Filmskript zur Sendung „Überleben nach dem Sturm“ Sendereihe: Tiere und Pflanzen Stammnummer: 4681028 Der Tag danach - nach dem 26. Dezember 1999. Es war die Hölle, die Naturkatastrophe schlechthin. Im Nordschwarzwald 10% der Wälder wegrasiert - in einzelnen Revieren bis zu 60%. Die heißgeliebten Wälder: Kleinholz, Chaos! Mit bis zu 220 Stundenkilometer hat der Orkan "Lothar" eine Schneise der Verwüstung geschlagen, innerhalb nur einer Stunde Straßen und Bahnlinien blockiert, Häuser geknackt, Autos zermalmt. Ein immenser Sachschaden. In den Städten - vor allem aber im Wald. Bitter hat sich gerächt, dass großflächig Fichten auf ungeeigneten Böden aufgeforstet wurden. In das Chaos ziehen Tiere ein, die in den geschlossenen, dunklen Wäldern nie zu sehen waren: Ein Zaunkönig. Die Tiere profitieren von dem Licht, von den Verstecken, aber auch von der natürlichen Begrünung der freien Flächen. Selbst Amphibien, Frösche zum Beispiel, die wie aus dem Nichts an den kleinsten Wasserlöchern auftauchen. Soviel neues Leben rührt sich dort, wo die Windwurfflächen nicht fein säuberlich abgeräumt wurden. Eine Überraschung für den Wanderer: Viele Buchen, Eichen, Ahorn und z.T. auch Weißtannen haben den Urgewalten standgehalten. Fichtenmonokulturen dagegen - schön in Reih und Glied gepflanzt, alle gleich alt, ohne Struktur - tragen den allergrößten Teil der Waldschäden. Ganz anders die Mischwälder: Das volle Leben, eine Lebensgemeinschaft vieler Baumarten, stark abgestuft in Alter und Größe. Die meisten haben fast unbeschadet überlebt. Nichts mehr wird so sein wie früher - diese Prognose war richtig. Aber hier sieht man, wie sich ohne Zutun des Menschen - neue Lebensräume entwickeln. Weite Felder von Fingerhut und Tollkirschen, die sich innerhalb von nur einem Jahr breit gemacht haben und die den Boden feucht halten und schattig. Eine Kinderstube für den nächsten Wald. Die Biotope hier haben sich grundlegend gewandelt. Schnell leben in solchen Flächen 5-mal so viele Arten wie vorher im einheitlichen Fichtenwald. Wer hätte vor zwei Jahren daran gedacht, dass sich im ehemaligen Waldgebiet die Unke breit macht - ein Tier, das ernsthaft bedroht ist und auf der Roten Liste steht. Woher sie zugewandert ist - man weiß es nicht. Diese Aufnahme zeigt, warum die kleine Krötenverwandte Gelbbauch-Unke heißt. Auch für das Wild hat sich viel geändert: Die neuen Strukturen verändern den Lebensrhythmus grundlegend. Keine Angst mehr, bei helllichtem Tag auf freie Flächen kommen. Auch wenn oft vor Wildverbiss in den Naturverjüngungen gewarnt wird - frisches Gras, ein delikater Kräutermix ist immer noch viel begehrter als alle Bäume. Die Leckerbissen locken - Grassamen, zum Beispiel. Und das Chaos der Stämme und Äste bietet Sicherheit vor allzu aufdringlichen Menschen: Solche Bilder bei Tag waren selten vor "Lothar". Keine ängstliche Flucht - und auch keine Aggressivität. Ein ganz anderes Kapitel: vom Borkenkäfer befallene Wälder am Rande der Sturmwurfflächen. Blankes Entsetzen bei den Waldbesitzern, aber man darf nicht vergessen: Borkenkäfer hat es in unseren Wäldern schon immer gegeben. Und auch Windbrüche, von denen aus sie in beängstigenden Mengen ausschwärmen. Trotzdem war Deutschland schon immer ein Land herrlicher Wälder - auch vor einer aktiven Bekämpfung der Käferflut. In den sterbenden und toten Bäumen vermehrt sich milliardenfaches Leben, versteckt unter der Rinde. Dieser Buchdrucker ist nur etwa 3mm klein, der genauso gefürchtete Kupferstecher ganze 1-2mm. In der Bildmitte eine "Rammelkammer", die ein Männchen für 2-3 Weibchen anlegt und sich dort paart. Von hier aus fressen sich erst die Weibchen und dann die Larven weiter und zerstören das lebenswichtige Bastgewebe zwischen Rinde und Holz. Diese Winzlinge zerstören die größten Bäume. Aber selbst wenn es fast ironisch klingt: Der Borkenkäfer ist Teil des Ökosystems Wald. Das zuständige "Ministerium Ländlicher Raum Baden-Württemberg" hofft, dass auf 60% der zerstörten Waldflächen von selbst ein neuer stabiler Mischwald aufwachsen wird. Erst in 20 bis 30 Jahren müsste u.U. steuernd eingegriffen werden, wenn zu viele Fichten nachwachsen, weil sie sich in Monokulturen zu sehr ausgesät haben. Ziel ist ein Mix 2/3 Laubbäumen und 1/3 Nadelwald. Doch nicht überall entwickelt sich ein neuer Wald so schnell - die Geländestrukturen und Bodenqualitäten unterscheiden sich beträchtlich. Die natürliche Entwicklung verlangt manchmal viel Geduld. Weite Flächen bleiben vorerst frei - und genau hier hat sich eine andere, eine "neue Welt" © Planet Schule 2009 Filmskript zur Sendung „Überleben nach dem Sturm“ Sendereihe: Tiere und Pflanzen Stammnummer: 4681028 im Kleinstformat entwickelt: der Kosmos der Insekten. Faszinierend, wie schnell diese Lebensräume besetzt werden. Besonders verschiedene Doldenblütler wirken wie Magnete. Sie sind Nahrungsquelle und Tummelplatz zugleich. Leben und leben lassen gilt hier. Blattwanzen sind reine Vegetarier, verteidigen sich durch ihren Gestank. Doch fressen und gefressen werden ist das häufigere Prinzip. Die Wespe erbeutet eine Biene - trotz deren Giftstachel - und macht sie zum Abtransport fertig, entfernt die störenden Flügel. Und eine Spinne fängt Wespen, obwohl ein einziger Wespenstich sie selbst töten könnte. Die Krabbenspinne in Blütenfarbe ist so gut getarnt, dass all die Insekten um sie herum die tödliche Gefahr nicht erkennen. Unbeeindruckt geben sich die verschiedenen Bockkäfer. Eine Gelbhalsmaus. Niedlich oder ekelig - Mäuse sind wichtig für die ökologische Entwicklung. Diese Arten vermehren sich allerdings nicht so rasend schnell wie Feld- oder Hausmäuse. Als Pflanzen- und Körnerfresser sorgen sie für einen gewissen Ausgleich bei der Begrünung der ehemaligen Waldflächen. Und als Beutetiere sind sie Lebensgrundlage für viele, viele Räuber. Eine Erdmaus. So leben Füchse im Überfluss. Jäger und Gejagte. In dieser fast urweltlichen Region lebt auch ein kleines Säugetier, das die wenigsten je gesehen haben: der Gartenschläfer. Von der Abstammung her ein Nager wie sein Verwandter, der Siebenschläfer, aber mit dem Gebiss und den Vorlieben eines Insekten- und Schneckenspezialisten. Ein Räuber im Miniaturformat. Am Tag sucht er meist Schutz in guten Verstecken, alte Spechthöhlen sind gerade recht - im Schutz der Dämmerung fühlt er sich sicherer. Doch auch er bleibt ein Gejagter: Hauptfeinde sind Füchse und Eulen. Bei Eulen sind ebenso Spechthöhlen gesuchte Wohnungen. Und freie Flächen rund um einzelne Baumgruppen sind beste Reviere - der Name Waldkauz täuscht. Doch selbst die großen Eulen werden leicht zu Opfern: genauer gesagt ihre Brut. Der Baummarder räumt in manchen Gegenden mehr als die Hälfte aller Eulennester aus und verspeist Eier und Jungvögel. Eine Waldohreule. Auch sie lebt lieber in den ausgelichteten Waldrändern und in den Sturmwurfflächen. Dichte Wälder meidet sie, trotz ihres Namens. Sie brütet, im Gegensatz zu anderen Eulen, nicht in Höhlen, sondern in alten Krähennestern. Im Schönbuch bei Tübingen kann man erahnen, wie sich die Lothar-Flächen entwickeln werden. Denn viel alter Wald wurde hier durch die Orkane Vivien und Wiebke Anfang 1990 vernichtet. Heute ist der Boden lückenlos mit Grün überwuchert, alte Stämme vermodern. Ein neuer Wald präsentiert sich: Holunder, Lärchen, Vogelbeeren, Birken - oft schon 10 bis 15 m hoch. Und besonders wichtig für die Forstwirtschaft -junge Buchen, Eichen und Eschen - ein echter Mischwald. Mehr Mut zur Wildnis, zur ursprünglichen Natur. Das Prinzip, Windwurfflächen weitgehend der natürlichen Entwicklung zu überlassen, auf Naturverjüngung zu setzen, Sturmflächen nicht zu räumen - dieses Prinzip wird heute von Forstwissenschaftlern, vom Ministerium und den Forstdirektionen vertreten. So besteht die Chance, dass es als Folge der Sturmkatastrophen nicht nur Verlierer geben wird, sondern auch Gewinner. © Planet Schule 2009