Marquis de Sade: süß und sanftmütig

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Christoph Klotter Jour Fixe Philosophie am 04.01.16 im Diderot Da Niels Beckenbach an diesem Tag nicht kann, übernehme ich diesen Jour Fixe mit dem einen Teil, den ich mir für den März‐Termin vorgenommen hatte, mit dem Marquis de Sade. Marquis de Sade: süß und sanftmütig „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm reißt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das. was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ (Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX, Gesammelte Schriften Band 1‐
2, 1991, S. 697f, Frankfurt: Suhrkamp) Warum ist Thesen zu de Sade ein Zitat von Benjamin vorangestellt? Ähnlich wie Benjamin, aber in einer anderen Epoche, sieht de Sade, wo andere sich in der besten aller Welten wähnen, eine einzige Katastrophe: Das Böse triumphiert allerorten. Die herrschende Religion, die offizielle Moral dienen nur den Bösewichtern, um ihre Taten besser verhüllen zu können. 1
Der Marquis de Sade (1740 – 1814) ist im kulturellen Gedächtnis geblieben, weil nach ihm sexualisierte Gewalt bzw. Sex, der mit körperlicher Gewalt verbunden wird, benannt worden ist. Eine merkwürdige Ehre. Unbestritten praktizierte de Sade auch die Verquickung von Sex mit Gewalt wie dem Auspeitschen, das aber auf Gegenseitigkeit beruhte, aber in seinem privaten Leben ist sie nicht zentral. Sie bildete eher experimentelle Happenings, die jedoch für ihn massive juristische Konsequenzen hatten (langjährige Gefängnisstrafen). Diese Verquickung bildet ein Grundelement in seinen Texten, die unendlich wiederholt wird und von Diskursen unendlich unterbrochen wird. Entscheidend bei de Sade ist, dass er eine Theorie der Sexualität entwickelte, wonach die sexuellen Beziehungen die gesellschaftlichen Machtverhältnisse plump reproduzieren (noch ein Essential der 68er Bewegung). Entscheidend ist sein Menschen‐ und Gesellschaftsbild: Der Mensch ist von Grund auf böse. Derjenige, der böser ist, setzt sich durch. Bedeutsam ist, wie er vieles von dem vorweg nimmt, was sich im 19. und 20. Jahrhundert ereignet hat. Zentral ist, dass er die Hoffnungen der Aufklärungsphilosophie (mehr Sittlichkeit durch mehr Vernunft und politische Gleichheit) nicht teilte. So ist er die ungeliebte Aufklärung der Aufklärung. Einige Thesen: 1. De Sade ist das Potlatch‐Opfer seines Standes und signalisiert das Ende dieses Standes; zugleich greift de Sade wie kein anderer vor auf eine Epoche, für die er in gewisser Weise der Prototyp ist: auf die Moderne. 2. De Sade ist nicht nur das Potlatch‐Opfer seines Standes, er begreift sein eigenes Leben als bedingungslose Praxis der Überbietung. Insofern gehört er nicht zur Moderne mit ihrer Ökonomie des Geizes, des Gebens und Nehmens (Bataille 1975) 3. De Sade ist insofern der Prototyp der Moderne, als er eine zu allem entschlossene Rücksichtslosigkeit repräsentiert. Wenn es Opfer gibt, na und? 4. Zugleich ist de Sade der Feind Nr. 1 der Moderne, weil er deren Methoden bloß legt; er legt sein Unbewusstes offen. Er kleidet sich nicht in Züchtigkeit und Moral, sondern offenbart das grausame Zeitalter der Moderne (Kolonialismus, Weltkriege). 2
Wie die soldatischen Männer Theweleits (1977) vermag er nicht, das Unbewusste unbewusst zu halten. Das will er auch gar nicht. Aber er bleibt im Wesentlichen im Imaginären. Die soldatischen Männer im Nationalsozialismus verachten dagegen nichts mehr, als im Imaginären stehen zu bleiben. Sie sind die Männer der Tat. Das ist der entscheidende Schritt in der Moderne: vom Imaginären zur Tat, vom Träumen zum Echten, Empirischen. 5. Wenn de Sade das Reale berührt, dann handelt es sich nur um ein Labor, das sich Realität nennt, in dem er seine Experimente systematisch durchführt, so auch sexuelle Experimente, in denen er als Versuchsleiter genauso rücksichtlos zu sich ist wie zu anderen. Die Möglichkeiten werden durchdekliniert. Alles muss seine Ordnung haben. 6. Als Wissenschaftler setzt er sich selbst aus. Er macht Selbstversuche wie die Ärzte, die hierbei gestorben sind. Alles für die Wissenschaft und den wissenschaftlichen Fortschritt! 7. De Sade verleiht dem Leben einen experimentellen Charakter, in dem alles erlaubt sein muss, womit eine Form der Kontrolle über das Leben imaginiert wird, wie zugleich eingestanden wird, dass das Ausgeliefertsein nicht überwindbar ist. 8. Das, was an ihm neu erscheint, die Kultur sexueller Grausamkeit, ist im Wesentlichen nichts anderes als die Fortsetzung der Grausamkeit seiner Zeit, in der ein Landadliger wegen des unerlaubten Besitzes eines Werkes von Voltaire grausam zu Tode gefoltert worden ist, oder in der das Bekanntwerden unerlaubter sexueller Praktiken den Foltertod zur Folge haben konnte. Diese fast bloße Transformation macht de Sade sexuelle Gewalt so widerwärtig. Sie ist die Wiederkehr des Vergangenen. 9. Nicht anders verhält es sich in Dingen Religion. De Sade, ein überzeugter und erbitterter Atheist, der anscheinend zu nichts anderem imstande zu sein scheint, als die Existenz Gottes anzuzweifeln, gibt mit Hilfe seiner sexuellen Szenen die Antwort darauf, was passiert, wenn Gottes Wort nicht mehr gilt: wahlloses Abschlachten. 10. In de Sades sexuellen Praktiken, die nicht (nur) das Imaginäre betreffen, sondern seine eigenen Taten, die gerichtlich dokumentiert sind, versuchte er maximal gotteslästerlich zu sein (Reinhardt 2014) und damit zu versuchen, Gott zu provozieren, auf dass er auf der Stelle erscheine und gegen ihn handele, ihn bestrafe. Aber Gott blieb der deus absconditus. Er ließ sich nicht herab. Mehr Gottesglaube als de Sade ist kaum möglich – mit ihm in ein Duell zu treten. 11. Und auch die Opfer seiner imaginären sexuellen Taten können noch so sehr misshandelt und verstümmelt werden. Sie bleiben eins: treu im Glauben. Kein Wüstling kann ihnen den Glauben an Gott nehmen (Reinhardt 2014). 12. De Sades Atheismus rührt aus der vergeblichen Anrufung Gottes. Sein radikaler Materialismus ist dem Umstand geschuldet, dass Gott ihn nicht erhört hat. Sein Materialismus verdankt sich einer fundamentalen Enttäuschung. 13. De Sade infantilisiert die Welt. In ihr sollen keine Gesetze mehr gelten, keine Moral. Er will als Katholik das lästige protestantische Über‐Ich wieder abschaffen, das sich gerade zu etablieren beginnt (Kittsteiner). 3
14. So antwortet er auf die Hoffnungen der Aufklärer, mit der Demokratisierung, mit der Durchsetzung der Menschenrechte, mit der Idee der Gleichheit aller Menschen, mit der Durchsetzung einer universalen Vernunft eine neue Sittlichkeit zu schaffen. Die Aufklärer wollen die Vervollkommnung und Durchsetzung des Über‐Ichs und eines starken Ichs; de Sade verlangt die Herrschaft des Es, aber erst in dem historischen Augenblick, in dem die beiden anderen Instanzen des psychischen Apparats mit Nuklear‐Waffen ausgestattet werden sollen. 15. De Sade ist der Erfinder der Pop‐Kultur: Eklektizismus, die Kultur des Fragments, radikale Provokation, systematischer Tabu‐Bruch, Überbietung, Demoralisierung, Dissident mit allem sein. 16. De Sade ist nicht nur Feind Nr. 1 der Moderne, weil er darauf hinweist, wie stark das Böse im Menschen ist und wie wenig Moral dieses Böse schwächen kann, sondern auch dadurch, dass er davon ausgeht, dass der Mensch in keiner Weise kohärent ist (eine Vernunft, ein Wille und beide miteinander abgestimmt, aufeinander aufbauend), sondern zersplittert ist, fragmentiert: zum Beispiel in höchster Form kultiviert und im nächsten Augenblick ein Wüstling; oder: ein Gottesverächter und der letzte Katholik. 17. De Sade ist ein Verfechter der neuen Empfindsamkeit, er ist ein Romantiker. Er will die Welt verleidenschaftlichen. Er möchte alle möglichen Gefühle durchschreiten. Er will Rauschzustände erleben, er will maximale Grausamkeit. Die Welt soll ein neuer experimenteller Möglichkeitsraum werden. Er denkt so wie die Frühromantiker auf der Achse Berlin‐Jena um 1800 (Klotter und Beckenbach 2012). Leidenschaft und Wissenschaft gehen Hand in Hand, müssen Hand in Hand gehen (wie bei Novalis). 18. Da er ein vielschichtiger Romantiker ist, kann er genauso gut grausam wie sanftmütig sein, ein Adjektiv, das dem jungen de Sade zugeschrieben worden ist. Er wurde ein Süßer genannt (Reinhardt 2014). 19. In seiner Jugend galt Zucker noch als Luxus. Erst mit dem Import der Rohrzuckerpflanze durch Kolumbus in der Karibik, erst durch die Ausrottung der Einheimischen und dem Import der Sklaven durch die Europäer, erst durch deren entsetzliche Arbeit auf den Zuckerrohr‐Plantagen konnte die Produktion von Zucker so stark ausgeweitet werden, konnte der Preis für Zucker so sehr fallen, dass etwa ab 1850 ein jeder Engländer ein Stück Zucker in seinen 5‐Uhr‐Tee machen konnte. 20. Vom Süßen ist das Grausame nicht zu subtrahieren. Für uns gehört das Süße zum Grausamen untrennbar dazu. Das Eis im Sommer ist durchtränkt vom Blut der Sklaven. Dafür steht der Name de Sade. 21. De Sade enthüllt die herrschende Moral als Schutzschild der Herrschenden, als deren Einnebelungs‐Taktik. Er enthüllt Kunst und Religion als Betäubungs‐Mittel. De Sade ist hier der moderne Naturwissenschaftler schlechthin, der die wahren Verhältnisse offenbaren will. Für Religion hat er wie Freud wenig Verständnis. Beide betonen, wie sehr sie das Reale verehren. Im semiologischen Sinne wird der Referent zum Wahrheitsserum. Der Referent ist das echte. 4
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