Leseprobe zum Titel: Das Philosophenportal

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Doch Platon führt auch ganz neue Elemente ein. Die herrschende
Klasse ist eine Art sozialistischer Ordensgemeinschaft, in der sowohl die Sexualpartner als auch der Besitz allen gemeinsam sind.
Die normalen Familien- und Besitzstrukturen sind also hier aufgehoben. Frauen und Männer sind gleichberechtigt, das heißt, auch
Frauen können die Funktionen von Wächtern und Regenten wahrnehmen. Doch herrscht zwischen den Geschlechtern keineswegs
unbeschränkte sexuelle Freizügigkeit. Der Lebensstil der herrschenden Klasse ist eher asketisch und diszipliniert, um jede Versuchung
der persönlichen Bereicherung und Machtanhäufung zu vermeiden. Entsprechend ist auch der Sexualverkehr streng geregelt, um
den für den Staat besten Nachwuchs zu erzeugen. Dieser wird ebenfalls von allen gemeinschaftlich erzogen. Platon propagiert also eine
politisch motivierte Eugenik, eine Lehre von der Zucht der besten
Erbeigenschaften, wie sie versuchsweise auch von totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts durchgeführt wurde.
Am Beginn der Kinderaufzucht steht eine musische Erziehung,
begleitet von regelmäßigen Leibesübungen. Ziel ist es, körperlich
trainierten und ideologisch verlässlichen Nachwuchs heranzubilden. Die Möglichkeiten der musischen Erziehung sind allerdings
sehr eingeschränkt. Die Kunst darf nur erbauliche Inhalte vermitteln, das heißt solche, die die kriegerische Gesinnung stärken und die
ideologische Festigkeit nicht gefährden. Die im antiken Griechenland so populären Epen des Homer mit ihren Schilderungen von
Verrat, Grausamkeiten oder Festgelagen haben in Platons Staat keine
Chance, die Zensur zu passieren. In der Musik beschränkt sich das
Erlaubte auf »phrygische« und »dorische« Tonarten, welche die Tapferkeit und Besonnenheit stärken.
Während Platon die Rolle der Künste abwertet, hat er eine hohe
Meinung von der Mathematik, die er wie die Pythagoreer als eine
Brücke zur Philosophie ansieht. Mathematik gehört aber nicht
zum Pflichtprogramm, sondern wird nur für Freiwillige angeboten. Mit ihr beginnt eine spezielle geistige Ausbildung, die schließlich die Regenten von den Wächtern scheidet. Die wenigen künftigen Regenten werden ab dem dreißigsten Lebensjahr fünf Jahre
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lang in Philosophie unterrichtet und müssen danach noch fünfzehn Jahre lang in untergeordneten Staatsämtern dienen. Erst im
Alter von fünfzig Jahren werden die Besten von ihnen dazu ausersehen, die höchste Form philosophischer Erkenntnis, die »Idee
des Guten«, zu schauen. Dann haben sie den Status des Weisen und
damit des Philosophenkönigs erlangt und müssen ihr Leben teilen
zwischen der praktischen Regierungstätigkeit und der philosophischen Kontemplation.
Mit der »Idee des Guten« kommt Platons Ideenlehre, seine Theorie
der Wirklichkeit, ins Spiel. Sie erklärt auch, was Platon mit Weisheit
und Vernunfterkenntnis meint. Platon erläutert seine Ideenlehre
in dem berühmten Höhlengleichnis, einem Herzstück des Staats, in
dem er die Verbindung zwischen seinen politischen sowie seinen
metaphysischen und religiösen Vorstellungen herstellt.
Wie Gefangene leben die Menschen in einer Höhle, in die Schatten von Gegenständen geworfen werden, die sich im Rücken der
Menschen hinter einer Mauer bewegen. Diese Schattenbilder werden von den Menschen für die Wirklichkeit gehalten. Man stelle sich
nun vor, ein Gefangener befreite sich aus der Höhle, träte ins Tageslicht und erblickte mit der Sonne die wahre Wirklichkeit, kehrte
dann aber wieder in die Höhle zurück und berichtete den Mitgefangenen davon. Sie würden ihm wahrscheinlich zunächst nicht glauben, weil er, von der Erfahrung der Sonne geblendet, nun auch die
Schatten an der Wand undeutlicher sieht als vorher.
Die Höhle ist die Welt unserer normalen sinnlichen Wahrnehmung, deren Gefangene wir sind. Der die Höhle verlassende Gefangene ist der Philosoph. Er ist derjenige, der den Menschen Kunde
von der wahren Wirklichkeit gibt. Diese wahre Wirklichkeit außerhalb der Höhle ist die Welt der Ideen. Alles, was wir wahrnehmen,
hat demnach in der Welt der Ideen ein ideales Muster. Für die vielen
Tische, die wir wahrnehmen, gibt es eine Idee des Tisches, ebenso
wie auch für alle anderen wahrgenommenen Dinge eine Idee existiert. Der griechische Begriff für »Idee«, »eidos«, heißt eigentlich
»ideale Form«. Auch die Ideen befinden sich in einer abgestuften
hierarchischen Ordnung. An ihrer Spitze steht die Idee des Guten,
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das höchste Prinzip der Wirklichkeit, aber auch der Maßstab für Vernunft und tugendhaftes Handeln.
Für Platon gibt es vier Stufen der Wirklichkeitserkenntnis: Die
niedrigste wird repräsentiert durch die Kunst, die ein Abbild sinnlich wahrnehmbarer Dinge liefert. Danach kommt die sinnliche
Wahrnehmung, die selbst wiederum nur ein Abbild der Welt der
Ideen ist. Als Brücke zu den Ideen sieht Platon die reine Anschauung mathematischer Strukturen. Aber erst die Erkenntnis der Ideen
ist Ausweis der Weisheit und der wahren Vernunfterkenntnis. Mit
dieser Stufenfolge wird schließlich auch der niedrige Rang der Kunst
in Platons Staat begründet. Indem sie Abbilder von Abbildern liefert, ist die Kunst eine drittklassige und irreführende Erkenntnis
und in jeder Weise geeignet, von der wahren Wirklichkeit abzulenken.
Die Welt der Ideen ist, im Gegensatz zur sinnlichen Welt, ewig und
keinen Veränderungen unterworfen. In ihrer unverrückbaren Stabilität wird sie zum Vorbild für die Ordnung des Staates. Indem die Erkenntnis der Ideen den Regenten des platonischen Staats zugewiesen
wird, erhalten sie das entscheidende Herrschaftswissen, das zur Begründung ihrer politischen Stellung dient. Diese Erkenntnis darf
man sich aber nicht als einen rein intellektuellen Akt vorstellen. Sie
ist vielmehr eine Art Vision, ein Akt der Erleuchtung. Im antiken
Griechenland waren der Philosoph und der religiöse Seher noch
nicht streng voneinander getrennt. Dies gilt auch für Platons Philosophenkönige. Sie stellen einerseits die »akademisch« am besten ausgebildete Elite, haben aber andererseits, wie Priester, als Einzige direkten Zugang zu einer transzendenten Welt.
Diese religiöse Dimension des platonischen Staates wird durch das
Ende des Buchs bestätigt. Hier kehrt Platon nämlich noch einmal zu
dem Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und der menschlichen
Seele zurück. Auch wenn Gerechtigkeit nicht durch Eigennutz definiert werden darf, so gibt es doch so etwas wie einen »Lohn« gerechten Handelns im Jenseits. Schon in seinem Dialog Phaidon hatte Platon die These von der Unsterblichkeit der Seele vertreten. Nun fügt
er, in der Tradition der Pythagoreer, die Lehre von der Seelenwande-
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rung hinzu, die er in einer mythenhaften Erzählung an den Schluss
seines Buchs setzt.
Die Seele durchwandert nach dem Tod die Sphäre des Himmels
und büßt dort für ihre Vergehen. Danach wird ihr Gelegenheit gegeben, eine neue Lebensform, sei es als Tier oder als Mensch, zu
»wählen«. Platon wollte offenbar bekräftigen, dass das gerechte Leben in Verbindung mit einer Weltordnung steht, über die wir nicht
mehr mit rationaler Argumentation, sondern nur noch mit Hilfe
des Mythos sprechen können.
Im 20. Jahrhundert hat ein anderer großer politischer Philosoph,
Karl R. Popper, Platons Idealstaat als totalitär kritisiert. Begriffe wie
»Gerechtigkeit« oder »Idee des Guten« sollten in der Tat nicht den
Blick davor verschließen, dass dies ein von wenigen Auserwählten
gelenkter Staat ist, in dem Zensur herrscht und der Zugang zur Bildung nur wenigen Privilegierten gestattet ist. Platon ist mit seinem
elitären Konservatismus auch keineswegs repräsentativ für sein Zeitalter. Von dem vierzig Jahre älteren Philosophen Demokrit ist zum
Beispiel die Aussage überliefert, dass »die Armut in einer Demokratie um so viel besser ist als das so genannte ›Glück‹ am Hofe der
Mächtigen, wie die Freiheit besser ist als ein Sklavendasein«. Die politischen Meinungen gingen auch im alten Griechenland weit auseinander.
Dennoch war selbst ein so entschiedener Kritiker Platons wie
Popper fasziniert von dem »Zauber«, der von diesem kunstvoll konstruierten Entwurf einer in sich geschlossenen Gesellschaft ausgeht.
Platons ungeheure Wirkung in der europäischen Geistesgeschichte
beruht genau auf dieser visionären Kraft. Der Staat hat das gesamte
utopische Denken der europäischen Philosophie maßgeblich inspiriert. Dabei spielte auch immer wieder die Vorstellung einer weisen
und zugleich asketisch lebenden Machtelite eine Rolle.
In der Renaissance wurde das Werk zum Vorbild zahlreicher
Staatsutopien. Aber auch das von den Marxisten des 19. und 20. Jahrhunderts formulierte Ziel einer klassenlosen Gesellschaft trägt den
utopischen Keim in sich, den Platon gepflanzt hat. Platon hat die
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Herausforderung angenommen, die verlangt, dass Gerechtigkeit
nicht nur ein Wort oder eine Forderung sein darf, sondern auch mit
der konkreten Vorstellung eines Gesellschaftsmodells verbunden
sein muss. Er hat damit nicht nur die Fantasien der politischen
Philosophen bis heute angeregt, er hat auch an den tief verwurzelten
Traum der Menschen vom politischen Schlaraffenland gerührt.
Ausgaben:
Platon: Sämtliche Werke, Band 3: Phaidon, Politeia. Übersetzt von
F. Schleiermacher. Herausgegeben von W. F. Otto, E. Grassi und G.
Plamböck. Hamburg: Rowohlt 1958.
Platon: Der Staat. Übersetzt von R. Rufener. München: dtv 1998.
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