Herr, dein Wille geschehe

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"Herr, dein Wille geschehe"
Fastenhirtenbrief 2011
Liebe Gläubige!
Einleitung
Als die Diagnose meiner Krankheit feststand, habe ich versucht, mit Jesus am Ölberg zu
beten: "Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will,
sondern was du willst, soll geschehen". Wir wissen, es gibt Leute, die sagen: "Das ist einfach
Schicksal.“ Eine solche Haltung wäre Ausdruck eines blinden Fatalismus. Wir glauben aber
an einen Gott, der die Liebe ist, der Pläne hat zu unserem Heil. Das hat mich auf den
Gedanken gebracht, etwas zum schwierigen Thema der göttlichen Vorsehung zu schreiben,
über seine Pläne zum Leben der Einzelnen und über die mögliche Antwort des Einzelnen auf
den Ruf Gottes.
Ein Wort aus der Heiligen Schrift
Vorausschicken möchte ich einen Abschnitt aus dem Brief des heiligen Paulus an die
Epheser, der in der Deutschen Einheitsübersetzung überschrieben ist: "Loblied auf den
Heilsplan Gottes" (Eph 1,3-12).
Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus: Er hat uns mit allem Segen
seines Geistes gesegnet durch unsere Gemeinschaft mit Christus im Himmel. Denn in ihm hat
er uns erwählt vor der Erschaffung der Welt, damit wir heilig und untadelig leben vor Gott; er
hat uns aus Liebe im Voraus dazu bestimmt, seine Söhne zu werden durch Jesus Christus und
nach seinem gnädigen Willen zu ihm zu gelangen, zum Lob seiner herrlichen Gnade. Er hat
sie uns geschenkt in seinem geliebten Sohn; durch sein Blut haben wir die Erlösung, die
Vergebung der Sünden nach dem Reichtum seiner Gnade. Durch sie hat er uns mit aller
Weisheit und Einsicht reich beschenkt und hat uns das Geheimnis seines Willens kundgetan,
wie er es gnädig im voraus bestimmt hat: Er hat beschlossen, die Fülle der Zeiten
heraufzuführen, in Christus alles zu vereinen, alles, was im Himmel und auf Erden ist. Durch
ihn sind wir auch als Erben vorherbestimmt und eingesetzt nach dem Plan dessen, der alles so
verwirklicht, wie er es in seinem Willen beschließt; wir sind zum Lob seiner Herrlichkeit
bestimmt, die wir schon früher auf Christus gehofft haben.
Gott, der allmächtige und allgütige Vater, hat uns erwählt vor der Erschaffung der Welt, … er
hat uns aus Liebe im voraus dazu bestimmt, seine Kinder zu werden durch Jesus Christus und
nach seinem gnädigen Willen zu ihm zu gelangen, zum Lob seiner herrlichen Gnade. Durch
diese Worte des Apostels Paulus wird uns bewusst: Unser Leben ist nicht einem blinden
Schicksal ausgeliefert, sondern ganz von der Hand Gottes umschlossen.
Der liebende Gott und die menschliche Freiheit
Gott ist Liebe, alles was er verfügt, geschieht zu unserem Heil. Mit der Frage, wie das
zusammengeht - die menschliche Freiheit und der Wille Gottes - haben sich große Theologen
wie der heilige Augustinus, der heilige Thomas von Aquin und viele andere Denker
eingehend beschäftigt. Wir wollen festhalten, dass Gott die menschliche Freiheit respektiert.
Er will, dass der Mensch in Freiheit auf den Ruf seiner Liebe antwortet. Dieses Rufen Gottes,
das an die Menschen ergeht, nennen wir Berufung.
Halten wir fest: Es gibt eine individuelle Berufung, und es gibt eine universale Berufung, d. h.
die Berufung aller Menschen zur Heiligkeit und zum Leben mit Gott im Himmel. Die
universale Berufung verwirklicht sich im Einhalten der Gebote Gottes, vor allem über das
Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe.
Vor allem möchte ich über die individuelle Berufung sprechen. Diese fordert von mir eine
konkrete Antwort auf den Ruf Gottes, die ich mit meinem Leben geben soll. Dabei möchte ich
alle ermutigen, sich über die eigene, individuelle Berufung Gedanken zu machen. Ganz
besonders lade ich die jungen Menschen ein, über den Ruf Gottes in ihrem Leben
nachzudenken. Ich bin fest davon überzeugt: Wer dem Ruf Gottes ein offenes Ohr schenkt,
wird immer wieder verspüren, wie sinnvoll das Leben trotz aller dunklen Seiten ist. Die
folgenden Gedanken sind als Hilfe gedacht, um die eigene Berufung besser zu erfassen.
Die individuelle Berufung
Gott ruft auch mich und dich, er mischt sich in mein, in unser Leben ein. Wie aber ruft Gott?
Er ruft leise, er respektiert in allem meine Freiheit. Sein Rufen ist ein Locken; Gott lockt mich
durch Liebe. Diese Liebe gilt es zu erspüren, sowohl durch die Wunder seiner Schöpfung –
"alles ist durch Christus und auf ihn hin geschaffen" (vgl. Kol 1,16) - wie auch durch die
Erkenntnis, dass der ewige Sohn Gottes Mensch geworden ist und uns durch seine
Liebeshingabe am Kreuz erlöst hat. Die Liebe Gottes, die in seiner Schöpfung und Erlösung
aufleuchtet, ist Ausgangspunkt aller Berufung. Wenn ich davon im Innersten angesprochen
und berührt bin, wenn ich über die Schönheit der Schöpfung staune oder von der Liebe Christi
ergriffen bin, dann spricht Gott zu mir. Diesem Werben und Locken Gottes nachzugehen
bedeutet, die konkrete, je eigene Berufung zu suchen.
Wie erkenne ich den speziellen Ruf an mich? Wie erkenne ich, was Gott von mir, von
meinem Leben will? Wie kann ich erfahren, ob Gott möchte, dass ich Priester werde oder in
eine Ordensgemeinschaft eintrete, oder in Ehe und Familie meinen Glauben überzeugt lebe?
Es braucht die Gabe der Unterscheidung als geistliches Gespür für das, was von Gottes Geist
kommt, und ich empfehle dafür eine gute geistliche Begleitung. Darüber hinaus möchte ich
folgende Überlegungen anführen und Ihnen einen Leitfaden für das Entdecken der eigenen
Berufung mitgeben.
a) Ich erkenne meine Berufung, indem ich zuerst einmal auf mich selbst schaue und in mich
hineinhöre; denn Gott spricht zu mir gerade auch durch mich selbst. Um dieses Rufen Gottes
zu erkennen, können mir folgende Fragen und Überlegungen helfen: Wo sind meine Stärken?
Wo sind meine Schwächen? Ich bin dankbar für meine Stärken, ohne hochmütig zu sein. Ich
akzeptiere meine Schwächen, denn gerade sie machen mich demütig; sie sind umhüllt von der
Gnade Gottes. Was macht mir Freude? Gerade damit will mich Gott auch stärken und
beglücken. Was kann ich gut? Wie und wo kann ich meine Fähigkeiten am besten einsetzen?
Meine Talente sollen nicht brach liegen, Gott will, dass ich sie in meinem Leben einsetze
(vgl. Mt 25,14-30).
b) Aber Gott spricht nicht nur durch mich, sondern Gott lockt mich auch durch andere
Menschen. Es ist gut, auch auf andere zu hören, auf Menschen, die mir wohlgesinnt sind und
mir ehrliche Rückmeldungen geben. Wie werde ich von anderen wahrgenommen? Was trauen
sie mir zu? Was sagen sie mir? Wo sehen sie mich? Was sagen mir gute Menschen? Welche
Vorbilder sprechen mich an? Warum? Wer fasziniert mich, und was fasziniert mich an diesem
Menschen?
c) Gottes Ruf dringt auch durch die Not der Menschen zu mir. Hinter den Berufungen in der
Bibel stehen oft Nöte der Menschen: Mose wird von Gott berufen, im Blick auf das
geknechtete Volk Israel (Ex 3,7); die Jünger werden von Jesus berufen, der sieht, dass die
Menschen wie Schafe sind, die keinen Hirten haben (Mk 6,34). Die Nöte der Menschen
dringen zu Gott, und Gott ruft Menschen, die helfen, die Not zu lindern. Gott zu dienen, zeigt
sich konkret im Dienst am Nächsten. Die Berufung, für Gott zu leben, verbindet sich mit der
Berufung, für die Menschen zu wirken. Voraussetzung dazu ist eine lebendige Beziehung zu
Christus, die sich durch das Gebetsleben zeigt, im Betrachten der Heiligen Schrift, in der
Mitfeier der Eucharistie und im Empfang der Sakramente. Es braucht die Gabe der
Unterscheidung als geistliches Gespür für das, was von Gottes Geist kommt.
Die Antwort auf die individuelle Berufung
Wie ich bereits am Beginn geschrieben habe, respektiert Gott meine Freiheit auch dann, wenn
ich seinem Ruf nicht folgen will. Auf den Ruf Gottes zu antworten, heißt, die Berufung
anzunehmen und dem Heilsplan Gottes für die Welt zu dienen. Es zeigt sich aber, dass dieses
Annehmen nicht immer einfach ist. Es gibt Menschen, die auf den Ruf Gottes unentschlossen
und zögernd reagieren, denn auf Gottes Ruf zu antworten, kann auch bedeuten, das Leben zu
verändern, sich umzustellen, auf Bekanntes und Bewährtes zu verzichten, um frei zu sein für
Gott. Dazu sagt der heilige Ignatius von Loyola: "Der Mensch soll die Gnade erbitten, dass er
nicht taub sei auf den Ruf Gottes hin, sondern schnell und voll Bereitschaft, zu erfüllen seinen
heiligsten Willen" (Exerzitienbuch, 91). Ignatius spricht auch von der halbherzigen Wahl oder
Lebensentscheidung (154). Diese tritt nach Ignatius dann ein, wenn wir meinen, dass Gott
dorthin kommen soll, wo wir selber hin wollen; wenn wir nicht bereit sind, für unsere
Berufung aufzugeben, was der Erfüllung noch im Wege steht. Dies können Beziehungen sein,
materielle Güter oder einfach nur innere Einstellungen. Doch wer die Berufung annimmt, wer
zu Gottes Ruf ein reifes Ja sagt, erlangt eine tiefe Freude, die das Leben grundlegend prägt
und die auch über Krisenzeiten und Kreuzeserfahrungen hinweg anhält. Dieses Ja wird sich
immer wieder neu bewähren, und es ist geleitet von der Frage nach dem Mehr: Wo bringt
mein Leben mehr Früchte für mich und die Mitmenschen? Wo und wie erfülle ich den Willen
Gottes mehr? Eine lebendige Beziehung zu Christus in Gebet und Betrachtung, in der Lektüre
der Heiligen Schrift und in der Teilnahme am kirchlichen Leben nährt unsere Berufung mit
der nötigen Kraft. Gerade die Fastenzeit kann eine Möglichkeit sein, unserer Berufung
nachzuspüren.
Liebe Gläubige, in diesem Hirtenbrief habe ich über das Wirken Gottes in unserem Leben
gesprochen. Zusammenfassend gebe ich Ihnen folgende Gedanken mit in die Fastenzeit: Wir
sind nicht einem blinden Schicksal ausgeliefert, sondern sind in der Hand Gottes geborgen.
Wenn wir unser ganzes Leben, alles, was uns widerfährt, auch Krankheit und Leid, auf Gott
hin öffnen, gewinnt alles einen tieferen Sinn. Gott hat einen Plan mit unserem Leben. Er wirbt
mit seiner Liebe um unser freies Ja für diesen Plan; er beruft uns.
Ich lade Sie in dieser österlichen Bußzeit ein, Ihrer Berufung nachzuspüren. Verschließen Sie
nicht Ihr Herz, wenn Gott anklopft und um Ihr Ja wirbt. Wir brauchen überzeugte Christinnen
und Christen, wir brauchen Priester und Ordensleute, wir brauchen Menschen, die von der
Liebe Christi erzählen und sie uns nahe bringen; wir brauchen Menschen, deren Herz für
Christus brennt.
Ich wünsche Ihnen eine gute und besinnliche Fastenzeit. In diesem Sinne bete ich für Sie und
bitte um Ihr Gebet.
Ihr Bischof
+ Karl Golser
Bozen, 1. Fastensonntag 2011
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