Tages-Anzeiger» vom 1

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«Tages-Anzeiger» vom 1.11.2005, Seite 10
Die Bewegung der Marktrevolutionäre
Die Vorstellung einer dramatischen wirtschaftlichen Bedrohung der Schweiz ist so
verbreitet wie falsch. Blockiert ist höchstens das Denken.
Von Markus Diem Meier
Der Schweiz geht es angeblich grundschlecht. Auch wenn das kaum jemand persönlich
so wahrnimmt, so scheinen doch die meisten davon überzeugt. Anders ist kaum
erklärbar, dass die Vorstellung vom wirtschaftlichen Niedergang in der Öffentlichkeit
derart beliebt ist. Dieses Bild widerspricht nicht nur der ökonomischen Lage der Mehrheit,
es lässt sich auch mit Daten nicht bestätigen. Doch wie kommt es dann, dass es sich
dennoch derart stark verbreitet hat? Dafür lassen sich zwei miteinander verknüpfte
Gründe ausmachen: Ein erster Grund findet sich in einer verbreiteten und gestiegenen
Unsicherheit über die eigene wirtschaftliche Zukunft, die vor allem eine Folge der
zunehmenden Globalisierung und schärferer internationaler Konkurrenz ist. Damit
verbunden hat die Angst zugenommen, ob der Staat angesichts dieser Entwicklung
überhaupt noch schützend eingreifen kann.
Ein zweiter Grund ist das missionarische Wirken einer eigentlichen Bewegung. Diese
Bewegung weist keine einheitliche Struktur auf – vielmehr besteht sie zuweilen aus sich
heftig bekämpfenden Unterfraktionen – , doch wird sie insgesamt vom
Sendungsbewusstsein getragen, die Schweiz politisch und wirtschaftlich befreien zu
müssen. In unzähligen Zeitungsartikeln und Büchern, an Veranstaltungen landauf und
landab verkünden Professoren, Politiker und Publizisten, zuweilen im Verbund mit der
Organisation Avenir Suisse ( die sich selbst unbescheiden als Thinktank bezeichnet)
mantrahaft, dass unser Land wirtschaftlich schwer gefährdet sei und sich angesichts
dieser Bedrohungen radikale Massnahmen aufdrängen würden: So ist etwa zu hören und
zu lesen, die direktdemokratischen Rechte seien dem Gedeihen des Landes hinderlich,
ebenfalls der Föderalismus, die Konkordanz, die soziale Sicherung und selbst die
Bewohner der Alpentäler ( weil ebenfalls viel zu teuer).
Unpräzise könnte man diese Bewegung als « neoliberal » bezeichnen. Ich nenne ihre
Vertreter in meinem Buch* jedoch Marktrevolutionäre. Diese Revolution hat sich einer
ideologisiert aufgeladenen Form von « Markt » verschrieben, die es im Land
durchzusetzen gelte und vor allem der Bekämpfung des Staates.
Zum ersten Mal deutlich wahrnehmbar wurde diese Bewegung – abgesehen von noch
früheren Schriften hauptsächlich von Walter Wittmann und Silvio Borner – durch die
Weissbücher der 90er- Jahre. Die damals gemachten konkreten wirtschaftspolitischen
Vorschläge waren zwar nicht besonders radikal, vieles davon ist mittlerweile auch
umgesetzt worden. Doch in diesen vor allem von den Führern der grossen Konzerne
getragenen Schriften war bereits die Unzufriedenheit mit dem Land zu spüren, das für die
Anforderungen der neuen Welt als zu langsam und morsch erschien. Am deutlichsten
war das in einem Beitrag von Lukas Mühlemann zum Jahrtausendwechsel im « Magazin
» zu vernehmen. Der später wegen seiner Führung der Credit Suisse und wegen seiner
Mitverantwortung beim Swissair- Grounding erheblich diskreditierte Ex- McKinsey- Mann
forderte unter anderem ein Präsidialsystem und weniger Mitspracherechte, um das
Tempo in der Politik zu erhöhen. Kind der Weissbuch- Konzernführer war schliesslich
Avenir Suisse, die Organisation wurde auf Initiative dieser Manager hin gegründet und
wird noch heute von ihren Konzernen finanziert.
Die These von der bedrohten Schweiz konnte sich mittlerweile zu einer Art intellektuellem Hype entwickeln. Die Bewegung der Marktrevolutionäre findet dank der
verbreiteten Unsicherheit angesichts der weltweiten wirtschaftlichen Integration und der
damit zunehmenden Unsicherheiten und Abhängigkeiten ein grosses, aufnahmebereites
Publikum. Eine weitere Rolle spielt auch die Schwäche der traditionell führenden
politischen Parteien.
Das Muster der ganzen Auseinandersetzung erinnert stark an den Aktienhype vor
wenigen Jahren. An dessen Wurzel standen ebenfalls scheinbar durch die ökonomische
Wissenschaft gestützte Glaubenssätze. Und schon damals verstand kaum jemand
wirklich, was all die Professoren, Politiker und Journalisten eigentlich sagten. Das
hinderte aber auch in diesen Jahren kaum jemanden daran, die gängigen
Überzeugungen nachzuplappern. So konnte sich in der Öffentlichkeit eine Überzeugung
durchsetzen, für die bei genauem Hinsehen verblüffend wenig sprach: Nämlich dass ein
neues Zeitalter, eine « New Economy » angebrochen sei, die alle alten Regeln ungültig
mache. Folglich hielt man es bloss für ein wundersames Zeichen dieser neuen Zeit, dass
gerade jene Unternehmen, die nichts verdienten, an der Börse am deutlichsten zulegen
konnten.
Die Kampfbegriffe des heutigen intellektuellen Hypes heissen « Wachstumskrise » oder «
Reformstau » . Der Begriff « New Economy » des alten Hypes ist heute durch den der «
Globalisierung » abgelöst worden. Wegen ihr soll wiederum alles anders sein, sie würde
uns nun gehörig unter Druck setzen. Wer wüsste nicht auch noch eine Geschichte von
einem Unternehmen, das Jobs ins Ausland verlagert hat. Von Lobbygruppen, die sich auf
Kosten der Allgemeinheit Sondervorteile zugeschanzt haben. Von widersinnigen Regeln.
Von sozialen Leistungen, die ihres eigentlichen Zwecks entfremdet werden. Von der
Langsamkeit des politischen Prozesses.
Falsches Spiel mit Begriffen
Vielfach treffen diese Geschichten zu. Dennoch ist der Schluss falsch, dass Institutionen
wie die direkte Demokratie, die Konkordanz oder der Föderalismus grundsätzlich zu
morsch geworden sind, um angesichts der aktuellen Herausforderungen bestehen zu
können. Auf sie kann auch kein wirtschaftlicher Niedergang zurückgeführt werden, auch
wenn die Marktrevolutionäre das so darzustellen versuchen. Wie schon beim Aktienhype
hat auch dieser öffentliche Diskurs nur oberflächlich betrachtet etwas mit
volkswirtschaftlichen Erkenntnissen gemein – auch wenn er vorwiegend mit Begriffen aus
der Ökonomie geführt wird. Zwei Beispiele: Die Globalisierung – der Freihandel – ist
entgegen der verbreiteten Meinung keine Peitsche, die einem Land Konzessionen
abverlangt, damit es wirtschaftlich noch eine Zukunft hat. Das ist keine ketzerische
Ansicht, sondern eine uralte, wenn auch oft unverstandene ökonomische Erkenntnis.
Schon 1817 hat sie der britische Ökonom David Ricardo nachgewiesen. Seither wurden
Ricardos Überlegungen verfeinert, keineswegs aber widerlegt, auch nicht durch die
Praxis. Jedes Land kann durch Freihandel reicher werden, selbst dann, wenn es in jeder
Hinsicht weniger produktiv ist als ein anderes. Weshalb diese Erkenntnis so schwer zu
begreifen ist, hängt mit einem zweiten Missverständnis zusammen, das die öffentliche
Debatte dominiert: dass Länder gleich zu beurteilen seien wie Unternehmen. Tatsächlich
hängt die Existenz eines Landes nicht wie bei einem Unternehmen von seinen Verkäufen
an andere ab. Gewinne muss es ebenfalls keine erwirtschaften und Verluste –
Staatsdefizite – können in gewissen Situationen sogar genau das Richtige sein. Der
ganze Zweck eines Landes besteht ökonomisch gesehen nur darin, dass es seinen
Bewohnern möglichst gut geht. Auf Kosten dieses Zwecks zu sparen, wäre ökonomisch
widersinnig. Ist ein Land wirtschaftlich schwächer als andere, wird seine ökonomische
Lage – anders als bei Unternehmen – nicht durch die Besseren bedroht.
Was in der öffentlichen Auseinandersetzung untergeht: Selbst die These, dass sich das
Land wirtschaftlich auf dem Abstieg befindet, wird von den Marktrevolutionären
verblüffend dürftig belegt. Es stimmt, dass das am Bruttoinlandprodukt ( BIP) gemessene
durchschnittliche Wirtschaftswachstum der Schweiz im Vergleich zu anderen reichen
Ländern in den letzten 30 Jahren ziemlich gering war.
Doch ein genauerer Blick auf die Daten zeigt, dass die tatsächliche
Wirtschaftsentwicklung weit besser war, als es die offiziellen BIP- Zahlen suggerieren.
Schliesslich spricht vieles dafür, dass die tiefen durchschnittlichen Wachstumsraten der
Schweiz ein Ergebnis der schweren Wirtschaftskrisen in den 70er- und in den 90erJahren sind. Damals wurde unser vom Aussenhandel aussergewöhnlich stark
abhängiges Land heftig von Entwicklungen im Ausland betroffen. In beiden Fällen hat die
Nationalbankpolitik des « harten Frankens » die schlechte Lage noch verschärft und
verlängert.
Dagegen erwies es sich bisher trotz aller Polemik als unmöglich, grundschlechte
politische Strukturen, abzockende Lobbyisten, einen ausufernden Staat oder
Sozialschmarotzer als Krisenverursacher zu identifizieren. Dass die Staatsausgaben,
insbesondere jene für Soziales, vor allem in den 90er- Jahren deutlich angestiegen sind,
ist mehr Folge als Ursache der damaligen Krise. Denn dann fliessen weniger
Steuereinnahmen, während soziale Härten häufiger auftreten.
Dennoch: Wie rechtfertigt sich der Begriff Marktrevolutionäre? Der Schweiz geht es im
Vergleich zu anderen Ländern beneidenswert gut, aber sie ist nicht das Paradies. In
vielen Bereichen sind zweifellos Reformen nötig, und mehr Wachstum würde einige
Probleme entschärfen, so etwa die Sicherung der Altersvorsorge. Funktionierende Märkte
unter echten Konkurrenzbedingungen bewähren sich – wenn sinnvoll reguliert – in vielen
Bereichen ausserordentlich gut, um die Wünsche der Kunden effizient und zu möglichst
günstigen Preisen zu befriedigen. Und es finden sich immer Beispiele dafür, wo der Staat
verbessert oder sogar verschlankt werden kann. Gehört es daher nicht einfach zum
politischen Alltagsgeschäft, grundsätzlich berechtigten Anliegen mit deutlichen und
scharfen Worten besser Nachachtung zu verschaffen?
Das revolutionäre Feuer
Doch in diesem Fall geht es nicht um pragmatische Anliegen des alltäglichen
Politgeschäfts. Die Marktrevolutionäre fordern schliesslich nichts anderes als ein
grundsätzliches Wegräumen von dem, was die Schweiz ausmacht und womit sie
erfolgreich war: Das beginnt schon bei der Ablehnung der direkten Demokratie und geht
bis zur Fundamentalkritik an der Bereitschaft, auch Randregionen mitzutragen. Die Art,
wie diese Forderungen vertreten werden, hat ebenfalls wenig mit der gewohnten
Dramaturgie der Alltagspolitik gemein. Wie bei allen Revolutionären ist hier ein « heiliges
Feuer » zu spüren, ein Beseeltsein von der Gewissheit, für das Richtige und Bessere zu
kämpfen, eine Ablehnung jedes Zugeständnisses und eine nicht selten bis ins Mark
gehende Verachtung für das Bestehende. Linke Revolutionäre waren einst nichts
Geringeres zu akzeptieren bereit als die verwirklichte « sozialistische Gesellschaft » .
Jeder Kompromiss, jede Reform, die dieses Ziel nicht klar anzustreben schien, war
inakzeptabel, war Verrat. Die heutigen Revolutionäre haben eine ebenso verklärte Sicht
zu den Segnungen des « Marktes » und eine tiefe Abneigung gegen alles, was nach
Staat, Realpolitik oder unbefangener Untersuchung riecht. Zögernde, Nachfragende,
Kritisierende werden bereits zu ideologischen Feinden, wenn nicht zu Mitverantwortlichen
für das behauptete Desaster erklärt.
Die Verabsolutierung von Begrifflichkeiten und Konzepten war schon immer ein
wesentlicher und notwendiger Bestandteil revolutionärer Rhetorik. Schliesslich werden
klar fassbare, einfache Parolen benötigt. Von der linken wie « klassenlose Gesellschaft »
, « Abschaffung des Kapitalismus » oder « Sozialismus » Beispiele dafür. Das sind
Worthülsen, die niemand vernünftig definieren kann, die mehr den Bauch als das Gehirn
ansprechen, was ihren Nutzen für revolutionäre Rhetorik steigert. Die heutigen
Marktrevolutionäre benutzen in gleicher Weise vor allem die Begriffe « Staat » ( als
Feindbild) und « Markt » ( als Ideal) und – wie Revolutionäre unterschiedlichster Couleur
seit eh und je – den Begriff « Freiheit » .
Die Marktrevolutionäre werden das Land nicht auf den Kopf stellen können. Insofern sind
sie harmlos. Doch ihre Art aufzutreten und ihre kompromisslosen Forderungen können
bewirken, was sie zu verhindern vorgeben: dass jeder ebenfalls kompromisslos seine
Position zu sichern versucht und damit das Land tatsächlich vollends blockiert wird.
Markus Diem Meier: Was heisst hier liberal? Warum die Untergangspropheten falsch
liegen und die Schweiz zu beneiden bleibt. Verlag Rüegger, 2005. 39 Fr.
« Wachstumskrise » oder « Reformstau » heissen heute die Kampfbegriffe. Der
Zweck eines Landes besteht darin, dass es seinen Bewohnern gut geht.
BILD SABINA BOBST
Leere Fabrikhallen inWinterthur: In der Öffentlichkeit hat sich die Vorstellung vom wirtschaftlichen
Niedergang der Schweiz festgesetzt.
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