Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg HEINRICH POMPEY Psychisch Kranke und die Heilssendung der Kirche Theologisch-anthropologische Aspekte des Dienstes der Gemeinden für leidende Menschen Originalbeitrag erschienen in: Caritas 87 (1986), S. 83-95 Heinrich Pompey Psychisch Kranke und die Heilssendung der Kirche Theologisch-anthropologische Aspekte des Dienstes der Gemeinden für leidende Menschen 1. Psychiatrie-Enquete im Blick auf Kirche, Glaube und Seelsorge Zehn Jahre Psychiatrie-Enquete' ist Anlaß zurückzuschauen, inwiefern die Lage, d. h. die psychiatrische und psycho-soziotherapeutische Versorgung der Bevölkerung in der Bundesrepublik richtig eingeschätzt und inwiefern wirkungsvolle Veränderungen von diesem Bericht ausgegangen sind. Dem Theologen und Pastoralpsychologen, wie aber auch dem Sozialpädagogen und klinischen Fachpsychologen fällt dabei besonders die klare professionelk Orientierung der vorgeschlagenen psychiatrischen, psycho- und soziotherapeutischen Hilfen auf. Die angeratene Hilfe wird fast ausschließlich von Fachexperten und Fachinstitutionen erwartet. Die betroffenen Kranken gelten primär als Hilfe-Empfänger. Andere psychosoziale Ressourcen d. h. Hilfsmittel, heilende Kraftreserven werden im Blick auf die psychisch Kranken unserer Gesellschaft weder gesehen noch reflektiert. Das Selbsthilfeprinzip, die Überzeugung, daß die Betroffenen und ihre Angehörigen über therapeutische Kräfte verfügen, kommt bei diesem Bericht nicht in den Blick. Die Überzeugung der Machbarkeit und Lösbarkeit aller Probleme durch Optimierung der Wissenschaft ihrer Fachvertreter wie Facheinrichtungen, die Überzeugung des unbegrenzten Wachsens der finanziellen und materiellen Mittel der Gesellschaft iss*. verstellen dee. Blick bzen tauen die Erkenntnisse der Gemeinwesenarbeit für über" flüssig erscheinen. Die Sozialpädagogik bzw. Gemeineresenarbeit, aber auch die praktische Theologie, insbesondere Pastoraltheologie und Christliche Sozialwissenschaft, kannten * Deutscher Bundestag, Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland — Zur psychiatrischen und psychotherapeutisch-psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung— Drucksache n42 000 Bonn 1975. schon immer ein Verständnis von Hilfe, was sich mit dem Stichwort Selbsthilfe-Prinzip in der Gemeinwesenarbeit und Subsidiaritätsprinzip in der praktischen Theologie kennzeichnen läßt. Der Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ideologie des unbegrenzten ökonomischen Wachstums der Wirtschaft führte viele Perspektiven der Enquete praktisch ad absurdum. Es ist die Gesamtwirklichkeit der Gesellschaft und ihrer Menschen nicht qualifiziert in den Blick genommen worden, so daß unter den sozio-ökonomischen Bedingungen vieles ein reiner Wunsch blieb, der sich wohl kaum so schnell, wenn überhaupt, verwirklichen läßt. So kann die Enquete zum Teil als Wunschzettel, aber in vielen Aspekten kaum als wissenschaftlich fundierte Situations- und Perspektivenbeschreibung angesehen werden. Das soll nicht heißen, daß keine Wünsche und Ideale beschrieben werden dürfen. Gerade die Verkündigungspraxis der Kirche ist dadurch gekennzeichnet, daß sie immer wieder Ideale des Menschseins und der menschlichen Gesellschaft beschreibt und die Gläubigen ermutigt, dem Urbild und dem Vorbild aller Menschlichkeit: Jesus Christus nachzufolgen. Aber sie weiß, daß sie Ideale verkündet, deren Vollendung immer aussteht und die auf Wachstum der Herzen und nicht der materiellen Güter setzt. Durch die Brille der Professionalisierung und Institutionalisierung wird in der Enquete auch die Kirche und ihre Hilfen für psychisch Leidende eingesette Ihre Gemeindebasis und ihre Nähe zum direkten Lebensraum der psychisch Leidenden kommt jedoch nicht in den Blick. Berechtigte Wunschvorstellungen bezüglich eines präventiven bzw. resozialisie - renden Mileus werden nicht formuliert. Nur der Seelsorger als Experte und Ansprechpartner vor Ort, als sog. Basis-Arbeiter wird gesehen2 , und dessen pastoral-psychologische Qualifizierung mit Recht gefordert. Die thera'Vgl. ebd. Kap. B2, 1.1.3., 193. 83 peutische Qualität von Basisgemeinschaften., von freiwilligen Helfergruppen, von Selbsthilfegruppen usw., tritt noch nicht in den Blick wie ebenso nicht ihre p'sycho-hygienische Optimierung. Unbestritten ist es aber auch den wenigsten Kirchen-Gemeinden gelungen, sich als eine therapeutisch wirksame psychosoziale Größe darzustellen, noch zu erweisen, d. h. mit den Worten des Konzils wirkmächtiges „Zeichen und Werkzeug"' des Heils zu sein. Kirchlichen Out-Sidern bzw. den Fachleuten des psycho-sozialen Bereichs dürften bei der Abfassung der Enquete die Selbstdefinitionen der Kirche, die mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine besondere Lebensbezogenheit erhielten, kaum bekannt gewesen sein. Es war faktisch nicht transparent genug, daß „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, . . . auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi" sind und daß es „nichts wahrhaft Menschliches» gibt „das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände" und daß darum „diese Gemeinschaft sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden» erfährt 4 . So fragt sich: 1. Inwieweit Kirche und Gemeinde — aus durchaus idealer Sicht — ihrerseits die Psychiatrie-Enquete zum Wohl der Menschen, insbesondere der psychisch Leidenden, fortschreiben können und wie. die „Wirklichkeit Kirche, „Werkzeug und Zeichen des Heils» zu sein, für psychisch Kranke ausieht. 2. Wie die menschlichen und religiösen Ressourcen verborgene Heilungskräfte und Reserven für die Leidenden, speziell die psychisch leidenden Menschen, fruchtbar werden können und wie die Gemeinde vor Ort die vom Konzil betonten „Wirk"lichkeiten des Glaubens heilvoll entfalten sollen? Ent'sprechende Antworten aus der Tradition des Glaubens eti, finden, - setzt die Einschätzung, und Ergründung der Fragesituation des Menschen voraus'. , Vaticanum, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium» Nr. 1. *II. Vaticanum, Die pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute, „Gaudium et Spes", Nr. 1. 'Vgl. M. v. Kriegstein, Paul Tillichs Methode der Korrelation und Symbolbegriff, Hildesheim 1975, 33 —71. 84 2. Das psycho-soziale Elend unserer Zeit Es ist nicht Aufgabe, die verschiedenen objektiven Daten zur Situation psychisch Kranker in unserer Gesellschaft vorzustellen 6 . Dagegen scheint es dringender, Grunddeterminanten, allgemeine anthropologische Feststellungen bzw. Grundaussagen psychosozialer „Wirk"lichkeit der Gesellschaft und der psychisch Kranken festzuhalten, die die nachfolgenden Überlegungen im wesentlichen mitcharakterisieren. 2.1. Die gewaltigen Veränderungen unserer Gesellschaft in den letzten 200 Jahren haben deutlich ihre psycho-sozialen Leidensspuren hinterlassen: —Die Mobilität durch Eisenbahn und Auto führten zu einem Verlust von Beheimatung, Verwurzelung und sozialer Sicherheit; —die Industrialisierung mit ihrer Massenproduktion und Fließbandarbeit führte zum Verlust von unmittelbarer Erfahrung von Wachsen und Werden der verschiedensten Lebensgüter und damit zu einem Verlust von unmittelbarer Sinnerfahrung in der Arbeit; —die Auflösung der Großfamilie führte zur Verlagerung der Lebensfrustrationsverarbeitung auf nur wenige Personen, die ebenfalls aus den verschiedensten Konfliktbereichen: Arbeitswelt, Schulwelt usw., psychische Belastungen mitbringen und deswegen wenig aufnahmebereit für andere Probleme sind. Die sog. Kleinfamilie ist psychisch zu klein; —die Medienexplosion bewirkte eine Überinformation, eine Überproblematisierung und führte zur Infragestellung eigener Wertkonzepte, zur Aufputschung neuer Bedürfnisse usw. Es hat zumindest den Anschein, daß die soziale und kulturelle Umgestaltung unserer Gesellschaft nach einem von den Menschen selbst entworfenen Leitbild 1,zw. , Götzenbild) die Menschen unserer Weltregion nicht gerade glücklicher und zufriedener gemacht hat. Sicher ist die materielle Not gewaltig reduziert worden, auch die Bedrohung des Leibes durch Krankheiten scheint gemildert zu sein, doch 'Vgl. Zentralrat des Deutschen Caritasverbandes, Hilfe für psychisch kranke und psychisch behinderte Menschen — Neue Ansätze, Aufgaben und Dienste der Caritas. In: Unser Standpunkt, Nr. 17, Freiburg '1985, 11 —15. diese Fortschritte sind vielfach durch neue psychosoziale Leiderfahrung erkauft worden. Ein Blick auf die Menschen der südlichen Welthälfte macht deutlich, daß dort zwar materielle Not und Krankheit grausam herrschen, doch von einem psycho-sozialen Elend ist in diesen. Regionen wenig zu spüren, bzw. psychosoziale Probleme werden in diesen Kulturen, wo die alten Lebensstrukturen noch intakt sind, wesentlich selbstverständlicher, natürlicher und sicherer gelöst, und zwar nicht nur von Experten, sondern von der ganzen Lebensgemeinschaft und Lebensgruppe'. 2.3. Ferner darf festgehalten werden, daß psychisches Leid immer auch den Leib und den Geist des Menschen leidvoll erschüttern. Psychisches Leid läßt den Menschen ganzheitlich krank sein, seelisch, körperlich, geistig und sozial. Das seelische Leid findet fast immer auch seinen körperlichen Ausdruck: die sog. psychosomatischen Begleiterscheinungen wie Migräne, Hautallergien, Herz- und Kreislaufinsuffizienzen, organische Beschwerden usw. Ebenso sind die „normalen" Lebenswerte, Lebensperspektiven wie der Lebenssinn geistig existentiell in Frage gestellt. 2.2. Es zählt zum Allgemeinwissen, zumindest bei den Fachleuten, daß Verursachung und Auswirkung einer seelischen Krankheit, daß Erleben und Verhalten des einzelnen psychisch Kranken nicht nur eine individuelle „Wirk"lichkeit darstellt, die allein den Kranken etwas angeht und für die der Kranke allein verantwortlich ist. Die psycho-sozialen „Wirk"-lichkeiten der jeweiligen Gesellschaft: ihre Streßfaktoren, ihre Wertvorstellungen bezüglich. gelingenden Lebens, ihre Organisationsstrukturen usw. geben der individuellen psychischen Erkrankung deutlich ihr Gepräge. Die Behinderung der Kranken durch die Gesunden stellt eine erhebliche Leidensverstärkung dar. So muß ganz entscheidend das Verhältnis von psychisch Gesunden und psychisch Kranken selbst gesund und menschlicher werden'. Wo die Kranken zusätzlich krank gemacht werden, „kann die Gesellschaft der Gesunden nicht als ‚gesund' im Sinne der Anerkennung des Menschlichen genannt werden'. Diese Leidensverstärkung geht im wesentlichen darauf zurück, daß die sog. Nicht-Kranken selbst psycho-sozial beeinträchtigt bzw. krank sind. 2.4. Umgekehrt hat jede körperliche Krank- 'Auffällig ist die um 1/3 geringere Suizidalitätsrate in den Ländern der Dritten Welt, insbesondere in den islamischen Ländern, vgl. Changing patterns in suicide behavior, Euro-Reports and Studies 1974, Hrsg. World Health Organisation, Copenhagen 1983; C. Reimer, Suizid, Ergebnisse und Therapie. Berlin/ Heidelberg/New York 1982, 18. 'Vgl. J. Moltmatm, Die Rehabilitation Behinderter in einer Segregationsgesellschaft, in: 'ders., Diakonie im Horizont des Reiches Gottes: Schritte zum Diakonentum aller Gläubigen. Neu-Kirchen — Vluyn 1984, 42-5!, 42. 'Ebd. 2.6 Die psychische Erkrankung selbst hat eine heit, jede persönliche Krise und jeder zwischenmenschliche Konflikt eine psychische Komponente, also in der Verursachung wie in der Auswirkung. 2.5. Alle Menschen geraten in irgendeine Krise, irgendeinen Konflikt, unter irgendeinen Streß und leiden an irgendeiner körperlichen Unzulänglichkeit mehr oder weniger stark; deshalb ist keiner frei von psychischen Belastungen, psychischem Leid, psychischer Betroffenheit usw. So gibt es nur graduelle Unterschiede zwischen den psychisch Kranken und den sog. Gesunden, aber keine prinzipiellen. Ist die psychische Leidenskomponente nicht so groß, dann sind vielfach die sozialen, die somatischen oder auch die geistigen Auswirkungen des jeweiligen Leidens beschwerlicher. Keiner hat also Grund, sich über die psychisch Kranken zu erheben, sondern ist stets selbst der Hilfe bedürftig, sei es durch die der sog. „normalen" Lebenstherapeuten: Angehörige und Freunde, — die übrigens den größten Teil des psychischen Leids bearbeiten — oder durch direkte Helfer: Pfleger, Ärzte, Sozialarbeiter, Psychotherapeuten. sog. multi-kausale Noxe, primär, genetisch, konstitutionell gegebene Ursachen (endogen) oder sekundäre, lebensweltbedingte Ursachen (exogen) wie Verkehrsunfälle, bio-chemische Schädigungen, schwere psycho-soziale Lebensbeeinträchtigungen usw. Zumeist bewirken psychische Primärerkrankungen auch eine starke Veränderung des Lebensmileus, d. h. der Familie, des Nachbarschaftsraumes, was wiederum zu Reaktionen, also Beeinträchtigungen für den Kranken führt. Nicht 85 unerheblich für Erleben und Verhalten des Leidenden und seiner Umwelt ist bei einer psychischen Erkrankung, ob die Krankheit chronisch, phasenhaft oder einmalig akut ist. Auch dies ist wiederum nicht nur bedeutsam für den Kranken wie für die Familie, sondern auch für die weitere Umwelt und Gesellschaft. Ist ein Glied krank, so haben alle Anteil daran. Die „Wirk"-lichkeit der Krankheit läßt sich nicht verdrängen. Und wenn es geschieht, dann kommt es zu unkontrollierten, unbewußten Reaktionen, die wesentlich unheilvoller sind. 2.7. Zur Beschreibung der verschiedenen psychischen Leidenszustände sei auf folgende Aufzählung verwiesen'''. Psychisch kranke sind Menschen: die in vielen Lebenssituationen vor unlösbaren Konflikten stehen; die mit Spannungen, Konflikten und Anforderungen ihres Lebens nicht mehr oder nur ungenügend zurechtkommen; die den Realitätsbezug verloren haben oder denen der Zugang zur Realität versperrt ist; die Störungen in zwischenmenschlichen Beziehungen und in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt haben; die unter ihren Kontaktstörungen leiden, nicht unbefangen mit anderen umgehen können und isoliert von sozialen Beziehungen leben; deren Harmonie im Wahrnehmen, Erinnern, Wollen, Fühlen, Sprechen, Denken gestört ist; die Wahrnehmungsstörungen und Wahnvorstellungen haben; die verstärkt Gefühle der Wertlosigkeit, inneren Leere, Niedergeschlagenheit und Verzweiflung erleben; die unter dem Druck unbegründeter Ängste leben; die Stimmen hören, glauben, von fremden Mächten beeinflußt zu werden, Verfolgungsoder Vergiftungsängste äußern und sich beob- achtetedethintergangen fühlen. 3. Die „Wirk"-lichkeit der Gemeinden Es ist vermutlich mühselig, nach Gemeinden Ausschau zu halten, die hilfreich und heilend dieser anthropologischen Realität psychischen Krankseins auch nur annähernd gerecht werden, die konkret „Zeichen und Werkzeug des Zentralrat des Deutschen Caritasverbandes, a. a. 0., 12. 86 Heiles" für psychisch Leidende und Beladene sind, die im Namen Jesu einladen: „Kommt her, die ihr mühselig und beladen seid, ich werde euch erquicken'. Unbestritten gibt es Ansätze der Hilfe, doch aus der Sicht der bekannten Leidensrealitäten wie aber auch des Selbstverständnisses der Kirche ist eine Neuorientierung der Gemeinden einzuleiten und sind Aspekte der Hilfe aufzuzeigen'. Um die Heils-„Wirk"-lichkeit der Kirche zu verstehen und daraus entsprechende Ableitungen für das Handeln der Gemeinde vornehmer), zu können, sei das Selbstverständnis der Kirche kurz beschrieben: Kirche versteht sich als Grundsakrament des Heiles und der Erlösung, d. h. Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit", d. h. Instrument der Lebensfülle in der Beziehung des Menschen zu Gott und der Menschen untereinander zu. sein'. Sie stellt die heil- und lebensvolle Beziehung zu Gott und der Menschen untereinander dar und ist zugleich Werkzeug, um dieses zu bewirken. Seit der Gründung der Kirche am ersten Pfingsttag verkündet sie die mit Jesus Christus erfolgte und angebrochene Erlösung der Menschen, um sie einzuladen, an seinem Werk der Erlösung teilzuhaben. Im Gottesdienst (Liturgie:) und Nächstendienst (Diakonie; Apg 2,45) ist sie nicht nur Künderin, sondern auch Mittlerin, Werkzeug dieses Heils. Sie fühlt sich, wie ihr Herr Jesus, gesandt „den Armen Frohe Botschaft zu bringen, zu heilen, die bedrückten Herzens sind" (Lk 4,18) 14 . 11 II. Vaticanum, Die dogmatische Konstitution über die Kirche, „Lumen Gentium", Nr. 1. 'Die Kirche und ihre konkrete lebensvolle Ausprägung in der jeweiligen Gemeinde versteht sich selbst als: „Ecclesia semper reformanda", als eine Heilsgemeinschaft, die der ständigen Erneuerung, d. h. auch Erinnerung an Jesus Christus bedarf. Sie weiß, daß sie in ihrer eigenen „Wirk"-rnöglichkeit immer auch gefährdet ist und von daliersich stets unter das eigene Ideal zu stellen hat, um den Wegund Ziel besser verfolgen zu können. In diesem Sinne sollen die heilvollen Möglichkeiten der Kirche und ihrer Gemeinden verdeutlicht werden. Nicht als Ist-Stand-Beschreibung sondern als Soll-Stand-Aussage, vgl. H. Pompey, Von der Pastoralmedizin zur Pastoralanthropologie In: Von der Pastoraltheologie zur Praktischen Theologie. 15. Forschungsgespräch des IFZ Salzburg, 1976, 159 — 197. 13 Vgl. Die dogmatische Konstitution über die Kirche, „Lumen Gentium", Nr. 1. "Vgl. ebd., Nr. 8. Um Koinoia (Apg z,42; 2,44) zu bewirken, also gelingende Beziehung des Menschen zu Gott, zu sich selber, der Menschen untereinander und der Natur", hat Kirche in diesen drei Grundvollzügen: Verkündigung, Gottesdienst, Bruderdienst, die Heils„wirklichkeit in Jesus Christus gegenwärtigzusetzen, um sie der Vollendung im Reiche Gottes entgegenzuführen. Gottesdienst und Nächstendienst sind aber nicht trennbare Bereiche: Wer sagt: Er liebt Gott, aber haßt den Bruder (1. Job 2,7 11), kann kein Christ sein. Oder: „Was ihr den Geringsten meiner Brüder getan habt, habt ihr mir getan» (Mt 25,34) macht die Einheit von Gottes- und Nächstendienst deutlich'. Die juden-christliche Überlieferung beschreibt von Anfang an das Leid als ein vielschichtiges Geschehen. Der erste Adam wollte, nachdem er zur vollen Freiheit der Entscheidung herangewachsen war, nicht glauben, nach dem lebensvollen Vorbild Gottes geschaffen zu sein. Er konnte seine Wahrheit als Lebens„Wirk"lichkeit nicht liebevoll und vorbehaltlos annehmen und zweifelte. Er konnte nicht hoffen, daß das Gutsein seiner Person und seiner Lebenswelt optimal wachsen würden. Das » Ur-Mißtrauen" nahm seinen Anfang und zerstörte die lebensvolle unmittelbare Beziehung zu Gott. In jeder Lieblosigkeit, Glaubens — und Hoffnungslosigkeit ist bis auf den heutigen Tag dieses » Ur-Mißtrauen" präsent". So nahm das Böse, das Schuldigsein seinen leidund unheilvollen Lauf und führte zur schweren Beeinträchtigung der Beziehung des Menschen zu sich selber (Er erkannte, daß er nackt war; Gen 3,7), zum Nächsten (Mann und Frau beschuldigen sich gegenseitig; Gen 3,12 f.) und zur Natur (Die Mühsal der täglichen Arbeit und des Lebens in der Familie; Gen 3,16-19). Doch Gott hat trotzdem beschlossen „die Menschen zur Teilnahme an dem göttlichen Leben zu erheben, und als sie in Adam gefallen - "Vgl. Lineamenta der Bischofssynode, Berufung und Sendung der Laien in Kirche und Welt — 20 Jahre nach dem II. Vatikanischen Konzil. Vatikan 1985, Nr. 30. "Das Unheil wird ganzheitlich, alle Lebensperspektiven umfassend erfahren und gesehen, so muß auch das Heil umfassend sein, das die Beziehung zu Gott wie zum Menschen einschließt. 'Das Faktum des „Ur-Mißtrauens" findet unter anderem seinen theologisch-anthropologischen Niederschlag in der Lehre von der Ur-Schuld. waren, verließ er sie nicht" 18 . Er stiftete einen Heilsbund, durch den der neue Adam: Jesus Christus die ganze Lebensfülle den Menschen wieder ermöglicht, d. h. Koinoia schenkt: Die lebensvolle Beziehung des Menschen zu sich, zum Nächsten, zur Natur, und zwar auf der Basis der gelingenden Beziehung zu Gott als der fundamentalen Beziehung. Gott wurde in Jesus Christus als Heiland heilvoll heilend in Raum und Zeit — die beiden Grunddimensionen unserer Lebens-„wirk"lichkeit — konkret und erwies sich dadurch — gemäß seinem Namen — als der Treue und Nahe; denn die räumliche Dimension unseres Lebens theo-logisch operationalisiert bzw. heilvoll aktualisiert und übersetzt heißt Nähe und die zeitliche Dimension unseres Lebens theo-logisch übersetzt und in die heilvolle Tat gesetzt heißt Treue. Nähe und Treue sind die heilvolle Radikalisierung von Raum und Zeit. Bereits der Name Gottes besagt: Ich bin der Treue (and Nahe und der Name Jesus heißt: Es ist wahr, Gott ist der Treue und Nahe. In Raum und Zeit, also in Treue und Nähe zu den sich verfehlenden Menschen,, hat Jesus Christus bei den Menschen die Verweigerung der liebenden Akzeptanz des eigenen Lebens und der ganzen Lebensum- und mitwelt, die Verweigerung des Glaubens an das Gutsein des Menschen und der ganzen Schöpfung, die Verweigerung der Hoffnung, daß dieses Gutsein aller Wirklichkeiten sich lebensvoll entfaltet, radikal überwunden und das Lebens-notwendige Urvertrauen wieder hergestellt, indem er sich auf die Leidenswelt und „Wirk"-lichkeit des Menschen voll einließ, psychisch, geistig, körperlich und sozial radikal das Leid der Menschen selbst auf sich nahm, d. h. von den Freunden verlassen sozial, an sich selber irr (geistig), psychisch gebrochen (seelisch) und körperlich bis zum Tode gemartert (leiblich), hat er trotz allem den Glauben an das Gutsein Gottes, des Mitmenschen, seiner eigenen Person und der /Welt ,-(zA. gegenüber Pilatus, gegenüber den Schächern und im Garten Gethsemani gegenüber Gott), die Hoffnung, daß doch alles zu einem guten Ende führt (z. B. in dem Gebet: „In Deine Hände empfehle ich meinen Geist" (Lk 23,46) und die liebende Annahme seiner eigenen Person, Gottes und der Nächsten durchgehalten. Damit stand er "Vgl. dogmatische Konstitution über die Kirche, „Lumen Gentiumn, Nr. 2. 87 voll zu seiner Wahrheit, wodurch er sich und uns neue Lebensmöglichkeiten, also die Auferstehung zu neuen Lebensmöglichkeiten eröffnete, eine Auferstehung, die bereits hier und jetzt ihren konkreten Anfang nehmen kann, wenn in Treue und Nähe Glaube, Hoffnung und Liebe — vermittelt durch einzelne und mehrere Menschen — die leidvollen Wirklichkeiten durchdringen. Der Kirche hat Jesus Christus den wiedergewonnenen heilvollen Glauben, das heilvolle Hoffen und das heilvolle Lieben und damit das Stehen zur eigenen Wahrheit gemäß dem Vorbild Jesu Christi anvertraut. Als „Gemeinschaft» des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe versteht sich die Kirche", will sie Zeichen und Werkzeug des Heiles sein". Gott hat „die Menschen nicht einzeln, unabhängig von aller wechselseitigen Verbindung" mit seinem neuen Geist des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe heiligen und retten wollen, sondern machte sie zu einem Volk und schloß mit ihm einen Bund" 21 . Gottesdienst und Nächstendienst wollen diesen Glauben, diese Hoffnung und diese Liebe verkünden und gleichzeitig wirkungsvoll werden lassen, damit zumindest anfanghaft bereits hier und jetzt die Auferstehung zu neuen Lebensmöglichkeiten für alle Kranken und Leidenden, für die Armen und Schwachen erfahrbar werde. Dabei weiß die Gemeinschaft der Glaubenden, Hoffenden und Liebenden, daß das » Reich Gottes», das Reich aller gelingenden und lebensvolle n Beziehungen, daß dieses Reich des Friedens und des Lebens in Fülle in seiner Endgestalt aussteht. In dieser allgemeinen theo-logischen Beschreibung der Kirche und damit Gemeinde„Wirk"-lichkeit, wird die Heilsmöglichkeit des Glaubens noch nicht sehr durchsichtig und konkret, die psycho-soziale „Wirk"-lichkeit noch' nicht genügend handhabbar. Doch zunächst »sei festgehalten, J auch theo-logisch hat jedes übel, jedes Leid seine Auswirkungen in der Beziehung des Menschen zu sich (psychisch, somatisch, geistig), zum Nächsten (gegenüber den Verstorbenen, den Lebenden, wie auch der künftigen Generation), zur Natur (die ökonomischen, institutionellen, bio-ökologischen Lebensbedingungen) und letztlich "Ebd., Nr. 8. "Ebd., Nr. 1 und Nr. 8. 21 Ebd., Nr. 9. 88 zu Gott. Das Leiden geht zurück auf den Verlust des Urvertrauens, d. h. nicht mehr an das eigene Gutsein, das des Nächsten und das der Lebenswelt glauben zu können, keine Hoffnung mehr zu haben, daß sich noch irgendetwas Gutes regt und das Gute wächst, sowie nicht fähig zu sein, den Nächsten und die Lebenswelt „trotz allem” noch liebevoll und vorbehaltlos anzunehmen. Wenn so der Ursprung und die Wurzel alles Übels verstanden wird und in dieser Weise alles Leid der Welt zustande kommt, wird die Therapie, das Heil-sein, d. h. theologisch das Heilig-sein auch in jeder einzelnen Leidenssituation allein durch Umkehr möglich. Der Mangel an Glaube, Hoffnung und Liebe bindet Lebensphantasie und Lebensenergie: Beispielsweise kreisen die Kranken — gleich welcher Leidensart — oft um Gedanken: wie es anders sein könnte, wenn . . . ; Sie träumen davon, als sei alles wieder wie zuvor. Sie verdrängen die bittere Lebensrealität. Ferner richten sie ihre ganze Energie gegen die Krankheit, gegen die unausweichliche Lebens- und Leidensrealität. Sie sind voller Aggression, voller Resignation. Diese berechtigten Empfindungen verbrauchen aber die ganze Lebensenergie. Gelingt es, daß ein neuer Geist, ein heilender Geist in ihnen Einzug hält, d. h. daß der Kranke wieder glauben kann an das Gutsein, er wieder hoffen kann auf einen lebensvollen Ausgang und daß er die Lebensrealitäten „trotz allem» annehmen kann, dann werden selbst bei einer chronischen Krankheit neue Lebensperspektiven wieder sichtbar und ein erstes anfanghaftes Auferstehen zu neuen Lebensmöglichkeiten kann sich ereignen. Verwiesen sei auf eine querschnittsgelähmte Frau, die an einer Herzlungenmaschine angeschlossen ist und. künstlich beatmet wird, deren Kopf allein noch „richtig" lebt. Ihr gelingt es, trotz dieser äußerst reduzierten Lebensrealtität nach der Wiedergewinnung des Glaubend an das eigene Gutsein und der Mitmenschen, der Hoffnung, daß auch unter diesen Lebensbedingungen gute gelingende und sinnvolle Lebensbeziehungen wachsen, und der liebenden, bedingungslosen Aufnahme dieser gräßlichen Leidensrealität, anfanghaft zu neuen Lebensmöglichkeiten aufzuerstehen. Sie konnte Briefe diktieren und Telefongespräche führen und wurde so Zufluchtsstätte vieler Leidender und Suchender. Ihr konnten andere Kranke Glauben, Hoffen und Lieben abnehmen. Sie war Zeichen und Werkzeug des Heils. In keiner Weise bejubelte sie ihr Schicksal, liebend gern wäre sie körperlich wieder gesund geworden, auch überhöhte Es ist plausibel, daß diese Praxis des Glaubens, der Hoffnung und des Liebens seine heilende Kraft optimiert, wenn sie nicht allein Sache eines einzelnen, sondern Anliegen einer ganzen Gruppe wird. So hat es Gott gefallen: „Die Menschen nicht einzeln, unabhängig von aller wechselseitigen Verbindung, zu heiligen und zu retten', sondern er hat mit ihnen einen Bund geschlossen, den neuen Bund mit seiner Kirche'', die ihre Erfüllung im „Reich Gottes" findet'''. Alle Glieder sind aufgerufen, diese Heils-„Wirk"-lichkeiten in dieser Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe zu leben, damit die Kirche Grundsakrament des Heiles in dieser Gesellschaft sein Der neue, heilende und heilige Geist setzt neue kann'. In der ständigen Darbringung dieses Lebensphantasien und neue Lebensenergien Opfers der Liebe, der Hoffnung und des Glaufrei, heißt doch dieser Lebensspender selbst: bens'', d. h. des Sich-einlassen auf diese Kreator, Schöpfer und Erfinder und Dynamis, „Wirk"-lichkeiten vollziehen die Glieder died. h. Kraft und Energie. Er ist Schöpfer von ser Kirche einen Gottesdienst, der zugleich Möglichkeiten und Kraft für neue Taten. In Bruderdienst ist. Sie nehmen dadurch teil am diesem Sinne heilendes Mileu zu sein, macht Priesteramt Jesu Christi. Aus diesem Grund die Grundsaleramentalität der Kirche als Heils- hebt auch das Zweite Vatikanische Konzil in gemeinschaft aus. Glaube, Hoffnung und besonderer Weise das gemeinsame Priestertum Liebe als Grundbedingungen göttlichen, der Gläubigen hervor. Das Dienstpriestertum, lebensvollen Lebens verwirklicht die Kirche einschließlich aller Dienstämter, soll die seit den Tagen ihrer Gründung in besonderer Gesamtgemeinde in ihrem Heilsdienst unterWeise auch durch den Bruderdienst, den sie als stützen, anregen, anleiten, beraten, helfen, Dienst der geistlichen und leiblichen Barmherzigkeit beschreibt." sie die Leidensrealität nicht durch eine bedenkliche religiöse Rechtfertigung. Eine Frau (45 Jahre) leidet seit 15 Jahren an schweren Depressionen, die seelsorglich begleitet wird und mit der der Seelsorger einen wortlosen Glaubenskampf führt: Sie kann nicht mehr glauben, daß in ihr und ihrem Leben noch etwas Gutes und Heilvolles sei. Der Seelsorger tritt ihr mit der Grundeinstellung entgegen, daß sie nicht radikal verdammt, verloren und ohne die Furcht der Befreiungstat Jesu sei. Die Grundhaltung von Glaube, Hoffnung und Liebe verbunden mit der Grundhandlung Treue und Nähe machte es möglich, daß die Patientin zeitweilig, zunächst eine Woche, dann Monate ohne Medikamente zu neuen Lebensmöglichkeiten wiederauferstehen kann. nDas Schicksal dieser Frau und ein Interview mit ihr wurde vor einigen Monaten im Fernsehen gesendet. "Die älteste Konkretion kirchlicher Diakonie findet sich in den Werken der leiblichen und geistlichen Barmherzigkeit, die zudem eine biblische Tradition besitzen; vgl. Mt 25,34 — 40; Mt 5,3 — 12; Mt 18,1 — 21; 1 Kor 12,31 —13,13; vgl. H. Pompey, Die geistliche Barmherzigkeit in der gemeindlichen Krankenpflege. In: Lebendige Katechese, 5(1983), 136 — 143. Geistliche Werke der Barmherzigkeit sind: 1. Guten Rat erfahren lassen. 2,Den Nächsten, wenn er in der Beziehung zu Gott, zu sich und zum Mitmenschen schwer gestört ist, auf diese Lebensbeeinträchtigungen hinweisen. 3. Fehlendes Lebenswissen und mangelnde Information vermitteln und über Verhaltensmöglichkeiten aufklären. 4. Seelisch und körperlich Leidenden Trost und Wärme schenken. 5. Die Bereitschaft, Unrechtshandlungen zu verzeihen, um der leichteren Wiederherstellung einer gestörten zwischenmenschlichen Beziehung willen. 6. Die Bereitschaft, Menschen sowie leidvolle Lebensumstände realistisch anzunehmen und sie nicht nach einem selbstgemachten Idealbild ausrichten. 7. Die erlebte, vielfältige Beziehungsnot des Menschen in das Gebet d. h. in die eigene Beziehung mit Gott aufnehmen; vgl. H. Pompey, Die Heilssendung der gesamten Kirche und der subsidiäre Dienst von Beratungsstellen, in: Diakonia, 17 (1986), 36— 42, 38 f. Die Werke der leiblichen Barmherzigkeit sind wesentlich bekannter: 1. Hungrige speisen, 2. Durstige tränken, 3. Fremde und Obdachlose aufnehmen, 4. Nackte bekleiden, 5. Kranke und Gefangene besuchen (Mt 25,34 — 40). Eine weitere biblische Konkretisierung christlich-caritativen Handelns stellt das sog. Hohelied der Liebe dar (1 Kor 12,31— 13,13) eine psychologisch-anthropologische Konkretisierung findet sich in H. Pompey, Leben und Beratung nach dem Evangelium, in: Bundesarbeitsgemeinschaft Beratung, 24 Die dogmatische Konstitution über die Kirche, „Lumen Gentium", Nr. 9. "Vgl. ebd. , Nr. 9. 'Vgl. ebd., Nr. 48. 'Vgl. ebd., Nr. 10. 28 Vgl. Lineamenta der Bischofskonferenz, a. a. 0., Nr. 18, S. 19. 89 begleiten29 . Die gilt auch für alle Mitwirkenden in der kirchlichen Caritas. /Sie sind dazu da, subsidiär (vgl. Mk 10, 42-45) den Gemeinden zu helfen und können keine Nebeneinrichtung bzw. Alternative zur Gemeinde darstellen. Trotz der Verschiedenheit der Dienste besteht eine Einheit der Sendung". „In der Verbreitung seines lebendigen Zeugnisses vor allem durch ein Leben in Glaube und Liebe" nehmen die Glieder der Kirche ebenfalls teil am prophetischen Amte Christi 31 . So wird der Gemeinschaftscharakter des Heiles und der Vorrang der subsidiären Unterstützung durch die verschiedenen Dienstämter deutlich. Ferner wird ein Heils- und Heilungsrealismus unterstützt, der weiß, daß die Endgestalt des Heiles zwar anfanghaft beginnt, jedoch in ihrer Vollgestalt aussteht. Nur einige praktisch- theologische bzw. pastoral- anthropologische Determinanten des kirchlichen Heildienstes konnten hier allgemein bekannt werden. Ihre Beschreibung ist erforderlich, damit die Bemühungen der Gemeinden für ihre psychisch kranken Menschen in einem heilvollen Geist erfolgen können. 4. Der konkrete Dienst der Gemeinden für ihre psychisch Kranken Die helfenden und heilenden Grundhaltungen und ihre Heils-Logik sind angesprochen. Auch die Hauptfunktionen, Bedingungen und Zielsetzungen der Kirche sind benannt. Schöpferische Phantasie ist in den Gemeinden und bei den sie begleitenden Helfern erforderlich, damit die Heilstat Jesu Christi in den konkreten Lebensraum der Menschen heilvoll ausstrahlen kann. — In den Überlegungen des nun folgenden Absatzes soll gefragt werden, worauf die Verantwortlichen für den Dienst der Kirche (z. B. einer Caritas-Einrichtung) an den' psychisch Kranken die Gemeinden ansprechen müssen, wo sie ihre fachliche Hilfe anbieten können, wozu sie die jeweilige Diözesankirche aufrufen müssen, wie sie sich selbst neu verstehen und neu ausrichten sollen. Denn in den Gemeinden und ihren Basisgruppen, den Fa"Vgl. Die dogmatische Konstitution über die Kirche, „Lumen Gentium" Nr. 10, Nr. 18. "Vgl. II Vaticanum, Das Dekret über das Laienapostolat, „Apostolicam actuositatem", Nr. 2. 31 Vgl. Die dogmatische Konstitution über die Kirche, „Lumen Gentium" Nr. 12. 90 milienkreisen, Jugendgemeinschaften, Altenclubs usw. muß die beschriebene geistliche „Wirk"-lichkeit der Kirche erlebbar, erfahrbar und erkennbar werden, wenn Kirche Zeichen. und Werkzeug des Heiles auch für die psychisch Kranken werden und bleiben soll. Aufgrund der entfalteten Theo-Logik dürfte klar sein, daß der eigentliche Heilsort auch für den psychisch Kranken primär die Gemeinde und nur sekundär, vorübergehend, eine therapheutische Spezialeinrichtung sein kann. Liegt eine so schwer psychische Erkrankung vor, daß der Kranke nicht mehr in der Gemeinde leben kann, dann sollte die Gemeinde mit ihren Basisgruppen und durch einzelne Vertreter beim Kranken immer wieder präsent sein. Ziele des Gemeindeengagements für ihre psychisch Kranken sind aufgrund des theologischen Verständnisses der Kirche: —die seelische Unterstützung der psychisch Kranken soweit als möglich; — die Kranken selbst verantwortlich sein lassen und ihr eigenes Mittun fördern; — Aufeinanderzugehen von beiden Seiten, der Kranken und der sog. Gesunden; —Krankenorientierung des Engagements der Gemeinde; — Breschenschlagen ins » normale" Leben und sie ins „normale Leben" im allgemeinen und der Gemeinde insbesondere integrieren; — die Kranken aus ihren Gettos herausführen; —den Kranken und ihren Angehörigen eine besondere Heimat und Beheimatung gewähren. 4.1 Verkündigung Zunächst gilt es, die gute Botschaft der beginnenden Erlösung bekannt zu machen und die Mühseligen und Beladenen einzuladen, sich auf diesen Weg einzulassen, d. h. an die Hekken und Zäune gehen, um zu suchen, was verloren ist (Vgl. Lk 19,10). Jedes Leid ist eine Herausforderung für die Gemeinschaft der Glaubenden, Hoffenden und Liebenden, alle Mühseligen und Beladenen einzuladenn. Die Kirche muß insbesondere ihren Gemeinden und deren Basisgruppen deutlich machen, daß sie offen sind für alle Leidenden, daß jedem 'In sprachlicher und nichtsprachlicher Form hat die Kirche die Heilstaten Christi zu verkünden und einzuladen in die Gemeinschaft der Mühseligen und Beladenen, der Armen und Sünder wie zugleich der Glaubenden, Hoffenden und Liebenden einzutreten. Raum und Zeit gewährt wird und —theologisch operationalisiert — jeder Nähe und Treue erlebt. Die Gemeinden sollen ein heilendes, göttliches Milieu bewirken, aus dem neue Kraft, Hilfe und Befreiung erwachsen können. Nicht nur die psychisch Kranken sind eingeladen, sondern alle Kranken und Lebensarmen33 Dies bedeutet im einzelnen: Die angemahnte Kranken-Orientierung des Engagements einer Gemeinde bedeutet im Blick auf die Verkündigung, bestehende Götzenbilder über psychisch Kranke umzustoßen bzw. vor Götzenbildern zu warnen, seien es Bilder im Sinne einer Verherrlichung, einer Verteufelung, einer Unterschätzung, einer Horrorisierung, einer Kriminalisierung. In die Gesellschaft und die eigenen Gemeinden hinein hat sie zur leiblichen und geistlichen Barmherzigkeit aufzurufen. Die Werke der Barmherzigkeit beschreiben exemplarisch die positiven Aspekte und Inhalte der Kranken — der in Verkündigungen orientierten Gemeinde. In den Gemeinden ist das Bewußtsein zu entwickeln, —daß alle zugleich Erlöste wie Sünder und Beladene sind; —daß heilvolles Leben hier nur durch die Nachfolge Jesu, d. h. über den Weg des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe in Treue und Nähe erfolgen kann; —daß nicht der einzelne, sondern die Gemeinschaft der Erlösten und zugleich NUnerlösten das Heilsgeschenk erhalten hat; —daß nicht andere, sondern jeder einzelne, jeder Kranke selbst, den Weg beschreiten muß; — daß jeder verantwortlich ist für sein eigenes Heil und nicht andere, wie Priester, Diakone und kirchliche Mitarbeiter in Pastoral und Diakonie, das Heilswerk für ihn vollbringen können; — daß jeder selbst Träger des Heilgeschehens ist; — daß den Diensten lediglich eine subsdiäre Funktion zukommt. Im Blick auf den psychisch Kranken kann dies dazu beitragen, ihn in der Gesamtgemeinde als volles Mitglied zu beheimaten und in den Basisgruppen der Gemeinden zu integrieren. Die gesunden Mitglieder der Gemeinde sollen so zur Annahme der Schwächen und Leiden ihrer kranken wie gesunden Mitchristen ermutigt werden, damit die Kranken leichter zur Selbstannahme ihrer Person und ihres Leidens finden. Soll die Frohe Botschaft angesichts der konkreten Not in der Gemeinde von den amtlichen Verkündern richtig ausgelegt werden, müssen diese treuen und nahen Kontakt zu ihren seelisch Kranken pflegen. Nur aus der Compassio", dem mitleidenden, d. h. nicht dem mitleidigen, Mitgehen mit den Kranken und Armen kann die Frohbotschaft richtig gedeutet werden. Nicht extrinsisch ist die Gemeinde zu ihrem Dienst an die Kranken, insbesondere die psychisch Kranken zu motivieren, d. h. im Sinne: „Ihr sollt gemäß dem Evangelium das und das tun ... ", also nicht durch religiöse Drohungen, Mahnungen und Gesetze, sondern intrinsich, d. h. von innen heraus, gilt es die Glaubenden und Liebenden zu bewegen, z. B. einerseits durch Relativierung unseres Wertsystems, das alles nur unter dem Gesichtspunkt der Leistung und der Leistungsfähigkeit sieht, wie auf der anderen Seite durch Bewußtmachung der fundamentalsten Bedürfnisse und Werte, z. B. des Wertes der emotionalen Beziehungen der Menschen untereinander und des emotionalen Beziehungswerts einer Begegnung mit psychisch Kranken bewußtzumachen (z. B. mit einem Depressiven). Es gilt in der Weise zu verkünden, daß das Herz und nicht nur allein der Verstand und Wille angesprochen werden. Die psychisch Kranken wie die Gesunden—die in ihrer Weise ebenfalls Leidende und Lebensverarmte sind — sollten durch die Verkündigung der Taten Jesu und seiner Zeugen wie "Wie heilvoll dieses Selbstverständnis der christliFranziskus, Vinzenz von Paul, Mutter Teresa chen Gemeinde ist, zeigt folgende soziologische Reausw. angesprochen und ermutigt werden, trotz lität: Je mehr psychisch Kranke ausgeschlossen und in . Anstalten abgedrängt werden, umso mehr wächst die Verhaltensunsicherheit der Mitmenschen ihnen gegenüber, und je weniger diese Unsicherheit überwunden wird, umso stärker wird die Isolation der psychisch Kranken, vgl. Moltmann, a. a. 0., 40. "Vgl. H. Pompey, Die geistliche Barmherzigkeit in der gemeindlichen Krankenpflege, a. a. 0. "Vgl. H. Pompey, Theologisch-psychologische Grundbedingungen der seelsorglichen Beratung. In: Christliches ABC — Heute und Morgen. Praktischer Ratgeber für Lebensfragen und Lebenshilfe. Bad Homburg 1986. 91 allem wieder an das Gute in jedem einzelnen zu glauben. Ferner könnten sich Gesunde und Kranke wie Kranke untereinander austauschen über gelungene Beziehungserfahrungen damit der Glaube an das Gute wachsen und Hoffnung auf eine Besserung in Sicht kommt. Der so praktisch aufkeimende Glaube an das Gute soll offenbar werden, um anderen, die noch draußen stehen, zu ermutigen, sich ebenfalls auf diesen Weg zu begeben. Dieses Lebenszeugnis der einzelnen und der Gemeinschaft bewirkt Koinonia, d. h. das gelingende Leben des Menschen mit sich, der Menschen untereinander, mit der Umwelt und mit Gott. Sie ist das Morgenrot der endgültigen Lebensfülle des Reiches Gottes. die für diesen Boden geeignete Saatfrucht. Es bedarf für das Wachstum von Glaube, Hoffnung und Liebe der richtigen Bewässerung und Düngung. Der Zeitpunkt der Ernte ist niemals genau zu berechnen, die volle Reife ist geduldig abzuwarten denn so manche Gewächse, Sträucher und Bäume tragen erst nach Jahren Frucht. Bekanntlich bringen auch Mono-Kulturen auf Dauer keine gute Frucht. Das Wachsen der einzelnen Frucht soll im gesamt-ökologischen Zusammenhang geschehen d. h. für uns im Regelfall in einer Gemeinde und nicht in einer klinischen Einrichtung. Heilvoll im ganzheitlichen Sinne ist sie aber nur, wenn der Gemeinde- bzw. Lebensbezug erhalten bleibt, d. h. die Kranken in ihrer Gemeinde in Treue und Nähe beheimatet bleiben durch regelmäßige Kontakte. Unbestritten wird es immer auch Mono-Kulturen geben müssen, d. h. klinische Einrichtungen, doch verdienen sie eine besondere Aufmerksamkeit, wenn sie auf Dauer eine gute Frucht erbringen sollen. 4.2 Der Gottesdienst Ein Ort des Wachsens von Glaube, Hoffnung und Liebe in Treue und Nähe stellt auch der Gottesdienst dar. Er umfaßt nicht nur die Messe. Vielfältig sind seine Formen: Angefangen von den sieben Sakramenten als Heilszeichen, den sakramentalen, religiösen Ausdrucksformen wie Gebet, Meditation, geistliches Gespräch. Sie sollen die durch Jesus Christus eröffneten Heilsmöglichkeiten und die geschenkte Heilskraft vermitteln und bestärken; denn wie jeder Christ muß auch der psychisch Leidende hieran Anteil haben. Gerade in seelischer Labilität kann die Stabilität, Klarheit und Wiederkehr gottesdienstlicher Praktiken Sicherheit und Halt geben. Die Multiplikation und ständige Modifikation de/liturgischen Formen muß bei psychisch Leidenden nicht unbedingt heilvoll sein. Das gilt für den Kranken wie für die oft ebenso stark leidenden Angehörigen. Verschiedene pastoral-praktische Gesichtspunkte lassen sich hervorheben: Deutlich und nicht zu hetzig sind die einzelnen liturgischen Handlungen zu vollziehen, wollen sie auf einer fundamentaleren Ebene Beziehung begründen, und zwar die Beziehung zu Gott wie zu den Menschen'. Das seelische Leid sollte Raum in den Gemeindegottesdiensten haben, ohne daß der seelisch Leidende oder seine Angehörigen sich psy- Entsprechend dem jeweiligen Leidensgrad sind vor allem die seelisch Leidenden behutsam abzuholen. Damit Wort und Taten Gottes als Samen fruchtbar aufgehen, bedarf es der Vorbereitung des Bodens: er muß aufgelockert, von Dornen und Steinen befreit werden, d.h. den Bedrückungen, Ängsten ist Raum der aggressiven wie regressiven Klage zu geben. Vielleicht kann dadurch der Gottesdienst, insbesondere die Feier der Buße und Versöhnung (in der Einzelbeichte und im Versöhnungsgottesdienst), ein erster und kleiner Schritt der Leidensbearbeitung sein. Die Vorsteher sollen die Nöte und Leiden als Bitten vor Gott bringen. Begleiter der Leidenden dürfen dabei sicher sein, daß die Pforten der Hölle, d. h. des übermächtigen Bösen und Leidvollen, sie nicht überwältigen werden (Mt 16.18). Es ist der rechte Zeitpunkt der Aussaat für die Samen: Glaube, Hoffnung und Liebe zu wählen, alles hat seine Zeit (Ko 3.1). Es ist Sensibilität dafür erforderlich, wann der richtige Augenblick für welche Ver kündigungsgeschichte, für welches Gebet, für welches Sakrament gekommen ist. Auch nicht die massenhafte Aussaat von Körnern bringt gute Frucht, sondern die für den Glauben verträgliche Menge und 92 mDie Liturgie als Darstellung und Verlebendigung sowie Erinnerung der Heilstaten Gottes kennt seit altersher sprachliche und nichtsprachliche Elemente. Die nicht-sprachlichen Elemente stehen kommunikationspsychologisch der analogen Interaktion und Kommunikation nahe (vgl. P. Watzlawick, u. a., Menschliche Kommunikation; Formen, Störungen, Paradoxien. Bern, Stuttgart, Wien, 3 1972, 50 — 71) und begründen vor allem den Beziehungsaspekt jeder Kommunikation und Interaktion. Die nicht-sprachliche Kommunikation/Interaktion in den vielfältigen liturgischen Handlungen ist besonders elementar und ursprünglich. Sie wird von allen verstanden, setzt keine besonderen Sprachkenntnisse und keinen besonderen Bildungsstand voraus. Sie wird auch in der Finsternis der leidenden Seele oft noch am ehesten vernommen. chisch exhibitionier 'iüssen. Oft kann ein Kranker nur in einer kleineren Gruppe, in) Einzelgespräch und zum Teil erst im Nachhinein von sich und seinem Leiden erzählen. Im Bereich der Liturgie ist ihr Leid zumeist stellvertretend zu formulieren, von dem, der dem Kranken nahesteht, sei es ein Angehöriger, ein Mitglied des Krankenbesuchsdiensts, der Pfarrer, ein Pfarreferent, ein hauptamtlich Mitwirkender der Caritas. Vorgeformte Gebete und Psalmen sind eine große Hilfe, weil sie den einzelnen nicht persönlich verletzen und trotzdem Ausdruck von Leid und Not sind. Den Schizophrenen, Depressiven, Manikern, Phobikern, Skrupulanten sollte die Frohbotschaft so verkündet werden, daß ihr Glaube, ihr Hoffen und Lieben wachsen kann. Die Liturgie ist niemals Ort der Leidensverkündigung z. B. durch Beschreibung von psychosozialen Herrorbildern und Horrorszenen unserer Zeit, dies würde im Blick auf die psychisch Leidenden zu einer Verstärkung ihres eigenen Zustandes führen können. Dagegen darf die Leidensklage, die Bitte um Errettung vollen Raum haben. Das gilt für die Betroffenen wie für die Angehörigen im gleichen Maße. Es trifft zu für den Gemeindegottesdienst, in dem der seelisch Leidende ebenfalls zuhause sein sollte, wie für den Gottesdienst mit Kranken in den verschiedensten Spezialeinrichtungen. Vielfach sind die Angehörigen die eigentlichen Ansprechpartner der hoffnungsbringenden Botschaft. Erst wenn sie im Glauben an das Gutsein, in der liebenden Annahme und in der Hoffnung auf einen guten Ausgang zu ihrem kranken Angehörigen wachsen, kann Heil für den Betroffenen werden. Es ist bekannt, wie gerade psychisch Kranke und Behinderte in ihrem Wohlbefinden abhängig sind von der Befindlichkeit ihrer Angehörigen. Darum ist auch das Spießrutenlaufen der Kranken und ihrer Angehörigen während der Gottesdienste wie auch bei sonstigen GemeindeVeranstaltungen zu vermeiden, d. h. das Blikken, Anblicken und Tuscheln, wenn ein psychisch Kranker zum Gottesdienst kommt und sich im Gottesdienst anders verhält oder auffällig reagiert. Die Praxis der geistlichen und leiblichen Werke der Barmherzigkeit muß konkrete Form annehmen: Im Besuchsdienst für die Kranken, in Gesprächsangeboten für die psychisch Kranken, in gemeinsamen geselligen und kreativen Veranstaltungen für alle Glieder der Gemeinde bzw. ihrer Basisgruppen. Die Gemeinde und ihre Basisgruppen sollten Raum geben, daß das Unheil, die leidvolle Wahrheit angesprochen und ausgesprochen werden kann: Denn die Wahrheit macht frei (Joh. 3,21, 8,32), doch sie ist stets in Liebe zu sagen (Eph. 4,15). Mit den vielfältigen Ängsten, die Kranke und Gesunde hindern, aufeinander liebevoll zuzugehen, gilt es sich auseinanderzusetzen. Gemeinsame Aktivitäten in dem genannten guten Geist können Ängste abbauen und neue Gemeinschaft stiften. Das sachliche Verstehen des jeweiligen Leidenszustandes, das Einfühlen in akutes Leiden, das Hineinhören in den Kranken, helfen dem Kranken, den Lebensrealitäten gegenüber horchend, gehorsam zu sein. Dies gilt es in allen Handlungsfeldern der Gemeinde: der Eltern- und Familienarbeit, in Schule, Jugendarbeit usw. zu pflegen. Treue und Nähe sind durchzuhalten bei der Wegbegleitung für den Kranken und seine Angehörigen durch die verschiedenen Phasen der Leiderfahrung und Leidbewältigung, seien es die depressiven wie die aggressiven Wegstrecken. Selbsthilfegruppen sind in der Gemeinde zu fördern, doch sollten sich auch Nicht-psychisch-Kranke der Initiative zugesellen. Die leidende Familie, die leidenden Angehörigen gehören unbedingt zu dieser Initiative. Dabei empfiehlt es sich, neben der Gemeinsamkeit auch einen Gesprächsaustausch für Kranke und Angehörige getrennt anzubieten. Offenheit und Transparenz sind dabei wichtig, damit kein Vertrauensverlust zwischen beiden Leidenspartnern aufkommt. Der gefährlichen Tendenz ist zu wehren, psychisch Kranke (das gilt auch für andere Leidende und Randgruppen) ausschließlich auf Facheinrichtungen zu verweisen. Dies kommt der Verdrängung einer Leidenswirklichkeit gleich und dient den sog. Gesunden lediglich der Selbstberuhigung. Alle kirchlichen 4.3 Bruderdienst Facheinrichtungen, seien es Beratungsstellen Die im Gottesdienst von allen Gläubigen oder Kliniken, haben lediglich eine subsidiäre erfahrene geistliche Stärkung soll im Bruder- Funktion, sind sekundärer und nicht primärer dienst der Gemeinden fruchtbar werden. Natur. Sehr schnell werden derartige Einrich93 tungen zum Alibi für die Unbetroffenen, um vor dem konkreten Leid zu fliehen und sich der konkreten Not und Hilfsbedürftigkeit nicht auszusetzen. Sie stellen eine gute religiöse Entschuldigung dar, z. B. nur das Beste für die Kranken zu wollen und eben dieses Beste mit allen materiellen Kräften zu unterstützen. Nur selbst möchten sie sich nicht einbringen. Es muß überlegt werden, welche psycho-, sozio- und körpertherapeutischen Aktivitäten wieder in die Gemeinde, d. h. die Lebensgemeinschaft des Kranken zurückverlagert wer-den könnten, weil die Therapien nur unter diesen Bedingungen eine ganzheitliche und heilende Wirkung erzielen, d. h. das ganze Lebensfeld heilen können. Denn der psychisch Kranke ist nicht allein krank, sondern mit ihm leidet seine ganze Lebensgruppe, die Familie, die Partnerschaft. In vielen Fällen ist das LeidErleben bei den Angehörigen sogar noch größer als beim Betroffenen selbst. Freizeit- und Urlaubsdienste gilt es in der Gemeinde für psychisch Kranke einer Familie einzurichten, d. h. für die Urlaubs- und Erholungszeit der Angehörigen einen Kranken längere Zeit als Gast aufnehmen, um so die Angehörigen zu entlasten. Gemäß der christlichen Tradition der leiblichen Werke der Barmherzigkeit wie der Gastfreundschaft wird dadurch Kranken Herberge gegeben. Im weiteren Sinne geschieht dies auch, wenn in den Gemeinden z. B. Wohngemeinschaften von Gesunden und psychisch Kranken Raum und Annahme eeschenkt wird. Äußerlich unterscheiden sich die einzelnen Aktivitäten einer Gemeinde kaum von den Bemühungen anderer Selbsthilfegruppen und Weltanschauungsgemeinschaften, doch in geistiger /geistlicher Hinsicht sollte sich der Bruderdienst der kirchlichen Gemeinden und ihrer Basisgemeinschaften radikal vom Evangelium 1 prägen Lassens '. Eine Gemeinschaft, die aus Glauben, Hoffnung und Liebe lebt und sich in Treue und Nähe verbunden weiß, besitzt nicht nur eine therapeutische Kraft und Chance, sondern wirkt präventiv wie resozialisierend, ohne dadurch die normalen psycho-, sozio- und "Bekanntlich ist es der Geist, der lebendig macht (Jo 6,64), der volles Leben in Fülle schenkt. medizin-therapeutischen Maßnahmen außer Kraft zu setzen". 5. Schlußbemerkung Die hier vorgetragenen Aspekte sind den meisten Mitarbeitern von sozialen Hilfseinrichtungen nicht fremd; nur ihre praktisch-theologische Sprachform ist ungewohnt; gerade heute werden viele ähnliche Gesichtspunkte durch die Human- und Sozialwissenschaften hervorgehoben", So bestätigen die Gemeinwesenarbeit, die Gemeindepsychiatrie und andere das Selbsthilfeprinzip unter Einbeziehung der Betroffenen und der Angehörigen sowie die Basisorientierung der Therapien der therapeutischen und resozialisierenden Bemühungen. Die Ganzheitlichkeit des Krank- und Gesundseins wird heute wieder klar gesehen von den öko-systemisch geprägten sozial- und psycho-therapeutischen Schulen. » Die theologischen Grundbedingungen des Heilens und des Gesundseins ergänzen die verschiedensten therapeutischen Maßnahmen durch eine wichtige, fundamentale geistige Dimension und bringen dadurch die humanen, medizinisch-sozialen Anstrengungen zur vollen Wirksamkeit. "Bei den entsprechenden human-wissenschaftlichen Aussagen fällt aber auf, daß sie nicht so radikal formuliert sind, wie die theologischen Parallelaspekte. Das hängt damit zusammen, daß der Theologe Maß nimmt an dem neuen Menschen Jesus Christus und an der Überzeugung: „Wer Christus, dem vollkommenen Menschen folgt, wird auch selber mehr Mensch" (vgl. II Vaticanum, Die pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute, „Gaudium et Spes", Nr. 41). Die Vergleichbarkeit bzw. Gleichheit der für das Heil des Menschen wichtigen Grundtaten aus der Psycho-Logik, der Sozio-Logik, der Physio-Logik usw. mit den Aussagen der Theo-Logik, der SoterioLogik usw. ergibt sich ferner daraus: Daß es theologisch keinen Widerspruch zwischen den Erkenntnissen des Glaubens und der Wissenschaft geben kann. Das hängt ebenfalls mit Jesus Christus zusammen,' weil Gottes Erlösu,ngstat in Jesus Christus nicht im Widerspruch zu dem Gesetz und der Logik seiner Schöpfung, der psychischen, der sozialen, der somatischen Natur usw. stehen kann. Die der seelischen, sozialen und körperlichen Natur vorgegebenen Möglichkeiten und Gesetze heilvollen und gelingenden. Lebens finden ihre Überhöhung durch die Erlösungstat Jesu Christi. Sie werden nicht außer Kraft gesetzt und durch andere ersetzt, sondern verstärkt (vgl. Thomas von Aquin, S. Th. I, 1.8 ad 2.; K. Rahner, Natur und Gnade, in: den., Schriften zur Theologie IV, Einsiedeln 5 1967, 209 236). — Selbst das Wissen um die heilende »Wirk"lichkeit, die hier Glaube, Hoffnung und Liebe in Nähe und Treue genannt wurde, ist z. B. der sog. Vergleichenden Therapieforschung nicht unbekannt«) ; denn ohne die selbst- und bedingungslose Annahme eines seelisch kranken Patienten seitens des Therapeuten, ohne die Wertschätzung seines Patienten, daß in ihm gute Wachstumskräfte stecken, und ohne die tJberzeugung, daß sich diese von innen heraus auch entfalten können, gelingt kaum eine therapeutische Beziehung, wird kein Klient fähig, sich und seine Leidensrealitäten anzunehmen, an sein Gutsein zu glauben und zu hoffen, daß neue Lebensmöglichkeiten sich trotz allem entfalten können. Es ist evident, daß der Patient, insbesondere auch der psychisch Leidende, nur so in die Lage versetzt wird, seelisch zu gesunden. Glaube, Hoffnung und Liebe stehen den sog., Basisbedingungen therapeutischer Beziehungen nahe. In dieser Weise, d. h. aufbauend auf die natürlichen Gegebenheiten des Humanen ist Kirche überzeugt, » zu einer humaneren Gestaltung der Menschheitsfamilie und ihrer Geschichte beitragen zu können" 41 . Zur heilvollen Tat wird diese aber erst an der Basis, der Ortsgemeinde und ihren Basisgemeinschaften. Darum sollte gezeigt werden, wie real die Glaubens- und Liebespraxis einer christlichen Gemeinde für psychisch Kranke wirksam werden kann. Äußerlich unterscheiden sich dabei die Bemühungen einer Gemeinde kaum von anderen Selbsthilfegruppen und Organisationen, der Geist ist es, der radikal anders zum Tragen kommen will. Der Geist, der eine eigene Logik besitzt. Dazu sollte die SoterioLogik, d. h. die Heils- und Erlösungs-Logik des katholischen Glaubens an Jesus Christus erschlossen werden, um wiederum dadurch die Theo-Logik des kirchlich-caritativen Handelns aufzuzeigen und die daraus sich ergebenden praktischen Konsequenzen zu benennen. Nicht zuletzt geschieht dies, damit die Mitarbeiter kirchlich-caritativer Werke aus dieser Logik ebenso qualifiziert und vorbildlich handeln und arbeiten, wie sie es aufgrund der gelernten Psycho- und Sozio-Logik bereits tun. Vgl. II. Vaticanum, Die pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute, „Gaudium et Spes", Nr. 40. 41 °Vgl. Pompey, Theologisch-psychologische Grundbedingungen, a. a. 0. 4 95