem Staunen über die Würde, die Gott dem menschlichen Geschöpf gibt, entstand diese Predigt. - Und am Schluss kann ich nur selbst fragen: „Ist es nicht ein Wunder, dass jede und jeder von uns eine unverwechselbare Person mit einem Ichbewusstsein ist? Ist es nicht ein Wunder, was wir sind und vor allem wer wir sind: Menschen, an welche Gott denkt, obwohl dieses Universum unendliche Weiten kennt und wir doch so winzig klein sind. - Ja, wir sind Winzlinge in den Weiten des Alls, aber wir sind Personen im Gegenüber des grossen Du Gottes. Amen. Pfr. Carl Schnetzer / Kirchgasse 22 / 8903 Birmensdorf / 28.12.2014 Ps.8 / Was ist der Mensch? Fürbittgebet Gott, welcher Mensch wagt es, dir gegenüber zu treten? Es gibt in uns eine tiefe Scham, denn wir wissen, dass wir unvollkommen sind. Doch du kommst auf uns zu und sagst: „Fürchte dich nicht, ich heile alles, was dir Angst macht.“ Deine Heiligkeit besteht darin, dass du uns nicht anklagst, sondern dass du uns hilfst. Darum kommen wir voll Vertrauen zu dir. Dona nobis pacem ! Du bist als nackter Säugling in die Welt gekommen, damit wir endlich unsere Angst verlieren und furchtlos zu dir kommen. Du, König des Alls, als Kind armer Leute geboren, du willst uns zu dir rufen und unser Herz bewegen. Dona nobis pacem! Du gibst uns Menschen durch dein Menschsein in Christus eine göttliche Würde. Wir wollen die Menschenwürde achten, weil sie ein Geschenk von dir ist. Hilf uns, hilf allen, deren Menschenwürde schändlich entstellt wird. Dona nobis pacem! An der Schwelle des vergehenden Jahres bitten wir dich: Hilf uns den Frieden in der Welt zu suchen und die Gerechtigkeit zu vermehren. Wir bitten dich für die Menschen in der Ukraine, in Syrien, im ganzen Nahen Osten, in Nordkorea und auf dem afrikanischen Kontinent. Dona nobis pacem! In der Stille beten wir vor dir: Stille Gott, in deiner Liebe achtest du auf unser Leben und du willst uns helfen. Wir danken dir dafür. Amen.