Vorwort Spiritualität von Kindern und Jugendlichen – manche Leser mögen über den Titel und Inhalt dieses Buches erstaunt sein. Gibt es das überhaupt? Und wenn ja, sind es nicht nur wenige, besonders empfindliche und gestörte Kinder, die es betrifft? Sind nicht andere Aspekte der kindlichen Entwicklung heutzutage viel wichtiger? Warum sollte man sich mit so flüchtigen Erlebnissen beschäftigen, die vielleicht nur eingebildet sind, rasch vergehen und keine Bedeutung haben? Ist das Ganze nicht esoterisch und pseudowissenschaftlich? Mit dieser Publikation möchte ich Schritt für Schritt aufzeigen, dass die Einwände nicht berechtigt sind. Spirituelle Erfahrungen bei Kindern und Jugendlichen … Wenn spirituelle Erfahrungen so häufig und bedeutsam sind, warum wird darüber nicht gesprochen? Spiritualität hat in wissenschaftlichen Kreisen immer noch etwas Anrüchiges an sich und wird schnell der Esoterik gleichgestellt. Der australische Jungianer David Tacey kritisiert eben diese Missverständnisse und die Abwehrhaltung in weiten Teilen der akademischen Welt: »Intellektuell läutet das Wort Geist/Seele [›Spirit‹] die Alarmglocken in den akademischen Hallen. Das Problem ist, dass viele Akademiker und Wis5 © 2012 W. Kohlhammer, Stuttgart • sind real: Sie können beobachtet werden, im Spiel und in Gestaltungen kommuniziert und von älteren Kindern und Jugendlichen auch verbal mitgeteilt werden – vorausgesetzt, dass sie bei ihrem Gegenüber auf Offenheit und Akzeptanz stoßen; • sind sehr häufig: Bis zu 90 % der Erwachsenen geben rückblickend an, dass sie als Kinder bedeutsame, spirituelle Situationen erlebt haben, zum Teil zu einem sehr frühen Zeitpunkt ihrer Kindheit; • können das Leben beeinflussen oder gar entscheidend verändern, d. h. ­wirkliche Wendepunkte darstellen. Sie können Richtungen vorgeben und die Basis für die Bewältigung späterer Lebenskrisen bilden. Wenn sie nicht anerkannt werden, können sie aber auch negative Auswirkungen haben: Kinder und Jugendliche fühlen sich dann ausgeschlossen und fremd, befürchten, verrückt zu sein oder dass mit ihnen grundsätzlich etwas nicht stimmt. Manche reagieren auch mit Scham oder Trauer. Die Erlebnisse werden in diesen ungünstigen Fällen rationalisiert, beiseite geschoben, verdrängt und verleugnet. senschaftler keinen Begriff von Geist/Seele [›Spirit‹] haben, außer in seinen prämodernen und altertümlichen Ausdrücken. Sie sehen jedes Gespräch über Spiritualität als rückwärts gewandt und regressiv, als eine Rückkehr zu den dunklen Zeiten«1. Bis auf wenige Ausnahmen wird Spiritualität in der akademischen Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht thematisiert und vom »Mainstream« der Forschung und Praxis ausgegrenzt.2 Die Idee zu diesem Buch entstand im Sommer 2006. Obwohl Spiritualität in der Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen eine wichtige Rolle spielt, ist sie sehr viel mehr als ein therapeutisch verwertbares Phänomen. Oft ausgelöst in der Natur oder in Krisen können spirituelle Erlebnisse in der Psychotherapie ihren Platz finden und in sie integriert werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie außerhalb der formalen Psychotherapiestunden auftreten, ist allerdings sehr viel größer – bei einer Therapiefrequenz von einer Stunde pro Woche verbringt ein Kind immerhin 167 Stunden pro Woche außerhalb der Psychotherapie. Neben dieser zeitlichen und räumlichen thematischen Ausweitung war es andererseits aber auch nötig, eine klare thematische Grenze zu ziehen: Das Buch beschäftigt sich mit Spiritualität – und nicht mit Religiosität und theologischen Fragestellungen. Spiritualität wird als intrinsische Eigenschaft jedes Menschen verstanden, sich transzendenten Erfahrungen, die über die eigene Person hinausweisen, zu öffnen. Im Gegensatz zur Religiosität, die historischen und gesellschaftlichen Einflüssen unterliegt, ist Spiritualität ubiquitär, als Potenzial in jedem Menschen angelegt und für jeden Menschen erfahrbar. Spiritualität und Religiosität schließen einander dabei nicht aus: Tiefe spirituelle Erfahrungen sind innerhalb eines etablierten religiösen Rahmens möglich und können zu einer Vertiefung des Glaubens führen. Religiosität ist allerdings keine Voraussetzung für Spiritualität – und natürlich kann Religiosität für viele Menschen hilfreich sein, ohne eine spirituelle Dimension zu haben. Ein weiteres Ziel war es, eine Idealisierung der kindlichen Spiritualität zu vermeiden. Statt zu spekulieren habe ich mich an Fakten orientiert und dazu quantitative und qualitative Studien sowie klinische Fallberichte verwendet, aber auch auf Beispiele aus historischen Dokumenten, Autobiografien und der Literatur zurückgegriffen. Bei der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Spiritualität ist es wichtig, eine Orientierung und Richtung auf der Reise nach innen zu haben. Vor fünf Jahren, als die Anfänge dieses Buches in mir zu gären begannen, stieß ich zufällig und fasziniert auf die Beschreibung einer äußeren Reise: Ryszard Kapuscinski war jahrzehntelang als Reporter in den Krisenregionen unserer Erde unterwegs. Selbst in extremen Situationen wurde er dabei von einem Autor begleitet, der 2500 Jahre vorher gelebt hatte: Überall auf der Welt nahm 6 © 2012 W. Kohlhammer, Stuttgart Vorwort Vorwort sich Kapuscinski Zeit für die Lektüre des griechischen Historikers Herodot und seine Sichtweise der modernen Welt wurde durch diesen idealistischen, revolutionären Empiriker und Abenteurer geschärft und geprägt. Für Kapuscinski war Herodot ein Idealist – er wollte das gesamte Wissen seiner Zeit sammeln und weitergeben. Es war nicht die Aussicht auf einen kurzfristigen materiellen Gewinn, die ihn antrieb. Herodot war Empiriker – er beobachtete genau und machte sich die Mühe, Angaben zu überprüfen, zu verifizieren und Gesagtes nicht einfach zu übernehmen. Herodot war ein wissenschaftlicher Revolutionär – er stellte viele für wahr gehaltene Thesen in Frage undschreckte nicht davor zurück, sich gegen die gängigen Lehrmeinungen zu stellen. Und nicht zuletzt war Herodot auch ein Abenteurer, der keine Mühen scheute, auch in sehr entlegene Regionen zu reisen. Die Seelenverwandtschaft dieser beiden durch Jahrhunderte getrennten Personen hatte die Qualität einer tiefen, persönlichen Freundschaft: »Ich stellte mir vor«, schreibt Kapuscinski, »er käme auf mich zu, wenn ich am Strand war, lege seinen Stock weg, schüttelte den Sand von den Sandalen und knüpfte sogleich ein Gespräch mit mir an.«3 Welche Reisebegleiter waren beim Schreiben dieses Buches zugegen? Zunächst William James (1842–1910), dem ich ebenfalls vor fünf Jahren das erste Mal »begegnete«. Dieser große amerikanische Psychologe hat mit seinem klassischen Werk »Die Vielfalt religiöser Erfahrung« die Grundlagen der modernen Psychologie der Spiritualität und Religiosität gelegt. Wie klar, wie präzise, wie modern wirkt seine Sprache selbst 100 Jahre später (das Werk erschien erstmals 1902). Pragmatisch und phänomenologisch blieb die Erfahrung die Grundlage für James Erkundigungen und Suche.4 Damit reiht er sich in die empirische Tradition moderner Forschung ein, die mit einer Fragestellung beginnt, die Methodik erläutert, beobachtet, misst, diskutiert und neue Fragen entwickelt. James wäre heutzutage bestimmt erfreut über die vielfältigen Weiterentwicklungen seiner Beobachtungen – auch über die Diskussion zur kindlichen Spiritualität. Der zweite Wegbegleiter ist der schweizer Tiefenpsychologe C. G. Jung, dessen Schriften ich zum ersten Mal im Alter von 16 Jahren begegnete und dessen Einsichten ich durch eine eigene Analyse erfahren durfte. In der analytischen Psychologie C. G. Jungs erfährt die spirituelle Erfahrung eine besondere Wertschätzung. Jung wählte als Bezeichnung für die Spiritualität den Begriff des Numinosen. Die besondere Qualität der numinosen (oder spirituellen) Erfahrung deutet nach C. G. Jung darauf hin, dass überpersönliche, d. h. »autonome« Bereiche der Psyche angesprochen werden, die sich dem Ich und dem Willen nicht unterordnen lassen. Auch C. G. Jung sah sich als Empiriker, der sich auf die Phänomenologie der spirituellen Erfahrung be7 © 2012 W. Kohlhammer, Stuttgart schränkt. Er machte »weder Aussagen über metaphysische Gegebenheiten, noch gibt er theologische bzw. religionswissenschaftliche Interpretationen, meint eben so wenig bestimmte Glaubensformen oder Bekenntnisse.«5 Wie Kapuscinski Herodot, »höre« ich beim Lesen seiner Schriften C. G. Jung zu mir sprechen. Als ich zum ersten Mal diesen weisen alten Mann in Interviews in einem schweizer-deutsch eingefärbten Englisch hörte, kam er mir ganz vertraut vor. Der letzte Reisebegleiter ist Siddharta Gautama, der später der Buddha genannt wurde und wie Herodot vor 2500 Jahren lebte. Buddha, eine historische Person, zeigte einen Weg der inneren Entwicklung auf, der von allen Menschen zu allen Zeiten bestritten werden kann. Der Buddhismus wurde als die »psychologischste der Religionen und die spirituellste der Psychologien« beschrieben.6 Ebenfalls als radikaler Empirist erklärte er, nur der Erfahrung zu vertrauten, jede Lehrmeinung in Frage zu stellen und nur das zu akzeptieren, was von der Erfahrung und subjektiv als wahr erkannt wird. Als er gefragt wurde: »Woher weiß man, wenn jemand die Wahrheit sagt?«, antwortete er: »Akzeptiere nichts nur aufgrund von Traditionen, Lehrmeinungen, Büchern, Logik, einer plausiblen Theorie, der anscheinenden Kompetenzen eines Redners oder Respekt vor einem Lehrer …«7. Zu Fragen der Religion und der Metaphysik schwieg Buddha weise. Diese Fragen sind für die innere Entdeckungsreise nicht von Bedeutung. Obwohl Buddhas Worte leider nicht in Filmen (wie bei C. G. Jung) zu hören sind, klingen seine Worte in seinen Lehrreden so lebendig, als ob er sie direkt gesprochen hätte.8 Vierzig Jahre wanderte er umher in Nordindien an Stätten, die auch heutzutage vorhanden sind. Man kann sich gut vorstellen, wie er von Ort zu Ort pilgerte, bereit auf jede Frage zu antworten und mit jedem, der ihn ansprach in einen Dialog zu treten.9 Zuletzt möchte ich all Denjenigen danken, die bei der Entstehung des ­Buches unterstützend mitgewirkt arbeiten. Mein Dank gilt zunächst Herrn Ruprecht Poensgen vom Kohlhammer Verlag, der die Idee zu diesem Buch sofort positiv begrüßte und dafür sorgte, dass sie verwirklicht werden konnte. Ich danke auch Kollegen, denen ich in Seminaren einige Ideen und Beobachtungen zugemutet habe bevor sie ganz ausgereift waren. Ihre kritischen Anregungen und Diskussionsbeiträge waren sehr hilfreich für den Klärungsprozess. Interessanterweise gab es zwei Gruppen von Teilnehmern, denen ich begegnet bin: Solche, die die Ausführungen nicht verstanden und die mir dabei halfen, Ideen und Formulierungen zu präzisieren und zu einer ein­ fachen Sprache zu finden. Bei der zweiten Gruppe traf das Thema der Spiritualität auf eine sofortige emotionale Resonanz und viele teilten Erinnerungen aus ihrer eigenen Kindheit mit, die sie zum Teil noch nie erzählt hatten. Beiden danke ich sehr. 8 © 2012 W. Kohlhammer, Stuttgart Vorwort Vorwort Danken möchte ich auch Freunden, die mir in Diskussionen wertvolle Rückmeldungen gaben. Insbesondere danke ich Charlotte Keller, die mir mit ihrer großen Belesenheit so viele Hinweise schickte, dass sie in dieser Ausgabe gar nicht alle verwertet werden konnten. Von Roger Freeman erhielt ich nach einem sehr intensiven Gespräch ein plötzliches Überraschungspaket aus Vancouver mit vier Büchern zur kindlichen Spiritualität und eines zu den Bildern des kanadischen Malers Tom Thomson, der seine Naturspiritualität in Bildern mit leuchtenden Farben weitergab. Danken möchte ich auch meiner Frau Frigga von Gontard, die mich wie immer in diesem Unterfangen unterstütze und viele Literaturhinweise gab. Beim Schreiben des ersten Manuskriptes erhielt ich eine große Unterstützung von Frau Birgit Weber und Frau Vincenza Iacolino, die das Diktierte mit viel Arbeit in die erste Textfassung transformierten. Ganz besonders danken möchte ich meinen Patienten, die mich über viele Jahre in Spiel, Bildern und Worten an ihren inneren Erfahrungen haben teilnehmen lassen. Es ist ein großes Privileg jeden Tag mit jungen Menschen in den ersten Jahren ihres Lebens in Kontakt treten zu dürfen und gegenseitig von einander zu lernen. Es wäre mir eine Freude, wenn dieses Buch zu einer Exploration und Wertschätzung der Spiritualität beitragen könnte – in der Arbeit mit Patienten (seien es Kinder, Jugendliche oder Erwachsene) und im eignen Erleben. Alexander von Gontard 9 © 2012 W. Kohlhammer, Stuttgart Homburg, Herbst 2012