Horst G r o ß m a n n Eurasien – geopolitischer Angelpunkt Das 21. Jahrhundert hatte noch nicht begonnen, da wurde bereits über die Kriege dieses Jahrhunderts geschrieben und gesprochen. Dafür sorgte die bittere Gewissheit, dass die Hoffnungen auf ein anbrechendes Jahrhundert des Friedens enttäuscht wurden. Auch nach Europa war der Krieg zurückgekehrt. Selbst Deutschland, das aus leidvoller Erfahrung und historischer Schuld dem Krieg abgeschworen hatte, wurde wieder Kriegspartei. Berichte und Nachrichten über bewaffnete Konflikte und blutige Kriege beherrschen die Spalten der Tageszeitungen. Das Fernsehen macht es möglich, via Bildschirm sogar live dabei zu sein. In Abwandlung eines bekannten Werbeslogans kann man sagen, der Fernsehzuschauer sitzt heute auch beim Kriegsgeschehen in der „ersten Reihe“ - und das bei allen Sendern. Aber erfährt man dort immer die Wahrheit? Man sagt, das erste Opfer des Krieges sei die Wahrheit. Aber stirbt sie erst im Krieg? Nein, die Wahrheit wird bereits im Frieden geopfert. Die Verschleierung der Wahrheit, gar ihre Fälschung, war von jeher Bestandteil der Szenarien des Krieges und zur Kriegsvorbereitung. Im Zeitalter des „Information war“ werden damit eigens Werbeagenturen beauftragt, und diese dienen, wie das Beispiel des Krieges der USA gegen den Terrorismus zeigt, nicht nur der Täuschung des Feindes, sondern auch der Verbündeten. Die Täuschung zu durchschauen ist nicht einfach, da den Auseinandersetzungen ja meist auch reale Spannungen und Konflikte zu Grunde liegen, die, wenn sie aufgebauscht und angeheizt werden, explodieren. Ethnische und religiöse Spannungen und Konflikte sind real, zumeist Folge falscher Politik und ungelöster Probleme der Vergangenheit. Sie lassen sich aber auch durch politische Akteure, die fernab von den Konfliktherden beheimatet sind, für ihre Interessen instrumentalisieren. Hinter „humanitären Gründen“ für das Eingreifen in Konflikte verbergen sich häufig handfeste Interessen, die über den sichtbaren Konfliktstoff hinausgehen und die man in diesem Zusammenhang nicht ausspricht. Im weltweiten Engagement der USA geht es wohl kaum um Altruismus und Sorge für die allgemeine Wohlfahrt für alle Völker in dieser Welt, was doch meist in den Vordergrund gerückt wird. Dem steht schon der Wahlspruch amerikanischer Präsidenten: „America first“ und die Gewichtung vitaler Interessen der USA entgegen. Protektionismus in den Wirtschaftsbeziehungen, nationaler Egoismus in der Umweltpolitik, die Nichtanerkennung eines Weltgerichtshofes, der Ausstieg aus internationalen Verpflichtungen und die Blockade der Abrüstungspolitik bis hin zu Vorbehalten zu den Konventionen über Biowaffen, Waffen also, die für die Begründung der interventionistischen Politik der USA gegenüber dem Irak eine so große Rolle spielen, sprechen in der Praxis gegen die Uneigennützigkeit amerikanischer Politik. Viele Konflikte auf dieser Welt und das Handeln der Akteure lassen sich nach meiner Meinung besser verstehen, wenn man untersucht, was bei den Konflikten meist unausgesprochen bleibt. Ein Blick auf ihre strategischen Konzeptionen, Doktrinen, ihre Theorien und Pseudotheorien und Feindbilder offenbart, was ihre eigentlichen Ziele sind. Hierzu zähle ich auch die Geopolitik, die für die Analyse von Kriegen und Konflikten sehr aufschlussreich sein kann. Aber nicht nur in der Retrospektive sind solche Analysen nützlich. Gerade für die Verhinderung von Kriegen und Konflikten ist das Wissen über sie unentbehrlich. Geopolitik hat in den letzten Jahrzehnten weltweit eine Renaissance erfahren. Es sollte allerdings dabei zwischen Geopolitik als Begriff, als Theorie, als Wissenschaft und praktizierter Geopolitik unterschieden werden. Nach dem II. Weltkrieg wurden in der BRD, im Unterschied zum Ausland, Begriffe wie Geopolitik und Geostrategie tabuisiert. Geopolitik war durch ihren Platz in der faschistischen Ideologie belastet. Die geopolitischen Theorien Haushofers sowie die pseudowissenschaftlichen Theorien vom "Volk ohne Raum", vom "Drang nach dem Osten" hatten der Führung des Dritten Reiches dazu gedient, ihre aggressive Außenpolitik zu legitimieren. Diese Tabuisierung wurde nach der deutschen Wiedervereinigung weitgehend aufgehoben. Nichtsdestotrotz haben die klassischen Vertreter der Geopolitik ihre Spuren hinterlassen und wirken in verhängnisvoller Weise in unser Jahrhundert hinein. Deutlich zeigt sich das in den geopolitischen Traditionen in den USA. Vor allem hat der Engländer Mackinder das geopolitische Gedankengut der Amerikaner bis heute geprägt. Befangen im politischen Denken seiner Zeit war für den britischen Geographen Sir Halford Mackinder Weltgeschichte eine Geschichte konstanter Konflikte zwischen Land- und Seemächten. In der Vergangenheit bedeutete gesteigerte Beweglichkeit der Seemächte einen deutlichen Vorteil gegenüber ihren territorialen Gegnern. Das Blatt wendete sich an der Wende zum 20. Jahrhundert, als Folge der technologischen Entwicklung. Ein Netz von Eisenbahnen erlaubte es den Landmächten nun, beinahe so mobil zu sein wie die Seemächte. Weil Landmächte auf der „Weltinsel“ (Eurasien) kleinere Entfernung haben, um zu reisen, als Seemächte, die an ihrer Peripherie operieren, würde jede Zunahme ihrer Beweglichkeit nach Ansicht Mackinders das Gleichgewicht der Kräfte zu ihren Gunsten umkippen. Auf diese Art würde derjenige, der das „Herzland“ (Russland) beherrscht, die Möglichkeit haben, die ganze Weltinsel zu beherrschen. Die Weltherrschaft würde der Macht zukommen, die das Herzland des eurasischen Kontinentes beherrscht. Mackinder glaubte, dass die Welt sich zu einem "geschlossenem System" entwickelt hatte. Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es keinen weiteren Raum mehr für Expansion, weil der Kolonialismus die ganze Welt unter die Herrschaft Europas gebracht hatte. Die Machtpolitik der Zukunft, spekulierte Mackinder, würde durch einen Konkurrenzkampf um die alten Gebiete statt durch eine Suche nach neuen gekennzeichnet sein. Mackinders Theorien entsprachen dem militärischem Denken im 18. und 19. Jahrhundert. Traditionell dachten die Militärstrategen, dass die Beherrschung einer Schlüsselposition auf der Landkarte dafür entscheidend war, die Schlacht oder den Krieg zu gewinnen. Da Mackinder die Welt wie ein großes Schlachtfeld betrachtete, glaubte er, die Beherrschung der Schlüsselposition – also des Herzlandes – würde zur Weltherrschaft führen. Die Ansichten Mackinders haben Karl Haushofer stark beeinflusst. Und beide wirkten sich letztlich auch auf das geostrategische Denken in den USA aus. Christopher J. Fettweis vom US Army War College schreibt in einem Artikel „Sir Halford Mackinder, Geopolitics, and Policymaking in the 21st Century“ über die Entwicklung US-amerikanischer Geopolitik im Kalten Krieg und in der Gegenwart.1 Er weist darin nach, dass bei der Entwicklung der geopolitischen Theorie in den USA der Yale Universitätsprofessor Nicholas Spykman in Anlehnung an Haushofer und Mackinder eine führende Rolle spielte. Spykman war einer der intellektuellen Ahnen der Eindämmungspolitik. Während Mackinder jedoch annahm, dass die geographische Gestaltung den leichtesten Zugang aus dem Osten gestattete, argumentierte Spykman, dass die Küstenbereiche des Herzlands, oder wie er es nannte, das „Rimland“ (Randland), der Schlüssel zur Kontrolle des Zentrums sei. Also nicht aus dem Inneren des Eurasischen Kontinentes heraus sollte Weltherrschaft möglich sein, sondern von der Peripherie. Er aktualisierte Mackinder, als er postulierte, "wer das Randland 1 Christopher J. Fettweis, Sir Halford Mackinder, Geopolitics, and Policymaking in the 21st Century, in: Parameters, Summer 2000, pp. 58-71. www.army.mil/usawc/Parameters/00summer/fettweis.htm (Rimland) kontrolliert, beherrscht Eurasien, wer Eurasien beherrscht, kontrolliert die Schicksale der Welt." 2 Spykman vollzog damit eine amerikanische Wende der geopolitischen Theorie und legte die intellektuelle Grundlage für Kennan und jene, die behaupteten, dass der Westen das Rimland stärken soll, um die Sowjetunion einzudämmen, damit sie nicht ihre Kontrolle des Herzlands benutzt, um die Weltinsel zu beherrschen. Geopolitik als große Strategie war eine der wichtigen intellektuellen Grundlagen für die Eindämmungspolitik des Westens während des Kalten Krieges. Von Einfluss auf diese Überlegungen dürften auch die Schriften von Admiral Alfred Thayer Mahan gewesen sein, der insbesondere den ozeanischen Gegenküsten seine Aufmerksamkeit widmete. Auch Zbigniew Brzezinski legte in Vergangenheit und Gegenwart den Schwerpunkt auf Eurasien und auf die sogenannten »Schlüsselstaaten« des Randlandes. Sowohl in seiner Schrift "Planspiel" am Ende der 80er Jahre und in seiner viel diskutierten Schrift "Die einzige Weltmacht" (1997). Brzezinski hat in all seinen Arbeiten Eurasien zum Fokus für US-Außenpolitik gemacht. Heinz Brill hebt hervor: „Der Kampf um Eurasien, werde an drei strategischen Hauptfronten geführt: der westlichen, der fernöstlichen und der südwestlichen. Die Schlüsselstaaten in den »Randzonen« der beiden Supermächte seien Polen und die Bundesrepublik Deutschland an der westlichen Front, Südkorea und die Philippinen an der fernöstlichen und Iran oder Afghanistan in Verbindung mit Pakistan an der südwestlichen Front.“3 Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch Colin S. Gray. Er bezeichnet die Idee eines Eurasischen "Herzlandes" als die bei weitem einflussreichste geopolitische Konzeption für die angloamerikanische Staatskunst. "Von Harry S. Truman zu George Bush war die überspannende Vision US-nationaler Sicherheit deutlich geopolitisch und direkt zurückverfolgbar zur Herzlandtheorie von Mackinder“4 Auch Samuel P. Huntingtons „ Kampf der Kulturen“ ist Teil dieser Tradition. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des gesamten sozialistischen Systems hätte man erwarten können, dass Mackinders und Haushofers abstruse Konstruktion, die das 20. Jahrhundert so negativ beeinflusst hat, zu den Akten gelegt würde. Aber das Gegenteil war der Fall. Nach Christopher J. Fettweis ist Eurasien noch immer von zentraler Bedeutung für die 2 Zit. bei Christopher J. Fettweis, a.a.O. Heinz Brill, Geopolitik heute. Deutschlands Chance, Frankfurt/Main; Berlin. Ullstein, 1994. 4 Zit. bei Christopher. J. Fettweis, a.a.O. 3 amerikanische Außenpolitik, und das wird wahrscheinlich für eine geraume Zeit bleiben. Die herkömmliche Einsicht behauptet, dass nur eine Kraft, die die Ressourcen von Eurasien beherrscht, das Potential haben würde, um die Interessen der Vereinigten Staaten zu bedrohen. Kritisch merkt Fettweis dazu an: "Ewige geopolitische Realitäten und nationale Interessen sind eine Fata Morgana. Die Idee, dass eine Herzlandmacht aufgrund ihrer Position auf der Landkarte Vorteile hat, kann weder historisch noch theoretisch gerechtfertigt werden; die Vorstellung, dass ein Ungleichgewicht der Macht in Eurasien (selbst wenn es denkbar war) die Interessen der Vereinigten Staaten irgendwie bedrohen würde, ist nicht haltbar; und die Idee, dass geographische "Realitäten" der Stärke außerhalb des Kontextes von Ideologie, Nationalismus und Kultur funktionieren können, ist reine Phantasie. Schlimmer, als Trugbilder können diese Ideen unsere Außenpolitik im neuen Jahrhundert lähmen. Die Grundannahmen von Geopolitik zu entlarven ist eine wichtige Aufgabe, wenn erwogen wird, wie Politik zu machen ist.“5 Aber leider ist die Realität eine andere, und sie hat sich seit den tragischen Ereignissen vom 11. September 2001 noch verschärft. Bei allen Unterschieden im Detail gelangen namhafte Politiker und Politologen der USA in der Gegenwart zu doch sehr ähnlichen Aussagen, was die globale geostrategische Situation betrifft. Die Machtverteilung in der Welt wird von ihnen entweder als unipolar oder uni/multipolar eingeschätzt. Die USA erscheinen als die „einzige Weltmacht“. Im Zentrum des Interesses steht der „eurasische Kontinent“. Die Vereinigten Staaten, so Brzezinski, beherrschen nicht nur sämtliche Ozeane und Meere, sie verfügen mittlerweile auch über die militärischen Mittel, die Küsten unter Kontrolle zu halten und weit ins Innere eines Landes vorzustoßen und ihrer Macht politische und militärisch Geltung zu verschaffen. Amerikanische Armeeverbände stehen in den westlichen und östlichen Randgebieten des eurasischen Kontinents und kontrollieren außerdem den Persischen Golf, sie greifen nach der Kaukasusregion und nach Mittelasien. Der gesamte Kontinent ist von „amerikanischen Vasallen“ und „tributpflichtigen Staaten“ übersät. In diesem komplexen globalen System geht die Macht letztlich von Washington aus. Der Machtpoker gestaltet sich nach amerikanischen Regeln. 5 Christopher J. Fettweis, a.a.O. Die NATO bindet die produktivsten und einflussreichsten Staaten Europas an Amerika und verleiht den Vereinigten Staaten selbst in innereuropäischen Angelegenheiten eine wichtige Stimme.6 Im Rahmen der „atlantischen Wertegemeinschaft“ geht es also den USA letztlich um die Verwirklichung ihrer nationalen Interessen, was natürlich nicht das Vorhandensein gemeinsamer Interessen ausschließt. Wie zu erkennen ist, wird das Interesse der USA und der Zugriff auf Zentralasien schon weit vor dem 11. September 2001 ins Auge gefaßt, zu einer Zeit also, als sich Usama Bin Laden noch der Gunst der Amerikaner erfreute. Geostrategische Schwerpunkte bilden für die USA neben Mitteleuropa der Nahe Osten, die Türkei, der Kaukasus und Transkaukasien sowie Mittelasien (von Brzezinski als „Eurasischer Balkan“ bezeichnet), Räume mit ungeheuren Bodenschätzen und den größten Erdölvorräten der Welt. Deutschland dient dabei als wichtige strategische und logistische Drehscheibe. Um ihre Vormachtstellung zu sichern, müssten die USA verhindern, dass Russland wieder zur Weltmacht aufsteigt und so für die USA zur Bedrohung werden kann. Nach dem 11. September sei alles anders geworden wird gesagt. Wie es auch sei, dieses Datum hat offensichtlich eine geopolitische Neuordnung eingeleitet. Die USA haben militärisch in Gebieten Fuß gefasst, die ihnen bisher noch verwehrt waren - mit noch nicht vollständig abzusehenden Folgen. Dem wirtschaftlichen Vorstoß nach Mittelasien ist der militärische gefolgt. „Am 5. Oktober flogen 1 000 US-Soldaten nach Usbekistan, womit für Washington gleich zwei Wünsche erfüllt waren: Man etablierte sich als regionale Führungsmacht und Gegengewicht zu Moskau; und man konnte, unter dem Mantel der Antiterrorkoalition, endlich in Zentralasien Fuß fassen. Moskau und die Nachbarländer von Usbekistan fürchten nun, der Traum könnte in einen Albtraum umkippen. Mit dem Aufbau von Aufklärungs- und Abhörzentren an der Schwelle zu Russland, zum Iran und zu China bringen die Amerikaner das ohnehin empfindliche geostrategische Gleichgewicht einer ganzen Region ins Wanken. Die langfristige Stationierung amerikanischer Truppen in instabilen Ländern wie Usbekistan oder Tadschikistan birgt die Gefahr einer Radikalisierung der Bevölkerung – so wie es etwa in SaudiArabien geschieht, wo seit dem Golfkrieg 7 000 US-Soldaten stationiert sind.“7 6 Vergl. Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Belts Quadriga Verlag, Weinheim und Berlin, 1997, S. 44-52. 7 Nina Baschkatow, DER TERRORISMUS SCHAFFT NEUE GEOPOLITISCHE STRATEGIEN, in: Le Monde diplomatique Nr. 6602 vom 16.11.2001, Betrachtet man die Kriege und Konflikte, in die die USA seit Beginn der 90er Jahre des ausgehenden 20. Jahrhunderts verwickelt waren, zeigt sich, dass die USA an der Umsetzung ihrer Geostrategie konsequent gearbeitet und Fakten geschaffen haben. Mit dem Golfkrieg II fassten sie dauerhaft in der Golfregion Fuß, nicht als Kolonialmacht, diese Zeiten sind vorbei, aber mit militärischer Präsenz. Diese Region wurde zu einer wichtigen Drehscheibe ihres Griffs nach Zentralasien. Der Krieg in Afghanistan belegt das. Die USA drangen in Gefilde ein, die früher zur bedeutendsten eurasischen Landmacht Russland (das Herzland in geopolitischer Terminologie) und der UdSSR gehörten und die noch immer eine russische Interessenssphäre bilden: neben Afghanistan sind das die mittelasiatischen Republiken und die Kaukasusregion. All diese Länder sind nicht nur vom Gesichtspunkt der Militärstrategie von Bedeutung, sondern sie haben alle etwas mit der wichtigen strategischen Ressource Erdöl zu tun. Entweder handelt es sich um Staaten mit Erdöllagerstätten oder es sind wichtige Transitländer für den Transport des kostbaren Rohstoffs. Der Bau neuer Pipelines soll den Abtransport in Länder sichern, die von den USA kontrolliert werden. So soll zentalasiatisches Erdöl künftig unter Umgehung des Iran und Russlands durch Afghanistan in pakistanische Häfen fließen. Die Taleban, die dieses Ansinnen der US-Regierung und US-amerikanischer Ölmultis abgewiesen hatten, wurden beseitigt, so dass der Verwirklichung der ursprünglichen Pläne nichts mehr im Wege steht. Der Krieg der USA in Afghanistan hat also neben dem erklärten Ziel, den Terror zu bekämpfen, noch eine andere Dimension. Das alles kann ohne nennenswerten Protest realisiert werden, da das Talebanregime wirklich ein menschenverachtendes System ist und die Menschenrechte, wohl auch nach muslimischen Maßstäben, mit Füßen tritt. Der Krieg hat also wirklich auch eine humanitäre Komponente, aber ohne das Öl hätte er so wahrscheinlich nicht stattgefunden. Fragwürdig ist aber auch, ob es gerechtfertigt ist, den Terrorismus in einer Form zu bekämpfen, die unter der am Terror nicht beteiligten Zivilbevölkerung unzählige Opfer kostet, die am Ende die Zahl der Terroropfer in den USA übersteigt. Wenn man bedenkt, dass nach dem Krieg gegen Jugoslawien bekannt wurde, dass Erdölleitungen das schwarze Gold aus den transkaukasischen Ölfeldern von der Schwarzmeerküste Bulgariens über Mazedonien und Albanien zur Küste der Adria befördern sollen, so wird deutlich, was Brzezinski mit dem „Eurasischen Krisenbogen“ eigentlich meint. Es geht auch hier um die http://www.taz.de/pt/2001/11/16.nf/mondeText.artikel,a0034.idx,11. Stabilisierung dieses Raumes für die Sicherung des Ölstromes in die westliche Hemisphäre unter Aufsicht der USA. Dr. Gearoid Ó Tuathail, ein irischer Geograph, Gastprofessor in den USA, hat drei Hauptverwendungen des Begriffs „Geopolitik" seit dem Ende des zweiten Weltkriegs ausgemacht: Erstens, Geopolitik wird manchmal verwendet, um eine besondere Region oder ein besonderes Problem zu umschreiben. „Geopolitik entsprechend dieses Gebrauchs ist eine Linse, durch die ein Problem zu begutachten ist: 'Die Geopolitik von X, wo X Öl, Energie, Ressourcen, Information, der Nahe Osten, Mittelamerika, Europa usw. ist'." Zweitens kann Geopolitik Synonym für Realpolitik sein, wie z.B. bei Henry Kissinger. Letztens ist Geopolitik zum Synonym für groß angelegte Strategien geworden (Colin. S. Gray, Spykman und andere).8 Natürlich sind die USA als einzige Weltmacht auch auf Verbündete angewiesen. Sie bedürfen der Zustimmung und des Engagements verbündeter Staaten oder auch solcher, die in der jeweiligen Region ebenfalls geopolitische Akteure sind wie z.B Pakistan, Indien, China, die arabischen Staaten. Neben dem militärischen Engagement geht es bei den Verbündeten auch um die Beteiligung an den beträchtlichen Kosten. Zu diesen Verbündeten und geostrategischen Akteuren zählt auch Deutschland. Die geostrategische Situation Deutschlands hat sich nach dem Ende des Kalten Krieges und der Wiedervereinigung Deutschland grundlegend verändert. Klaus Naumann, der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr hat 1992 die neue geostrategische Situation der BRD u.a. wie folgt umrissen: Deutschland hat zum ersten Mal seit Gründung eines einheitlichen deutschen Staates kein Land zum Nachbarn, das es nicht als Verbündeten oder Freund bezeichnet, ein Novum für das Land mit den meisten Grenzen in Europa. Deutschland ist nicht länger Frontstaat und ist auch nicht mehr geteilt, Deutschland ist damit ein ganz normaler Staat Europas geworden und hat vor allem Handlungsfreiheit gewonnen. 8 Zit. bei Christopher J. Fettweis, a.a.O. Deutschland ist militärisch nicht mehr in der strategischen Reichweite eines zur strategischen Offensive und zur Landnahme befähigten Staates. Damit hat sich seine geostrategische Situation entscheidend verbessert, und damit dürfte sich die strategische Rolle Mitteleuropas fundamental verändern. Deutschland könnte Drehscheibe der westlichen Verteidigungsgemeinschaft, aber nicht mehr Schauplatz der 9 Konfrontation werden. Was mit dem Begriff Drehscheibe gemeint ist, zeigte sich recht deutlich im Golfkrieg II und im Krieg der NATO gegen Jugoslawien sowie im Krieg gegen das afghanische Talebanregime, wo deutsches Territorium als Stützpunkt und Ausgangspunkt militärischer Operationen diente. Auch das „Weißbuch 1994“ rückt die geopolitische Mittellage Deutschlands in den Vordergrund. Als besondere Konfliktzonen werden hier der Balkan, der „islamische Krisenbogen“, Kurdistan, der Kaukasus und Mittelasien angesehen.10 Für die deutsche Sicherheitspolitik werden gegenwärtig folgende drei entscheidende geopolitische Orientierungs- und Wirkungsrichtungen angegeben: die westliche, transatlantische Achse als die wichtigste Wirkungsrichtung und zugleich als Ausdruck der klaren Entscheidung für die Westintegration; die transkontinentale Wirkungslinie in den ostwärtigen Raum Eurasiens; der erweiterte mediterrane Raum in Richtung auf die nordafrikanische Gegenküste Europas, auf die Krisenregionen des Balkans und darüber hinaus in den Nahen und Mittleren Osten. Durch seine Mitgliedschaft in einem maritim bestimmten, atlantisch geprägten Bündnis, als Anrainer des Nord- und Ostseeraums sowie angesichts der gestiegenen sicherheitspolitischen Bedeutung des Mittelmeerraums erweitert sich die kontinentale Ausrichtung Deutschlands in Zentraleuropa um eine maritime Dimension.11 9 Standortbestimmung des Generalinspekteurs der Bundeswehr, General Klaus Naumann, vor den Teilnehmern der 33. Kommandeurstagung der Bundeswehr am 12. Mai 1992 in Leipzig. In: Informationen zur Sicherheitspolitik. „Wandel und Aufbruch. Bundeswehr – Streitkräfte der Einheit“ – 33. Kommandeurstagung in Leipzig – 12. bis 14. Mai 1992, Bundesministerium der Verteidigung, S.17. 10 Vergl. Weißbuch 1994. Bundesministerium der Verteidigung. 11 Vergl. dazu: Adolf Brüggemann, Deutschland und die Geopolitik. Deutschland im Spannungsfeld zwischen kontinental und maritim bestimmtem Denken. In: Europäische Inzwischen wurde das maritime Engagement bis zum Horn von Afrika erweitert. Neben den USA agieren deutsche Soldaten mittlerweile in Mittelasien, und das nicht nur im „robusten humanitären Einsatz“, sondern auch als Kampftruppen. Deutschland ist also bei der geopolitischen Neuorientierung dabei. Und wie stellt sich die Geopolitik nach dem Zerfall der UdSSR in Russland dar? S. M. Rogow, Stellvertretender Direktor des USA- und Kanada-Instituts der russischen Akademie der Wissenschaften, beurteilte 1994 die geopolitische Lage Russlands wie folgt: Wird einerseits als positiv angesehen, dass Russland erstmals seit vielen Jahrzehnten nicht die Gefahr des Krieges von einem oder von einer Gruppe von Staaten droht, so wird andererseits als Mangel empfunden, dass Russland erstmals in der Geschichte auch keine Verbündeten in einer multipolaren Welt besitzt. Mit Ausnahme der USA sei Russland jedoch die einzige Macht, die Interessen in der atlantischen und in der pazifischen Region und sowohl in Europa als auch in Asien besitzt. Aber nicht in einer dieser Regionen hat es Verbündete. Wenn Russland keine starken Verbündeten findet, so könnte es im XXI. Jahrhundert zum Objekt starken Druckes werden. Aus dieser für Russland gänzlich neuen Situation zieht Rogow folgende geostrategischen Schlussfolgerungen: 1. Die Priorität gehört den ehemaligen sowjetischen Republiken (Nahes Ausland), den GUS-Staaten und in erster Linie den großen Vier: die Ukraine, Kasachstan und Belorussland als Hauptverbündete Russlands. Die Vorstellung, Russland würde gewinnen, wenn es sich von der Union befreit, sei ein gefährlicher Irrtum. 2. Der zweite Kreis von Interessen gilt jenen Regionen der Welt, wo Russland lebenswichtige Interessen bewahrt. Das ist vor allem Osteuropa, Transkaukasien, der Nahe, der Mittlere und der Ferne Osten. 3. Der dritte Kreis von Interessen sind die Beziehungen mit dem Westen. Der Erfolg der ökonomischen und politischen Reformen ist nicht möglich in der Isolation oder gar mit feindschaftlichen Beziehungen zu Westeuropa und den USA. Das stünde allerdings nicht an erster Stelle der Prioritäten.12 Sicherheit Nr. 8 /August 1999. Militärwissenschaftliches Colloquium 1999 der Clausewitz Gesellschaft. Siehe: РОГОВ С.М., ГЕОПОЛИТИЧЕСКОЕ ПОЛОЖЕНИЕ РОССИИ: ПОСЛЕДСТВИЯ ГЛОБАЛЬНЫХ ПЕРЕМЕН. In: КЛУБ "Р Е А Л И С Т Ы”, Информационно-аналитический 12 In einer Ausgabe von Foreign Affairs aus dem Jahr 1999 identifizierte Charles Clover eine wachsende Diskussion über Geopolitik in einigen Kreisen Russlands: "Viele russische Intellektuelle, die einmal dachten, dass der Sieg ihres Vaterlands über die Welt das unvermeidliche Ergebnis der Geschichte wäre, setzen jetzt in ihrer Hoffnung auf die Rückkehr zu Russlands Größe auf eine Theorie, die auf eine Art und Weise das Gegenteil vom dialektischem Materialismus ist. Sieg soll jetzt in Geographie statt in der Geschichte gefunden werden; im Raum statt in der Zeit. Dieser Trend stelle sich das eurasische Herzland als die geographische Abschussrampe für eine globale antiwestliche Bewegung vor, deren Ziel die endgültige Vertreibung des "atlantischen" (lies: "amerikanischen") Einflusses auf Eurasien ist.“13 Clover behauptet, dass die moderne russische Geopolitik als Kitt dient, um Bande zwischen der extremen linken und der ultra-rechten Seite zu knüpfen, die auf eine "rot-braune" Koalition hinweisen, die in der russischen Politik in den folgenden Jahren dominierend werden könnte, mit ominösen Auswirkungen auf die internationale Stabilität. Wie dem auch sei, in diesen Auffassungen ist wohl manches spekulativ. Ich beziehe mich dabei vor allem auf die Angst vor einer rot-braunen Koalition. Fakt ist aber, dass in Russland in den 90er Jahren ausgiebig über Geopolitik nachgedacht wurde, u.a. in der Zeitschrift "Geopolitika", im sogenannten „Club der Realisten“ und in der militärwissenschaftlichen Zeitschrift „Wojennyj Mysl“. Hier reihen sich auch die Allgemeinrussische politische Bewegung „Eurasien“ und die Stiftung „Zentrum geopolitischer Expertisen“ ein. Beiden steht Alexander Dukin vor, Philosoph, Chefredakteur der Zeitschrift „Elemente“ und nach eigenen Angaben Berater des Vorsitzenden der Staatsduma. Am 30.05.2002 soll die Bewegung „Eurasien“ auf einem Gründungskongreß in eine Partei umgebildet werden. Als Ziele der neuen Partei werden u. a. angegeben: die eurasische Ideologie soll zur Grundlage der politischen und sozialen Entwicklung der „Russischen Föderation“ gemacht werden; die Union Unabhängiger Staaten (GUS) soll zur „Eurasischen Union“ umgestaltet werden; der „amerika-zentrischen Globalisierung“ soll entgegengewirkt werden; die бюллетень, РОССИЯ В ГЕОПОЛИТИЧЕСКОМ ПРОСТРАНСТВЕ: современность и взгляд в XXI век (Материалы "круглого стола"), Москва –1994, стр. 9-13. 13 Charles Clover, "Dreams of the Eurasian Heartland," Foreign Affairs, 78 (March/April 1999), 9. Zit. in Fettweis, a.a.O. Völker und Konfessionen Russlands sollen zusammengeschlossen werden in einem harmonischen „alleurasischen Nationalismus“.14 Diesen Zielen liegen die geopolitischen Ansichten Dukins zugrunde, die er in einer Vielzahl von Schriften und Auftritten verbreitet.15 Dukin betrachtet den Kampf von See- und Landmächten, in Anlehnung an Mackinder, als erstes Gesetz der Geopolitik. See- und Landmächte erhebt er gar zu gegensätzlichen Zivilisationen (Kulturen). Von dieser Grundthese leitet er seine geopolitischen Folgerungen ab: den am Handel orientierten Seemächten ordnet er Marktwirtschaft, Liberalismus, Demokratie zu, den Landmächten begrenzte Marktwirtschaft oder Planwirtschaft, eine eingeschränkte Demokratie und allgemein einen hierarchischen Aufbau der Gesellschaft. Als Ideologie stünden sich Atlantismus und Eurasiatismus (Евразийство) gegenüber. „Es wäre vollkommen normal, wenn Russland eine streng symmetrische geopolitische Konzeption aufstellen und zur Bildung einer Eurasischen Union antreten würde, die in sich die ehemaligen Unionsrepubliken (vielleicht mit Ausnahme der baltischen), auch einige osteuropäische Staaten (Rumänien, Bulgarien, Serbien) und außerdem einige asiatische Länder (Iran, Indien) einschließen würde. Zweifellos wäre es ein konkurrenzfähiges geopolitisches Projekt, was nicht bedeutet, dass es automatisch aggressiv wäre, "militaristisch", "provokativ" usw. Nichts dergleichen, es ist nur die gerade Anwendung jener geopolitischen Konzeption, an der die USA und andere mit ihnen solidarische westliche Mächte konsequent festhalten, auf die russischen (weiter gefasst: eurasischen) geographischen und historischen Realitäten. Doch ein solches Projekt muß das Ziel, die Orientierung, der perspektivische Plan sein. Heute stellt sich die Frage enger. Wie ist auf die "Erweiterung der NATO" zu antworten?“ 16 Dem Eurasischen Block käme eine Befreiermission zu: „... auf der heutigen Entwicklungsstufe kann Russland in Europa die strategischen Partner finden, die an der Wiederherstellung ihrer früheren politischen Gewalt interessiert sind. Das eurasische Russland muss in der Rolle des Befreiers Europa auftreten, 14 http://www.eurasia.com.ru/30-05.html. Die Gründung der Partei „Eurasia“ wurde wie angekündigt unter Anteilnahme politischer Prominenz und der Geistlichen aus allen in der Russischen Föderation etablierten Religionen vollzogen. Siehe u.a.: Александр Дугин, ОСНОВЫ ГЕОПОЛИТИКИ, Москва, Арктогея, 2000, und derselbe: ГЕОПОЛИТИКА КАК СУДЬБА, http://www.arctogaia.com/public/redstar.htm. 15 16 Александр Дугин, ГЕОПОЛИТИКА КАК СУДЬБА, a.a.O. diesmal von der amerikanischen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Okkupation.“17 Auch die Atomwaffen finden in Dukins Geopolitik ihren Platz. Aus der Tatsache, dass Russland nach wie vor Atommacht ist, folgert er: „Die russische Geschichte, die eurasische Kultur, die orthodoxe Religion und die Atomwaffen Russlands erweisen sich im geopolitischen Sinne als starke, sich gegenseitig ergänzende Faktoren, welche zusammen, in ihrer Gesamtheit, die Bewahrung der russischen Staatlichkeit, Freiheit und Unabhängigkeit sicherstellen.“18 Vielleicht lohnt es sich nicht, den Arbeiten Dukins besondere Aufmerksamkeit zu schenken, ist doch vieles konstruiert und wissenschaftlich fragwürdig. Jedoch sein Buch „Grundlagen der Geopolitik“ wurde immerhin von Generalleutnant Klotkow, der lange Zeit den Lehrstuhl STRATEGIE der Generalstabsakademie inne hatte, betreut und wird als erstes Lehrbuch für Geopolitik gehandelt. "An den militärischen Hochschulen" – so Dukin – "ist, beginnend mit dem neuen Studienjahr, die Einführung eines Pflichtkurses in Geopolitik geplant. Diese Disziplin durchdringt auch die Mehrheit der strategischen und analytischen Zentren der Administration des Präsidenten der Russischen Föderation."19 Wie spiegelt sich Geopolitik in regierungsoffiziellen Dokumenten zur Außenund Sicherheitspolitik Russlands wieder? Hier geht man davon aus, dass nach der Beendigung der Ära der „bipolaren Konfrontation“ sich zwei einander ausschließende Tendenzen herausbildeten: die Tendenz zur einer multipolaren Welt, die von Russland unterstützt wird, und die Tendenz zu einer unipolaren Welt mit westlicher Dominanz. In der „Konzeption der Nationalen Sicherheit der Russischen Föderation“ wird letztere Tendenz als Versuch bestimmt, „eine Struktur der internationalen Beziehungen zu schaffen, die auf der Dominanz der entwickelten westlichen Länder unter Führung der USA in der internationalen Gemeinschaft gegründet und auf die einseitige, vor allem militärisch-gewaltsame Lösung der Schlüsselprobleme der Weltpolitik ausgerichtet ist, unter Umgehung der grundlegenden Normen des Völkerrechts.“ Aspekte der militärischen Gewalt behielten in den internationalen Beziehungen weiterhin wesentliche Bedeutung. 17 Eurasien über alles, Das Manifest der eurasischen Bewegung, Januar 2001, http://www.eurasia.com.ru/de_manifest.html. 18 19 Александр Дугин, a.a.O. Александр Дугин, a.a.O. Zugleich sieht sich Russland, ungeachtet seiner inneren Schwierigkeiten, durch sein bedeutendes wirtschaftliches, wissenschaftlich-technisches und militärisches Potential sowie durch seine einzigartige strategische Lage auf dem eurasischen Kontinent weiterhin als „Großmacht, als eines der Einflusszentren einer multipolaren Welt“.20 Aus geostrategischer Sicht sieht man folgende grundlegende Bedrohungen in der internationalen Sphäre: - - - - - - - - das Bestreben einzelner Staaten und zwischenstaatlicher Vereinigungen, die Rolle der existierenden Mechanismen zur Gewährleistung der internationalen Sicherheit, vor allem die der UNO und der OSZE, zu verringern; die Gefahr der Schwächung des politischen, wirtschaftlichen und militärischen Einflusses Russlands in der Welt; die Verfestigung der militärisch-politischen Blöcke und Bündnisse, vor allem die Osterweiterung der NATO; die Möglichkeit des Auftauchens ausländischer Militärbasen und großer militärischer Kontingente in unmittelbarer Nähe der russischen Grenzen; die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und deren Trägermitteln; die Abschwächung der Integrationsprozesse in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten; das Entstehen und die Eskalation von Konflikten in der Nähe der Staatsgrenze der Russischen Föderation und der äußeren Grenzen der Teilnehmerstaaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten; die territorialen Ansprüche an die Russische Föderation.21 Wie bereits weiter vorn festgestellt, prallen gegenwärtig in Mittelasien und im Gebiet des Kaukasus russische und amerikanische Interessen aufeinander. Tschetschenien, das zum Kaukasus, einem geostrategischen Interessengebiet Russlands, gehört, wird nicht nur deshalb so heftig umkämpft, weil es Bestandteil der Russischen Föderation ist, sondern weil es ein wichtiges Transitland für Erdöl ist und selbst über Ressourcen verfügt. Angesichts der Pläne der USA, dieses Gebiet durch Bau eine Pipeline von Baku über Georgien zu dem türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan zu umgehen, wird deutlich, dass es 20 Vergl. Die Konzeption der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation. In Kraft durch Präsidentenerlaß Nr. 24 vom 10. Januar 2000, Dresden 2000 (Schriftenreihe „DSS-Arbeitspapiere", Heft 51.3-2000). 21 Ebenda, a.a.O. in dieser Region um mehr geht als um die Bekämpfung des islamischen Terrorismus. Neben der Sorge um den Erhalt der Russischen Föderation geht es auch hier wieder einmal ums Öl. Wie vielschichtig die geostrategischen Konzeptionen aus nationaler Sicht oder aus der Sicht von Militärbündnissen auch sind, eines ist den hier dargestellten Positionen gemeinsam: sie gehen vom Machtkalkül aus und sind folglich militärisch orientiert, auf den Gebrauch der militärischen Gewalt. Gefahren und Risiken, die zweifellos in einer interdependenten Welt gegeben sind, sollen mit militärischen Mitteln ausgeschaltet werden. Geopolitik und Geostrategie, zwei Worte für den gleichen Sachverhalt, folgen nach wie vor den alten Mustern. Sie standen deshalb vor nicht allzu langer Zeit zu Recht in der Kritik, besonders in Deutschland. Dass Außen- und Sicherheitspolitik geographische Komponenten einschließt, liegt in der Natur der Sache. Wenn sie jedoch Geopolitik und Geostrategie ausschließlich unter militärischem Blickwinkel betrachtet, ist die Behinderung friedlicher Lösungen meist vorprogrammiert. In der "Europäischen Sicherheitscharta" geht die OSZE von einem erweiterten Sicherheitsbegriff aus, der eine menschliche Dimension, eine ökonomische und ökologische Dimension und eine politisch-militärische Dimension umfasst. Geopolitische Analysen sollten insbesondere die menschliche und soziale sowie die ökonomische und ökologische Dimension im Auge haben und mit ihren Mitteln und Methoden zur Beilegung der Bedrohungen und Risiken beitragen. So würde eine alternative Sicherheitspolitik gefördert, die nur im äußersten Notfall, nämlich im Falle der Verteidigung, auf die militärische Macht zurückgreift. Die Zeit ist reif dafür, die Außen- und Sicherheitspolitik vom Ballast überholter geopolitischer Konstrukte zu befreien.