Von Athen in den Odenwald

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Die Verirrungen deutscher Reformpädagogik: Von Athen in den Odenwa... http://www.taz.de/1/zukunft/bildung/artikel/1/von-athen-in-den-odenwald/
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15.03.2010 | 9 Kommentare
DIE VERIRRUNGEN DEUTSCHER REFORMPÄDAGOGIK
Von Athen in den Odenwald
Die Verklärung des antiken Athen und die Überhöhung des
deutschen Wandervogels: Ein Essay über den platonischen Weg
VON MICHA BRUMLIK
der deutschen Reformpädagogik
Auf dem Hohen Meißner fand die Jahrhundertfeier der deutschen
Jugendbewegung zum Sieg Preußens über Napoleon statt - ein Kontrapunkt zu
Foto: dpa
den militaristischen Gedenkveranstaltungen des Reiches.
Der evangelische Theologe Gerold Becker, langjähriger Leiter der
Odenwaldschule, hat sexuelle Übergriffe nicht nur gedeckt, sondern aus
leitender Position heraus aktiv begangen. Wie bei katholischen
Einrichtungen ist zu fragen, ob es sich dabei "nur" um eine zufällige
Konstellation oder einen systematischen Effekt handelt.
Hinweise auf einen systematischen Effekt liegen vor: In seiner
glänzenden Studie über die Gruppe um den Dichter Stefan George,
"Kreis ohne Meister", hat der Literaturwissenschaftler Ulrich Raulff
angedeutet, dass einer der Urheber der bundesdeutschen
Bildungsreform, Hellmut Becker, diese Reform aus dem Geist der
Reformpädagogik heraus initiiert habe. Hellmut Becker - den deutschen
Landerziehungsheimen eng verbunden, mit Gerold Becker jedoch
weder verwandt noch verschwägert - wurde als Sohn des letzten
preußischen Kultusministers 1913 geboren, trat 1937 in die NSDAP
ein, verteidigte nach dem Krieg den wegen Judendeportationen
angeklagten Diplomaten Ernst von Weizsäcker, wurde dann Präsident
des Deutschen Volkshochschulverbandes, um 1963 erster Direktor des
Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung zu werden. Raulff urteilt:
"Die Erziehung der Bildungsreformer war ein durch und durch elitäres
Projekt, ersonnen von sendungsbewussten Angehörigen der Eliten, die
für die Massen und massengerecht zu handeln meinten, während sie in
Wahrheit an Chiron und Achill dachten und Ideen generalisierten, die
großenteils aus der Reformschulbewegung stammten."
Tatsächlich: Die deutsche
Reformpädagogik hatte ihre
Micha Brumlik, Jahrgang 1947,
eigene Ideologie. Einer ihrer
lehrt Erziehungswissenschaften an
Pfeiler war die Verklärung des
der Goethe-Universität in Frankfurt
antiken Athen, zumal Platons
am Main. Viele Jahre leitete er das
Gedanken zum (pädagogischen)
Fritz-Bauer-Institut zur Erforschung
Eros im Dialog "Das Gastmahl".
des Holocaust.
Noch vor Kurzem erst bestand
der Nestor der deutschen
Reformpädagogik, Hartmut von Hentig, darauf, dass die Zuneigung
des Erziehers zum Zögling "eine Form der persönlichen Liebe" und
"unsere aufgeklärte Gesellschaft in dieser Hinsicht kleinmütig" sei.
Doch bevor dem deutschen Weg der Reformpädagogik nachgegangen
wird, ist zu klären, was "Reformpädagogik" überhaupt ist. Ihre
Prinzipien sind schnell genannt: ein Lernen, das dem Zeitempfinden,
den motorischen und spielerischen Bedürfnissen von Kindern und
Jugendlichen entspricht; eine Bildung, die das künstlerische Ausdrucksund Empfindungsvermögen ebenso fördert wie sprachliche und
kognitive Fähigkeiten; Lernräume und -orte, die nach außen geschützt
22.03.2011 10:17
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und nach innen durch einen starken emotionalen Zusammenhalt
zwischen Pädagogen und Schülern gekennzeichnet sind.
Indes: Pädagogische Prinzipien fallen nicht vom Himmel. Sie entstehen
in bestimmten gesellschaftlichen Lagen und werden von Menschen in
ihrer Lebensgeschichte verwirklicht. Die moderne Reformpädagogik
wurzelt in der Kulturkritik. Vor dem Hintergrund romantischer Ideen vom
Kind, wie sie von Friedrich Fröbel und dem Maler Philipp Otto Runge
entworfen wurden, beginnt das zwanzigste Jahrhundert mit einem
publizistischen Paukenschlag hier und einem zunächst kaum bemerkten
Ereignis dort. 1900 legte die schwedische Autorin Ellen Key ihr von
Friedrich Nietzsches Geist getragenes Buch "Das Jahrhundert des
Kindes" vor, in dem sie nicht nur eine "Pädagogik vom Kinde" aus,
sondern auch das Recht von Kindern auf gesunde und glückliche Eltern
postulierte. Eine Forderung, die die Pazifistin und Feministin auf die
Abwege eugenischer Politik führte: Nur physisch und psychisch
gesunden Eltern sollte es gestattet sein, sich fortzupflanzen. Drei Jahre
zuvor, 1896, war an einem Gymnasium im bürgerlichen Berlin-Steglitz
ein Stenografielehrer auf die harmlos anmutende Idee gekommen, mit
Schülern Fußwanderungen durch die Wälder rings um Berlin zu
unternehmen. Ein Unterfangen, das zur Initialzündung für die weltweit
stilbildende deutsche Jugendbewegung wurde - zunächst des
"Wandervogels", dann, nach dem Ersten Weltkrieg, der militarisierten
"Bündischen Jugend".
Um die Attraktivität des Jugendwanderns zu verstehen, muss man sich
die bedrückte Lage junger Männer jener Zeit verdeutlichen. Von
bürgerlichen Konventionen eingeschnürt, von Leistungsdruck beschwert
und im Erleben ihrer Sexualität verängstigt, suchten sie nach
Freiräumen, die sie in der freien Natur und Gruppen Gleichaltriger
fanden. Die Literatur dieser Zeit, angefangen bei Thomas Manns
"Buddenbrooks" über Hermann Hesses "Unterm Rad" bis zu Frank
Wedekinds "Frühlings Erwachen" oder Franz Werfels "Abiturientag",
bezeugt dies Elend eindrücklich.
Die Reformpädagogik erwies sich zunächst als Ausdruck eines
Unbehagens an seelenlosen, kasernenartigen Schulen, dann aber als
Inbegriff einer Hoffnung: darauf, durch Erziehung einen neuen
Menschen schaffen zu können, und zwar so, dass das Neue, das
jedem Kind innewohnt, vor dem Zugriff der Mächte von Großstadt,
Staat und Wirtschaft geschützt und in seiner Entwicklung gefördert wird.
Doch nicht nur die Jugend, eine weitere Gruppe des wilhelminischen
Bildungsbürgertums stand unter Druck: Die Gesellschaft des
Kaiserreichs verfolgte männliche Homosexualität. Wenig war im
Zeitalter des Militarismus so verpönt wie "Triebhaftigkeit", weshalb ein
offenes Ausleben homosexueller Wünsche undenkbar war. Wollte man
sich zur Homosexualität bekennen, musste man ihr einen besonderen
erzieherischen und kulturbildenden Wert zuschreiben.
2009 erinnerte Ang Lees Film "Making Woodstock" an ein Ereignis,
das wie kein anderes die populäre Kultur der 1970er-Jahre, ihre Musik,
ihre Kleidung und den Widerstand gegen den Vietnamkrieg prägen
sollte. Viele Jahre früher, 1913, fand hoch über der Werra, auf dem
Hohen Meißner, ein ähnlich bahnbrechendes Treffen statt: die
Jahrhundertfeier der deutschen Jugendbewegung zum Sieg Preußens
und seiner Verbündeten über Napoleon in Leipzig - entschiedener
Kontrapunkt zu den militaristischen Gedenkveranstaltungen des
Reiches. Die auf dem Hohen Meißner zu sich findende
Jugendbewegung wurde zwar von Jugendlichen getragen, war jedoch
von Männern erfunden, die ihre pädagogischen, ihre politischerotischen Utopien auf die Jugend projizierten. Zu nennen sind vor
allem die zwischen 1868 und 1888, den Jahren der Formation des
deutschen Nationalstaats, geborenen pädagogischen Intellektuellen
Gustav Wyneken, Hans Blüher, Hermann Lietz, Paul Geheeb und Kurt
Hahn. Gustav Wyneken, er gründete 1906 die "Freie Schulgemeinde
Wickersdorf", war etwa entscheidend an der Formulierung der 1913
verkündeten kulturrevolutionären "Meißner-Formel" beteiligt: "Die
Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener
Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese
innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein." 1920
wurde der bekennend bisexuelle Gustav Wyneken seines Amtes als
Leiter von Wickersdorf enthoben, weil er sexueller Kontakte mit zwei
Schülern überführt wurde.
Wyneken stand nicht allein. Als Vorkämpfer einer fehlgeleiteten Form
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homosexueller Emanzipation ist Hans Blüher zu nennen, ein früher
Sympathisant und Deuter der Wandervogelbewegung. Der Antisemit
und Frauenfeind Blüher verfasste 1912 als einer der wenigen Leser
Sigmund Freuds in völkischen Kreisen die Schrift "Der deutsche
Wandervogel als erotisches Phänomen", um 1917 in einem weiteren
Buch unter Hinweis auf das antike Griechenland zu behaupten, dass nur
männliche Homosexualität wahrhaft kulturbildend sei. "Der
mannmännliche Eros nämlich beruht auf der Gleichberechtigung, der
mannweibliche auf Unterwerfung. […] Diese tiefste Intimität des
Weibes - ich meine das Verlangen, vergewaltigt zu werden - wird
natürlich von der Ethik verdrängt, aber dadurch wird der Tatbestand
nicht aufgehoben. Er wirft vielmehr ein Licht auf Dinge wie
Frauenstimmrecht, Frauenbewegung, Mutterrecht, Frauenstaaten, die
so, wie sie gewöhnlich gesehen werden, unhaltbar sind."
Weniger am Eros denn an der Ertüchtigung des Volkskörpers war der
Gründer des Landerziehungsheims Haubinda, Hermann Lietz, ein
geistiger Nachfahr des Turnvaters Jahn, interessiert. Als Anhänger des
Antisemiten Paul de Lagarde setzte sich Lietz nicht nur für eine Lösung
der "Rassenfrage" ein, sondern ließ 1919 aus Genugtuung über die
Ermordung Rosa Luxemburgs die Flaggen über dem von ihm geleiteten
Heim hissen. Noch 1996 berief sich Gerold Becker auf Hermann Lietz,
der Lehrer als Freunde und Kameraden der Schüler verstehen wollte.
Anders als Blüher und Lietz agierte der einer jüdischen Familie
entstammende Protestant Kurt Hahn, der sich nicht von Platons
"Gastmahl", sondern von dessen Staatsidee inspirieren ließ. Das von
ihm 1920 gegründete Internat Schloss Salem sollte folgenden
Prinzipien folgen: "1. Gebt den Kindern Gelegenheit, sich selbst zu
entdecken. 2. Lasst die Kinder Triumph und Niederlage erleben.
3. Gebt den Kindern Gelegenheit zur Selbsthingabe an die gemeinsame
Sache. 4. Sorgt für Zeiten der Stille. 5. Übt die Phantasie. 6. Lasst
Wettkämpfe eine wichtige, aber keine vorherrschende Rolle spielen.
7. Erlöst die Söhne und Töchter reicher und mächtiger Eltern von dem
entnervenden Gefühl der Privilegiertheit."
Doch auch Hahn entging der Dialektik des pädagogischen Eros nicht:
Zwei Söhne Thomas Manns besuchten reformpädagogische
Landerziehungsheime. Klaus Manns Aufenthalt in der Odenwaldschule,
die er im Streit mit deren Gründer, Paul Geheeb, verließ, ist inzwischen
bekannt. Minder bekannt ist, dass Thomas Manns ungeliebter Sohn
Golo im Alter von 14 Jahren in Schloss Salem war, dort seine
Homosexualität entdeckte und deshalb von Kurt Hahn an einen
Psychiater verwiesen wurde - eine Empfehlung, die Hahn umgehend
Thomas Mann mitteilte. Inzwischen will die Forschung herausgefunden
haben, dass Hahn selbst homosexuell war, diese Neigung aber, anders
als Golo Manns Vater, bei sich bekämpfte.
Folgt nun aus dieser sehr deutschen Geschichte, die vor allem einen
missglückten Ausweg aus der sexuellen Repression des Kaiserreiches
nachzeichnet, dass "die Reformpädagogik" notwendig
männerbündisch, antidemokratisch sowie gemeinschaftsselig ist und
daher strukturell Übergriffe befördert? Gewiss nicht! Und zwar, weil
bislang weder Reformpädagoginnen wie Maria Montessori oder Minna
Specht erwähnt wurden noch die demokratische Reformpädagogik
John Deweys in den USA zur Sprache kam.
Dass die sexuellen Übergriffe in der Odenwaldschule den besten
Intentionen der Reformpädagogik, wo sie auf der Höhe ihres
Gedankens ist, widersprechen, bezeugen Leben und Werk von Janusz
Korczak, dessen Pädagogik als oberstes Prinzip "Das Recht des
Kindes auf Achtung" kennt und der der Frage, wie man ein Kind lieben
soll, ein ganzes Buch widmete. Korczak, der im Warschau der
Zwischenkriegszeit ein jüdisches Waisenhaus führte, begleitete in
letzter Wahrhaftigkeit die von ihm betreuten Kinder 1942 nach
Treblinka.
22.03.2011 10:17
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