Psychisch Kranke und die Heilssendung der Kirche

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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
HEINRICH POMPEY
Psychisch Kranke und die Heilssendung der Kirche
Theologisch-anthropologische Aspekte des Dienstes der Gemeinden
für leidende Menschen
Originalbeitrag erschienen in:
Caritas 87 (1986), S. 83-95
Heinrich Pompey
Psychisch Kranke und die Heilssendung der Kirche
Theologisch-anthropologische Aspekte des Dienstes der Gemeinden für leidende Menschen
1. Psychiatrie-Enquete im Blick auf Kirche,
Glaube und Seelsorge
Zehn Jahre Psychiatrie-Enquete' ist Anlaß
zurückzuschauen, inwiefern die Lage, d. h. die
psychiatrische und psycho-soziotherapeutische Versorgung der Bevölkerung in der Bundesrepublik richtig eingeschätzt und inwiefern
wirkungsvolle Veränderungen von diesem
Bericht ausgegangen sind. Dem Theologen
und Pastoralpsychologen, wie aber auch dem
Sozialpädagogen und klinischen Fachpsychologen fällt dabei besonders die klare professionelk Orientierung der vorgeschlagenen psychiatrischen, psycho- und soziotherapeutischen Hilfen auf. Die angeratene Hilfe wird
fast ausschließlich von Fachexperten und
Fachinstitutionen erwartet. Die betroffenen
Kranken gelten primär als Hilfe-Empfänger.
Andere psychosoziale Ressourcen d. h. Hilfsmittel, heilende Kraftreserven werden im Blick
auf die psychisch Kranken unserer Gesellschaft
weder gesehen noch reflektiert. Das Selbsthilfeprinzip, die Überzeugung, daß die Betroffenen und ihre Angehörigen über therapeutische
Kräfte verfügen, kommt bei diesem Bericht
nicht in den Blick. Die Überzeugung der
Machbarkeit und Lösbarkeit aller Probleme
durch Optimierung der Wissenschaft ihrer
Fachvertreter wie Facheinrichtungen, die
Überzeugung des unbegrenzten Wachsens der
finanziellen und materiellen Mittel der Gesellschaft iss*. verstellen dee. Blick bzen tauen die
Erkenntnisse der Gemeinwesenarbeit für über"
flüssig erscheinen. Die Sozialpädagogik bzw.
Gemeineresenarbeit, aber auch die praktische
Theologie, insbesondere Pastoraltheologie
und Christliche Sozialwissenschaft, kannten
* Deutscher Bundestag, Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland — Zur
psychiatrischen und psychotherapeutisch-psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung— Drucksache
n42 000 Bonn 1975.
schon immer ein Verständnis von Hilfe, was
sich mit dem Stichwort Selbsthilfe-Prinzip in
der Gemeinwesenarbeit und Subsidiaritätsprinzip in der praktischen Theologie kennzeichnen läßt. Der Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ideologie des unbegrenzten ökonomischen Wachstums der Wirtschaft führte
viele Perspektiven der Enquete praktisch ad
absurdum. Es ist die Gesamtwirklichkeit der
Gesellschaft und ihrer Menschen nicht qualifiziert in den Blick genommen worden, so daß
unter den sozio-ökonomischen Bedingungen
vieles ein reiner Wunsch blieb, der sich wohl
kaum so schnell, wenn überhaupt, verwirklichen läßt. So kann die Enquete zum Teil als
Wunschzettel, aber in vielen Aspekten kaum
als wissenschaftlich fundierte Situations- und
Perspektivenbeschreibung angesehen werden.
Das soll nicht heißen, daß keine Wünsche und
Ideale beschrieben werden dürfen. Gerade die
Verkündigungspraxis der Kirche ist dadurch
gekennzeichnet, daß sie immer wieder Ideale
des Menschseins und der menschlichen Gesellschaft beschreibt und die Gläubigen ermutigt,
dem Urbild und dem Vorbild aller Menschlichkeit: Jesus Christus nachzufolgen. Aber sie
weiß, daß sie Ideale verkündet, deren Vollendung immer aussteht und die auf Wachstum
der Herzen und nicht der materiellen Güter
setzt. Durch die Brille der Professionalisierung
und Institutionalisierung wird in der Enquete
auch die Kirche und ihre Hilfen für psychisch
Leidende eingesette Ihre Gemeindebasis und
ihre Nähe zum direkten Lebensraum der psychisch Leidenden kommt jedoch nicht in den
Blick. Berechtigte Wunschvorstellungen
bezüglich eines präventiven bzw. resozialisie -
renden Mileus werden nicht formuliert. Nur
der Seelsorger als Experte und Ansprechpartner vor Ort, als sog. Basis-Arbeiter wird gesehen2 , und dessen pastoral-psychologische
Qualifizierung mit Recht gefordert. Die thera'Vgl. ebd. Kap. B2, 1.1.3., 193.
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peutische Qualität von Basisgemeinschaften.,
von freiwilligen Helfergruppen, von Selbsthilfegruppen usw., tritt noch nicht in den Blick
wie ebenso nicht ihre p'sycho-hygienische
Optimierung. Unbestritten ist es aber auch den
wenigsten Kirchen-Gemeinden gelungen, sich
als eine therapeutisch wirksame psychosoziale
Größe darzustellen, noch zu erweisen, d. h.
mit den Worten des Konzils wirkmächtiges
„Zeichen und Werkzeug"' des Heils zu sein.
Kirchlichen Out-Sidern bzw. den Fachleuten
des psycho-sozialen Bereichs dürften bei der
Abfassung der Enquete die Selbstdefinitionen
der Kirche, die mit dem Zweiten Vatikanischen
Konzil eine besondere Lebensbezogenheit
erhielten, kaum bekannt gewesen sein. Es war
faktisch nicht transparent genug, daß „Freude
und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und
Bedrängten aller Art, . . . auch Freude und
Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi" sind und daß es „nichts wahrhaft Menschliches» gibt „das nicht in ihren Herzen seinen
Widerhall fände" und daß darum „diese
Gemeinschaft sich mit der Menschheit und
ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden»
erfährt 4 .
So fragt sich: 1. Inwieweit Kirche und
Gemeinde — aus durchaus idealer Sicht — ihrerseits die Psychiatrie-Enquete zum Wohl der
Menschen, insbesondere der psychisch Leidenden, fortschreiben können und wie. die
„Wirklichkeit Kirche, „Werkzeug und Zeichen des Heils» zu sein, für psychisch Kranke
ausieht. 2. Wie die menschlichen und religiösen Ressourcen verborgene Heilungskräfte
und Reserven für die Leidenden, speziell die
psychisch leidenden Menschen, fruchtbar werden können und wie die Gemeinde vor Ort die
vom Konzil betonten „Wirk"lichkeiten des
Glaubens heilvoll entfalten sollen? Ent'sprechende Antworten aus der Tradition des Glaubens eti, finden, - setzt die Einschätzung, und
Ergründung der Fragesituation des Menschen
voraus'.
,
Vaticanum, Dogmatische Konstitution über die
Kirche „Lumen gentium» Nr. 1.
*II. Vaticanum, Die pastorale Konstitution über die
Kirche in der Welt von heute, „Gaudium et Spes",
Nr. 1.
'Vgl. M. v. Kriegstein, Paul Tillichs Methode der
Korrelation und Symbolbegriff, Hildesheim 1975, 33
—71.
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2. Das psycho-soziale Elend unserer Zeit
Es ist nicht Aufgabe, die verschiedenen objektiven Daten zur Situation psychisch Kranker in
unserer Gesellschaft vorzustellen 6 . Dagegen
scheint es dringender, Grunddeterminanten,
allgemeine anthropologische Feststellungen
bzw. Grundaussagen psychosozialer „Wirk"lichkeit der Gesellschaft und der psychisch
Kranken festzuhalten, die die nachfolgenden
Überlegungen im wesentlichen mitcharakterisieren.
2.1. Die gewaltigen Veränderungen unserer
Gesellschaft in den letzten 200 Jahren haben
deutlich ihre psycho-sozialen Leidensspuren
hinterlassen:
—Die Mobilität durch Eisenbahn und Auto
führten zu einem Verlust von Beheimatung,
Verwurzelung und sozialer Sicherheit;
—die Industrialisierung mit ihrer Massenproduktion und Fließbandarbeit führte zum Verlust von unmittelbarer Erfahrung von Wachsen
und Werden der verschiedensten Lebensgüter
und damit zu einem Verlust von unmittelbarer
Sinnerfahrung in der Arbeit;
—die Auflösung der Großfamilie führte zur
Verlagerung der Lebensfrustrationsverarbeitung auf nur wenige Personen, die ebenfalls aus
den
verschiedensten
Konfliktbereichen:
Arbeitswelt, Schulwelt usw., psychische Belastungen mitbringen und deswegen wenig aufnahmebereit für andere Probleme sind. Die
sog. Kleinfamilie ist psychisch zu klein;
—die Medienexplosion bewirkte eine Überinformation, eine Überproblematisierung und
führte zur Infragestellung eigener Wertkonzepte, zur Aufputschung neuer Bedürfnisse
usw.
Es hat zumindest den Anschein, daß die soziale
und kulturelle Umgestaltung unserer Gesellschaft nach einem von den Menschen selbst
entworfenen Leitbild 1,zw. , Götzenbild) die
Menschen unserer Weltregion nicht gerade
glücklicher und zufriedener gemacht hat.
Sicher ist die materielle Not gewaltig reduziert
worden, auch die Bedrohung des Leibes durch
Krankheiten scheint gemildert zu sein, doch
'Vgl. Zentralrat des Deutschen Caritasverbandes,
Hilfe für psychisch kranke und psychisch behinderte
Menschen — Neue Ansätze, Aufgaben und Dienste
der Caritas. In: Unser Standpunkt, Nr. 17, Freiburg
'1985, 11 —15.
diese Fortschritte sind vielfach durch neue psychosoziale Leiderfahrung erkauft worden. Ein
Blick auf die Menschen der südlichen Welthälfte macht deutlich, daß dort zwar materielle
Not und Krankheit grausam herrschen, doch
von einem psycho-sozialen Elend ist in diesen.
Regionen wenig zu spüren, bzw. psychosoziale Probleme werden in diesen Kulturen, wo
die alten Lebensstrukturen noch intakt sind,
wesentlich selbstverständlicher, natürlicher
und sicherer gelöst, und zwar nicht nur von
Experten, sondern von der ganzen Lebensgemeinschaft und Lebensgruppe'.
2.3. Ferner darf festgehalten werden, daß psychisches Leid immer auch den Leib und den
Geist des Menschen leidvoll erschüttern. Psychisches Leid läßt den Menschen ganzheitlich
krank sein, seelisch, körperlich, geistig und
sozial. Das seelische Leid findet fast immer
auch seinen körperlichen Ausdruck: die sog.
psychosomatischen Begleiterscheinungen wie
Migräne, Hautallergien, Herz- und Kreislaufinsuffizienzen, organische Beschwerden usw.
Ebenso sind die „normalen" Lebenswerte,
Lebensperspektiven wie der Lebenssinn geistig
existentiell in Frage gestellt.
2.2. Es zählt zum Allgemeinwissen, zumindest
bei den Fachleuten, daß Verursachung und
Auswirkung einer seelischen Krankheit, daß
Erleben und Verhalten des einzelnen psychisch
Kranken nicht nur eine individuelle „Wirk"lichkeit darstellt, die allein den Kranken etwas
angeht und für die der Kranke allein verantwortlich ist. Die psycho-sozialen „Wirk"-lichkeiten der jeweiligen Gesellschaft: ihre Streßfaktoren, ihre Wertvorstellungen bezüglich.
gelingenden Lebens, ihre Organisationsstrukturen usw. geben der individuellen psychischen Erkrankung deutlich ihr Gepräge. Die
Behinderung der Kranken durch die Gesunden
stellt eine erhebliche Leidensverstärkung dar.
So muß ganz entscheidend das Verhältnis von
psychisch Gesunden und psychisch Kranken
selbst gesund und menschlicher werden'. Wo
die Kranken zusätzlich krank gemacht werden,
„kann die Gesellschaft der Gesunden nicht als
‚gesund' im Sinne der Anerkennung des
Menschlichen genannt werden'. Diese Leidensverstärkung geht im wesentlichen darauf
zurück, daß die sog. Nicht-Kranken selbst
psycho-sozial beeinträchtigt bzw. krank sind.
2.4. Umgekehrt hat jede körperliche Krank-
'Auffällig ist die um 1/3 geringere Suizidalitätsrate in
den Ländern der Dritten Welt, insbesondere in den
islamischen Ländern, vgl. Changing patterns in suicide behavior, Euro-Reports and Studies 1974, Hrsg.
World Health Organisation, Copenhagen 1983; C.
Reimer, Suizid, Ergebnisse und Therapie. Berlin/
Heidelberg/New York 1982, 18.
'Vgl. J. Moltmatm, Die Rehabilitation Behinderter in
einer Segregationsgesellschaft, in: 'ders., Diakonie
im Horizont des Reiches Gottes: Schritte zum Diakonentum aller Gläubigen. Neu-Kirchen — Vluyn
1984, 42-5!, 42.
'Ebd.
2.6 Die psychische Erkrankung selbst hat eine
heit, jede persönliche Krise und jeder zwischenmenschliche Konflikt eine psychische
Komponente, also in der Verursachung wie in
der Auswirkung.
2.5. Alle Menschen geraten in irgendeine
Krise, irgendeinen Konflikt, unter irgendeinen
Streß und leiden an irgendeiner körperlichen
Unzulänglichkeit mehr oder weniger stark;
deshalb ist keiner frei von psychischen Belastungen, psychischem Leid, psychischer
Betroffenheit usw. So gibt es nur graduelle
Unterschiede zwischen den psychisch Kranken und den sog. Gesunden, aber keine prinzipiellen. Ist die psychische Leidenskomponente
nicht so groß, dann sind vielfach die sozialen,
die somatischen oder auch die geistigen Auswirkungen des jeweiligen Leidens beschwerlicher. Keiner hat also Grund, sich über die psychisch Kranken zu erheben, sondern ist stets
selbst der Hilfe bedürftig, sei es durch die der
sog. „normalen" Lebenstherapeuten: Angehörige und Freunde, — die übrigens den größten
Teil des psychischen Leids bearbeiten — oder
durch direkte Helfer: Pfleger, Ärzte, Sozialarbeiter, Psychotherapeuten.
sog. multi-kausale Noxe, primär, genetisch,
konstitutionell gegebene Ursachen (endogen)
oder sekundäre, lebensweltbedingte Ursachen
(exogen) wie Verkehrsunfälle, bio-chemische
Schädigungen, schwere psycho-soziale
Lebensbeeinträchtigungen usw. Zumeist
bewirken psychische Primärerkrankungen
auch eine starke Veränderung des Lebensmileus, d. h. der Familie, des Nachbarschaftsraumes, was wiederum zu Reaktionen, also Beeinträchtigungen für den Kranken führt. Nicht
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unerheblich für Erleben und Verhalten des Leidenden und seiner Umwelt ist bei einer psychischen Erkrankung, ob die Krankheit chronisch, phasenhaft oder einmalig akut ist. Auch
dies ist wiederum nicht nur bedeutsam für den
Kranken wie für die Familie, sondern auch für
die weitere Umwelt und Gesellschaft. Ist ein
Glied krank, so haben alle Anteil daran. Die
„Wirk"-lichkeit der Krankheit läßt sich nicht
verdrängen. Und wenn es geschieht, dann
kommt es zu unkontrollierten, unbewußten
Reaktionen, die wesentlich unheilvoller sind.
2.7. Zur Beschreibung der verschiedenen psychischen Leidenszustände sei auf folgende
Aufzählung verwiesen'''. Psychisch kranke
sind Menschen:
die in vielen Lebenssituationen vor unlösbaren
Konflikten stehen;
die mit Spannungen, Konflikten und Anforderungen ihres Lebens nicht mehr oder nur ungenügend zurechtkommen;
die den Realitätsbezug verloren haben oder
denen der Zugang zur Realität versperrt ist;
die Störungen in zwischenmenschlichen Beziehungen und in der Auseinandersetzung mit
ihrer Umwelt haben;
die unter ihren Kontaktstörungen leiden, nicht
unbefangen mit anderen umgehen können und
isoliert von sozialen Beziehungen leben;
deren Harmonie im Wahrnehmen, Erinnern,
Wollen, Fühlen, Sprechen, Denken gestört ist;
die Wahrnehmungsstörungen und Wahnvorstellungen haben;
die verstärkt Gefühle der Wertlosigkeit, inneren Leere, Niedergeschlagenheit und Verzweiflung erleben;
die unter dem Druck unbegründeter Ängste
leben;
die Stimmen hören, glauben, von fremden
Mächten beeinflußt zu werden, Verfolgungsoder Vergiftungsängste äußern und sich beob-
achtetedethintergangen fühlen.
3. Die „Wirk"-lichkeit der Gemeinden
Es ist vermutlich mühselig, nach Gemeinden
Ausschau zu halten, die hilfreich und heilend
dieser anthropologischen Realität psychischen
Krankseins auch nur annähernd gerecht werden, die konkret „Zeichen und Werkzeug des
Zentralrat des Deutschen Caritasverbandes,
a. a. 0., 12.
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Heiles" für psychisch Leidende und Beladene
sind, die im Namen Jesu einladen: „Kommt
her, die ihr mühselig und beladen seid, ich
werde euch erquicken'. Unbestritten gibt es
Ansätze der Hilfe, doch aus der Sicht der
bekannten Leidensrealitäten wie aber auch des
Selbstverständnisses der Kirche ist eine Neuorientierung der Gemeinden einzuleiten und
sind Aspekte der Hilfe aufzuzeigen'.
Um die Heils-„Wirk"-lichkeit der Kirche zu
verstehen und daraus entsprechende Ableitungen für das Handeln der Gemeinde vornehmer),
zu können, sei das Selbstverständnis der Kirche kurz beschrieben: Kirche versteht sich als
Grundsakrament des Heiles und der Erlösung,
d. h. Zeichen und Werkzeug für die innigste
Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der
ganzen Menschheit", d. h. Instrument der
Lebensfülle in der Beziehung des Menschen zu
Gott und der Menschen untereinander zu.
sein'. Sie stellt die heil- und lebensvolle Beziehung zu Gott und der Menschen untereinander
dar und ist zugleich Werkzeug, um dieses zu
bewirken. Seit der Gründung der Kirche am
ersten Pfingsttag verkündet sie die mit Jesus
Christus erfolgte und angebrochene Erlösung
der Menschen, um sie einzuladen, an seinem
Werk der Erlösung teilzuhaben. Im Gottesdienst (Liturgie:) und Nächstendienst (Diakonie; Apg 2,45) ist sie nicht nur Künderin, sondern auch Mittlerin, Werkzeug dieses Heils.
Sie fühlt sich, wie ihr Herr Jesus, gesandt „den
Armen Frohe Botschaft zu bringen, zu heilen,
die bedrückten Herzens sind" (Lk 4,18) 14 .
11 II. Vaticanum, Die dogmatische Konstitution über
die Kirche, „Lumen Gentium", Nr. 1.
'Die Kirche und ihre konkrete lebensvolle Ausprägung in der jeweiligen Gemeinde versteht sich selbst
als: „Ecclesia semper reformanda", als eine Heilsgemeinschaft, die der ständigen Erneuerung, d. h. auch
Erinnerung an Jesus Christus bedarf. Sie weiß, daß sie
in ihrer eigenen „Wirk"-rnöglichkeit immer auch
gefährdet ist und von daliersich stets unter das eigene
Ideal zu stellen hat, um den Wegund Ziel besser verfolgen zu können. In diesem Sinne sollen die heilvollen Möglichkeiten der Kirche und ihrer Gemeinden
verdeutlicht werden. Nicht als Ist-Stand-Beschreibung sondern als Soll-Stand-Aussage, vgl. H. Pompey, Von der Pastoralmedizin zur Pastoralanthropologie In: Von der Pastoraltheologie zur Praktischen
Theologie. 15. Forschungsgespräch des IFZ Salzburg, 1976, 159 — 197.
13 Vgl. Die dogmatische Konstitution über die Kirche,
„Lumen Gentium", Nr. 1.
"Vgl. ebd., Nr. 8.
Um Koinoia (Apg z,42; 2,44) zu bewirken,
also gelingende Beziehung des Menschen zu
Gott, zu sich selber, der Menschen untereinander und der Natur", hat Kirche in diesen drei
Grundvollzügen: Verkündigung, Gottesdienst, Bruderdienst, die Heils„wirklichkeit
in Jesus Christus gegenwärtigzusetzen, um sie
der Vollendung im Reiche Gottes entgegenzuführen. Gottesdienst und Nächstendienst sind
aber nicht trennbare Bereiche: Wer sagt: Er
liebt Gott, aber haßt den Bruder (1. Job 2,7
11), kann kein Christ sein. Oder: „Was ihr den
Geringsten meiner Brüder getan habt, habt ihr
mir getan» (Mt 25,34) macht die Einheit von
Gottes- und Nächstendienst deutlich'.
Die juden-christliche Überlieferung beschreibt
von Anfang an das Leid als ein vielschichtiges
Geschehen. Der erste Adam wollte, nachdem
er zur vollen Freiheit der Entscheidung herangewachsen war, nicht glauben, nach dem
lebensvollen Vorbild Gottes geschaffen zu
sein. Er konnte seine Wahrheit als Lebens„Wirk"lichkeit nicht liebevoll und vorbehaltlos annehmen und zweifelte. Er konnte nicht
hoffen, daß das Gutsein seiner Person und seiner Lebenswelt optimal wachsen würden. Das
» Ur-Mißtrauen" nahm seinen Anfang und zerstörte die lebensvolle unmittelbare Beziehung
zu Gott. In jeder Lieblosigkeit, Glaubens —
und Hoffnungslosigkeit ist bis auf den heutigen Tag dieses » Ur-Mißtrauen" präsent". So
nahm das Böse, das Schuldigsein seinen leidund unheilvollen Lauf und führte zur schweren
Beeinträchtigung der Beziehung des Menschen
zu sich selber (Er erkannte, daß er nackt war;
Gen 3,7), zum Nächsten (Mann und Frau
beschuldigen sich gegenseitig; Gen 3,12 f.) und
zur Natur (Die Mühsal der täglichen Arbeit
und des Lebens in der Familie; Gen 3,16-19).
Doch Gott hat trotzdem beschlossen „die
Menschen zur Teilnahme an dem göttlichen
Leben zu erheben, und als sie in Adam gefallen
-
"Vgl. Lineamenta der Bischofssynode, Berufung und
Sendung der Laien in Kirche und Welt — 20 Jahre nach
dem II. Vatikanischen Konzil. Vatikan 1985, Nr. 30.
"Das Unheil wird ganzheitlich, alle Lebensperspektiven umfassend erfahren und gesehen, so muß auch das
Heil umfassend sein, das die Beziehung zu Gott wie
zum Menschen einschließt.
'Das Faktum des „Ur-Mißtrauens" findet unter
anderem seinen theologisch-anthropologischen Niederschlag in der Lehre von der Ur-Schuld.
waren, verließ er sie nicht" 18 . Er stiftete einen
Heilsbund, durch den der neue Adam: Jesus
Christus die ganze Lebensfülle den Menschen
wieder ermöglicht, d. h. Koinoia schenkt: Die
lebensvolle Beziehung des Menschen zu sich,
zum Nächsten, zur Natur, und zwar auf der
Basis der gelingenden Beziehung zu Gott als
der fundamentalen Beziehung.
Gott wurde in Jesus Christus als Heiland heilvoll heilend in Raum und Zeit — die beiden
Grunddimensionen unserer Lebens-„wirk"lichkeit — konkret und erwies sich dadurch —
gemäß seinem Namen — als der Treue und
Nahe; denn die räumliche Dimension unseres
Lebens theo-logisch operationalisiert bzw.
heilvoll aktualisiert und übersetzt heißt Nähe
und die zeitliche Dimension unseres Lebens
theo-logisch übersetzt und in die heilvolle Tat
gesetzt heißt Treue. Nähe und Treue sind die
heilvolle Radikalisierung von Raum und Zeit.
Bereits der Name Gottes besagt: Ich bin der
Treue (and Nahe und der Name Jesus heißt: Es
ist wahr, Gott ist der Treue und Nahe.
In Raum und Zeit, also in Treue und Nähe zu
den sich verfehlenden Menschen,, hat Jesus
Christus bei den Menschen die Verweigerung
der liebenden Akzeptanz des eigenen Lebens
und der ganzen Lebensum- und mitwelt, die
Verweigerung des Glaubens an das Gutsein des
Menschen und der ganzen Schöpfung, die Verweigerung der Hoffnung, daß dieses Gutsein
aller Wirklichkeiten sich lebensvoll entfaltet,
radikal überwunden und das Lebens-notwendige Urvertrauen wieder hergestellt, indem er
sich auf die Leidenswelt und „Wirk"-lichkeit
des Menschen voll einließ, psychisch, geistig,
körperlich und sozial radikal das Leid der
Menschen selbst auf sich nahm, d. h. von den
Freunden verlassen sozial, an sich selber irr
(geistig), psychisch gebrochen (seelisch) und
körperlich bis zum Tode gemartert (leiblich),
hat er trotz allem den Glauben an das Gutsein
Gottes, des Mitmenschen, seiner eigenen Person und der /Welt ,-(zA. gegenüber Pilatus,
gegenüber den Schächern und im Garten
Gethsemani gegenüber Gott), die Hoffnung,
daß doch alles zu einem guten Ende führt (z. B.
in dem Gebet: „In Deine Hände empfehle ich
meinen Geist" (Lk 23,46) und die liebende
Annahme seiner eigenen Person, Gottes und
der Nächsten durchgehalten. Damit stand er
"Vgl. dogmatische Konstitution über die Kirche,
„Lumen Gentiumn, Nr. 2.
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voll zu seiner Wahrheit, wodurch er sich und
uns neue Lebensmöglichkeiten, also die Auferstehung zu neuen Lebensmöglichkeiten eröffnete, eine Auferstehung, die bereits hier und
jetzt ihren konkreten Anfang nehmen kann,
wenn in Treue und Nähe Glaube, Hoffnung
und Liebe — vermittelt durch einzelne und
mehrere Menschen — die leidvollen Wirklichkeiten durchdringen.
Der Kirche hat Jesus Christus den wiedergewonnenen heilvollen Glauben, das heilvolle
Hoffen und das heilvolle Lieben und damit das
Stehen zur eigenen Wahrheit gemäß dem Vorbild Jesu Christi anvertraut. Als „Gemeinschaft» des Glaubens, der Hoffnung und der
Liebe versteht sich die Kirche", will sie Zeichen und Werkzeug des Heiles sein". Gott hat
„die Menschen nicht einzeln, unabhängig von
aller wechselseitigen Verbindung" mit seinem
neuen Geist des Glaubens, der Hoffnung und
der Liebe heiligen und retten wollen, sondern
machte sie zu einem Volk und schloß mit ihm
einen Bund" 21 . Gottesdienst und Nächstendienst wollen diesen Glauben, diese Hoffnung
und diese Liebe verkünden und gleichzeitig
wirkungsvoll werden lassen, damit zumindest
anfanghaft bereits hier und jetzt die Auferstehung zu neuen Lebensmöglichkeiten für alle
Kranken und Leidenden, für die Armen und
Schwachen erfahrbar werde. Dabei weiß die
Gemeinschaft der Glaubenden, Hoffenden
und Liebenden, daß das » Reich Gottes», das
Reich aller gelingenden und lebensvolle n
Beziehungen, daß dieses Reich des Friedens
und des Lebens in Fülle in seiner Endgestalt
aussteht.
In dieser allgemeinen theo-logischen Beschreibung der Kirche und damit Gemeinde„Wirk"-lichkeit, wird die Heilsmöglichkeit
des Glaubens noch nicht sehr durchsichtig und
konkret, die psycho-soziale „Wirk"-lichkeit
noch' nicht genügend handhabbar. Doch
zunächst »sei festgehalten, J auch theo-logisch
hat jedes übel, jedes Leid seine Auswirkungen
in der Beziehung des Menschen zu sich (psychisch, somatisch, geistig), zum Nächsten
(gegenüber den Verstorbenen, den Lebenden,
wie auch der künftigen Generation), zur Natur
(die ökonomischen, institutionellen, bio-ökologischen Lebensbedingungen) und letztlich
"Ebd., Nr. 8.
"Ebd., Nr. 1 und Nr. 8.
21 Ebd., Nr. 9.
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zu Gott. Das Leiden geht zurück auf den Verlust des Urvertrauens, d. h. nicht mehr an das
eigene Gutsein, das des Nächsten und das der
Lebenswelt glauben zu können, keine Hoffnung mehr zu haben, daß sich noch irgendetwas Gutes regt und das Gute wächst, sowie
nicht fähig zu sein, den Nächsten und die
Lebenswelt „trotz allem” noch liebevoll und
vorbehaltlos anzunehmen. Wenn so der
Ursprung und die Wurzel alles Übels verstanden wird und in dieser Weise alles Leid der
Welt zustande kommt, wird die Therapie, das
Heil-sein, d. h. theologisch das Heilig-sein
auch in jeder einzelnen Leidenssituation allein
durch Umkehr möglich.
Der Mangel an Glaube, Hoffnung und Liebe
bindet Lebensphantasie und Lebensenergie:
Beispielsweise kreisen die Kranken — gleich
welcher Leidensart — oft um Gedanken: wie es
anders sein könnte, wenn . . . ; Sie träumen
davon, als sei alles wieder wie zuvor. Sie verdrängen die bittere Lebensrealität. Ferner richten sie ihre ganze Energie gegen die Krankheit,
gegen die unausweichliche Lebens- und Leidensrealität. Sie sind voller Aggression, voller
Resignation. Diese berechtigten Empfindungen verbrauchen aber die ganze Lebensenergie.
Gelingt es, daß ein neuer Geist, ein heilender
Geist in ihnen Einzug hält, d. h. daß der
Kranke wieder glauben kann an das Gutsein, er
wieder hoffen kann auf einen lebensvollen
Ausgang und daß er die Lebensrealitäten „trotz
allem» annehmen kann, dann werden selbst bei
einer chronischen Krankheit neue Lebensperspektiven wieder sichtbar und ein erstes
anfanghaftes Auferstehen zu neuen Lebensmöglichkeiten kann sich ereignen.
Verwiesen sei auf eine querschnittsgelähmte Frau, die
an einer Herzlungenmaschine angeschlossen ist und.
künstlich beatmet wird, deren Kopf allein noch „richtig" lebt. Ihr gelingt es, trotz dieser äußerst reduzierten Lebensrealtität nach der Wiedergewinnung des
Glaubend an das eigene Gutsein und der Mitmenschen, der Hoffnung, daß auch unter diesen Lebensbedingungen gute gelingende und sinnvolle Lebensbeziehungen wachsen, und der liebenden, bedingungslosen Aufnahme dieser gräßlichen Leidensrealität, anfanghaft zu neuen Lebensmöglichkeiten aufzuerstehen. Sie konnte Briefe diktieren und Telefongespräche führen und wurde so Zufluchtsstätte vieler
Leidender und Suchender. Ihr konnten andere
Kranke Glauben, Hoffen und Lieben abnehmen. Sie
war Zeichen und Werkzeug des Heils. In keiner
Weise bejubelte sie ihr Schicksal, liebend gern wäre sie
körperlich wieder gesund geworden, auch überhöhte
Es ist plausibel, daß diese Praxis des Glaubens,
der Hoffnung und des Liebens seine heilende
Kraft optimiert, wenn sie nicht allein Sache
eines einzelnen, sondern Anliegen einer ganzen Gruppe wird. So hat es Gott gefallen: „Die
Menschen nicht einzeln, unabhängig von aller
wechselseitigen Verbindung, zu heiligen und
zu retten', sondern er hat mit ihnen einen
Bund geschlossen, den neuen Bund mit seiner
Kirche'', die ihre Erfüllung im „Reich Gottes"
findet'''. Alle Glieder sind aufgerufen, diese
Heils-„Wirk"-lichkeiten in dieser Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der
Liebe zu leben, damit die Kirche Grundsakrament des Heiles in dieser Gesellschaft sein
Der neue, heilende und heilige Geist setzt neue kann'. In der ständigen Darbringung dieses
Lebensphantasien und neue Lebensenergien Opfers der Liebe, der Hoffnung und des Glaufrei, heißt doch dieser Lebensspender selbst: bens'', d. h. des Sich-einlassen auf diese
Kreator, Schöpfer und Erfinder und Dynamis, „Wirk"-lichkeiten vollziehen die Glieder died. h. Kraft und Energie. Er ist Schöpfer von ser Kirche einen Gottesdienst, der zugleich
Möglichkeiten und Kraft für neue Taten. In Bruderdienst ist. Sie nehmen dadurch teil am
diesem Sinne heilendes Mileu zu sein, macht Priesteramt Jesu Christi. Aus diesem Grund
die Grundsaleramentalität der Kirche als Heils- hebt auch das Zweite Vatikanische Konzil in
gemeinschaft aus. Glaube, Hoffnung und besonderer Weise das gemeinsame Priestertum
Liebe als Grundbedingungen göttlichen, der Gläubigen hervor. Das Dienstpriestertum,
lebensvollen Lebens verwirklicht die Kirche einschließlich aller Dienstämter, soll die
seit den Tagen ihrer Gründung in besonderer Gesamtgemeinde in ihrem Heilsdienst unterWeise auch durch den Bruderdienst, den sie als stützen, anregen, anleiten, beraten, helfen,
Dienst der geistlichen und leiblichen Barmherzigkeit beschreibt."
sie die Leidensrealität nicht durch eine bedenkliche
religiöse Rechtfertigung.
Eine Frau (45 Jahre) leidet seit 15 Jahren an schweren
Depressionen, die seelsorglich begleitet wird und mit
der der Seelsorger einen wortlosen Glaubenskampf
führt: Sie kann nicht mehr glauben, daß in ihr und
ihrem Leben noch etwas Gutes und Heilvolles sei.
Der Seelsorger tritt ihr mit der Grundeinstellung entgegen, daß sie nicht radikal verdammt, verloren und
ohne die Furcht der Befreiungstat Jesu sei. Die
Grundhaltung von Glaube, Hoffnung und Liebe verbunden mit der Grundhandlung Treue und Nähe
machte es möglich, daß die Patientin zeitweilig,
zunächst eine Woche, dann Monate ohne Medikamente zu neuen Lebensmöglichkeiten wiederauferstehen kann.
nDas Schicksal dieser Frau und ein Interview mit ihr
wurde vor einigen Monaten im Fernsehen gesendet.
"Die älteste Konkretion kirchlicher Diakonie findet
sich in den Werken der leiblichen und geistlichen
Barmherzigkeit, die zudem eine biblische Tradition
besitzen; vgl. Mt 25,34 — 40; Mt 5,3 — 12; Mt 18,1 —
21; 1 Kor 12,31 —13,13; vgl. H. Pompey, Die geistliche Barmherzigkeit in der gemeindlichen Krankenpflege. In: Lebendige Katechese, 5(1983), 136 — 143.
Geistliche Werke der Barmherzigkeit sind:
1. Guten Rat erfahren lassen.
2,Den Nächsten, wenn er in der Beziehung zu Gott,
zu sich und zum Mitmenschen schwer gestört ist, auf
diese Lebensbeeinträchtigungen hinweisen.
3. Fehlendes Lebenswissen und mangelnde Information vermitteln und über Verhaltensmöglichkeiten
aufklären.
4. Seelisch und körperlich Leidenden Trost und
Wärme schenken.
5. Die Bereitschaft, Unrechtshandlungen zu verzeihen, um der leichteren Wiederherstellung einer
gestörten zwischenmenschlichen Beziehung willen.
6. Die Bereitschaft, Menschen sowie leidvolle
Lebensumstände realistisch anzunehmen und sie
nicht nach einem selbstgemachten Idealbild ausrichten.
7. Die erlebte, vielfältige Beziehungsnot des Menschen in das Gebet d. h. in die eigene Beziehung mit
Gott aufnehmen; vgl. H. Pompey, Die Heilssendung
der gesamten Kirche und der subsidiäre Dienst von
Beratungsstellen, in: Diakonia, 17 (1986), 36— 42, 38
f.
Die Werke der leiblichen Barmherzigkeit sind
wesentlich bekannter: 1. Hungrige speisen, 2. Durstige tränken, 3. Fremde und Obdachlose aufnehmen,
4. Nackte bekleiden, 5. Kranke und Gefangene besuchen (Mt 25,34 — 40). Eine weitere biblische Konkretisierung christlich-caritativen Handelns stellt das
sog. Hohelied der Liebe dar (1 Kor 12,31— 13,13) eine
psychologisch-anthropologische Konkretisierung
findet sich in H. Pompey, Leben und Beratung nach
dem Evangelium, in: Bundesarbeitsgemeinschaft
Beratung,
24 Die dogmatische Konstitution über die Kirche,
„Lumen Gentium", Nr. 9.
"Vgl. ebd. , Nr. 9.
'Vgl. ebd., Nr. 48.
'Vgl. ebd., Nr. 10.
28 Vgl. Lineamenta der Bischofskonferenz, a. a. 0.,
Nr. 18, S. 19.
89
begleiten29 . Die gilt auch für alle Mitwirkenden
in der kirchlichen Caritas. /Sie sind dazu da,
subsidiär (vgl. Mk 10, 42-45) den Gemeinden
zu helfen und können keine Nebeneinrichtung
bzw. Alternative zur Gemeinde darstellen.
Trotz der Verschiedenheit der Dienste besteht
eine Einheit der Sendung".
„In der Verbreitung seines lebendigen Zeugnisses vor allem durch ein Leben in Glaube und
Liebe" nehmen die Glieder der Kirche ebenfalls teil am prophetischen Amte Christi 31 . So
wird der Gemeinschaftscharakter des Heiles
und der Vorrang der subsidiären Unterstützung durch die verschiedenen Dienstämter
deutlich. Ferner wird ein Heils- und Heilungsrealismus unterstützt, der weiß, daß die Endgestalt des Heiles zwar anfanghaft beginnt,
jedoch in ihrer Vollgestalt aussteht. Nur einige
praktisch- theologische bzw. pastoral- anthropologische Determinanten des kirchlichen
Heildienstes konnten hier allgemein bekannt
werden. Ihre Beschreibung ist erforderlich,
damit die Bemühungen der Gemeinden für ihre
psychisch kranken Menschen in einem heilvollen Geist erfolgen können.
4. Der konkrete Dienst der Gemeinden für ihre
psychisch Kranken
Die helfenden und heilenden Grundhaltungen
und ihre Heils-Logik sind angesprochen. Auch
die Hauptfunktionen, Bedingungen und Zielsetzungen der Kirche sind benannt. Schöpferische Phantasie ist in den Gemeinden und bei
den sie begleitenden Helfern erforderlich, damit die Heilstat Jesu Christi in den konkreten
Lebensraum der Menschen heilvoll ausstrahlen
kann. — In den Überlegungen des nun folgenden Absatzes soll gefragt werden, worauf die
Verantwortlichen für den Dienst der Kirche
(z. B. einer Caritas-Einrichtung) an den' psychisch Kranken die Gemeinden ansprechen
müssen, wo sie ihre fachliche Hilfe anbieten
können, wozu sie die jeweilige Diözesankirche
aufrufen müssen, wie sie sich selbst neu verstehen und neu ausrichten sollen. Denn in den
Gemeinden und ihren Basisgruppen, den Fa"Vgl. Die dogmatische Konstitution über die Kirche,
„Lumen Gentium" Nr. 10, Nr. 18.
"Vgl. II Vaticanum, Das Dekret über das Laienapostolat, „Apostolicam actuositatem", Nr. 2.
31 Vgl. Die dogmatische Konstitution über die Kirche,
„Lumen Gentium" Nr. 12.
90
milienkreisen, Jugendgemeinschaften, Altenclubs usw. muß die beschriebene geistliche
„Wirk"-lichkeit der Kirche erlebbar, erfahrbar
und erkennbar werden, wenn Kirche Zeichen.
und Werkzeug des Heiles auch für die psychisch Kranken werden und bleiben soll.
Aufgrund der entfalteten Theo-Logik dürfte
klar sein, daß der eigentliche Heilsort auch für
den psychisch Kranken primär die Gemeinde
und nur sekundär, vorübergehend, eine therapheutische Spezialeinrichtung sein kann. Liegt
eine so schwer psychische Erkrankung vor,
daß der Kranke nicht mehr in der Gemeinde
leben kann, dann sollte die Gemeinde mit ihren
Basisgruppen und durch einzelne Vertreter
beim Kranken immer wieder präsent sein.
Ziele des Gemeindeengagements für ihre psychisch Kranken sind aufgrund des theologischen Verständnisses der Kirche:
—die seelische Unterstützung der psychisch
Kranken soweit als möglich;
— die Kranken selbst verantwortlich sein lassen
und ihr eigenes Mittun fördern;
— Aufeinanderzugehen von beiden Seiten, der
Kranken und der sog. Gesunden;
—Krankenorientierung des Engagements der
Gemeinde;
— Breschenschlagen ins » normale" Leben und
sie ins „normale Leben" im allgemeinen und
der Gemeinde insbesondere integrieren;
— die Kranken aus ihren Gettos herausführen;
—den Kranken und ihren Angehörigen eine
besondere Heimat und Beheimatung gewähren.
4.1 Verkündigung
Zunächst gilt es, die gute Botschaft der beginnenden Erlösung bekannt zu machen und die
Mühseligen und Beladenen einzuladen, sich
auf diesen Weg einzulassen, d. h. an die Hekken und Zäune gehen, um zu suchen, was verloren ist (Vgl. Lk 19,10). Jedes Leid ist eine
Herausforderung für die Gemeinschaft der
Glaubenden, Hoffenden und Liebenden, alle
Mühseligen und Beladenen einzuladenn.
Die Kirche muß insbesondere ihren Gemeinden und deren Basisgruppen deutlich machen,
daß sie offen sind für alle Leidenden, daß jedem
'In sprachlicher und nichtsprachlicher Form hat die
Kirche die Heilstaten Christi zu verkünden und einzuladen in die Gemeinschaft der Mühseligen und
Beladenen, der Armen und Sünder wie zugleich der
Glaubenden, Hoffenden und Liebenden einzutreten.
Raum und Zeit gewährt wird und —theologisch
operationalisiert — jeder Nähe und Treue
erlebt. Die Gemeinden sollen ein heilendes,
göttliches Milieu bewirken, aus dem neue
Kraft, Hilfe und Befreiung erwachsen können.
Nicht nur die psychisch Kranken sind eingeladen, sondern alle Kranken und Lebensarmen33
Dies bedeutet im einzelnen:
Die angemahnte Kranken-Orientierung des
Engagements einer Gemeinde bedeutet im
Blick auf die Verkündigung, bestehende Götzenbilder über psychisch Kranke umzustoßen
bzw. vor Götzenbildern zu warnen, seien es
Bilder im Sinne einer Verherrlichung, einer
Verteufelung, einer Unterschätzung, einer
Horrorisierung, einer Kriminalisierung.
In die Gesellschaft und die eigenen Gemeinden
hinein hat sie zur leiblichen und geistlichen
Barmherzigkeit aufzurufen. Die Werke der
Barmherzigkeit beschreiben exemplarisch die
positiven Aspekte und Inhalte der Kranken —
der
in
Verkündigungen
orientierten
Gemeinde.
In den Gemeinden ist das Bewußtsein zu entwickeln,
—daß alle zugleich Erlöste wie Sünder und
Beladene sind;
—daß heilvolles Leben hier nur durch die
Nachfolge Jesu, d. h. über den Weg des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe in Treue
und Nähe erfolgen kann;
—daß nicht der einzelne, sondern die Gemeinschaft der Erlösten und zugleich NUnerlösten
das Heilsgeschenk erhalten hat;
—daß nicht andere, sondern jeder einzelne,
jeder Kranke selbst, den Weg beschreiten muß;
— daß jeder verantwortlich ist für sein eigenes
Heil und nicht andere, wie Priester, Diakone
und kirchliche Mitarbeiter in Pastoral und Diakonie, das Heilswerk für ihn vollbringen können;
— daß jeder selbst Träger des Heilgeschehens
ist;
— daß den Diensten lediglich eine subsdiäre
Funktion zukommt.
Im Blick auf den psychisch Kranken kann dies
dazu beitragen, ihn in der Gesamtgemeinde als
volles Mitglied zu beheimaten und in den
Basisgruppen der Gemeinden zu integrieren.
Die gesunden Mitglieder der Gemeinde sollen
so zur Annahme der Schwächen und Leiden
ihrer kranken wie gesunden Mitchristen ermutigt werden, damit die Kranken leichter zur
Selbstannahme ihrer Person und ihres Leidens
finden.
Soll die Frohe Botschaft angesichts der konkreten Not in der Gemeinde von den amtlichen
Verkündern richtig ausgelegt werden, müssen
diese treuen und nahen Kontakt zu ihren seelisch Kranken pflegen. Nur aus der Compassio", dem mitleidenden, d. h. nicht dem mitleidigen, Mitgehen mit den Kranken und
Armen kann die Frohbotschaft richtig gedeutet
werden.
Nicht extrinsisch ist die Gemeinde zu ihrem
Dienst an die Kranken, insbesondere die psychisch Kranken zu motivieren, d. h. im Sinne:
„Ihr sollt gemäß dem Evangelium das und das
tun ... ", also nicht durch religiöse Drohungen,
Mahnungen und Gesetze, sondern intrinsich,
d. h. von innen heraus, gilt es die Glaubenden
und Liebenden zu bewegen, z. B. einerseits
durch Relativierung unseres Wertsystems, das
alles nur unter dem Gesichtspunkt der Leistung und der Leistungsfähigkeit sieht, wie auf
der anderen Seite durch Bewußtmachung der
fundamentalsten Bedürfnisse und Werte, z. B.
des Wertes der emotionalen Beziehungen der
Menschen untereinander und des emotionalen
Beziehungswerts einer Begegnung mit psychisch Kranken bewußtzumachen (z. B. mit
einem Depressiven). Es gilt in der Weise zu
verkünden, daß das Herz und nicht nur allein
der Verstand und Wille angesprochen werden.
Die psychisch Kranken wie die Gesunden—die
in ihrer Weise ebenfalls Leidende und Lebensverarmte sind — sollten durch die Verkündigung der Taten Jesu und seiner Zeugen wie
"Wie heilvoll dieses Selbstverständnis der christliFranziskus, Vinzenz von Paul, Mutter Teresa
chen Gemeinde ist, zeigt folgende soziologische Reausw. angesprochen und ermutigt werden, trotz
lität: Je mehr psychisch Kranke ausgeschlossen und in
.
Anstalten abgedrängt werden, umso mehr wächst die
Verhaltensunsicherheit der Mitmenschen ihnen
gegenüber, und je weniger diese Unsicherheit überwunden wird, umso stärker wird die Isolation der
psychisch Kranken, vgl. Moltmann, a. a. 0., 40.
"Vgl. H. Pompey, Die geistliche Barmherzigkeit in
der gemeindlichen Krankenpflege, a. a. 0.
"Vgl. H. Pompey, Theologisch-psychologische
Grundbedingungen der seelsorglichen Beratung. In:
Christliches ABC — Heute und Morgen. Praktischer
Ratgeber für Lebensfragen und Lebenshilfe. Bad
Homburg 1986.
91
allem wieder an das Gute in jedem einzelnen zu
glauben.
Ferner könnten sich Gesunde und Kranke wie
Kranke untereinander austauschen über
gelungene Beziehungserfahrungen damit der
Glaube an das Gute wachsen und Hoffnung
auf eine Besserung in Sicht kommt. Der so
praktisch aufkeimende Glaube an das Gute soll
offenbar werden, um anderen, die noch draußen stehen, zu ermutigen, sich ebenfalls auf
diesen Weg zu begeben. Dieses Lebenszeugnis
der einzelnen und der Gemeinschaft bewirkt
Koinonia, d. h. das gelingende Leben des Menschen mit sich, der Menschen untereinander,
mit der Umwelt und mit Gott. Sie ist das Morgenrot der endgültigen Lebensfülle des Reiches
Gottes.
die für diesen Boden geeignete Saatfrucht. Es bedarf
für das Wachstum von Glaube, Hoffnung und Liebe
der richtigen Bewässerung und Düngung. Der Zeitpunkt der Ernte ist niemals genau zu berechnen, die
volle Reife ist geduldig abzuwarten denn so manche
Gewächse, Sträucher und Bäume tragen erst nach Jahren Frucht. Bekanntlich bringen auch Mono-Kulturen auf Dauer keine gute Frucht. Das Wachsen der
einzelnen Frucht soll im gesamt-ökologischen
Zusammenhang geschehen d. h. für uns im Regelfall
in einer Gemeinde und nicht in einer klinischen Einrichtung. Heilvoll im ganzheitlichen Sinne ist sie aber
nur, wenn der Gemeinde- bzw. Lebensbezug erhalten bleibt, d. h. die Kranken in ihrer Gemeinde in
Treue und Nähe beheimatet bleiben durch regelmäßige Kontakte. Unbestritten wird es immer auch
Mono-Kulturen geben müssen, d. h. klinische Einrichtungen, doch verdienen sie eine besondere Aufmerksamkeit, wenn sie auf Dauer eine gute Frucht
erbringen sollen.
4.2 Der Gottesdienst
Ein Ort des Wachsens von Glaube, Hoffnung
und Liebe in Treue und Nähe stellt auch der
Gottesdienst dar. Er umfaßt nicht nur die
Messe. Vielfältig sind seine Formen: Angefangen von den sieben Sakramenten als Heilszeichen, den sakramentalen, religiösen Ausdrucksformen wie Gebet, Meditation, geistliches Gespräch. Sie sollen die durch Jesus Christus eröffneten Heilsmöglichkeiten und die
geschenkte Heilskraft vermitteln und bestärken; denn wie jeder Christ muß auch der psychisch Leidende hieran Anteil haben.
Gerade in seelischer Labilität kann die Stabilität, Klarheit und Wiederkehr gottesdienstlicher Praktiken Sicherheit und Halt geben. Die
Multiplikation und ständige Modifikation de/liturgischen Formen muß bei psychisch Leidenden nicht unbedingt heilvoll sein. Das gilt
für den Kranken wie für die oft ebenso stark
leidenden Angehörigen.
Verschiedene pastoral-praktische Gesichtspunkte lassen sich hervorheben:
Deutlich und nicht zu hetzig sind die einzelnen
liturgischen Handlungen zu vollziehen, wollen
sie auf einer fundamentaleren Ebene Beziehung begründen, und zwar die Beziehung zu
Gott wie zu den Menschen'.
Das seelische Leid sollte Raum in den Gemeindegottesdiensten haben, ohne daß der seelisch
Leidende oder seine Angehörigen sich psy-
Entsprechend dem jeweiligen Leidensgrad sind vor
allem die seelisch Leidenden behutsam abzuholen.
Damit Wort und Taten Gottes als Samen fruchtbar
aufgehen, bedarf es der Vorbereitung des Bodens: er
muß aufgelockert, von Dornen und Steinen befreit
werden, d.h. den Bedrückungen, Ängsten ist Raum
der aggressiven wie regressiven Klage zu geben. Vielleicht kann dadurch der Gottesdienst, insbesondere
die Feier der Buße und Versöhnung (in der Einzelbeichte und im Versöhnungsgottesdienst), ein erster
und kleiner Schritt der Leidensbearbeitung sein. Die
Vorsteher sollen die Nöte und Leiden als Bitten vor
Gott bringen. Begleiter der Leidenden dürfen dabei
sicher sein, daß die Pforten der Hölle, d. h. des übermächtigen Bösen und Leidvollen, sie nicht überwältigen werden (Mt 16.18).
Es ist der rechte Zeitpunkt der Aussaat für die Samen:
Glaube, Hoffnung und Liebe zu wählen, alles hat
seine Zeit (Ko 3.1). Es ist Sensibilität dafür erforderlich, wann der richtige Augenblick für welche Ver kündigungsgeschichte, für welches Gebet, für welches Sakrament gekommen ist. Auch nicht die massenhafte Aussaat von Körnern bringt gute Frucht,
sondern die für den Glauben verträgliche Menge und
92
mDie Liturgie als Darstellung und Verlebendigung
sowie Erinnerung der Heilstaten Gottes kennt seit
altersher sprachliche und nichtsprachliche Elemente.
Die nicht-sprachlichen Elemente stehen kommunikationspsychologisch der analogen Interaktion und
Kommunikation nahe (vgl. P. Watzlawick, u. a.,
Menschliche Kommunikation; Formen, Störungen,
Paradoxien. Bern, Stuttgart, Wien, 3 1972, 50 — 71)
und begründen vor allem den Beziehungsaspekt jeder
Kommunikation und Interaktion. Die nicht-sprachliche Kommunikation/Interaktion in den vielfältigen
liturgischen Handlungen ist besonders elementar und
ursprünglich. Sie wird von allen verstanden, setzt
keine besonderen Sprachkenntnisse und keinen
besonderen Bildungsstand voraus. Sie wird auch in
der Finsternis der leidenden Seele oft noch am ehesten
vernommen.
chisch exhibitionier 'iüssen. Oft kann ein
Kranker nur in einer kleineren Gruppe, in)
Einzelgespräch und zum Teil erst im Nachhinein von sich und seinem Leiden erzählen. Im
Bereich der Liturgie ist ihr Leid zumeist stellvertretend zu formulieren, von dem, der dem
Kranken nahesteht, sei es ein Angehöriger, ein
Mitglied des Krankenbesuchsdiensts, der Pfarrer, ein Pfarreferent, ein hauptamtlich Mitwirkender der Caritas. Vorgeformte Gebete und
Psalmen sind eine große Hilfe, weil sie den einzelnen nicht persönlich verletzen und trotzdem Ausdruck von Leid und Not sind.
Den Schizophrenen, Depressiven, Manikern,
Phobikern, Skrupulanten sollte die Frohbotschaft so verkündet werden, daß ihr Glaube,
ihr Hoffen und Lieben wachsen kann. Die
Liturgie ist niemals Ort der Leidensverkündigung z. B. durch Beschreibung von psychosozialen Herrorbildern und Horrorszenen
unserer Zeit, dies würde im Blick auf die psychisch Leidenden zu einer Verstärkung ihres
eigenen Zustandes führen können.
Dagegen darf die Leidensklage, die Bitte um
Errettung vollen Raum haben. Das gilt für die
Betroffenen wie für die Angehörigen im gleichen Maße. Es trifft zu für den Gemeindegottesdienst, in dem der seelisch Leidende ebenfalls zuhause sein sollte, wie für den Gottesdienst mit Kranken in den verschiedensten
Spezialeinrichtungen.
Vielfach sind die Angehörigen die eigentlichen
Ansprechpartner der hoffnungsbringenden
Botschaft. Erst wenn sie im Glauben an das
Gutsein, in der liebenden Annahme und in der
Hoffnung auf einen guten Ausgang zu ihrem
kranken Angehörigen wachsen, kann Heil für
den Betroffenen werden. Es ist bekannt, wie
gerade psychisch Kranke und Behinderte in
ihrem Wohlbefinden abhängig sind von der
Befindlichkeit ihrer Angehörigen.
Darum ist auch das Spießrutenlaufen der Kranken und ihrer Angehörigen während der Gottesdienste wie auch bei sonstigen GemeindeVeranstaltungen zu vermeiden, d. h. das Blikken, Anblicken und Tuscheln, wenn ein psychisch Kranker zum Gottesdienst kommt und
sich im Gottesdienst anders verhält oder auffällig reagiert.
Die Praxis der geistlichen und leiblichen Werke
der Barmherzigkeit muß konkrete Form
annehmen: Im Besuchsdienst für die Kranken,
in Gesprächsangeboten für die psychisch
Kranken, in gemeinsamen geselligen und kreativen Veranstaltungen für alle Glieder der
Gemeinde bzw. ihrer Basisgruppen.
Die Gemeinde und ihre Basisgruppen sollten
Raum geben, daß das Unheil, die leidvolle
Wahrheit angesprochen und ausgesprochen
werden kann: Denn die Wahrheit macht frei
(Joh. 3,21, 8,32), doch sie ist stets in Liebe zu
sagen (Eph. 4,15). Mit den vielfältigen Ängsten, die Kranke und Gesunde hindern, aufeinander liebevoll zuzugehen, gilt es sich auseinanderzusetzen.
Gemeinsame Aktivitäten in dem genannten
guten Geist können Ängste abbauen und neue
Gemeinschaft stiften. Das sachliche Verstehen
des jeweiligen Leidenszustandes, das Einfühlen in akutes Leiden, das Hineinhören in den
Kranken, helfen dem Kranken, den Lebensrealitäten gegenüber horchend, gehorsam zu sein.
Dies gilt es in allen Handlungsfeldern der
Gemeinde: der Eltern- und Familienarbeit, in
Schule, Jugendarbeit usw. zu pflegen.
Treue und Nähe sind durchzuhalten bei der
Wegbegleitung für den Kranken und seine
Angehörigen durch die verschiedenen Phasen
der Leiderfahrung und Leidbewältigung, seien
es die depressiven wie die aggressiven Wegstrecken.
Selbsthilfegruppen sind in der Gemeinde zu
fördern, doch sollten sich auch Nicht-psychisch-Kranke der Initiative zugesellen. Die
leidende Familie, die leidenden Angehörigen
gehören unbedingt zu dieser Initiative. Dabei
empfiehlt es sich, neben der Gemeinsamkeit
auch einen Gesprächsaustausch für Kranke
und Angehörige getrennt anzubieten. Offenheit und Transparenz sind dabei wichtig, damit
kein Vertrauensverlust zwischen beiden Leidenspartnern aufkommt.
Der gefährlichen Tendenz ist zu wehren, psychisch Kranke (das gilt auch für andere Leidende und Randgruppen) ausschließlich auf
Facheinrichtungen zu verweisen. Dies kommt
der Verdrängung einer Leidenswirklichkeit
gleich und dient den sog. Gesunden lediglich
der Selbstberuhigung. Alle kirchlichen
4.3 Bruderdienst
Facheinrichtungen, seien es Beratungsstellen
Die im Gottesdienst von allen Gläubigen oder Kliniken, haben lediglich eine subsidiäre
erfahrene geistliche Stärkung soll im Bruder- Funktion, sind sekundärer und nicht primärer
dienst der Gemeinden fruchtbar werden.
Natur. Sehr schnell werden derartige Einrich93
tungen zum Alibi für die Unbetroffenen, um
vor dem konkreten Leid zu fliehen und sich der
konkreten Not und Hilfsbedürftigkeit nicht
auszusetzen. Sie stellen eine gute religiöse Entschuldigung dar, z. B. nur das Beste für die
Kranken zu wollen und eben dieses Beste mit
allen materiellen Kräften zu unterstützen. Nur
selbst möchten sie sich nicht einbringen.
Es muß überlegt werden, welche psycho-,
sozio- und körpertherapeutischen Aktivitäten
wieder in die Gemeinde, d. h. die Lebensgemeinschaft des Kranken zurückverlagert wer-den könnten, weil die Therapien nur unter diesen Bedingungen eine ganzheitliche und heilende Wirkung erzielen, d. h. das ganze
Lebensfeld heilen können. Denn der psychisch
Kranke ist nicht allein krank, sondern mit ihm
leidet seine ganze Lebensgruppe, die Familie,
die Partnerschaft. In vielen Fällen ist das LeidErleben bei den Angehörigen sogar noch größer als beim Betroffenen selbst.
Freizeit- und Urlaubsdienste gilt es in der
Gemeinde für psychisch Kranke einer Familie
einzurichten, d. h. für die Urlaubs- und Erholungszeit der Angehörigen einen Kranken längere Zeit als Gast aufnehmen, um so die Angehörigen zu entlasten. Gemäß der christlichen
Tradition der leiblichen Werke der Barmherzigkeit wie der Gastfreundschaft wird dadurch
Kranken Herberge gegeben. Im weiteren Sinne
geschieht dies auch, wenn in den Gemeinden
z. B. Wohngemeinschaften von Gesunden und
psychisch Kranken Raum und Annahme
eeschenkt wird.
Äußerlich unterscheiden sich die einzelnen
Aktivitäten einer Gemeinde kaum von den
Bemühungen anderer Selbsthilfegruppen und
Weltanschauungsgemeinschaften, doch in geistiger /geistlicher Hinsicht sollte sich der Bruderdienst der kirchlichen Gemeinden und ihrer
Basisgemeinschaften radikal vom Evangelium
1
prägen Lassens '.
Eine Gemeinschaft, die aus Glauben, Hoffnung und Liebe lebt und sich in Treue und
Nähe verbunden weiß, besitzt nicht nur eine
therapeutische Kraft und Chance, sondern
wirkt präventiv wie resozialisierend, ohne
dadurch die normalen psycho-, sozio- und
"Bekanntlich ist es der Geist, der lebendig macht
(Jo 6,64), der volles Leben in Fülle schenkt.
medizin-therapeutischen Maßnahmen außer
Kraft zu setzen".
5. Schlußbemerkung
Die hier vorgetragenen Aspekte sind den meisten Mitarbeitern von sozialen Hilfseinrichtungen nicht fremd; nur ihre praktisch-theologische Sprachform ist ungewohnt; gerade
heute werden viele ähnliche Gesichtspunkte
durch die Human- und Sozialwissenschaften
hervorgehoben", So bestätigen die Gemeinwesenarbeit, die Gemeindepsychiatrie und
andere das Selbsthilfeprinzip unter Einbeziehung der Betroffenen und der Angehörigen
sowie die Basisorientierung der Therapien der
therapeutischen und resozialisierenden Bemühungen. Die Ganzheitlichkeit des Krank- und
Gesundseins wird heute wieder klar gesehen
von den öko-systemisch geprägten sozial- und
psycho-therapeutischen Schulen.
» Die theologischen Grundbedingungen des Heilens
und des Gesundseins ergänzen die verschiedensten
therapeutischen Maßnahmen durch eine wichtige,
fundamentale geistige Dimension und bringen
dadurch die humanen, medizinisch-sozialen Anstrengungen zur vollen Wirksamkeit.
"Bei den entsprechenden human-wissenschaftlichen
Aussagen fällt aber auf, daß sie nicht so radikal formuliert sind, wie die theologischen Parallelaspekte. Das
hängt damit zusammen, daß der Theologe Maß
nimmt an dem neuen Menschen Jesus Christus und an
der Überzeugung: „Wer Christus, dem vollkommenen Menschen folgt, wird auch selber mehr Mensch"
(vgl. II Vaticanum, Die pastorale Konstitution über
die Kirche in der Welt von heute, „Gaudium et Spes",
Nr. 41). Die Vergleichbarkeit bzw. Gleichheit der für
das Heil des Menschen wichtigen Grundtaten aus der
Psycho-Logik, der Sozio-Logik, der Physio-Logik
usw. mit den Aussagen der Theo-Logik, der SoterioLogik usw. ergibt sich ferner daraus: Daß es theologisch keinen Widerspruch zwischen den Erkenntnissen des Glaubens und der Wissenschaft geben kann.
Das hängt ebenfalls mit Jesus Christus zusammen,'
weil Gottes Erlösu,ngstat in Jesus Christus nicht im
Widerspruch zu dem Gesetz und der Logik seiner
Schöpfung, der psychischen, der sozialen, der somatischen Natur usw. stehen kann. Die der seelischen,
sozialen und körperlichen Natur vorgegebenen Möglichkeiten und Gesetze heilvollen und gelingenden.
Lebens finden ihre Überhöhung durch die Erlösungstat Jesu Christi. Sie werden nicht außer Kraft gesetzt
und durch andere ersetzt, sondern verstärkt (vgl.
Thomas von Aquin, S. Th. I, 1.8 ad 2.; K. Rahner,
Natur und Gnade, in: den., Schriften zur Theologie
IV, Einsiedeln 5 1967, 209 236).
—
Selbst das Wissen um die heilende »Wirk"lichkeit, die hier Glaube, Hoffnung und Liebe
in Nähe und Treue genannt wurde, ist z. B. der
sog. Vergleichenden Therapieforschung nicht
unbekannt«) ; denn ohne die selbst- und bedingungslose Annahme eines seelisch kranken
Patienten seitens des Therapeuten, ohne die
Wertschätzung seines Patienten, daß in ihm
gute Wachstumskräfte stecken, und ohne die
tJberzeugung, daß sich diese von innen heraus
auch entfalten können, gelingt kaum eine therapeutische Beziehung, wird kein Klient fähig,
sich und seine Leidensrealitäten anzunehmen,
an sein Gutsein zu glauben und zu hoffen, daß
neue Lebensmöglichkeiten sich trotz allem
entfalten können. Es ist evident, daß der
Patient, insbesondere auch der psychisch Leidende, nur so in die Lage versetzt wird, seelisch zu gesunden. Glaube, Hoffnung und
Liebe stehen den sog., Basisbedingungen therapeutischer Beziehungen nahe.
In dieser Weise, d. h. aufbauend auf die natürlichen Gegebenheiten des Humanen ist Kirche
überzeugt, » zu einer humaneren Gestaltung
der Menschheitsfamilie und ihrer Geschichte
beitragen zu können" 41 . Zur heilvollen Tat
wird diese aber erst an der Basis, der Ortsgemeinde und ihren Basisgemeinschaften.
Darum sollte gezeigt werden, wie real die
Glaubens- und Liebespraxis einer christlichen
Gemeinde für psychisch Kranke wirksam werden kann. Äußerlich unterscheiden sich dabei
die Bemühungen einer Gemeinde kaum von
anderen Selbsthilfegruppen und Organisationen, der Geist ist es, der radikal anders zum
Tragen kommen will. Der Geist, der eine
eigene Logik besitzt. Dazu sollte die SoterioLogik, d. h. die Heils- und Erlösungs-Logik
des katholischen Glaubens an Jesus Christus
erschlossen werden, um wiederum dadurch die
Theo-Logik des kirchlich-caritativen Handelns aufzuzeigen und die daraus sich ergebenden praktischen Konsequenzen zu benennen.
Nicht zuletzt geschieht dies, damit die Mitarbeiter kirchlich-caritativer Werke aus dieser
Logik ebenso qualifiziert und vorbildlich handeln und arbeiten, wie sie es aufgrund der
gelernten Psycho- und Sozio-Logik bereits
tun.
Vgl. II. Vaticanum, Die pastorale Konstitution über
die Kirche in der Welt von heute, „Gaudium et Spes",
Nr. 40.
41
°Vgl. Pompey, Theologisch-psychologische Grundbedingungen, a. a. 0.
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