NOTABENE Religion und Freiheit Wo sind all die Christen?

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16 Mittwoch, 8. Februar 2017
NOTABENE
Religion und Freiheit
Von Michel Bossart
Als Immanuel Kant definierte,
was Aufklärung war, dachte er
auch an die religiösen Eiferer.
Sind wir frei zu glauben, was
wir wollen? Geben wir diese
Freiheit auf, wenn wir uns einer
Religionsgemeinschaft anschliessen?
Als Immanuel Kant 1784 definierte,
was Aufklärung ist, sagte er das so:
«Aufklärung ist der Ausgang des
Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.» Danach erklärt Kant, was er mit 'Unmündigkeit'
meint,
nämlich:
«das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen». Und selbstverschuldet sei diese Unmündigkeit
dann, wenn es am fehlenden Mut
und an der fehlenden Entschlossenheit liege, sich seines eigenen
Verstandes zu bedienen.
Zusammengefasst:
Wer
selber
denkt, sich eigene Meinungen bildet und diese begründen kann, der
ist ein aufgeklärter Mensch. Und da
Freiheit und Religion, geht das?
pixabay
beginnt auch gleich der Konflikt mit
der Religion, und zwar ganz egal
welcher. Denn allen Religionen gemeinsam ist, dass sie sich auf Glauben und nicht auf Wissen stützen.
Bis anhin ist das noch nichts Revolutionäres. Selbst die Kirche
spricht ja von Glauben, es gibt zum
Beispiel ein Glaubensbekenntnis;
der religiöse Mensch ist gläubig (und
nicht wissend); man spricht vom reformierten, katholischen, islamischen Glauben und so weiter.
Kann ein Gläubiger frei sein?
Immer wieder gibt und gab es Menschen, die zu wissen meinen, dass
ihr persönlicher der richtige und
einzige Glaube sei. In unseren Breitengraden sind das heutzutage besonders freikirchliche Kreise, die mit
einer gewissen Vehemenz ihre Botschaft verkünden, das heisst missionieren. Nicht etwa, dass die katholische oder reformierte Landeskirchen im Laufe ihrer Geschichte
nicht missioniert hätten. Im Gegenteil. Doch heute gehen die staatlich anerkannten Kirchen davon aus,
dass der Gläubige sie findet und
nicht, dass sie Menschen überzeugen muss, sie zu finden.
Die Frage, ob ein Gläubiger überhaupt frei sein kann, stellt sich in allen Religionsgemeinschaften. Ausnahmslos jeder Religion liegen gewisse dogmatische Annahmen zugrunde, die mit dem verwirrenden
Begriff 'Erkenntnis' umschrieben
werden. Bei den jüdisch-christlichen Religionen ist es zum Beispiel
die Annahme, dass die Bibel das
Wort Gottes sei. Einen Beweis dafür
gibt es allerdings nicht. Der Beweis
ist die Bibel selbst, denn es steht in
ihr geschrieben, dass hier das Wort
Gottes verkündet wird. Das ist ein
SEITENSTECHER
– etwas vereinfacht dargestellter –
Zirkelschluss oder eben ein Dogma. Beides sind philosophische
Stolpersteine.
Nun, der Mensch ist (meistens) darin frei, als dass er sich selbst für oder
gegen eine Religion entscheiden
kann. Auch Kinder, die in eine Religionsgemeinschaft hineingeboren
werden, bekennen sich in der Regel
als junge Erwachsene noch einmal
zu ihrem Glauben (Konfirmation,
Firmung,
Taufe).
Hat
der
Mensch sich für oder gegen eine Religion mit ihren Glaubenssätzen
entschieden, kann er insofern frei
bleiben, wenn er deren Sätze nicht
sklavisch, sondern reflektiert lebt.
Wer nun meint, ohne Religion sei
er freier, der oder die irrt. So lange
der Mensch auf die wichtigsten Fragen seines Daseins – Woher komme ich? Wohin gehe ich? Warum
bin ich überhaupt? Was bin ich? –
lediglich Antworten findet, die auf
Dogmen fussen, bleibt ihm nur das
Hinterfragen im Sinne von Kant. Da
nützt auch die ganzen Wissenschaften nichts. Der Urknall lässt grüssen.
Gott spielt eine Rolle – doch welche? Und kann sich ausgerechnet ein Rassist auf ihn berufen?
«happinez – das Mindstyle Magazine» ist nach eigenen Angaben «das Magazin für alle, die interessiert sind am Entdecken ihrer Innerlichkeit, verbunden mit
einem angenehmen Leben. Die
Zeitschrift ist ein einfühlsamer
Ratgeber für Menschen, die sich
viel und gern mit Themen wie
Weisheit, Psychologie und Spiritualität beschäftigen. (...) Happinez möchte den Graben zwischen Geist und Herz überbrücken, zwischen der äusseren und
inneren Schönheit. Für Menschen, die Wert auf einen bewussten Lebensstil legen und an
emotionaler und geistiger Weiterentwicklung interessiert sind.»
Schon reichlich viel Hokuspokus
im Eigenlob. Ich will jetzt mal
nicht genauer nachfragen, was
zum Beispiel der Unterschied
zwischen Herz und Geist ist oder
der zwischen der inneren und der
Spiritualität lässt sich,
hauptsächlich in den fernöstlichen Religionspraktiken finden.
Thema Brauchen wir noch den
Glauben an einen Gott? Wir haben
die Welt beinahe in allen Details erklärt, und wenn wir uns darum bemühen, schaffen wir es, unser Le-
ben ganz ohne Glauben und nur mit
Wissen zu meistern. Dennoch spielt
der Glauben und die Religionszugehörigkeit dieser Tage wieder eine immer grössere Rolle. Man muss
wieder Farbe bekennen. «Ich bin
Christ», sagt man zum Muslim.
Doch wahre Christen würden wohl
kaum über Menschen jubeln können, die aus lauter Futterneid kalt-
herzig die Schotten dichtmachen
möchten und Flüchtenden kurzum der Lüge bezichtigen, die angeben, tatsächlich auf der Flucht zu
sein. Was hätte Jesus gesagt? red
Wo sind all die Christen?
Von Flavio Razzino
Man wird kein Christ, nur weil man die Kirche besucht.
pixabay
weil er die Kirche besucht, irrt sich.
Man wird ja auch kein Auto, wenn
man in eine Garage geht» – selten
passte dieses überlieferte Zitat von
Albert Schweizer besser als in die
heutige Zeit, bei der vermeintliche
Christen wie Wölfe im Schafspelz
Hass verbreiten und dies damit legitimieren, das christliche Abendland vor einer Eroberung zu schützen.
bigen oder einfach nur Andersartigen. Wir sprechen also von Menschen, die Schaum vor dem Mund
bekommen, wenn in Schulzimmern das Kreuz abgehängt wird, etwa aus falschverstandener Rücksicht vor anderer Religionen. Was als
Überforderung gewertet werden
könnte, bezeichnen Eiferer als
«Landesverrat».
Schon klar: Im Grunde ist es reiner
Futterneid, der solche Menschen
antreibt. Der tragische Witz dahinter: Genau so verhält sich ein Christ
nicht. «Wer glaubt, ein Christ zu sein,
Ein Treppenwitz
Wo zum Teufel sind eigentlich die
tatsächlichen Christen geblieben,
die bereit sind – und zwar bedingungslos – Schwächeren und Notleidenden zu helfen? Die trotz grenzenloser Tragik diskussionslos die
andere Wange hinhalten (so steht
es doch in der Bibel, oder?), wenn
sich unter den vermeintlichen Opfern Terroristen befinden? Die nicht
von «den Muslimen» sprechen, von
den «Romas», von den «Negern» –
weil sie damit immer nur ein Klischee bedienen und niemals dem
Scheinheiligkeit ist unter vermeintlich stolzen Christen en
vogue. Und die anderen sind
mit sich selber beschäftigt.
Gerechtigkeit, Toleranz, Hilfe für die
Schwächeren, Nächstenliebe – das
sind keine utopischen Forderungen
von «Linken» und «Gutmenschen»,
sondern Eigenschaften, die Christen eigentlich ausmachen würden.
Hätte Jesus heute gelebt, er würde
wohl als linker Hippie ausgelacht
werden.
Tragisch daran: Dies ausgerechnet
von jenen Menschen, die heute
ziemlich selbstgerecht durch die
Strassen stolzieren und «Sozialschmarotzer» in jeder Ecke wittern
und sich wünschten, Ausländer
würden sich in einem Karton verpackt auf dem Weg zurück in die
verbombte Heimat befinden. Damit das christliche Abendland nicht
unterlaufen wird von Fremdgläu-
Individuum, das damit angesprochen werden soll, gerecht werden?
Wahrscheinlich sind diese Christen
gerade damit beschäftigt, ihre eigenen Kirchen zu demontieren, weil
sie zu Fuss nach Rom marschieren
und ausgerechnet von diesem Papst
«Mehr Rechte» einfordern. Als gäbe
es keine echten Opfer rundherum,
denen geholfen werden müsste. Und
sei es nur damit, angesichts der
grassierenden Ausländerfeindlichkeit sich lautstark (und ebenso medienwirksam) vor sie hinzustellen.
Und so überlassen sie das Feld den
Pseudochristen, die seit Jahren Gift
und Galle speien und die Welt kälter und kälter erscheinen lassen.
Es ist ein fürchterlicher Treppenwitz, dass ausgerechnet jene Menschen sich auf ihre christlichen
Wurzeln berufen, die Menschen
verachten, für welche sie in den Gotteshäusern während der Fürbitten
ihre Hände falten und dabei noch
nicht mal merken, wen sie da gerade anlügen.
äusseren Schönheit. Das gut 145seitige Magazin, das am Kiosk für
10.90 Franken erhältlich ist,
kommt im Hochglanzdruck daher. Alle Fotos sind mit Photoshop schöngefiltert, der Farbton
leicht kühl, pastellig. Im ganzen
Heft gibt es bis auf wenige Ausnahmen nur Frauen. Schöne,
glückliche, sinnliche Frauen.
Frauen auf der Suche nach dem
inneren Kind (mit Test) und der
inneren Ruhe oder Frauen, die
die Göttin in ihnen umarmen. Mit
Yoga, was sonst.
Spiritualität lässt sich, schenkt
man dem Magazin Glauben,
hauptsächlich in den fernöstlichen Religionspraktiken finden.
Keine der grossen monotheistischen Religionen scheint da den
Ansprüchen zu genügen. Und
wenn europäisch, dann vorchristlich. Der keltische Jahreskreis habe «so wie einst, auch
heute eine heilende Wirkung auf
unsere Seele», wird da behauptet.
Nicht fehlen dürfen Rezepte
(Buddha-Bowls), Bücher- und
Musiktipps, Kleininserate und ein
Shop, wo man Wunschringe,
Armbänder OM, Lakshmi-Mantra-Ketten aber auch praktisches
wie Yogataschen oder HamamHandtücher bestellen kann.
Fazit: Einer (wie ich), der noch
nie so ein Heftli gelesen hat, ist
beim Durchblättern etwas befremdet. Sparen Sie sich die elf
Franken und machen Sie einen
langen Spaziergang, der Effekt
dürfte befreiender sein.
Michel Bossart
«Seitenstecher» schaut genauer
hin und untersucht ein thematisch passendes Heftli, das in der
Region am Kiosk erhältlich ist.
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