Die internationale Rolle der Türkei - Konrad-Adenauer

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_____________________________________________________________________AK Junge Außenpolitiker
Konferenzbericht
Die internationale Rolle der Türkei:
Sicherheit, Wirtschaft, Gesellschaft
Istanbul, 19. – 20. Oktober 2006
Vom 19. bis 20. Oktober 2006 tagte der Arbeitskreis Junger Außenpolitiker der
Konrad-Adenauer-Stiftung in Istanbul auf Einladung der KAS-Außenstelle Türkei.
Zusammen mit türkischen Experten aus den Bereichen Außen-, Wirtschafts- und
Gesellschaftspolitik wurde die Frage nach der internationalen Rolle der Türkei diskutiert. Inhaltlich konzentrierten sich die Debatten auf drei wichtige Bereiche türkischdeutscher Interaktion:
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Sicherheitspolitische Risiken,
Wirtschaftliche Perspektiven und
Gesellschaftspolitische Entwicklungen.
Leitmotivisch zogen sich dabei unterschiedliche Vorverständnisse der türkischen und
deutschen Teilnehmer über die mentale Verortung der Türkischen Republik durch die
gesamte Konferenz, die viele – nicht nur semantische – Missverständnisse zwischen
Deutschland, der Europäischen Union und der Türkei zu erklären vermögen:
Ganz selbstverständlich sprachen die deutschen Teilnehmer von „der Türkei“ und
„ihrer Region“ – meinten damit aber immer den Nahen und Mittleren Osten, niemals
„Europa“. Seit Atatürk ("Hebt Euren Blick nach Westen!") wirkt aber der Elitendiskurs
in der Türkei in die entgegengesetzte Richtung: Die Türkei gehöre nicht zum Mittleren Osten, von deren Problemen und Entwicklungshemmnissen der spezifisch türkische Prozess der „Verwestlichung“ sich ja gerade absetzen will. Die türkischen Teilnehmer sahen die Türkei eindeutig als europäische Macht, die historisch und kulturell
mit Europa verwachsen ist. Die gemeinsame, auch konfliktive Geschichte zwischen
dem christlichen Abendland und dem muslimischen Orient betrachteten sie nicht als
trennendes, sondern als verbindendes Element zwischen diesen beiden einst antagonistischen Kulturräumen.
Eine „Brücke“ zwischen Orient und Okzident solle die Türkei denn auch nicht sein,
sie stehe nicht zwischen den Kulturräumen, sondern fest im europäischen Lager.
Von einer "gemeinsamen europäischen Identität" der Türken und Deutschen wird
daher im letzten Kapitel noch die Rede sein.
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I. Sicherheitspolitische Risiken und Chancen
im regionalen Umfeld
Die geographische Lage der Türkei als Brücke zwischen dem europäischen Festland
und dem Mittleren Osten sowie als Nachbar gleichermaßen rohstoff- wie konfliktreicher Regionen eröffnet dem Land sowohl sicherheitspolitische Chancen als auch
Risiken.
1. Sicherheitspolitische Ausgangslage und regionales Umfeld
Es herrschte Konsens, dass die Türkei als erstarkende Wirtschaftsmacht mit einer
Bevölkerung von 70 Millionen und schon jetzt erheblichen militärischen Kapazitäten
(Truppenstärke 2005: ca. 514,000; Verteidigungsausgaben 2005: $ 9,8 Milliarden,
d.h. 3,9% des BIP), die dazu noch fest in die internationalen Sicherheitsstrukturen
von NATO und OSZE eingebettet ist, in der Lage sein sollte, eine tragende Rolle bei
der Stabilisierung ihres regionalen Umfelds zu spielen. Die hohen Verteidigungsausgaben sind eine Reaktion auf das nähere sicherheitspolitische Umfeld der Türkei. Sie
lassen darauf schließen, dass sie auf eine Friedensdividende zugunsten einer stärkeren auch militärischen Rolle in der Region verzichtet hat.
Unerlässlich ist dabei jedoch ein verstärktes Bemühen der türkischen Regierung, die
zahlreichen Chancen zur regionalen Zusammenarbeit im Bereich der Konfliktbewältigung auch zu nutzen. Zwar hat sich die Türkei seit dem Ende des Kalten Krieges vor
allem in der Schwarzmeerregion als konstruktiver regionaler Player erwiesen und
sich vom „Sicherheitskonsument“ zum „Sicherheitsproduzenten“ gewandelt, der
hinter einer ganzen Reihe von gemeinsamen Sicherheitsinitiativen rund um
(Schwarzmeerwirtschaftskooperation SMWK, verstärkt auch NATO) und auf dem
Schwarzen Meer (BLACKSEAFOR) steht. Nach einer aktivistischen außenpolitischen
Phase in den 1990ern ist das Engagement der Türkei allerdings zurückgegangen.
Daher sollte sie sich deutlicher in den dementsprechenden regionalen Fora, wie zum
Beispiel der SMWK oder der Black Sea Cooperation Initiative, einzubringen. Nach
Ansicht der Seminarteilnehmer bieten vor allem die schwelenden Konflikte in BergKarabach und dem Nordkaukasus sowie grenzübergreifende Projekte wie die Erschließung und Absicherung neuer Transit- und Energiekorridore solche Chancen
zur multilateralen Zusammenarbeit und damit zur Stärkung der regionalen Identität
der Türkei.
Allerdings dürfen die vielen sicherheitspolitischen Risiken, die aus dem komplexen
strategischen Umfeld erwachsen, nicht unterschätzt werden. Zu diesen Risiken
zählen vor allem:
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der globale Wettstreit um Zugang zu den Rohstoffen der Region und die damit
im Zusammenhang stehenden regionalen Spannungen,
die teils offen ausgetragenen Sezessionskonflikte innerhalb der angrenzenden
ehemaligen Sowjetrepubliken (z.B. Ossetien und Abchasien in Georgien),
Russlands wiedererstarkte Rolle
sowie die derzeitige Situation im Irak und Iran.
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Obwohl der letzte Punkt separat diskutiert wurde, so ist er doch als integraler Bestandteil des sicherheitspolitischen Umfelds der Türkei zu sehen, da er vor allem
durch die Kurdenproblematik besondere Brisanz erhält. Nach Ansicht der türkischen
Teilnehmer würde die Gründung eines kurdischen Staates im Nordirak als Folge der
staatlichen Fragmentierung die Unabhängigkeitsbemühungen der 15 Millionen in der
Südtürkei lebenden Kurden weiter verstärken und zu starken innen- und außenpolitischen Spannungen führen. Die Auswirkungen wären weit über die Region hinaus zu
spüren. Diese Problematik wird durch die Unterstützung des iranischen Regimes für
die kurdische Arbeiterpartei PKK weiter internationalisiert und entzieht sich daher,
wie auch die anderen bereits angesprochenen Herausforderungen, einem unilateralen türkischen Lösungsansatz.
2. Türkei und Europäische Union, deutsche europäische Rolle in der Region
Erschwert wurde die multilaterale Rolle der Türkei traditionell durch ein türkisches
Souveränitätsverständnis, das nicht nur die regionale Zusammenarbeit merklich
einschränkt, sondern eben auch die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen
Union kompliziert. Denn in der Türkei herrschen noch immer souveränistische Reflexe, die von einem (klassischen) Nationalstaatsverständnis herrühren, das einst von
einem absoluten und unteilbaren Souveränitätsbegriff ausging. Dies bedeutete klassischerweise die Unteilbarkeit der Staatselemente Territorium (kein „Kurdistan“), Volk
(keine Minderheitenrechte, Türkentumartikel in Verfassung und Strafrecht), Staatsgewalt (Sonderrechte des Militärs als „Hüter des Kemalismus“). Jegliche Relativierung der Staatselemente muss in diesem Verständnis ein Angriff auf den Staat sein.
Nicht zuletzt daher rühren die türkischen Sensibilitäten in der Kurden- und Religionsfrage. Es erklärt aber auch die ewige Lücke zwischen Unionsforderungen und türkischer Realisierung in den Beitrittsverhandlungen und die daraus resultierenden
gegenseitigen Frustrationen. Der Anpassungsprozess des türkischen Staatsverständnisses an den europäischen mainstream, der jahrzehntelange Erfahrung im
Poolen von Souveränität aufweist und der nationale Letztentscheidungsgewalten im
dichten Politikraum EU vermengt, ist im vollen Gang. Das Land wandelt sich zum
konstruktiven Regionalakteur, indem es die Schwarzmeerregion stärker ins Bewusstsein der Union rückt und auch die Reformpakete, die aufgrund der EUVerhandlungen geschnürt wurden, verändern dieses Selbstverständnis nachhaltig.
Auch das gehört zum schmerzhaften „Europäisierungsprozess“ der Türkei.
Andererseits hat die Beitrittsdebatte auch den (sicherheitspolitischen) Horizont der
EU geweitet. Der Kaukasus und der Nahe und Mittlere Osten sind damit gedanklich
näher an die Union herangerückt. Die Konflikte im Kaukasus wie auch die neuen
Energiekorridore in der Region eröffnen daher auch Chancen für die europäische
(und deutsche) Außenpolitik, in dieser geostrategisch wichtigen Region gestaltend zu
wirken.
Derzeit stellt sich die Europäische Außenpolitik in der Region als wenig kohärent dar.
Der Prozess der außenpolitischen Harmonisierung zwischen den Mitgliedsstaaten
steht hier noch am Anfang. Die deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr
2007 wird daran – trotz eines Fokus auf Energiefragen – nichts Substantielles ändern. Zwar bleibt die Union an einer Konfliktregelung in der Region interessiert, doch
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zu sehr ist ihre Wahrnehmung noch von einer allgemeinen Angst gekennzeichnet,
sich das „Pulverfass Kaukasus“ und den instabilen Nahen Osten als Nachbarregionen aufzubürden – und damit diese Konflikte in die europäische Peripherie zu importieren. Dabei könnte die Region und mit ihr die Türkei von europäischen Demokratisierungsbemühungen (ohne EU-Beitrittsperspektive) dort entscheidend profitieren.
Die Europäische Union hätte genügend Gründe, sich dort stärker zu engagieren. Die
Türkei könnte und sollte dabei auch vor einer Mitgliedschaft fest eingebunden werden.
3. Fazit
Sicherheitspolitisch kommt der Türkei eindeutig eine Führungsrolle in der Region zu:
Sie ist militärisch der stärkste Akteur in der Region, dort erfolgreich diplomatisch
engagiert, energiepolitisch als Transitstaat wichtig und durch ihre Westbindung und
Demokratie für die Europäische Union und die Vereinigten Staaten ein attraktiver
Partner, der im volatilen Kaukasus und Nahen Osten im besten Sinne stabilisierend
wirken kann. Insbesondere in Hinsicht auf die EU kann sie den Multilateralismus in
der Region stärken und die Rolle eines „security providers“ spielen, der damit seinen
strategischen Wert für die Union weiter steigert. Denn auch die im weitesten Sinne
sicherheitspolitischen Stabilisierungsbemühungen der Türkei in dieser schwierigen
Region stehen im Kontext ihres eigenen Wegs in die EU.
II. Wirtschaftliche Perspektiven und Herausforderungen
Vor dem Hintergrund der Aufwertung der (sicherheits-)politischen Rolle, welche die
Türkei derzeit erlebt, ist die Analyse und Bewertung ihrer ökonomischen Voraussetzungen für eine solche Rolle zentral. Eine regionale Führungsrolle an der strategischen Schnittstelle zwischen Europa, Rußland, dem Kaukasus und dem Nahen
Osten bedarf tragfähiger wirtschaftlicher und finanzieller Voraussetzungen. Diese
Tragfähigkeit kommt aber nicht nur in einem dominanten Bruttosozialprodukt (BSP)
zum Ausdruck, dass die Ökonomien angrenzender Staaten beflügeln kann, sondern
auch in der Stabilität der Währung, solider Haushalts- und Finanzpolitik sowie der
festen Einbindung in die internationale Handelspolitik.
1. Ökonomische Ausgangslage
Seit der tiefen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2001 hat die Türkei eine durch den
Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank angeleitete Politik der strukturellen Reformen durchgeführt. Hierbei wurde v.a. die Unabhängigkeit der Zentralbank gestärkt, Privatisierungen in den Sektoren Energie, Telekommunikation und
Bankwesen durchgeführt sowie über eine strenge Fiskalpolitik die Staatsverschuldung erheblich gesenkt. Folgende wirtschaftlichen Eckdaten belegen die Erfolge
dieser Strukturreformen:
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Zwischen 2002-2005 hat die Türkei ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 7,5% erreicht (alleine 2004: 8,9%);
Zwischen 2002 und 2005 fiel die Inflation von 45% auf 7,7%;
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Absenkung der Arbeitslosigkeit auf 10,3% (2004);
Direktinvestitionen stiegen 2005 auf $ 9,6 Mrd.
Aufgrund dieser Leistungen konnte sich die Türkei im Global Competitiveness Index
(GCI) des World Economic Forum um 12 Plätze auf Rang 59 (von 125 Staaten)
hocharbeiten. Damit hat die Türkei die Instabilität und strukturellen Defizite der
1990er Jahre überwunden.
Trotz dieses beeindruckenden Wachstumsprozesses weist der Zustand der türkischen Wirtschaft weiterhin gewisse Risiken auf. Nach wie vor stellt die Landwirtschaft einen wichtigen Sektor der türkischen Wirtschaft dar, der zwar nur ca. 12%
zum BIP beiträgt, aber damit immer noch 34% der Bevölkerung Arbeit gibt. Auch die
Neuverschuldung liegt trotz aller Sanierungserfolge immer noch zu hoch (2005: 5,9%
des BIP). Dieses Defizit wird zu einem hohen Anteil über kurzfristigen Kapitalzufluß
aus dem Ausland gedeckt, was wiederum die Abhängigkeit von externen Investoren
signifikant erhöht hat. Auch die Arbeitslosigkeit ist noch nicht zufriedenstellend reduziert worden, während parallel die Reformen im Sozialsektor nicht vorankommen.
Aufgrund dieser weiterhin gegebenen makroökonomischen Ungleichgewichte hat
sich die Türkei im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften, die in den 1990er Jahren
ähnlich schwere Krisen zu bewältigen hatten, nachrangig entwickelt (z.B. Rußland,
Brasilien, Argentinien, Südkorea, Thailand).
2. Beziehungen der Türkei zu Deutschland und der Europäischen Union
Die ökonomischen Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland sind für die
Türkei von herausragender Bedeutung, da Deutschland seit vielen Jahren der wichtigste Handelspartner ist. Der Export der Türkei nach Deutschland sowie der Import
deutscher Waren in die Türkei weisen ungefähr die gleiche Größenordnung auf (ca.
13 - 14% an den jeweiligen Gesamtvolumina), womit Deutschland jede achte Lira
beisteuert, die die Türkei mit ihrem Außenhandel verdient. Der größte Anteil der in
der Türkei getätigten Auslandsinvestitionen stammt ebenfalls aus Deutschland,
wobei seit 1980 über $ 4,5 Mrd. in der Türkei geflossen sind. Die Zahl türkischer
„Töchter“ deutscher Mutterunternehmen sowie die gemeinsamer Joint-Ventures liegt
bei über 2.000. Zusätzlich stellen die deutschen Besucher in der wichtigen Tourismuswirtschaft die größte Gruppierung (4 von 20 Mio. Besuchern in 2005). Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten erleben vor diesem Hintergrund
ein dynamisches Wachstum.
Seit 1963 ist die Türkei mit der EU über ein Assoziierungsabkommen verbunden, um
die gegenseitigen Handels- und Wirtschaftsverbindungen zu stärken. Im Jahre 1996
trat die Zollunion zwischen beiden Seiten in Kraft, die Industriegüter abdeckt, jedoch
bei Landwirtschaft, öffentlichen Beschaffungen und Dienstleistungen Ausnahmen
macht. Gleichwohl hat mit diesem Abkommen die gegenseitige Wirtschaftspartnerschaft einen festen institutionellen Rahmen erhalten. Die EU rangiert bei Exporten
wie Importen für die Türkei an erster Stelle, während bei den EU-weiten Exporten die
Türkei an sechster und bei Importen an siebter Stelle liegt. Im Jahre 2001 floß Kapital in Höhe von € 200 Mio. von der Türkei in die EU, während € 1,4 Mrd. von der EU
in die Türkei gingen.
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Aufgrund Ihres Status als Schwellenland, das bereits über etablierte Wirtschaftsbeziehungen zu den Staaten der EU verfügt, kommt der Türkei eine wichtige Rolle als
Vermittler zwischen Industrie- und Entwicklungsländern zu. Hierbei bietet sich v.a.
eine politische Führungsrolle in den laufenden Verhandlungen der Doha-Runde im
Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) an. Die zentralen Konflikte der Verhandlungen zwischen den Staatenblöcken konzentrieren sich auf die am meisten
geschützten Wirtschaftssektoren: Agrarprodukte sowie Textilien. Beide Bereiche
haben auch für die Türkei große Bedeutung, weshalb sie mit einer konsequenten
Liberalisierung politische Führung in der WTO übernehmen und somit ihren internationalen Einfluß ausbauen könnte.
3. Fazit
Die Türkei verfügt über gute Ausgangsbedingungen, um eine regionale Vormachtstellung auch ökonomisch ausfüllen zu können. Neben der geographischen Lage als
Schnittpunkt von Warenströmen verfügt sie heute über eine im Vergleich zur EU sehr
junge Bevölkerung, bei der ca. 45% unter 14 Jahren liegen. Diese intakte Alterspyramide stellt einen großen Binnenmarkt mit entsprechender Nachfrage sicher und
verschafft der türkischen Wirtschaft eine solide Ausgangsbasis. Auch die Kombination aus der derzeit gegebenen Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung mit der für
die Region hohen Stabilität des politischen Systems bedeuten für die Türkei entscheidende Vorteile.
Gleichwohl dürfen die Nachteile der wirtschaftlichen Entwicklung nicht übersehen
werden: niedrige Produktivität, gestiegene Arbeitskosten, ausgeprägte Bürokratie,
der mangelnde Schutz geistigen Eigentums sowie eine immer noch erhebliche
Schattenwirtschaft. Auch der protektionistische Schutz des Agrarsektors könnte die
Fortentwicklung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen EU und Türkei belasten. Im
Falle eines Beitritts 2015-2020 stellte die Türkei als dann größter Mitgliedsstaat der
EU nicht nur erhebliche Integrationsanforderungen an die politischen Institutionen
der Union, sondern auch an ihre finanz- und infrastrukturpolitischen Instrumente (z.B.
durch die Inanspruchnahme europäischer Fonds).
Unabhängig von einem tatsächlichen Beitritt sorgte jedoch die Beitrittsperspektive für
die Durchführung und die inhaltliche Ausgestaltung wichtiger Reformen, weshalb die
Aufrechterhaltung dieser Perspektive für die türkische Wirtschaftspolitik auch in
Zukunft von hoher Bedeutung ist. Die türkische Wirtschaft befindet sich in einem
Transformationsprozess, der ihre hohe Abhängigkeit von Agrarwirtschaft und
Schwerindustrie verringert und die Struktur in Richtung Dienstleistungssektor diversifiziert. Um diesen Prozeß erfolgreich fortsetzen zu können, muß die Türkei am Reformpfad der letzten Jahre festhalten. Geschieht dies, verfügt sie aufgrund ihres sich
weiter entwickelnden Potentials über die ökonomischen Voraussetzungen für eine
Vormachtrolle in der Region.
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III. Gesellschaftspolitische Entwicklungen
Für die Frage nach gleichlaufenden bzw. divergierenden Entwicklungen auf gesellschaftspolitischer Ebene sind zwei Aspekte von besonderem Interesse: die Achtung
der Religionsfreiheit in Deutschland und in der Türkei sowie die jeweiligen Erwartungen im Hinblick auf die Integration der türkischen Gemeinschaft in Deutschland.
1. Grenzen der Freiheit:
die politische Bedeutung von Religion und Menschenrechten
Dieser weit gefasste Titel lässt sich zuspitzen auf die Fragestellung, inwieweit die
Garantie der Religionsfreiheit als Menschenrecht seitens der deutschen und der
türkischen Politik de jure und de facto respektiert wird. Entscheidend hierfür ist die
Achtung der individuellen und kollektiven Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben.
Wenn auch aus verschiedenen Gründen, ist diese Thematik dennoch in beiden
Ländern aktuell. In Deutschland erfordert der gestiegene Anteil muslimischer Gläubiger in der Bevölkerung eine Anpassung des traditionellen Umgangs mit dem Recht
auf Religionsfreiheit an diese neuen Gegebenheiten. In der Türkei hingegen setzt
eine Annäherung an die Europäische Union die grundlegende Reform des religionspolitischen Regelwerks im Sinne europäischer Standards voraus.
1.1 Die Entwicklungen in Deutschland
Auf Ebene des Bundes wie der Länder zeichnen sich bereits erste, vorsichtige Reformschritte ab, um das Recht auf Religionsfreiheit in allen seinen Facetten an die
veränderten demographischen Bedingungen anzupassen.
Zur Achtung der individuellen Religionsfreiheit wurde der Religionsunterricht an
staatlichen Schulen, der traditionell den römisch-katholischen und protestantischen
Glauben vermittelt, zum Teil durch einen neutralen Ethikunterricht ersetzt, zum Teil
um die Lehre des islamischen Glaubens ergänzt. Die Kruzifix- und Kopftuch-Urteile
zeugen dabei jedoch nicht nur vom prinzipiellen Vorrang der negativen Religionsfreiheit der Schüler vor der positiven Religionsfreiheit der Lehrer bzw. Schule, sondern
auch von der weiterhin vorherrschenden Stellung der christlichen Religion in
Deutschland.
Diese Vorrangstellung betrifft bislang auch die kollektive Religionsfreiheit. Grundsätzlich haben alle Religionsgemeinschaften das Recht, sich als privatrechtliche Vereine
registrieren zu lassen oder den privilegierten Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erwerben. Letzterer wurde bislang jedoch aus formalen Gründen
noch keiner muslimischen Gemeinschaft zugesprochen. Nach Artikel 140 des
Grundgesetzes i. V. m. Artikel 137 I 1,2 der Weimarer Reichsverfassung setzt die
Verleihung der Körperschaftsrechte an die Religionsgemeinschaften voraus, dass
diese „durch ihre Verfassung [d.h. eine kirchenähnliche Organisationsstruktur, Anm.
d. Redakteure] und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten“. Bei den
Anträgen muslimischer Organisationen hatten die staatlichen Stellen bislang erhebliche Zweifel, was die Gewährleistung der Dauer angeht. Zudem wurde in Frage gestellt, ob die Antrag stellenden Organisationen tatsächlich für die Mehrheit der Muslime in Deutschland sprechen könnten. Zur Lösung dieses Problems wird derzeit ein
intensivierter Dialog mit Vertretern der muslimischen Gemeinschaften (Islamgipfel)
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geführt, aus dem auf muslimischer Seite ein Ansprechpartner für den Staat hervorgehen soll.
1.2 Die Entwicklungen in der Türkei
Die bislang verabschiedeten Reformen brechen nicht mit der spezifisch türkischen
Form des Laizismus, die nach kemalistischem Credo auf staatliche Kontrolle der
Mehrheitsreligion des sunnitischen Islam setzt, um die Modernisierung des Landes
nicht zu gefährden. Aus den folgenden Gründen erscheint die Einhaltung europäischer Standards durch die türkische Religionspolitik weiterhin fraglich.
Im Einzelnen resultieren aus dieser Politik wesentliche Einschränkungen der individuellen Religionsfreiheit. Besonders gravierende Mängel entstehen durch die Organisation des Religionsunterrichts an staatlichen Schulen. Religiöse Kultur- und Sittenlehre gehört nach der türkischen Verfassung zu den Pflichtfächern. De facto beschränkt sich der Unterricht jedoch auf die Vermittlung des sunnitischen Islam, was
der negativen Glaubensfreiheit zuwiderläuft. Auch die unlängst verabschiedete Resolution des Nationalen Erziehungsministeriums, nach der nicht-muslimische Kinder
vom Unterricht befreit sein sollen, kann nicht überzeugen. Zum einen verstößt sie
gegen die Verfassung, zum anderen verlangt sie von den Aleviten (muslimische
Glaubensrichtung) weiterhin den Besuch des sunnitischen Religionsunterrichts.
Kollektive Religionsfreiheit ist in der Türkei praktisch nicht existent, denn das türkische Recht lässt die Gründung von Vereinigungen religiöser Natur nicht zu. Da der
sunnitische Islam durch den Staat (Diyanet) organisiert und verwaltet wird, trifft diese
Regelung vor allem die Minderheitenreligionen, die keine kollektiven Rechte geltend
machen können. Im Zuge der EU-Annäherung wird den christlichen Minderheiten
nun von Seiten des Staates die Gründung von Stiftungen unter Verschleierung des
wahren – religiösen – Zwecks empfohlen. Zugleich wurden durch mehrere Reformen
des Stiftungsrechts die staatlichen Interventionsmöglichkeiten eingeschränkt. Diese
Praxis ist jedoch ungenügend, da die betreffenden Stiftungen ob ihres verschleierten
Zwecks jederzeit rechtlich angreifbar bleiben.
Gerade die religionspolitischen Entwicklungen in Deutschland zeigen, welche Bedeutung der Religion für eine gelungene Integration der – vor allem türkischen – Muslime
beigemessen wird. Angesichts der hohen Zahl von in Deutschland lebenden Türken
(derzeit rund 2,5 Millionen) ist diese Frage für den Erhalt des sozialen Friedens in der
Tat äußerst relevant.
2. Türken in Deutschland – Erwartungen in beiden Ländern
Angezogen vom deutschen Wirtschaftswunder waren die türkischen Gastarbeiter
ursprünglich mit der Erwartung gekommen, in Deutschland einige Jahre zu arbeiten,
um dadurch ihre Lebensbedingungen in der Türkei verbessern zu können. Ähnlich
wurde dies von deutscher Seite gesehen, so dass Maßnahmen zur Integration dieser
Menschen in die deutsche Mehrheitsgesellschaft nicht notwendig erschienen. Unterschätzt worden war aber, dass diese Gastarbeiter in Deutschland eine kulturelle
Identität konservierten, die in ihrer Heimat so schon lange nicht mehr bestand und
dies die angestrebte Reintegration in die türkische Gesellschaft erschwerte. Verein8
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fachter Familiennachzug, gewachsene türkische Strukturen in Deutschland und die
andauernden Unterschiede im Wohlstandniveau waren weitere Gründe, weshalb
viele Zuwanderer und deren Familien in Deutschland blieben. Mit dieser Entwicklung
stieg nicht nur der Bedarf nach integrationsfördernder Politik, sondern auch die Einsicht in die Notwendigkeit entsprechender Initiativen.
2.1 Integration und Identität
Aus der Beobachtung, dass ein rein rationaler Verfassungspatriotismus keine ausreichende Bindungswirkung entfaltet, um die große türkische Gemeinschaft in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, lässt sich die Notwendigkeit einer veränderten
Herangehensweise ableiten, die rationale Elemente weniger und emotionale wie
alltagsbezogene Elemente stärker berücksichtigt. Schließlich besteht ein enger Zusammenhang zwischen Integration und Identität, und Emotionen können einen Zugang zur Identität ermöglichen. Großereignisse alleine (wie die Austragung der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland) werden die Identifikation der türkischen Zuwanderer mit der deutschen Gesellschaft wohl nicht nachhaltig fördern können. Für
einen solchen Prozess kann der Staat den Anstoß geben, indem er die Thematik auf
die Agenda setzt und Maßnahmen wie Integrationskurse und Mentoring-Programme
unterstützt. Diese Aktivitäten sollten jedoch idealiter von der Zivilgesellschaft und auf
lokaler Ebene entwickelt und umgesetzt werden.
2.2 Fördernde und hemmende Faktoren
Ferner lassen sich einige fördernde und hemmende Faktoren für die Integration der
türkischen Gemeinschaft ausmachen. Geht man davon aus, dass es bei Deutschen
und Türken eine gemeinsame europäische Identität gibt, so kann dieses verbindende
Element eine Annäherung sicherlich erleichtern. Zudem verlangt die enge Verflechtung von Sprache und Identität einen besonderen Nachdruck auf dem Erwerb der
deutschen Sprache als Verkehrs- und Alltagssprache, während sich über die Verbreitung von türkischen Begriffen in der deutschen Sprachgemeinschaft die Bereitschaft
zur Aufnahme der deutschen Türken signalisieren lässt. Als hindernd für die Integration könnten sich dagegen die in Deutschland und in der Türkei traditionell stark
divergierenden Konzepte zum Umgang mit gesellschaftlicher Heterogenität erweisen.
Im Zuge einer Vergangenheitsbewältigung könnten sich diese Divergenzen jedoch
allmählich relativieren.
3. Fazit
Zwischen der Wahrung des Rechtes auf Religionsfreiheit und einer erfolgreichen
Integration der türkischen Gemeinschaft in Deutschland besteht ein enger Zusammenhang. Als emotionales und zunehmend den Alltag prägendes Element stellt die
Religion des sunnitischen Islam einen wesentlichen Bestandteil der Identität dieser
Bevölkerungsgruppe dar. Folglich wird die Integration der deutschen Türken nur
dann gelingen, wenn die Ausübung dieser Religion entsprechend respektiert und
ermöglicht wird. Über den Islamgipfel hat der deutsche Staat nun die Möglichkeit,
einen entsprechenden Reformprozess anzustoßen. Indem sie europäische Standards bei der Wahrung religiöser Heterogenität einhält, könnte aber auch die türkische Religionspolitik eine Brückenfunktion zur Formung einer integrationsfördernden
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Identität einnehmen. Ob diese Integration – ausgehend von den genannten Impulsen
– tatsächlich gelingt, hängt jedoch entscheidend vom Engagement der Zivilgesellschaft ab: Bereitschaft zum Erwerb der Sprache auf der einen Seite, signalisierte
Aufnahmebereitschaft und Unterstützung auf der anderen.
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