1 Dominikanische Schulen „Suche nach Wahrheit und Sehnsucht nach Freiheit“ Erziehungs- und Bildungsprinzipien in dominikanischen Schulen „Bildung und Erziehung entscheiden über die Zukunft“ – Diese Aussage setzt hohe Erwartungen an Schule, und in der Tat, Zukunft beginnt in der Schule. Sie legt die Grundlagen, damit die nächste Generation ihr Leben gestalten, „neue Herausforderungen annehmen und zukunftsfähige Wege gehen kann“. (1) Gleichzeitig gebrauchen und wiederholen auch Bildungspolitiker und Wirtschaftsvertreter diese Aussage. Mehr denn je wird Bildung in Zukunft über die Wettbewerbungsfähigkeit der Wirtschaft wie auch über Chancen jedes Einzelnen in Wirtschaft und Gesellschaft entscheiden. Wir brauchen deshalb eines der besten Bildungs- und Ausbildungssysteme. So klingen aktuelle Beiträge zu Bildungsfragen. Die Gleichsetzung von „Wissen mit Bildung“ sowie von „Erziehung mit Lernen“ kann aber nicht das Verständnis von Bildung und Erziehung in unseren Schulen sein. Der Maßstab für die Bildung des Menschen kann nicht in ihrer pragmatischen Nützlichkeit gesehen werden, nicht nur im Erwerb von Kompetenzen und Qualifikationen, und kann daher auch nicht wegweisend für die Zukunft sein. Sicher ist, dass dominikanische Schulen sich in dieser Frage, was Bildung ist, auf eine gute Tradition rückbesinnen können. Die Bedeutungsgeschichte des Wortes „Bildung“ führt direkt zu den dominikanischen Mystikern des 14. Jahrhunderts, zu Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse. Gerade Meister Eckhart spricht in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder vom „Bilden“. Er sieht die Schöpfung als Formung und Bildung des Menschen von Gott her. Der Mensch ist ein Gegenüber, in das Gott sein Bild einprägt. „Und Gott sprach: Lasset uns den Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis; und er soll herrschen über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über die Tiere und über die ganze Erde und über das Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde; zum Bilde Gottes schuf er ihn, als Mann und Frau er sie. (Genesis 1,26-27) „Diesem Bilden von oben“ entspricht „ein Bilden von unten“, was Paulus im 2. Korintherbrief 3,18 so formuliert: „Nun aber spiegelt sich in uns allen des Herren Herrlichkeit mit aufgedecktem Angesicht, und wir werden verwandelt in dasselbige Bild von einer Klarheit zur anderen, als vom Geist des Herrn.“ Hier treffen wir auf ein doppeltes Verständnis: Der Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen, damit er in ein Bild Gottes verwandelt werden kann. Der Mensch ist also nicht gleich mit seiner Erschaffung Bild Gottes, sondern er soll es werden. In diesem Spannungsgefüge zwischen „Ist und Werden“ ereignen sich Bildung und Erziehung. „In jedem ruht ein Bild des`, das er werden soll. So lang´ das nicht ist, ist nicht sein Friede voll“, ein Wort, das Angelus Silesius zugeschrieben wird. (2) Bildung ist ein dynamischer Vorgang, in dem der einzelne freigesetzt werden soll zu sich selbst. Es geht um verantwortliche Selbstverwirklichung, um einen Prozess, in dem der Mensch entscheidet, wer er sein will, und nicht nur, was er wissen, was er tun, was er machen will, und gleichzeitig weiß, dass nichts voraussetzungslos, nichts letztbegründet ist.(3) Nach Meister Eckharts Konzeption ist Bildung ein Vorgang, in dem der Mensch sich ‚einbildet’ in das Urbild seines Menschseins, in das, was seine Bestimmung ist. Dann wird er fähig, alle Einzelaufgaben, die ihm das Leben stellt, in eine Ganzheitlichkeit zu integrieren. Aus der Sicht des Glaubens wird der Mensch in Jesus Christ seine Bejahung finden und damit zu seinem eigentlichen Selbst befreit. Diese Art von Bildung vollzieht sich dadurch, dass der Mensch nur in Angleichung an Jesus Christus zu seiner Eigentlichkeit befreit wird. Damit ist gegeben, dass für den Christen allein Jesus Christus verbindlich ist. In diesem Sinn dient Bildung der „Menschwerdung des Menschen“. (4) 2 Wo liegen nun in der dominikanischen Tradition die Ressourcen für Bildungs- und Erziehungsprinzipien, die deutlich machen, wie Bildung im Sinne Meister Eckharts in der Schule konkret geschehen kann? Dazu brauchen wir aus der dominikanischen Tradition Haltungsbilder, konkrete Biographien, um zu veranschaulichen, was Meister Eckhart damit meint, wenn er sagt, der Mensch müsse sich „einbilden“ in Jesus Christus. Was liegt da näher als nach der Grundhaltung des Stifters zu fragen, nach seinen entscheidenden Impulsen, nach dem, was er uns hinterlassen hat? Gerade im Leben und Wirken des heiligen Dominikus stellen wir fest, wie Gottes Geist gleichsam „von unten“ her wirkt und durch ihn in einer ganz besonderen geschichtlichen Zeit eine Botschaft vermittelte, die dem Menschen Glück, Heil, Ganzheit und Vollendung bringen wollte. Für Dominikus war das Evangelium der einzige Maßstab seines Handelns. Daher können wir uns an ihm orientieren, wenn wir nach einem ganzheitlichen und personalem Bildungs- und Erziehungskonzept in unseren Schulen suchen. „Wer Christus, dem vollkommenen Menschen folgt, wird auch selbst mehr Mensch“, so formuliert das zweite Vaticanum „in Gaudium et spes“ (41). Mit dem Blick auf Dominikus übernehmen wir ein Erfahrungswissen, das weit in die Vergangenheit zurückweist. Vielleicht ist es ein Wissen, dem moderne Fragestellungen fremd sind und wir auch keine Antworten auf unsere Fragen erwarten dürfen. Wir können aber auf Antworten aufmerksam werden, die wir nur deshalb nicht kennen oder beachten, weil wir vielleicht nicht mehr nach ihnen fragen. Die Reflexion über das Leben des heiligen Dominikus führt uns zu Grundhaltungen, von denen wir Bildungs- und Erziehungsprinzipien in dominikanischen Schulen ableiten können. Sicher ist auf jeden Fall, Dominikus hat kein System der Erziehung und der Lehre aufgestellt, sondern er hat selbst so gelebt. An seinem Leben lässt sich aufzeigen, wie die Vermittlung dominikanischer Spiritualität an unseren Schulen aussehen kann; denn bei ihm bilden Theorie und Praxis eine Einheit, und Elemente der Erziehung verwirklichen sich in seinem Leben. Und es ist nicht gleichgültig, wessen Erfahrungen und gelebte Überzeugungen unseren Schülern vermittelt werden. Dominikus hat seinen Brüdern und Schwestern den Auftrag hinterlassen, die Wahrheit zu suchen und zu verkünden, in Solidarität mit den Menschen zu leben, Strukturen zu schaffen, in denen ein humanes Miteinander möglich ist. Mit den vier Grundwerten Wahrheit und Freundschaft, Freiheit und Geschwisterlichkeit lässt sich dominikanische Identität beschreiben. (5) Der Wille zur Wahrheit Die Suche nach Wahrheit und die Sehnsucht nach Freiheit sind dem Menschen mit seiner Existenz mitgegeben. Daher gehört zur menschlichen Kultur unbedingt der Wille zur Wahrheit. Die Fähigkeit zu sehen „was ist“ muss in den jungen Menschen entwickelt werden. Er muss ein Gespür dafür bekommen, dass der Mensch selbst ein spannungsreiches und kein eindimensionales, ein einmaliges und unverwechselbares Wesen ist. Er muss sich als ein Wesen erleben können, das auf Gemeinschaft bezogen und gleichzeitig aufgerufen ist, ganz er selbst zu werden. Dieses zu entwickelnde Bewusstsein sollte ihn dazu ermächtigen, sein Leben eigenständig in die Hand zu nehmen und es mit seinen Fähigkeiten aktiv zu gestalten. Doch das genügt nicht, er muss auch erfahren können, dass er in seiner ganzen Vielschichtigkeit als Mensch von einem guten Schöpfer getragen und gehalten ist. Zur menschlichen Kultur gehört also der Wille zur ganzen Wahrheit, die wir nur in Teilvorstellungen erfassen können. Die Vermittlung der Wahrheit ist die vornehmste Aufgabe des Dominikanerordens und sicher auch die vornehmste Aufgabe eines Lehrers und Erziehers – nämlich, die Schüler zu befähigen, dass sie die 3 natürlichen, gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen, weltanschaulichen und religiösen Bereiche als Teilvorstellungen von Wahrheit begreifen. In den einzelnen Unterrichtfächern lernt der junge Mensch, die Realitäten des Lebens wahrnehmen, sie deuten und mit ihnen verantwortungsvoll umgehen. Er lernt Kriterien kennen, die ihm helfen, sich in der Vielfalt der Dinge zu entscheiden, sich in der komplexen Welt zurechtzufinden, geschichtliche und gesellschaftliche Zusammenhänge besser zu verstehen und Sachverhalte genauer zu erkennen. Die Fragen nach dem Woher und Wohin des Lebens, nach dem, was Menschen in Solidarität und Gerechtigkeit zusammenhält, nach dem Leben zwischen den Generationen, nach dem Erhalt von Frieden und dem Umgang mit der Natur und Schöpfung müssen im Mittelpunkt einer dominikanischen Schule stehen. Die Suche nach der Wahrheit ist – dominikanisch verstanden – ein Lebensstil, eine besondere Sensibilität, die Wirklichkeit wahrzunehmen. Es geht dabei um eine Art Intuition, wie ich mich der Realität annähere. Sie geschieht in den Begegnungen mit den Dingen, in der Begegnung mit sich selbst, in den Begegnungen von Mensch zu Mensch, mit der Gesellschaft und mit Gott. In der Wirklichkeit allein liegt die radikale Wahrheit, meint die französische Philosophin Simone Weil. Diese Begegnungen und die damit gemachten Erfahrungen sind potentielle Lerngelegenheiten, weil die Wirklichkeit Lernstoff ist und weil jedes Ereignis im Leben reflektiert, gedeutet und in Handlung umgesetzt werden kann. Wie hat das Dominikus gelebt? Wie wir aus dem Leben des heiligen Dominikus wissen, hat er die schwierigsten und kompliziertesten Dinge „humili cordis sapientia“ mit der Intelligenz seines demütigen Herzens gelöst. Diese Intelligenz steht im Gegensatz zu einer Intelligenz, die die Überlegenheit ausspielt und oft mit dem moralischen Zeigefinger argumentiert. Jordan von Sachsen, der erste Nachfolger des heiligen Dominikus schreibt: „Dominikus erkannte Zusammenhänge und Verflechtungen, um dann rettende Kräfte in sich und anderen wachzurufen und dann auf den Weg der Wahrheit zu führen“. (6) Es ist eine Intelligenz, die mit Aufmerksamkeit und Offenheit die Welt wahrnimmt. Und Aufmerksamkeit ist eine vorbehaltlose, ungefärbte Wahrnehmung von allem, was ist. Eine solche Lebensweise ist natürlich riskant und herausfordernd. Von Dominikus wird gesagt, er habe die Zeichen der Zeit aus der Berührung mit der Not der Zeit deuten und gleichzeitig mit seinem Handeln eine Wirkungsgeschichte vorbereiten können. Es ist sein eigener Lebensentwurf, der die Botschaft des Evangeliums in die Zeit hinein buchstabierte. Es gibt besonders zwei Beispiele aus dem Leben des Heiligen, die von plötzlichen Weichenstellungen in seinem Leben berichten. Der Verkauf seiner Bücher während einer großen Hungersnot und das Nachtgespräch mit einem Anhänger der Katharer in Toulouse veränderten sein Leben total. Beide Situationen machen etwas von dem deutlich, was dominikanische Spiritualität auch ausmacht – das Mitleiden und eine engagierte Form der Auseinandersetzung mit dem Andersdenkenden. Dominikus lebte im 12./13. Jahrhundert, in einer Epoche großer geistiger Auf- und Umbrüche, aber auch einer sehr widersprüchlichen und orientierungslosen Zeit. Sie wird von den Historikern die großartigste Zeit des Mittelalters genannt. Die Kirche sah sich einer großen geistig-geistlichen Gefahr gegenüber. Die christliche Welt war zerrissen durch große Laienbewegungen, durch Ketzerbewegungen innerhalb und außerhalb der Kirche. Mit diesen Bewegungen wurde Dominikus in Südfrankreich konfrontiert und erkannte sehr bald, dass der christliche Glaube kritischen Widerstand gegen die Heilsversprechen und Utopien dieser neuen 4 religiösen Gemeinschaften leisten muss. Im Umgang mit den Katharern lernte er, dass nur ein gut fundiertes christliches Menschen- und Weltverständnis die Irrlehren widerlegen kann. Er ließ sich ganz auf die Menschen innerhalb der neuen Bewegungen ein und nahm sogar ihre Lebensweise an. Auf öffentlichen Plätzen diskutierte er mit ihnen und scheute sich nicht, auf den Markt der Meinungen zu gehen. Er konnte mit denen, die ihm fremd waren, sprechen, denn er besaß auch das richtige Instrumentarium. Er machte die Andersdenkenden nicht zu Gegnern, sondern er suchte mit ihnen im Dialog die Wahrheit. Nur die Überzeugungskraft der Argumente und nicht seine eigene Autorität waren für ihn ein Weg, die Wahrheit zu vermitteln. Hier wird etwas Zentrales dominikanischer Spiritualität deutlich. Die Menschen, mit denen sich Dominikus auseinandersetzte, erfuhren etwas vom Grund seiner Hoffnung. Sie spürten seine bedingungslose Liebe zur Wahrheit, seine starke Verwurzelung im Glauben und den Mut sich anderen auch zuzumuten. Er selbst ließ sich auch in Zeiten der Unterdrückung und Aussichtslosigkeit von der Wahrheit nicht abbringen. Dominikus bewertete Fremdes generell nicht als Feindliches und Eigenes aber auch nicht als maßgeblich im Sinne einer Indoktrination. Er verzichtete auf jede Machtausübung, selbst wenn es ihm nicht gelang, einen anderen zu überzeugen. Er ließ dem anderen die Freiheit, eine eigene Entscheidung zu treffen und beanspruchte aber gleichzeitig die schöpferischen Möglichkeiten dessen, der ihm auch in feindseliger Weise gegenüberstand; denn auch dem Gegner traute er lebensbewahrende Impulse zu. Durch die wechselseitige Interaktion von Geben und Nehmen, von Fordern und Lassen, von Nähe und Distanz vermag er es, die Fremdheit von innen und außen zu integrieren. Damit eine solche Interaktion gelingt, muss eine hohe Solidarität vorausgesetzt werden. „Wenn es eine Sache gibt, die wir auf dem Kapitel (Versammlung der Brüder) sicher schaffen müssen, dann ist es unsere Verpflichtung, der Wahrheit gegenüber deutlich zu machen, zu hören, wo wir zustimmen und wo wir nicht zustimmen können, um das zu sichern, was an den Gedanken der anderen wahr ist... Was ich immer mehr schätze, je länger ich im Orden bin ... ist diese besondere Weise des Denkens – zu erwarten, dass andere eine andere Meinung haben, der wir nicht zustimmen; ebenso erwarten zu können zu verstehen, warum sie an das glauben, was sie tun – wenn wir nur die Vorstellungskraft, den Mut, den Glauben an die Macht der Wahrheit, die Nächstenliebe haben, auf das zu hören, was andere sagen, insbesondere darauf, wovor wir uns fürchten, wenn sie bei dem zögern, wovon wir sie überzeugen wollen. Es gibt viele Wege, die Wahrheit herauszufinden, aber das ist der eine, von dem ich hoffe, dass ihn der Predigerorden immer versuchen wird zu gehen“. ( Fergus Kerr)(7) Die eigene Position hinterfragen, sich selbst für Fragen öffnen und sich den Zweifeln der anderen aussetzen, das war für Dominikus ein Akt der Nächstenliebe, die geboren wurde aus der Leidenschaft für die Wahrheit. In Freundschaft die Wahrheit suchen In der Beziehung, im Dialog die Wahrheit suchen, die Überzeugungskraft durch Argumente nicht die eigene Autorität ins Spiel bringen, war für Dominikus der Weg, die Wahrheit zu vermitteln. Diese Argumentationsmethodik, die Dominikus praktizierte, wurde später von Thomas von Aquin weiterentwickelt. Er stellte die Meinungen der anderen zuerst einmal vor, fühlte sich sozusagen in diese Meinungen hinein, versuchte sich sogar mit ihnen zu identifizieren und gewann so sein Argument, mit dem er mit anderen ins Gespräch kam. 5 Es ist wohl die schwierigste Aufgabe für uns Menschen, zu entdecken, wie der andere denkt, wie er lebt, welche Vorstellung er von der Wahrheit hat. Ein Lernprozess stellt sich für den einzelnen Schüler dann ein, wenn zum gleichen Thema jeder seinen eigenen Zugang finden darf; denn jeder Mensch ist anders, hat andere Anlagen und Lernerfahrungen. Lernen in Beziehung und Freundschaft ist das dominikanische Gegenmodell zur KonkurrenzWettbewerbsgesellschaft unserer Zeit, in der Lernen vielfach geprägt ist von den Begriffen Überlegenheit, Herrschaft, Kontrolle oder „Wissen ist Macht“. Dominikus stellte es in vielen Situationen seines Lebens unter Beweis, dass die eigenen Erfahrungen wichtig sind, aber nie genügen. Er reflektierte seine Erfahrungen, studierte und prüfte mit Gleichgesinnten und traf mit ihnen eine Entscheidung. Das bedeutet, Vertrauen in das Wirken des Geistes im Mitmenschen zu haben, das bedeutet in Freundschaft die Wahrheit suchen. Eine solche Haltung gegenüber den Menschen und der jeweiligen Realität ermöglicht den Schülern die konkrete Erfahrung, angenommen zu sein. Das bedeutet im schulischen Alltag, dass die Lehrenden den Schülern als Erwachsene entgegentreten, deren Andersheit im Umgang miteinander erkennbar wird. Der Lernprozess wird erst fruchtbar, wenn man die Andersartigkeit des anderen wertzuschätzen weiß und bereit ist, sich mit dem anderen auseinanderzusetzen. Die Schüler brauchen das Anderssein der Lehrenden d.h. ihr Erwachsensein, sie brauchen sie als Menschen, die etwas vertreten, an etwas glauben und etwas wollen. Schüler müssen ihren eigenen Lebensentwurf am Fremden ausprobieren können. „Es hilft ihnen nicht weiter, wenn sie in ihren Lehrern nur sich selbst und die eigene Hilflosigkeit wieder finden, wenn jedes Gespräch zu einem Selbstgespräch wird. Man kann einen Dialog nur führen, wenn man ein eigenes Gesicht hat und eine eigene Sprache, wenn wir uns zu unserer eigenen Autorität und gleichzeitig auch zu unserer Fehlbarkeit bekennen.“(8) Von Dominikus wissen wir, dass er sich selbst zu seiner eigenen Verwundbarkeit, seinen eigenen Schwächen und Stärken bekannte. Damit ist er für die anderen ein Modell, das auch Ablehnung und Zustimmung ermöglicht. Wer führen und erziehen will, muss selbst wissen, wer er ist, welches Menschenbild hinter seinem Tun steht. Denn das Bild, das ich in mir trage, prägt gleichzeitig mein Bild von den anderen. Dominikus – sein Modell der Freiheit und der Brüderlichkeit Die hohe Achtung und der große Respekt vor der Meinung des anderen, den anderen in seiner Persönlichkeit nicht überfremden wollen, das ist der dominikanische Weg, die Wirklichkeit wahrzunehmen. Damit das möglich ist, hat Dominikus mit der gestaltenden Kraft seiner Freiheit Strukturen geschaffen, in dem der Streit um den Vorrang des einzelnen oder der Gemeinschaft gelöst ist. Diese Strukturen setzen auf die Freiheit und die Verantwortung des einzelnen aber auch auf das Wissen um die Irrtumsfähigkeit des Menschen. „Dominikus fasziniert uns wegen seiner Freiheit, der Freiheit des armen Wanderpredigers, der Freiheit eines Mannes, der einen Orden gründete, der bis dahin ohne Vorbild war. Er war so frei, dass er die schwache, kleine Gemeinschaft, die sich um ihn gebildet hatte, zerstreute und an die Universitäten schickte. Und er war so frei, dass er die Entscheidungen seiner Mitbrüder anerkannte, auch wenn sie nicht mit seinen Vorstellungen übereinstimmten: seine Freiheit war die eines leidenschaftlichen Menschen, der zu schauen und zu erwidern wagte.......“. (9) Die Freiheit, die Dominikus uns vorlebte, beruhte ganz wesentlich auf Vertrauen. Es äußerte sich bei Dominikus darin, dass er annahm, jeder andere handle zumindest ebenso vernünftig und billig wie er 6 selbst. Freiheit eröffnet den notwendigen Raum zum Handeln und Gestalten von Welt und fordert heraus zur Verantwortung, zum dialogischen, reflektierten Entscheiden des eigenen Weges und gemeinschaftlicher Prozesse. Übertragen auf die Schule bedeutet es, dass der junge Mensch in einem solchen Raum lernen kann, sich selbst im Unterschied zu dem anderen wahrzunehmen. Er kann lernen sein Leben zu deuten, zu entscheiden und zu handeln. In einem solchen Raum wird er mehr und mehr seine eigene Identität, seine persönliche Freiheit finden und sich der Selbstbestimmung seines Lebens bewusst werden. Hier geht es um intensive Werteerfahrung, die es dem Heranwachsenden ermöglicht zu lernen, aus seiner eigenen Mitte heraus intuitiv und mit Sensibilität urteilen zu können. Er gewinnt im Blick auf Werte, Maßstäbe und Grundhaltungen durch Erfahrungen der Zuverlässigkeit und des Vertrauens eine eigene Urteilskraft. So wird Bildung im Sinne von Meister Eckhart zur Gewissensbildung. Unterricht und schulischer Alltag bieten viele Möglichkeiten zur Einübung und Ermutigung eines solchen Selbstfindungsprozesses. Auf dem ersten Generalkapitel 1220 arbeitete Dominikus mit den Brüdern zusammen eine Verfassung aus, die nach dem Urteil des belgischen Verfassungsrechtlers Leon Moulin die erste bikamerale parlamentarische Demokratie ist. Sie atmet etwas vom Geist des Evangeliums und lebt von der Überzeugung, dass alle ihre Mitglieder von Gott mit derselben Würde ausgestattet sind. Die Gesetzgebungsverfahren in unserem Orden ermöglichen, dass die Institutionen sich entwickeln und sich an ihre jeweilige Zeit anpassen können. Diese demokratischen Strukturen funktionieren gut, weil eine Dimension der Uneigennützigkeit, des Strebens nach dem Gemeinwohl und nach echter Brüderlichkeit (Geschwisterlichkeit) im Spiel ist. Die Brüderlichkeit (Geschwisterlichkeit) stellt die Grundlage für die Demokratie in unserem Orden dar. Das Ziel aller demokratischen Prozesse im Orden ist die Übereinstimmung aller, was das Gemeinwohl betrifft. Was immer mich angeht, hat auch mit dem anderen zu tun und weist auf einen gemeinsamen Weg hin. Es ist die besondere Aufgabe der Leitung, die Macht, Autorität und die Verantwortung des einzelnen zu fördern. Dazu sagt Timothy Radcliffe: „Unsere Demokratie braucht viel Zeit, eine Zeit, die wir einander schulden. Manchmal kann uns das langweilen. Wenige Leute finden lang andauernde Konferenzen so anödend wie ich. Es ist nicht effizient, ich glaube nicht, dass wir jemals einer der effizientesten Orden der Kirche sein werden. Gott sei Dank gibt es viel effizientere Orden als unseren. Und Gott sei Dank versuchen wir nicht, es ihnen gleich zu tun. Eine gewisse Effizienz ist notwendig, wenn wir unsere Freiheit nicht durch Stillstand verlieren wollen. Aber wenn wir Effizienz zu unserem Ziel machen, dann untergraben wir damit die Freiheit, die unser Geschenk an die Kirche ist. Unsere Tradition, jedem Bruder Sitz und Stimme zu geben, ist oft nicht der effizienteste Weg, gute Entscheidungen zu treffen, aber sie bezeugt die evangelischen Werte, die wir der Kirche anbieten, und die unsere Kirche heute mehr denn je braucht.....“ (10) Erfährt der Schüler sein Umfeld als eine so demokratisch strukturierte Gemeinschaft und kann er sie als eine solidarische Gemeinschaft deuten, dann lernt er auch nach und nach, sich bewusst für diese Gemeinschaft zu entscheiden und sich für sie einzubringen und zum Wohl der anderen auch zu handeln. Gerade hier liegt eine wichtige pädagogische Aufgabe, die jungen Menschen auf die Möglichkeiten der Erfahrung von Gemeinschaft und demokratischen Strukturen aufmerksam zu machen. Der junge Mensch muss verstehen, welche Bedeutung Solidarität für das eigene Leben hat, und er muss erfassen, dass er sich vielleicht auch gegen Solidaritätsformen dieser Gemeinschaft entscheiden muss. In einer dominikanisch geprägten Schule muss auch der Widerspruch und eine gewisse Form des Nein-sagens möglich sein, ja geradezu herausgefordert werden. 7 Dominikanische Spiritualität als Lebensstil im pädagogischen Raum Dominikanische Spiritualität kann als Lebensstil in einem pädagogischen Raum ein vertrauensvolles und lebensförderndes Klima „der Freiheit und der Liebe des Evangeliums schaffen“, das Lernprozesse initiiert, Wachstum fördert, ein humanes Miteinander ermöglicht, Vertrauen auf die Kraft des Denkens schafft. (Gravissimum educationis GE 8) Dominikanische Spiritualität ist ein Praxismodell, das die tiefe Erfahrung des Menschen ausgestaltet, als freier, eigenständiger und verantwortlicher Mensch in Beziehungen und Freundschaft hinein verwiesen zu sein. Sie lebt von der Wahrheit, dass nur durch Beziehung Bildungs- und Erziehungsprozesse in Gang kommen. Sie prägt das alltägliche Miteinander, den Umgang mit Konflikten, mit Schuld und Versagen. Wer sich auf den Weg der Wahrheit macht, entdeckt auch die Probleme seiner Zeit, sieht die Welt mit immer neuen Augen und weiß um die Größe und die Grenze des Menschen, er kennt seine Gefährdungen und seine Chance. Was Dominikus von seinen Brüdern gefordert hat, nämlich „semper studere“ das gilt auch in einer dominikanischen Schule, für alle am Bildungs- und Erziehungsprozess Beteiligten. Lehrende und Lernende in einer solchen Schule sollten sich dieser Forderung des Dominikus an seine Brüder stellen und selbst lebenslang Studierende bleiben für den Dienst an der Wahrheit im Bildungs- und Erziehungsgeschehen und in den damit gestellten Aufgaben in Kirche und Welt. Schule in dominikanischer Tradition kann sich in ihrem Bemühen, jungen Menschen zur Identitätsfindung zu verhelfen, am Lebensmodell des heiligen Dominikus orientieren. Daher wird sie immer wieder neu versuchen, dominikanische Wertvorstellungen in den pädagogischen und unterrichtlichen Alltag hineinzubuchstabieren. Dominikanische Spiritualität ist so etwas wie eine Hintergrundsmelodie, die im schulischen Alltag Sicherheit gibt und die Überzeugung vermittelt, gemeinsam an einem ganzheitlichen Lebensvollzug beteiligt zu sein. Dies wird in dominikanischen Schulen sichtbar und spürbar, wenn gemeinsames Nachdenken und gemeinsame Rückbesinnung auf die dominikanische Tradition vom Schulträger gefördert und den Kollegien aufgegriffen wird. Sr. Helga Jörger op Anmerkungen: (1) vgl. Schavan, 1998, S13. (2) vgl. Böhm, 1988 S.30-31 (3) vgl. Fraling, 1988 S. 73 (4) vgl. Fraling, 1988 S. 76 (5) vgl. Bedouelle, 2004, 9-21 (6) vgl. Jordanus von Sachsen, HG. Wolfram Hoyer, 2002, 27ff (7) vgl. Radcliffe, 2001,154 (8) vgl. Steffensky, 2005, 187ff (9) vgl. Radcliffe, 2001, 137,ff (10) vgl. Radcliffe, 2001, 155 8 Literatur: Bedouelle, Guy, Geschichte und Identität, Geleitwort in: Hinnebusch, William A. Kleine Geschichte des Dominikanerordens, Dominikanische Quellen und Zeugnisse, Benno Verlag, Leipzig 2002, 9-21 Böhm, Winfried, Theorie der Bildung in „Nichtwissen sättigt die Seele“ Wissen, Erkennen, Bildung, Ausbildung heute, 3. Würzburger Symposion, hrsg. Von Winfried Böhm und Martin Lindauer, Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1988, 30-31 Fraling, B., Bildung als Selbstverwirklichung, in o.g. 3. Würzburger Symposion, 1988, 73-76 Jordanus von Sachsen, Von den Anfängen des Predigerordens, hrsg. Wolfram Hoyer; Büchlein von den Anfängen des Predigerordens, Dominikanische Quellen und Zeugnisse, Benno Verlag, Leipzig 2004, 27ff Radcliffe, Timothy, Gemeinschaft im Dialog, Dominikanische Quellen und Zeugnisse, Benno Verlag Leipzig 2001, 137, 154-155 Schavan, Annette, Schule der Zukunft; Bildungsperspektiven für das 21. Jahrhundert, Herder Spektrum, Freiburg 1998, 13f Steffensky, Fulbert, Schwarzbrot-Spiritualität, Radiusverlag, Stuttgart 2005, 187ff Meurer, Hermann Josef, Überlegungen zum Selbstverständnis und Menschenbild von Schulen in Katholischer Trägerschaft, in Regnum, 2003, 37.Jg. Katholische Schule heute: Perspektiven und Auftrag nach dem Zweiten Vaticanischen Konzil hrsg. Gertrud Pollak, Claus Peter Sajak, Herder Verlag, Freiburg 2006