Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der

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Dietrich Böhler
Vorlesung im Sommersemester 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der
Geschichte der Philosophie*
* Der im Text begegnende Hinweis Anlage 2, 3 etc. verweist dann, wenn er in der Zeilenmitte erscheint, auf das
mit derselben Nummer versehene Stück der (als selbstständige Datei unter www.hans-jonas-zentrum.de
herunterladbaren) „Denkstücke und Arbeitsmaterialien zur Vorlesung und zu den Grundlagenseminaren
Böhler und Herrmann 2009“.
Tritt dieser Hinweis rechts am Rande der Seite auf, ist das Stück in den Text der Vorlesung eingearbeitet.
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Inhalt
I
Philosophie als Metaphysik oder strikt als Dialog und Begründung?
Vorblick auf die drei Paradigmen.
1
Metaphysik als Seinsschau (Theoria) versus Erkenntniskritik im Subjekt- ObjektSchema versus Lebenswelt- und Kommunikationsreflexion……….....……………...06
1.1
Metaphysik als Studienschwerpunkt und als Zentrum der Philosophiegeschichte oder:
Entwicklungslogik der drei Paradigmen: Sein/Metaphysik – Subjekt / Erkenntniskritik
– Sprache / Diskursreflexion? …...............…………………………….....…………..
1.2
Zum Begriff und zur Kritik der Metaphysik…………………………….…………....
1.3
Ist Metaphysik nach Kant und nach der pragmatisch-hermeneutischen Wende noch
möglich? Das Beispiel von Hans Jonas’ „rationalem Mythos“……………...……….
1.3.1 Hans Jonas – von der Hermeneutik der Entmythologisierung zur Ethik der
Zukunftsverantwortung. Laudatio des Dekans, Professor Dr. Dietrich Böhler………
1.4.1
Der voraussetzungs- und kommunikationsvergessene Weltbezug der traditionellen
Metaphysik, dessen Fortwirkung im neuzeitlichen Subjekt-Objekt-Paradigma
und Heideggers hermeneutisch-pragmatische, aber reflexionsvergessene
Metaphysikkritik.......................................................................................................…
1.4.1 Vorgriff auf die pragmatisch-hermeneutische Wende und ihre Probleme: der
frühe Heidegger……...……...………………………………………………………...
2
Über die drei Paradigmen der Philosophie und die (doppelte) Dialogizität des
Denkens…………..…………………………………………………………………...
2.1
Eine Problemübersicht zum Selbststudium:
Tilman Lücke, „Mit skeptischen Fragen durch die Philosophiegeschichte“, in: H.
Burckhart u. H. Gronke (Hg.), Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur
Diskurspragmatik. Festschrift für D. Böhler. Würzburg (Königshausen u. Neumann)
2002, S. 45-68…………………………………………………………………….…..
2
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
II
Grundlagen: Diskurs als argumentativer Dialog – systematisch und
philosophiegeschichtlich erörtert.
Einholung des argumentativen Dialogs als Entwicklungsziel der Philosophie
3.1
Die drei philosophischen Paradigmen und die widergängerische Rhetorik…………..
3.2
Die Glaubwürdigkeit des Diskurspartners: Sinnkriterium für Diskursbeiträge und Kern
der moralischen Identität……………………………………………………………...
3.2.1
Der Logosgrundsatz oder: Sokrates’ Vorwegnahme und Verfehlung der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. ……………………………………......
3.2.2
Der Sokratische Elenchos und die Diskurs-Tugend. Wissen und Wollen der
Dialogverpflichtungen bei (möglichem) Nichtwissen der Sachen………...…
3.2.3
Gemeinschafts- und Geltungsbezug als Basis einer dialogischen Sinnkritik.
Die seit Platon verdrängten kommunikativen Dimensionen des EtwasDenkens……………………………………………………………………….
III
Diskurs und Begründung im geschichtlichen Spannungsfeld
von Seinsschau, Selbst-Bewußtsein und Kommunikationsreflexion.
4
Die klassische Metaphysik
4.1
Platon
4.1.1 Metaphysik, Logos und Ideen
Die Entdeckung des Allgemeinen und Platons Ideenlehre…………………....
4.1.2 Platons strukturale theoria-Ontologie: Vom Diskurs zur einsamen
Ideenschau, vom argumentativen und reflexiven Dialog zum totalitären
Kosmos-Polis-Mythos………………………………………………………...
4.1.3 Wann ist eine Norm moralisch verbindlich? Was sich aus Platons
naturalistischen Fehlschlüssen (und seinem metaphysischen Intellektualismus)
lernen läßt……………………………………………………………….…...
4.2
Aristoteles
4.2.1 Aristoteles’ teleologische theoria-Ontologie………………………...............
4.2.2 Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch: Verbindlichkeit aus dem
Diskurs. Aristoteles als Diskurspragmatiker avant la lettre?...........................
4.2.3 Die peripatetische Verbannung der Pragmatik aus der Philosophie –
Türöffnung für den methodischen Solipsismus………………………..……
3
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
[4.3
Thomas’ folgenschwere Einordnung der Erkenntnis in das Schema ‚diskursiv versus
intuitiv’]
5
Zerfall der mittelalterlichen ordo-Welten und Emanzipationen
von deren Macht und theoria...................................................................
5.1
Sprachsensibilität, Bildungsreichtum und tendenzielle Diskursautonomie des
italienischen Humanismus…………………………………………………………...
5.2
Luthers Reformation versus Humanismus des Cusaners: Verdeutschung der Bibel,
behauptete und verweigerte Gewissensfreiheit – innerreligiöse Toleranz und Idee der
Menschenwürde………………………………………………………………….….
5.3
Die kopernikanische Revolutionierung des geozentrischen Weltbildes und die Suche
nach einem künstlichen Zentrum…………………………………………………....
6
Neuzeitliche Stationen der (Praktischen) Philosophie: Descartes,
Hobbes und Kant. Oder: Das sich selbst vergewissernde und sich
selbstbehauptende Subjekt zwischen instrumenteller Rationalität
und praktischer Vernunft
6.1
Metaphysische Hintergrundserfahrung der Neuzeit oder: Kopernikanischer
Choc, selbstbewußtes Subjekt und mathematisierte Technologie…………..……....
6.2
Zwei Formen der Aufklärung – ein Preis: Verdrängung der Kommunikation
durch emanzipatorisch gemeinten Solipsismus der Methode……………………….
6.3
Descartes: Selbstvergewisserung durch wissenschaftliche Methode und durch
Reflexion des Erkenntnissubjekts…………………………………………………...
6.4
Thomas Hobbes oder die politische Hintergrundserfahrung der Neuzeit. Die
konfessionellen Bürgerkriege als Offenbarung einer Wolfsnatur und die
Antwort der zweckrationalistischen Vertragstheorie…………………………….….
6.5
Immanuel Kants Suche nach praktischer Vernunft oder: Einsehbare
Verbindlichkeit in den Grenzen einer Zwei-Welten-Metaphysik und deren
Gesinnungsethik………………………………………………………….………….
6.5.1 Verallgemeinerbarkeitstest als Weg zur Verbindlichkeit……………………
6.5.2 Recht und Grenze einer idealistischen Vernunftethik in
dualistischem Rahmen……………………………………………………….
4
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7
‚Kommunikation’. Die pragmatisch-hermeneutische Entdeckung der
Kommunikation als Sinnbasis des Etwas-Denkens: Auf dem Wege zu
einem dritten Paradigma der Philosophie.
7.1
Weichenstellungen zur Pragmatik. Sprachphilosophisch: W. von Humboldt,
semiotisch und naturwissenschaftstheoretisch: Ch. S. Peirce.1……………………?
[7.2
Diskurstheorie (Habermas) versus Transzendentalpragmatik (Apel) versus sokratische
Diskurspragmatik.2]………………………………………………………………..?
7.3
Welches sind die Sinnbedingungen des Verstehens und Erkennens?
Charakteristische Antworten auf die transzendentalpragmatische Frage: Aristoteles,
Tugendhat und Heidegger I versus W. von Humboldt, Wittgenstein II und
Diskurspragmatik………………………………………………………………….196
IV
Wo bist Du? Hast du etwas unweigerlich in Anspruch genommen und es zu
Recht als verbindlich anerkannt, indem du (anderen gegenüber) etwas geltend
machst? Aufhebung von Metaphysik und Kritik durch Einholung unserer selbst
als Diskurspartner.
1
2
In der Vorlesung nur angesprochen. Daher empfehle ich zur Lektüre:
D. Böhler, H. Gronke, Artikel „Diskurs“, Hist. Wörterbuch der Rhetorik, Band 2, Tübingen 1994, S. 794798. J. Habermas, „Hermeneutische und Analytische Philosophie. Zwei komplementäre Spielarten der
linguistischen Wende“. In: Ders., Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt a.M., Suhrkamp 1999, S. 65-101.
Artikel „Diskurs, a.a.O., S. 811-819.
5
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
1
Metaphysik als Seinsschau (Theoria) versus Erkenntniskritik im SubjektObjekt-Schema versus Lebenswelt- und Kommunikationsreflexion.
1.1
Metaphysik als Studienschwerpunkt und als Zentrum der Philosophiegeschichte oder:
Entwicklungslogik der drei Paradigmen: Sein / Metaphysik – Subjekt /
Erkenntniskritik – Sprache / Diskurs?
Gestatten Sie mir eine kritische Vorbemerkung zum Studienprogramm, die Ihnen gleich
Charakteristisches meiner Denkweise offenlegen soll, insoweit sie diese Vorlesung trägt. Sie
wissen dann, woran sie mit mir sind und was Ihnen im Hintergrund, z.T. auch auf der Bühne
dieses Kollegs begegnen wird, und können sich damit auseinandersetzen. Dieses bitte auch in
offenen Diskussionen während der Vorlesungszeit.
Zu meinem nicht geringen Erstaunen, zu meiner befremdeten Verwunderung scheint
Metaphysik wieder Konjunktur zu haben. Und das Institut, dem ich angehöre, hat
„Metaphysik / Ontologie“ als Studienschwerpunkt für den Bachelor-Studiengang festgesetzt.
Zu meinem Befremden! Warum? Ich fragte mich: Mon Dieu, wie will man Metaphysik als
Schwerpunkt eines Studiengangs rechtfertigen? Sollten wir nicht einerseits von den
transzendentalen Subjektphilosophen Immanuel Kant und vor allem Edmund Husserl,
andererseits von dem nachkantischen Kommunikationsphilosophen bzw. dialektischem
‚Aufheber‘ der Transzendentalphilosophie Karl-Otto Apel gelernt haben, daß Philosophie
zunächst und immer auch Selbstverantwortung des Denkens bzw. des Denkers für seine
Annahme sein sollte? Genaugenommen Selbstverantwortung im Diskurs der Argumente?
Erstens wissen wir doch, daß Metaphysik einer Spekulation gleichkommt, die sich
schwerlich argumentativ einholen läßt; einer Spekulation, die sich jedenfalls nicht in einer
Argumentation mit Skeptikern begründen läßt, welche keine metaphysischen Vorannahmen,
gleichsam weltanschauliche Glaubensannahmen, akzeptieren. Jedenfalls die klassische
vorkantische Metaphysik – und solche gibt es auch in der Zeit nach Kant, etwa im Werke
Ernst Blochs – ist so etwas wie eine große Weltanschauung auf dem schlüpfrigen Grunde frei
schwebender Vermutungen, eine Spekulation über das Ganze, das Sein als Ganzes, oder,
landläufig gesagt, über Gott und die Welt und den möglichen Zusammenhang beider.
So war mein erster Einwand ein kritischer Verantwortungsimpuls: Metaphysik, das ist
etwas, worüber sich nicht strikt argumentativ urteilen läßt, weil oder doch sofern sich ihre
Spekulationen nicht ausweisen lassen im Rahmen strenger Vernunft, nicht prüfen lassen im
Rahmen eines streng argumentativen Dialogs. Denn der vorkantische Metaphysiker bezieht
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Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
einen Standpunkt, den ‚wir‘ als Teilnehmer eines argumentativen Dialogs, in dem nur jetzt
und hier gleichberechtigt diskutierbare Thesen zugelassen sind, überhaupt nicht einnehmen
können. Der klassische Metaphysiker schließt ‚uns‘ Diskurspartner nämlich insofern aus dem
Diskurs aus, als er methodisch unterstellt, die (von ihm geleistete) Seinserkenntnis stelle
einfach eine Schau auf die Welt von einem Standpunkt außerhalb der Welt dar, den er selber
einnehme. Eigentlich beansprucht er einen Gottesstandpunkt. ‚Wir‘ haben aber einen solchen
privilegierten ‚Sehepunkt‘ nicht, vielmehr verstehen ‚wir‘ alles in einer Lebenswelt und vor
dem Sinnhintergrund von Traditionen‚ Institutionen, Interessen etc. – mithin in einem
Geflecht von Kommunikation und Deutungsperspektiven…
Mein zweiter Einwand: Warum fragt man nicht nach einer Entwicklungslogik in der
Philosophiegeschichte? Ignoriert man, daß auf die unmittelbare, die spekulative, dogmatisch
an Begriffen sich entlang hangelnde Metaphysikbetrachtung des Ganzen, oder des Seienden
im Ganzen, zu Recht die Kritik, insbesondere die Erkenntniskritik Immanuel Kants gefolgt
ist? Die Transzendentalphilosophie? Diese geht aus von der erkenntniskritischen Frage:
Welches
sind
die
Bedingungen
der
Möglichkeit
von
Erkenntnis?
Diese
Erkenntnisvoraussetzungen müßten die Philosophen aufdecken und bedenken. Die müßten sie
als Grenzen ihrer spekulativen Vernunft, der reinen Vernunft, anerkennen, wie Kant es ihnen
ins
Stammbuch
geschrieben
hat.
Das
war
die
kritische
Fragestellung
seiner
Transzendentalphilosophie, weshalb diese dann von ihren neukantischen Vertretern schlicht
als „die Kritische Philosophie“ bezeichnet worden ist – etwa von den großen Neukantianern
Hermann Cohen in Marburg, Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert in Heidelberg. Über
die neukantische Subjektphilosophie hinaus führte in gewisser Weise Ernst Cassirer,
hervorgegangen aus der Marburger Schule. Denn sein Werk „Philosophie der symbolischen
Formen“ (1925-1928) deutet den Übergang zu einer auf die Kommunikation, auf die
Symbolvermitteltheit des Denkens achtenden, dafür sensiblen Philosophie jedenfalls an. Zwar
steht eine konsequente Einbeziehung der Sprache und Kommunikation in die transzendentale
Fragestellung Kants – nach den Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens – auch bei
Cassirer noch aus, doch kommt sie jetzt auf die Tagesordnung.
So können wir festhalten: Es hat erstens eine Aufhebung der klassischen Metaphysik
durch die Erkenntniskritik gegeben und es gibt zweitens auch eine Selbstaufhebungstendenz
der bewußtseinsphilosophischen Erkenntniskritik – hin zur Kommunikationsreflexion. Das
war gewissermaßen mein zweiter Einwand. Daran schlossen sich noch manche Einwände an.
Deswegen habe ich mir gesagt: Du liest, zumal wenn es um Philosophiegeschichte geht, nicht
bloß
über
Metaphysik.
Das
kommt
nicht
in
Frage.
Du
mußt
gleich
die
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
transzendentalphilosophische Metaphysik-Kritik in Spiel bringen – und dann auch die
transzendentalpragmatische
Aufhebungsreflexion
der
noch
subjektphilosophisch
eingeschränkten Erkenntniskritik, die nunmehr auf das Denken als Kommunizieren achtet,
das Denken als Kommunizieren rekonstruiert und begreift.
Dann aber meldete sich ein immanenter Einwand – ein Argument, das eine gewisse
Selbstkorrektur meiner starken Ablehnungstendenz bedeutet, nämlich der Blick auf Sokrates.
Ist es nicht etwas Wunderbares, daß bereits zu Anfang der Metaphysik der Griechen, von der
die ganze metaphysische Tradition zehrt, schon eine methodische Kritik etabliert wird? Und
zwar Kritik im Rahmen von Kommunikation und z.T. auch im Blick auf Kommunikation:
Kritik als Funktion des Diskurses i.S. eines argumentativen Dialoges. Sokrates ist
gewissermaßen die Verkörperung eines Denkens, welches – freilich vor einem
metaphysischen Hintergrund, mit spekulativen Kosmosharmonie-Annahmen und ethisch
eudaimonistischen Obertönen – Kritik etabliert im Blick auf das Sich-mit-AnderenUnterreden, im Blick auf eine Diskussion, in der nichts zählt als ein sinnvolles, jetzt im
Diskurs prüfbares Argument.
Sokrates hat die Kritik in seiner Lebenspraxis durchgestanden als Diskurs auf der
Straße bzw. auf der Agora. Er war auch ein Mann der Straße, ein Mann, der auch auf der
Straße die Anderen nötigt, das, was wir heute ihre Geltungsansprüche nennen, durch
intersubjektiv geltungsfähige Gründe, durch Logoi, zu rechtfertigen. Er zeigt seinen
Gesprächspartnern, daß sie mit ihrer Spruchweisheit, mit vorschnell verallgemeinerten
Exempeln aus ihrer Lebenspraxis keinen Logos zu Stande bringen: kein Argument, welches
verallgemeinerbar ist; kein Argument, welches auch für Andere, die von anderen Situationen
ausgehen als denjenigen, die sie in ihren Beispielen hochstilisieren, nachvollziehbar, prüfbar
und dann als wahr akzeptierbar ist. Darauf zielte Sokrates. Dieses positive Wahrheitsziel ist
es, das ihn seine Gesprächspartner in die Kritik ziehen und in aporetische Situationen
verstricken läßt. Davon geleitet, bringt er sie in die Lage, erkennen zu müssen, daß sie
eigentlich gar nicht wissen, was sie zu wissen vorgeben.
So sind in dem sokratischen Anfang der Metaphysik schon Kritik und Kommunikation
verwoben. Das, meine Damen und Herren, ist es, was aus der bloßen Metaphysik im
Abendland Philosophie werden läßt: diskursive, streitend dialogisierende Suche nach
Wahrheit und Verbindlichkeit. Bloße, mehr oder weniger unkritisch spekulative Metaphysik
gibt es auf dem Wege von archaischen Mythen zu Religionen und Weltanschauungen der
frühen Hochkulturen in der von Karl Jaspers so genannten „Achsenzeit“ vielerorts. Doch im
klassischen Griechenland, an dieser Wiege Europas, kommt es zur Philosophie im strengen
8
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Sinne, zum argumentativen Denken. Das lohnt es, immer neu zu bedenken. Ohne Philosophie
kein Europa, aber eben auch: ohne Europa keine Philosophie.
Die Entfaltung des Philosophierens durch Verknüpfung von Metaphysik, Kritik und
Kommunikation bei ganz unterschiedlicher Gewichtung dieser drei Elemente zu
rekonstruieren und zu diskutieren, heißt Philosophiegeschichte zu betreiben, beginnend in
Athen. Der erste große systematische Philosoph ist Platon. Er ist der Metaphysiker des
theorein, kein Mann der Straße mehr, der sich mit den Leuten in den Dialog hier und da
konkret einläßt, vielmehr ein Mann höchster Aristokratie, der ganz am Rande, meistens auf
einem Gut außerhalb Athens lebt. In Athen etabliert er seinen Garten Akademos als Lehrort,
die später so genannte Akademie, von der die Athener damals kaum Notiz genommen haben.
Für sie war die Platonschule nur eine Sekte, wie es viele Sekten in Athen gegeben hat; ein
Kreis Eingeweihter, wie es viele Cliquen spekulativer oder mythischer Art gegeben hat.
Platon ist viel auf Reisen; ansonsten existiert er zurückgezogen.
Systematiker, der er ist, übt er gleich eine gewisse Kritik an Sokrates. Denn er gibt
sich nicht damit zufrieden, in unmittelbaren, auch zufällig sich ergebenden Dialogen –
gleichsam ad personam, ad hominem, auf den unmittelbaren Gesprächspartner bezogen, auf
ihn zugreifend – sein Gegenüber zu verunsichern und auf den Weg des kritischen
Selbstdenkens zu bringen. Nein, Platon sucht das, was wir heute, nach der
kommunikationsbezogenen Wende des Denkens, als „intersubjektive Gültigkeit“ bezeichnen
würden. Deswegen entfaltet er Konzepte wie die Ideenlehre und die Anamnesis, den Weg hin
zur Erkenntnis von Ideen, die Annahme, daß man doch schon ein begriffliches Vorwissen
braucht, um überhaupt sinnvoll nach etwas fragen zu können. Und so weiter.
Freilich: So, wie Platon diese Konzepte entfaltet, wird das eine spekulativ
metaphysische Methode im Rahmen einer rational uneinholbaren Kosmos-Spekulation. Und
bei Aristoteles können wir das in gewisser Weise auch sagen: Auch hier der Anspruch, mehr
Rationalität, mehr intersubjektive Gültigkeit oder – vorsichtiger gesagt: intersubjektive
Geltungsfähigkeit – zu erlangen, um es modern auszudrücken. Und dann doch wieder der
ganz handfeste, spekulative Anspruch, ein für alle Mal die Substanz, die ousía, das Wesen der
Dinge, zu erkennen: gewissermaßen nicht mehr die Idee oder Struktur hinter der Welt zu
erkennen, wie bei Platon, sondern in der Welt oder in den Dingen, die ousía áneu hýles, das
Wesen ohne Stoff, die Form, die Struktur. Mitten darin aber plötzlich der Rückgriff auf die
Reflexion à la Sokrates, wenn es um die Kritik von Gegnern geht, die fragen: ‚Wie willst du
eigentlich deinen eigenen Ansatz, Aristoteles, als Logiker, begründen?‘ Hier greift er auf eine
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
sokratische Reflexion zurück: Den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch kann man nur
begründen, sagt er zu seinen relativistischen herakliteischen Gegnern, wenn man reflektierend
zurückgeht auf das, was ich und was du, was wir beide im Etwas-Verständlich-Machen, im
Etwas-Sagen, im Für-eine-These-Geltung-Beanspruchen schon vorausgesetzt haben. Damit
unsere These überhaupt verständlich und auch für Andere nachvollziehbar ist, haben wir
schon vorausgesetzt, diese These widerspruchsfrei vorbringen zu können. Damit haben wir
die Gültigkeit des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch bereits in Anspruch genommen
und diesen als verbindliche Regel implizit anerkannt. So etwa begründet Aristoteles: Er
entdeckt durch Reflexion im Gespräch mit dem Zweifler, daß der Geltungsanspruch der
Verständlichkeit
unhintergehbar
ist
–
und
daß
seinen
Implikationen
allgemeine
Verbindlichkeit zukommt.
Derart kann man immer wieder zeigen, daß auch innerhalb der Metaphysik strikt rationale –
will sagen: dialogreflexive – Anstöße da sind. So daß sich aus der Metaphysik der Weg zur
Erkenntniskritik gleichsam herauswindet, und aus dieser dann der Weg zur Reflexion darauf,
daß auch das Erkenntnissubjekt ein Kommunikator ist, ein Diskursteilnehmer. So schließt
sich an Kants, noch klassisch vorkommunikativ konzipierte, transzendentale
Anlage 8
Erkenntniskritik die Reflexion auf das Einbezogensein in den Sinnzusammenhang einer (oder
mehrerer) Sprach- und Handlungsgemeinschaft(en) an. Im dritten Paradigma macht sich die
Philosophie zunächst klar, daß alles Denken und jede (im weitesten Sinne) kognitive
Beziehung von vornherein in einem sprach- bzw. zeichenhaften Kontext steht, - und daß diese
Kontextualität eine Bedingung der Möglichkeit von Denken und Kognition ist. Man fragt
also, was es für die Begriffe des Denkens und der Erkenntnis (im weitesten Sinne) bedeutet,
daß dem „Ich“ von vornherein eine eigene Lebenswelt gemeinsam mit den anderen
Teilhabern dieser Welt, und zwar grundsätzlich auf dieselbe Weise, erschlossen und vertraut
ist. Man reflektiert darauf, daß die Anderen und ich eine gemeinsame Sinnwelt teilen, eine
„Weltansicht“, wie Wilhelm von Humboldt sagt. So entdeckt man das geschichtliche Sprachund Sinnapriori, die „geschichtlich pragmatische Sinndimension“ (Böhler).
Die so entdeckte „geschichtlich pragmatische Sinndimension“ beruht darauf, daß jeder
(jedes mögliche Subjekt) sich nur von uns sich nur Kraft Vermittlung der Zeichen, Begriffe
und Handlungsweisen einer Sprache – in diesem Sinne redet Wittgenstein von
„Sprachspielen“ – überhaupt eine Beziehung zu Dingen, zu anderen und zu sich selbst (seinen
Gedanken, Antrieben, Wünschen usw.) haben kann.
10
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Nun ist aber – das überspringen die meisten Vertreter der sprachpragmatisch-hermeneutischen
Wende, dieser Neuorientierung der Philosophie hin zur Sprache, zur Lebenswelt und zum
Diskurs – mit dieser geschichts- und kulturrelativen Sinndimension, dieser z.T. ‚weichen‘
Dimension, die den Kulturrelativisten und Historisten Recht zu geben scheint, die gleichsam
harte Dimension der allgemeinen, geschichts- und kulturübergreifenden Geltungsansprüche,
Sinnkriterien und Geltungsstandards verwoben. Darum ging es der subjekt- oder
bewußtseinsphilosophischen
Transzendentalphilosophie
Kants
und
Transzendentalphänomenologie Husserls, aber auch schon der Ideenlehre Platons und der
Logik des Aristoteles. Und höchst bedeutsamerweise hat diese geltungspragmatische
Dimension, die sich in jedem unserer Sprechakte und Dialogbeiträge zeigt, auch eine
moralische Verbindlichkeit.
Anlage 9
Wir können uns das zu Bewußtsein bringen, indem wir uns fragen, was wir eigentlich
anerkennen und beachten müssen, wenn wir mit anderen zu kommunizieren. Normativ
gewendet: Habe ‚ich’ mich als Diskurspartner eigentlich schon zu etwas – und wozu genau –
verpflichtet, wenn ‚ich’ mit Anderen kommuniziere?
Soviel gewissermaßen als offenlegende, daher vorgreifende Einleitung in diese
Vorlesung, als Fingerzeig, wie sie zu verstehen ist, und wie man sich meines Erachtens heute,
nach der linguistischen und pragmatisch hermeneutischen Wende ernsthaft mit Metaphysik
als einer Grundströmung der Philosophie und ihrer Geschichte beschäftigen kann und sollte.
1.2
Zum Begriff und zur Kritik der Metaphysik.
‚Was heißt Metaphysik?’ Anders gefragt: Gibt es in der Geistesgeschichte gemeinsame
Leitthemen, Gegenstände und Fragen dessen, was wir im Rückblick auf das Denken seit der
vorsokratischen und nachsokratischen Antike „Metaphysik“ nennen? Ja. Wir begegnen immer
wieder spekulativen Themen, die als solche weder empirisch durch Theorien, Beobachtungen
und Experimente i. S. kausaler Gesetzeserklärungen objektivierbar sind, noch durch
erkenntnis-
und
sinnkritische
Reflexion
auf
interne
und
unvermeidbare,
weil
erkenntnistragende und eine Erkenntnis oder sinnvolle Erörterung erst ermöglichende,
Voraussetzungen (Kant: „Bedingungen der Möglichkeit“ von Erkenntnis) aufweisbar sind, –
Themen, die aber von denkenden Menschen nach den archaisch mythischen Kulturepochen
immer wieder aufgebracht werden. Dazu gehören in erster Linie:
Anlage 2
11
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
1) Das Ganze als Inbegriff dessen, vom dem sich – vermutlich –
Existenzaussagen (der Form: ‚p existiert’, ‚p existiert wirklich’) behaupten
lassen. Dafür steht seit der griechischen Antike der Kunstausdruck „das Sein“.
Metaphysik ist traditionell die Lehre vom „Seienden, insofern es ist“3
(Aristoteles), und von dem „Umgreifenden“ (Jaspers), dem Sein als einen
Ganzen, das mehr sei (Euklid, Laotse), nämlich „ursprünglicher“4 (Aristoteles)
als die Summe seiner Teile, d. h. des je einzelnen Seienden. Diese
„ontologische Differenz“ werde, so Heidegger, jedoch von der Metaphysik
vernachlässigt und von den modernen Wissenschaften, die „gesonderte
Gebiete des Seienden“ zum Objekt machen, ganz übergangen, so daß „das
Sein selbst vergessen“ werde.5
2) Das Ganze
a) als
Inbegriff
eines
(vermeintlich)
objektiven,
unvordenklich
6
vorgegebenen und (vermeintlich nur) teleologisch verstehbaren,
etwa
von
(→ objektiv
einem
Schöpfer
teleologisch
gegebenen
angesetzte
Sinnzusammenhangs
Seins-
bzw.
Schöpfungstheologie),
b) als Inbegriff eines möglichen Sinnzusammenhangs, d. h.: Wir
Menschen können unser Verhältnis zum All nur verstehen, indem wir
ihm Sinn abgewinnen (→ Sinnentwurf einer hypothetischen
Metaphysik/Theologie als „rationaler Mythos“ i. S. von Hans Jonas).
3) Der teleologische und theologische Begriff des „Ganzen“ führt auf den Begriff
eines Zentrums und ursächlichen Grundes eines solchen Ganzen: In
zahlreichen (mythisch-)metaphysischen Traditionen – Sonderfall Buddhismus
– ist das „Gott“, z. B. als ‚Demiurg’ oder ‚Schöpfer’, und in den biblischen
Traditionen (AT und rabbinische, NT und christliche Lehren) auch als
3
4
5
6
Aristoteles, Metaphysik, IV, 1, 1003 a 21 – 32.
Aristoteles, Politik, I, 2, 1253 a, 20. Vgl. a.a.O., 19-29.
M. Heidegger, Was ist Metaphysik?, Frankfurt a. M. 81960, bes. Einleitung.
Ders., Vom Wesen des Grundes, Frankfurt a. M. 41955, S. 5.
Ders., Zur Seinsfrage, Frankfurt a. M. 41977, S. 38 f.
In welcher begrifflichen Nähe Heidegger trotz seines Pathos einer „Verwindung der Metaphysik“ zu
Aristoteles steht, verrät gerade der zuletzt angegebene Passus mit der Entgegensetzung von Wissenschaften
und Denken des Seins als dem „ganz Anderen zum Seienden“; vgl. Aristoteles, Metaphysik, IV, 1.
Wenn man einen Zusammenhang, der einem selbst geordnet erscheint, objektiv teleologisch versteht, deutet
man ihn als zweckvoll angelegt. Dabei unterstellt man häufig ein Subjekt, welches diese zweckvolle Anlage
verursacht oder geschaffen hat – einen schöpferischen Geist.
12
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
personales Gegenüber, als Inbegriff der Gerechtigkeit und barmherzigen
Liebe. Verwandt ist der Gottesbegriff der dritten abrahamitischen Religion, des
Islams.
Zeitlich bzw. denkepochal erstreckt sich Metaphysik in verschiedensten Ausprägungen vom
mythischen Denken über die griechische theoria bis in die gegenwärtige Philosophie – zum
Teil auch innerhalb der, seit Kant, weithin metaphysikkritisch gewordenen Philosophie.
Als inhaltlicher Überblick bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts empfiehlt sich das
exemplarische Werk von Karl Jaspers: „Die großen Philosophen. Erster Band: Die
maßgebenden Menschen: Sokrates, Buddha, Konfuzius, Jesus. Die fortzeugenden Gründer
des Philosophierens: Plato, Augustinus, Kant. Aus dem Ursprung denkende Metaphysiker:
Anaximander, Heraklit, Parmenides, Plotin, Anselm, Spinoza, Laotse, Nagarjuna“ (München:
Piper 1957, Neuauflage 1981). Mit Ausnahme Kants thematisiert Jaspers in diesem
bedeutenden Werk ausnahmslos spekulative Metaphysiker, die also weder erkenntniskritisch
im Sinne der Kantischen transzendentalen Rückfrage nach Bedingungen der Möglichkeit der
Erkenntnis, noch gar sinnkritisch denken, also nicht gemäß der Frage nach den
Sinnbedingungen und Sinngrenzen metaphysischer Theorien: ‚Wann wird eine metaphysische
Position ein sinnloses Argument in einem jetzt zu führenden Dialog?
Nicht mit dem weiten, explizit nachkantischen Horizont von Jaspers, sondern zumal
metaphysik-immanent, ja eher dogmengeschichtlich, angelegt ist das 2001 bei der
Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienene Buch Jörg Disses, „Kleine Geschichte der
abendländischen Metaphysik. Von Platon bis Hegel“. Was den Geltungsstatus metaphysischer
Theorien anbelangt, so plädiert jedoch auch Disse dafür, diesen „nur einen grundsätzlich
hypothetischen Charakter“ zuzubilligen. Er schreibt aber der Metaphysik die Kraft zu, das auf
naturwissenschaftlichen Theorien gründende Wissen „zu einem einheitlichen Verständnis von
Welt zusammenzudenken bzw. von einem spekulativen Einheitspunkt aus rückwärts
schreitend“ dieses Wissen in seinen wichtigsten Grundzügen einzuholen (!).
Befremdlicherweise referiert Disse die Positionen der traditionellen Metaphysik von
Platon bis Hegel bloß und hat überhaupt kein Verständnis für die Notwendigkeit einer
Sinnkritik der traditionellen Metaphysik. Den Sinnlosigkeitsverdacht, der mit der
linguistischen
und
der
pragmatisch-hermeneutischen
Wende
des
Philosophierens
begründeterweise aufgekommen ist, scheint er für eine abwegige Zumutung zu halten und
unterstellt einfach, daß die Aussagen der traditionellen Metaphysiker sinnvoll sind und daher
auch aktuell sein können.
13
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Karl Jaspers’ Darstellung ist in diesem Betracht durchaus differenzierter, wiewohl er
selbst die linguistische und pragmatisch-hermeneutische Wende nicht nachvollzogen hat und
nicht auf deren Niveau philosophiert. Aber er ist konsequent durch Kant hindurchgegangen.
Überdies hat er ein Gespür für das Unzureichende der Subjekt-Objekt-Beziehung und des
Subjekt-Welt-Dualismus, aus dem heraus die neuzeitliche Metaphysik denkt. Da er zudem
selbst die Kommunikation mehr und mehr in den Mittelpunkt seines Denkens gerückt hat, ist
er auch des methodischen Solipsismus unverdächtig, der die metaphysische Tradition
durchzieht. Freilich vermißt man eine sinnkritische Aufarbeitung der metaphysischen
Positionen unter der Frage, was von ihnen noch gelten bzw. aufgehoben werden kann, wenn
die drei Strukturfehler der Metaphysik, jedenfalls der traditionellen – nicht durch Kants
Vernunftkritik noch durch eine (transzendental-)pragmatische Sinnkritik hindurchgegangenen
– Metaphysik, beseitigt würden, nämlich
ƒ
Anlage 3
das Denken aus einem uneinholbar theoretischen Gesichtspunkt heraus,
gleichsam von einem Gottesstandpunkt außerhalb der Welt auf diese
‚schauend‘ – als sei sie (erstens) so etwas wie ein Ding, und als könne
man dieses (zweitens) kommunikations- bzw. sprachunabhängig, also
methodisch
einsam
‚wahrnehmen‘,
statt
sie
traditions-
und
vorverständnisabhängig deuten zu müssen, also hypothetisch, mithin
kritik- und konsensbedürftig;
ƒ
die Unterstellungen eines methodischen Solipsismus, nämlich, daß
einer alleine, jeder Metaphysiker für sich, Sinn und Bedeutung sowie
Wahrheit und Gewißheit der Wahrheit erlangen könne; d. h. ohne die
Vermittlung
seiner
Thesen
durch
die
reale
Kommunikationsgemeinschaft (z. B. Tradition) berücksichtigen zu
müssen, und ohne als letzten Geltungsmaßstab die sinnvolle
Vertretbarkeit und die argumentative Zustimmungswürdigkeit seiner
These im Rahmen einer (als regulative Idee vorauszusetzenden)
unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft zum Kriterium zu machen;
ƒ
die damit verwobene Erkenntnishaltung einer Subjekt-Objekt-Spaltung
bzw. eines Dualismus zwischen Erkenntnissubjekt und Welt als
Inbegriff möglicher Erkenntnisobjekte, welche nach dem Muster
dinglicher Gegenstände verstanden, also verdinglicht werden.
Diese drei Strukturprobleme sollten wir bei jeder Auseinandersetzung mit der Metaphysik
genau im Auge behalten. Ohne den Blick darauf läuft die Beschäftigung mit Metaphysik ins
14
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Naive und Dogmatische. Das gilt aber auch für die Diskussion aller anderen philosophischen
Positionen, die sich nicht als Metaphysik verstehen. Auch sie können genau diese
Strukturfehler haben, schließlich liegen diese nicht offen zutage, sondern werden gleichsam
hinterrücks mitgeschleppt.
1.3
Ist Metaphysik nach Kant und nach der pragmatisch-hermeneutischen Wende
möglich? Das Beispiel von Hans Jonas’ „rationalem Mythos“.
Für die Gegenwart möchte ich Ihnen ein besonders reiches und reflektiertes Beispiel eines
eigenständigen metaphysischen Ansatzes vorstellen, nämlich den „rationalen Mythos“ von
Hans Jonas. Dazu sei zweierlei bemerkt. Einmal steht dieser Versuch nicht im Zentrum seines
Denkens, welches sich nämlich von einer kritischen, nämlich entmythologisierenden
Hermeneutik, ausgeübt vor allem an dem Gnostizismus und der Metaphysik von Augustinus,
über eine leibphänomenologisch orientierte Evolutionstheorie des Lebens bzw. einer
philosophischen Biologie hin zur Ethik der Zukunftsverantwortung in der technologischen
Gefahrenzivilisation erstreckt.
Zum anderen, und das geht uns jetzt vor allem an, stellt Jonas’ rationaler Mythos einen
bemerkenswert metaphysikkritischen metaphysischen Versuch dar. Denn er nimmt – erstens –
die erkenntniskritische Wende zum transzendentalphilosophischen Paradigma einer
Erkenntnistheorie auf, die nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis fragt und
von daher die Grenzen, innerhalb derer ein metaphysischer Versuch gelten kann, eng zieht:
Hier sei keine Gewißheit der Wahrheit möglich, so daß es sich nur um „metaphysische
Vermutungen“ handeln könne, welche keinen höheren Geltungsstatus als den der Plausibilität
zu erreichen vermögen. Jonas berücksichtigt Kants Kopernikanische Wende von der
vergleichsweise naiven Seinsschau zur Rückbesinnung auf die Erkenntnisvoraussetzungen
des Subjekts gleich in seinem metaphysischen Versuch.
Zweitens gibt er eine logische Kohärenzkritik und eine avant la lettre
sprachpragmatische Sinnkritik an Grundgehalten der jüdischen und christlichen Theologie,
dem spekulativen Zentrum der europäischen Metaphysik als philosophischer Theologie.
Zunächst prüft er die Kohärenz der drei Gottesattribute der absoluten Güte, der absoluten
Macht oder Allmacht und der Verstehbarkeit. Von diesen Attributen sagt Jonas, sie stünden
„in einem solchen Verhältnis, daß jede Verbindung von zweien von ihnen das dritte
ausschließt“. Und er fährt fort: „Die Frage ist dann, welche von ihnen sind wahrhaft integral
15
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
für unseren Begriff von Gott und daher unveräußerlich, und welches dritte muß als weniger
kräftig dem überlegenen Anspruch der anderen weichen? Gewiß nun ist Güte, d. h. das
Wollen des Guten, untrennbar von unserem Gottesbegriff und kann keiner Einschränkung
unterliegen. Verstehbarkeit oder Erkennbarkeit, die zweifach bedingt ist: vom Wesen Gottes
und von den Grenzen des Menschen, ist in letzterer Hinsicht allerdings der Einschränkung
unterworfen, aber unter keinen Umständen duldet sie totale Verneinung. Der deus
absconditus, der verborgene Gott (nicht zu reden vom absurden Gott), ist eine zutiefst
unjüdische Vorstellung.“7
Anlage 10
Schließlich beruhe die Thora darauf, daß wir Gott verstehen können, „nicht
vollständig natürlich, aber etwas von ihm – von seinem Willen, seinen Absichten und sogar
von seinem Wesen, denn er hat es uns kundgetan.“8 Wir besäßen ja seine Gebote, die wir
befolgen sollen, also verstanden haben müssen. Zudem habe Gott durch seine Propheten,
wenn auch in dem beschränkenden Medium der Sprache einer Zeit, mit den Menschen
gesprochen. Daher sei die Annahme eines gänzlich verborgenen, unverständlichen Gottes ein
unannehmbarer Begriff.
Unannehmbar sei auch ein Gottesbegriff, welcher Gott zusammen mit der Allgüte
auch Allmacht zuschreibt: „Nach Auschwitz können wir mit größerer Entschiedenheit als je
zuvor behaupten, daß eine allmächtige Gottheit entweder nicht allgütig oder (in ihrem
Weltregiment, worin allein wir sie erfassen können) total unverständlich wäre. Wenn aber
Gott auf gewisse Weise und in gewissem Grade verstehbar sein soll (und hieran müssen wir
festhalten), dann muß sein Gutsein vereinbar sein mit der Existenz des Übels, und das ist es
nur, wenn er nicht allmächtig ist. Nur dann können wir aufrechterhalten, daß er verstehbar
und gut ist und es dennoch Übel in der Welt gibt“.9
Diese immanente Kritik ergibt sich aus einer Kohärenzprüfung, welche auf seiten ihres
Gegenstands nichts voraussetzt als den Anspruch, den jeder, der eine Lehre vorbringt,
notwendigerweise schon erhoben hat: den elementaren Geltungsanspruch der Verständlichkeit
dieses seines Diskursbeitrags. An diese immanente Kritik, die von der diskurspragmatischen
Einsicht in die Unhintergehbarkeit von Geltungsansprüchen ausgeht, schließt Jonas eine
7
8
9
Hans Jonas: „Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme“, in: ders., Philosophische
Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M.: Insel 1992, S. 203 f.
A.a.O.
Ebd., S. 203 f.
16
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
direkt sprachpragmatische und implizit diskurspragmatische Sinnkritik des Begriff
„Allmacht“ an: Die Rede von Allmacht sei sinnlos, weil wir bei jeder Verwendung des
Begriffs „Macht“ mitverstehen und voraussetzen müssen, es auch umgangssprachlich bzw.
lebensweltlich tatsächlich voraussetzen, daß sich eine Macht auf die Existenz von etwas
anderem bezieht, das als solches schon eine Begrenzung der Macht ist. Macht sei kein
einsames und von daher gänzlich autarkes, sondern ein immer schon sozial bezogenes
Phänomen, welches einen Gegenstand oder ein Gegenüber voraussetze, worauf es wirken
könne, um es zu überwinden. Die Annahme einer absoluten Alleinmacht wäre liefe ins Leere.
Denn sie behauptete eine „machtlose Macht, die sich selbst aufhebt. ‚All’ ist hier gleich Null
[...]. Kurz, Macht ist ein Verhältnisbegriff und erfordert ein mehrpoliges Verhältnis [...].
Macht kommt zur Ausübung nur in Beziehung zu etwas, was selber Macht hat. Macht, wenn
sie nicht müßig sein soll, besteht in der Fähigkeit, etwas zu überwinden; und Koexistenz ist
als solche genug, diese Bedingung beizustellen. Denn Dasein heißt Widerstand und somit
gegenwirkende Kraft.“ Daher könne es nicht sein, „daß alle Macht auf Seiten eines
Wirksubjekts allein sei. Macht muß geteilt sein, damit es überhaupt Macht gibt“.10 Genau aus
diesem, wie Jonas sagt, zugleich logischen und ontologischen Grund – wir können genauer
sagen: aus diesem sprachpragmatisch-logischen und sozial-ontologischen Grund –, daß die
Rede von Allmacht sinnlos und das Phänomen einer Allmacht in der Wirklichkeit nicht
denkbar sei, müsse auf das Attribut der absoluten Macht Gottes verzichtet werden.
Wir
bemerken
also,
daß
Jonas’
rationaler
Mythos
eine
gewissermaßen
metaphysikkritische Metaphysik darstellt. Denn sein Urheber nimmt Kants Beschränkung des
Gültigkeitsstatus aller Spekulationen auf, übrigens gleich zu Anfang des Vortrags „Der
Gottesbegriff
nach
Auschwitz“.
Zudem
bringt
er
zweimal
den
grundlegenden
Geltungsanspruch der Verstehbarkeit der Rede ins Spiel; das zweite Mal, indem er den
metaphysisch-theologischen Begriff der Allmacht selbst an diesem Anspruch mißt und daher
als sinnlos, weil nicht verstehbar verwirft.
Gestatten Sie, daß ich nach dieser Pointierung des metapysikkritischen Charakters von
Jonas’ „unverhüllt spekulativer Theologie“11 dieses Stück in den Kontext seines Denkens
rücke. So aber, daß der Referierte dabei selber angesprochen wird, insofern ich Ihnen ein
Stück aus der Berliner Ehrenpromotion von Hans Jonas im Jahre 1992 vor Augen führe: Die
Laudatio.
10
11
Ebd., S. 201 f.
Ebd., S. 190.
17
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Video: Einzug ins Auditorium Maximum
1.3.1 Hans Jonas – von der Hermeneutik der Entmythologisierung zur Ethik der
Zukunftsverantwortung.12 Laudatio des Dekans, Professor Dr. Dietrich Böhler
Verehrter Herr Professor Jonas, meine Laudatio spielt sich nach einem hermeneutischen
Auftakt in zwei Teilen ab: „Rationaler Mythos und Aufhebung des Dualismus“ zunächst,
„Metaphysisch ontologische Wertlehre und ‚Prinzip Verantwortung‘“ sodann.
Aus Ihrer frühen Forschung kann ich nur auf ein wertvolles Instrument hinweisen: auf Ihre, in
Rudolf Bultmanns theologischem Seminar entwickelte Methode, Dogmen und Mythen
rational zu erschließen, Ihre Hermeneutik der Entmythologisierung. Von Heidegger und auch
von Hegel belehrt, zeigen Sie in Ihrer Frühschrift „Augustin und das paulinische
Freiheitsproblem“, Göttingen 1930, daß der Geist nur über den Umweg des Symbols „zu sich
kommen könne“; genauer gesagt, über eine Veranschaulichung und Verdinglichung seiner
wesentlichen Daseinsprobleme und Daseinserfahrungen. Diese liegen eigentlich in seinem
Verhältnis zu sich selbst. Aber in seiner Kindheit, einer unreflektierten Entwicklungsphase,
neigt der Geist dazu, sich innere Daseinsprobleme und -erfahrungen zu erklären, indem er sie
projiziert auf angeblich objektive Ereignisse oder Mächte außer sich.
So erklärt Augustinus – wirkungsträchtig am Anfang des abendländischen
Verständnisses von Freiheit und Moralität – das Dilemma des menschlichen Willens,
einerseits moralisch sein zu wollen, andererseits aber unmoralischen Willensrichtungen zu
folgen, etwa der Selbstliebe, dem Hochmut und dem bösen Begehren bzw. Haben-Wollen,
mit dem (m.E. unbiblischen) Mythos der Erbsünde: Augustinus führt also ein Dilemma des
Willens zurück auf die vermeintlich schicksalhafte Kausalität von Adams Sündenfall.
Indem Sie, Professor Jonas, diesen Mythos als veranschaulichende Objektivierung
eines inneren, existentialen Dilemmas enthüllen, wird exemplarisch zweierlei geleistet:
rationale Kritik an einem Mythos, die diesen als Verzerrung eines Existentialphänomens
bestimmt, und Rettung des zugrunde liegenden Dilemmas als eines Phänomens unseres
moralischen Selbstverhältnisses. Auf diese Weise bewahrt Ihre Methode den Gehalt von
12
Durchgesehene und stellenweise erweiterte Fassung. Original in: Herausforderung Zukunftsverantwortung.
Hans Jonas zu Ehren, hrsg. von D. Böhler und R. Neuberth, Münster: LIT, 2. Aufl. 1993, S. 27-36.
18
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Dogmen und Mythen vor einem rationalistischen Verdikt und macht sie uns als Beiträge
menschlicher Selbstverständigung zugänglich.
Rationaler Mythos und Aufhebung des Dualismus
Ihre Methode einer nicht-mythologischen Rekonstruktion von Mythen war also nicht
dekonstruktiv sondern sinnerschließend: Rekonstruktion von Erfahrungen und Problemen des
Daseins. Daher schuf sie einen Spielraum, den der Geist braucht, um die letzten Fragen, die
spekulativen Fragen, stellen und gehaltvoll erörtern zu können; jene Fragen, die uns
existentiell und gleichsam gattungsexistentiell angehen, als Personen und als menschliche
Wesen in einem materiellen All. Da ist zunächst das Ur-Rätsel: Wie können wir uns
verständlich machen, daß aus „den stummen Wirbeln“ von Materie Subjektivität
hervorgegangen ist? Das ist wohl die erste jener Fragen, deren Antworten stets hinausgehen
über die Grenzen unserer möglichen Erfahrung.
Für solche Antworten können wir nicht mehr legitim den Anspruch des Wissens und
einer rationalen Gewißheit erheben. Immanuel Kant hat uns gezeigt, daß es hier kein Wissen
der Wahrheit, keinen Nachweis intersubjektiver Gültigkeit geben kann, obwohl uns diese
Fragen umtreiben. Die Vernunft, sagt Kant, wird „durch ihr eigenes Bedürfnis getrieben“ zu
metaphysischen Fragen, „die durch keinen Erfahrungsgebrauch der Vernunft und daher
entlehnte Prinzipien beantwortet werden können“ (KdrV, B 21). Sofern der Mensch homo
metaphysicus ist, muß es möglich sein, metaphysische Fragen zu erörtern und sinnvolle
Antworten darauf zu versuchen. Erst wenn wir das tun, verhalten wir homines metaphysici
uns
dialogisch
verantwortlich,
weil
wir
unseren
Dialogpartnern
nur
dann
in
Orientierungsfragen Rede und Antwort stehen können, wenn wir uns auch metaphysisch oder
theologisch befragen lassen: Woher kommen wir? Wie können wir Menschen uns im Ganzen
des Seins und dieses im Blick auf uns verstehen? Was hat es mit Gott auf sich? Und wenn es
damit etwas auf sich haben mag, was kann es für unser Leben bedeuten?
Wer bei solchen Fragen von vornherein auf das Ziel rationaler Gewißheit verzichtet, der
darf, so Hans Jonas, im Blick auf „Sinn und Bedeutung sehr wohl über solche Dinge
nachdenken“.13 Der kann sich im Dialog auch metaphysisch verantworten, indem er sinnvolle
Antworten sucht:
13
Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1987, S. 9.
19
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
-
Reflektierte Antworten, die auf den Anspruch ausweisbarer Wahrheit, erweisbarer
Gültigkeit, von vornherein verzichten,
-
sinnvoll diskutierbare Antworten, die uns eine Orientierung anbieten, welche logisch
stimmig ist und zu unserem Erfahrungswissen nicht etwa in ausschließendem
Widerspruch steht, sondern sich daran anschließen läßt.
Eine solche hypothetische Antwort nennt Hans Jonas ‚rationalen Mythos‘. Dreimal, wenn ich
richtig sehe, Herr Jonas, haben Sie einen rationalen Mythos entworfen bzw. modifiziert und
entfaltet: 1961 in dem Harvard-Vortrag „Unsterblichkeit und heutige Existenz“, deutsch in
dem 1963 erschienenen Band „Zwischen Nichts und Ewigkeit“, 1984 in dem Vortrag bei
Entgegennahme des Rabbi Leopold Lucas-Preises, „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“, und
1988 in der Schrift „Materie, Geist und Schöpfung“.
Ihr erster Entwurf wie auch die späteren gehen von Grundlagen moderner
Welterfahrung aus: von deren bedingungsloser Immanenz und von dem methodischen
Atheismus der Wissenschaften. Der moderne Geist bestehe darauf, „unser In-der-Welt-Sein
ernst zu nehmen: die Welt als sich selbst überlassen zu sehen“.14 Dasselbe fordert Ihr Mythos
für „Gottes In-der-Welt-Sein“: Ein sinnvoller Gottesbegriff könne Gott zwar als den
schöpferischen Grund des Seins charakterisieren, aber doch nur als den absolut machtlosen,
dem Abenteuer der Evolution und damit der Menschheit ausgeliefert:
„Im Anfang [...] entschied der göttliche Grund des Seins, sich dem Zufall, dem
Wagnis und der endlosen Mannigfaltigkeit des Werdens anheimzugeben. Und zwar gänzlich:
Da sie einging in das Abenteuer von Raum und Zeit, hielt die Gottheit nichts von sich zurück
[...]. Vielmehr, damit Welt sei, und für sich selbst sei, entsagte Gott seinem eigenen Sein; er
entkleidete sich seiner Gottheit ... Nachdem er sich ganz in die werdende Welt hineingab, hat
Gott nichts mehr zu geben: jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben. Und er kann dies tun,
indem er in den Wegen seines Lebens darauf sieht, daß es ... nicht zu oft geschehe, und nicht
seinetwegen, daß es Gott um das Werdenlassen der Welt gereuen muß. Dies könnte wohl das
Geheimnis der ‚sechsunddreißig Gerechten‘ sein, die nach jüdischer Lehre der Welt niemals
mangeln sollen.“15
In dem Vortrag „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“, der ausdrücklich die Brücke zur
kabbalistischen Lehre vom Zimzum schlägt und in Analogie zu Schellings Spekulation von
der Zusammenziehung, der Kontraktion Gottes auf einen bloßen Punkt, gelesen werden kann,
14
15
Hans Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1963. S. 56.
Hans Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit, S. 55, 56 u. 60.
20
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
geben Sie mit diesem Mythos eine Antwort auf die, durch Auschwitz wahrhaft abgründig
gewordene, Hiobsfrage, die der Antwort des Buches Hiob entgegengesetzt ist: Diese, sagen
Sie, „beruft die Machtfülle des Schöpfergottes; meine seine Machtentsagung. Und doch –
seltsam zu sagen – sind beide zum Lobe: Denn der Verzicht geschah, daß wir sein könnten.
Auch das, so scheint mir, ist eine Antwort an Hiob: daß in ihm Gott selbst leidet. Ob sie wahr
ist, können wir von keiner [scil: spekulativen] Antwort wissen.“16
Ihre Schrift „Materie, Geist und Schöpfung“ stellt den Mythos in den Rahmen einer
Teleologie, einer aristotelischen Theorie vom zweckvollen und zweckgerichteten Sein, mit
der Sie auf die Kehrseite einer großen Errungenschaft des abendländischen Denkens im Sinne
eines „Einerseits ... andererseits“ reagieren. Einerseits rühmen Sie z.B. an Platon, Paulus und
Augustinus, an Descartes und Kant, Pascal und Kierkegaard, die Entdeckung der Seele, die
Herausarbeitung der Subjektivität und Reflexivität des Menschen als Hiatus zur Natur. Es
gehe darum, „genug von der dualistischen Einsicht“ zu bewahren, „damit die Menschlichkeit
des Menschen (...) erhalten“17 werde.
Daraus folgt eine Zurückweisung jeder Einheits- oder Ganzheitsanschauung; sei es ein
materialistischer Monismus, der selbstwidersprüchlich das Geistes- und Seelenleben auf
materielle Determinanten zurückführen will, sei es auch ein ökologischer Holismus, der den
Menschen als bloßen Teil der Natur ansieht, als bloßes Moment einer kosmischen
Lebensgemeinschaft
oder
eines
Superökosystems.
Eine
solche
Ganzheits-
und
Einheitsanschauung wäre nicht minder selbstwidersprüchlich, weil jede Theorie, auch eine
holistische, sich der Freiheit des Geistes verdankt, die alles bloß Natürliche gerade
überschreitet und distanziert; überdies, weil die praktisch normativen Sätze, die
Verhaltensforderungen ökologischer bzw. physiozentrischer Einheitsdenker nur Sinn machen,
wenn zweierlei geleistet wird. »Erstens ist nämlich eben das zu unterscheiden, was jene
zusammenwerfen: Sein und Sollen, beschreibende Sätze über das Seiende und vorschreibende
Sätze über richtiges Verhalten. Zweitens ist allererst zu demonstrieren, daß ein Skeptiker, der
an physiozentrischen Wert- und Normensätzen zweifelt, sich selbst widersprechen müsse.
Wann täte er das? Dann und nur dann, wenn er durch diesen Zweifel seine Rolle als
Diskurspartner mißachten bzw. sie zerstören müßte. Das wäre aber erst dann nur insoweit der
Fall, wenn die Wert- und Normensetzung eines Physiozentristen sich überlappt mit dem
normativen Gehalt von Sinnbedingungen der Rolle eines Diskurspartners. Das ist ja möglich,
etwa wenn und insoweit z.B. der Physiozentrismus direkt einen Lebensschutz fordert, der
16
17
Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 48 f.
Hans Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit, S. 25.
21
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
dem Schutz einer Existenzbedingung der Vernunft und Verantwortung, mithin des Diskurses,
gleich kommt18, oder wenn die Ablehnung / Bezweiflung einer Lebensschutzforderung aus
anderen Gründen unvereinbar wäre mit der Glaubwürdigkeit eines Diskurspartners.19
Eine solche Demonstration ist der eigentliche Beweiszug der transzendentalen
Diskurspragmatik, welche eine Diskursethik als Prinzipienethik begründet. Wie? Indem sie
die Unbezweifelbarkeit des moralischen Gehalts von Geltungsansprüchen und vorgängigen
Dialogversprechen im Dialog mit einem Skeptiker sokratisch aufweist.«20 Vorverweis auf Anl. 11
So entschieden Hans Jonas mit dem abendländischen Denken die „transzendierende
Freiheit des Geistes“21 und damit die Sonderstellung des intelligenten und moralisch freien
Menschen im Kosmos betont, so scharf kritisiert er andererseits die dualistische Metaphysik,
die vielfach der Preis für deren Herausarbeitung gewesen ist. Von der Gnosis bis zum
Existentialismus, von Augustin bis hin noch zu Heidegger findet Jonas einen, in dieser Form
nicht haltbaren, Dualismus von Mensch und Natur, Seele und Leib, Geist und Materie oder
dessen indirektes Fortwirken. Auch bei Heidegger hörte man „nichts vom ersten physischen
Grund des Sorgenmüssens: unserer Leiblichkeit, durch die wir ... bedürftig-verletzlich in die
Umweltnatur verwoben sind, zuunterst durch den Stoffwechsel“.22
Ihre Dualismus-Kritik – genährt vom hebräisch biblischen Denken, bestärkt von dem
griechischen Arztsohn Aristoteles – und Ihre Kriegserfahrung der verletzlichen Leiblichkeit
brachte Sie in Opposition zu dem Hauptstrom der Metaphysik, wie auch zum szientistischen
Naturverständnis. In der Seinsweise, die wir mit allem Lebendigen teilen, dem Organismus,
sahen Sie den metaphysischen Dualismus widerlegt; daher erschien „das Ziel einer
Philosophie des Organischen oder einer philosophischen Biologie“ vor Ihren Augen. „Dafür
bedurfte es aber einer Kenntnis der wissenschaftlichen Biologie in ihrem Ertrag und ihrer
Methode. Daran wurde ich noch einmal zum Schüler“23 – so beschreiben Sie die Vorbereitung
Ihrer philosophischen Biologie „Organismus und Freiheit“, die ohne Ihr Studium bei
Biologen wie Ludwig von Bertalanffy und Ihren Dialog mit ihnen kaum möglich gewesen
wäre.
18
19
20
21
22
23
Vgl. H. Gronke, Die ›ökologische Krise‹ und die Verantwortung gegenüber der Natur. In: Th. Bausch, D.
Böhler u.a. (Hg.), Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft. EWD-Bd. 3, Münster 2000, S. 159-193.
Vgl. D. Böhler, Embryonen ohne Menschenwürde? In: Hans Jonas, Fatalismus wäre Todsünde. Hg. von D.
Böhler, Münster 2005, S. 191-204.
In dem Text von 1992 (S. Fn.10) sind für die VL SoSe 2009 einige Ergänzungen hinzugefügt worden. Diese
sind hier gekennzeichnet mit den Anführungszeichen »«.
Hans Jonas, Materie, Geist und Schöpfung. Kosmologischer Befund und kosmogonische Vermutung,
Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1988, S. 25 ff.
Hans Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, S. 19.
Ebd., S. 21.
22
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Metaphysisch ontologische Wertlehre und „Prinzip Verantwortung“
Das Resultat Ihrer philosophischen Biologie ist eine ontologische Wertlehre, die
besagt: „Die Materie ist schlafender Geist“, alles organische Leben ist wertvoll und daher
prinzipiell schutzwürdig, weil sich in ihm Freiheit oder doch die Tendenz zur Freiheit aufstufe
und weil derart sich auch entwickele, was höchsten Wert habe: das „wirkliche
Menschentum“24. In dessen moralischer Freiheit liegt die Fähigkeit zur Verpflichtung und
Verantwortung, also das Überschreitenkönnen alles Gegebenen zum Idealen, alles Endlichen
zum Unendlichen25, und damit das Überschreitenkönnen vom bloß Faktischen zum
Normativen, vom Gegebenen zum Gerechtfertigten und Richtigen, wie ich hinzufügen
möchte.
Nun haben Sie nie verhehlt, daß Ihre metaphysisch ontologische Wertlehre auf
Kriegsfuß oder gar auf Siegesfuß steht zur metaethischen Trennung von Sein und Sollen,
Fakten und Normen, beschreibenden Sätzen und vorschreibenden Sätzen. Gleichwohl hege
ich hier Konsenshoffnung. Zeichnet sich nicht Konsens ab, wenn man in Rechnung stellt, daß
eine Ontologie des Organischen und eine Teleologie der Freiheit notwendigerweise geleitet
ist von Ideen, die, wie Sie sagen, „über alles je Gebbare und seine Dimension als solche
hinaus“26 sind? Dazu gehören: die Idee der moralischen Freiheit und die Idee einer
„Selbstunterstellung unter die transzendenten Maßstäbe“ des Gewissens und der
Verantwortung für das schutzbedürftige Wertvolle.27
Wenn dieser ideale Vorgriff auf moralische Freiheit und auf moralisches Sollen
notwendige Bedingung dafür ist, daß wir die Evolution als Entwicklung zur Freiheit verstehen
können, wie auch dafür, daß wir das organische Leben als prinzipiell wertvoll und
schützenswert auszeichnen können, dann ist die Begründung von Ideen, von Maßstäben des
Sollens, logisch das Erste. Dann aber wäre – ich weiß nicht, ob Sie mir darin zustimmen –
methodisch gesehen, das „Sollen“ vom „Sein“ zu unterscheiden.28 Darin sehe ich die
Bedingung für eine Rechenschaftslegung der Philosophie; zumal einer ontologischen
Wertlehre und einer spekulativen Philosophie, die auch zum rationalen Mythos übergehen
kann, ohne überschwenglich oder objektivistisch zu werden. Aber wie dem auch sei. Es ist ein
24
25
26
27
28
Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 89.
Hans Jonas, Materie, Geist und Schöpfung, S. 25 f.
Ebd., S. 25.
Ebd., S. 28, 29.
Vgl. dazu die Erwiderung von Hans Jonas, in diesem Band, S. 123-125.
23
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
leuchtendes Zeichen für die Größe Ihres Denkens, daß es, in mindestens viererlei Hinsicht,
über den Dissens innerhalb der Philosophie hinaus hochbedeutsam und fruchtbar,
stimulierend und konsensfähig bleiben dürfte:
Erstens bedarf es offenbar einer genau zu umreißenden Verhältnisbestimmung und
Kooperation von naturästhetischer und naturethischer Heuristik als methodischem Sensus für
Wert in der außermenschlichen Natur einerseits und einer Ethik der verbindlichen
Normenbegründung, der rationalen Maßstäbe für intersubjektive Verbindlichkeit und Pflicht
andererseits. Daß eine teleologische Deutung des Seins, eine ontologische Wertlehre, keine
letztgültigen Aussagen machen kann, sondern eher den Stellenwert einer Wertheuristik behält,
haben Sie selbst zu verstehen gegeben: „Letztlich kann mein (metaphysisch teleologisches)
Argument nicht mehr tun als vernünftig eine Option begründen, die es mit ihrer inneren
Überredungskraft dem Nachdenklichen zur Wahl stellt.“29
Gerade als Heuristik ist eine ontologische Wertlehre gut für das diskursive
Zusammenspiel mit einer Sollensethik geeignet: Die ontologische Wertheuristik würde für
Verantwortung empfänglich machen; die normative Ethik würde Maßstäbe dafür aufstellen,
zu welcher Verantwortung wir verpflichtet sind, und Dialogverfahren entwickeln, um diese
Maßstäbe anwendbar zu machen. Beide Seiten wären aber nicht unabhängig voneinander
anzusetzen, um erst nachträglich in ein Kooperationsverhältnis zu treten; vielmehr müßten sie
von vornherein im Verhältnis wechselseitiger Ergänzung und Erläuterung stehen. Dabei käme
der ontologischen Wertheuristik das inhaltliche und das Motivations-Prius zu, während die
Prinzipienreflexion und die Normenbegründungsdiskurse den logischen Primat beanspruchen
könnten.
Zweitens: Sinn und Geltung der Ethik hat Hans Jonas durch das „Prinzip
Verantwortung“ tiefgreifend revidiert, indem er die moralischen Fragen nicht auf die
personale Moralität beschränkt, sondern die persönliche Moralität erweitert um die zugleich
kollektive und personale Verantwortung für die Zukunftsfolgen unserer hochtechnischen
Lebensform und Gesellschaft. Sein kategorischer Imperativ, „Handle so, daß die Wirkungen
deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf
Erden“30, überschreitet nicht nur die traditionelle Begrenzung der Ethik auf den
zwischenmenschlichen Nahbereich sondern hebt auch die Ethik als Gesinnungsethik auf.
Das Moralprinzip von Jonas läßt jede Ethik hinter sich, die entweder die Moral auf
Pflichten gegen die Mitmenschen einschränkt, statt Pflichten gegen die Menschheit
29
30
Hans Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M./Leipzig:
Insel Verlag 1992, S. 140.
Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 36.
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
einzubeziehen, oder die Moral tendenziell auf die Reinheit und Prinzipienrichtigkeit des
Willens beschränkt – so, als ginge es darum, im Einklang mit moralischen Prinzipien „recht
zu handeln“, als dürfe man aber die ungewollten Nebenfolgen seines Handelns de facto „Gott
anheimstellen“.31 Durch das „Prinzip Verantwortung“ wird die normative Ethik
schwerpunktmäßig eine Ethik der einsehbaren Pflicht zur Zukunftsverantwortung.
Drittens, verehrter Herr Jonas, haben Sie auch den Übergang zur Anwendung der
normativen Ethik erheblich verändert und neu bestimmt. Dazu mögen zwei Hinweise
genügen. Gegenüber den traditionellen Ethiken, sei es der aristotelischen, sei es der
kantischen Tradition, betonen Sie, daß keineswegs ethischer Gemeinsinn, moralisches Gefühl
und gesunder Menschenverstand ausreichen, um das moralisch Richtige zu treffen. Denn
dieses bemesse sich heute und künftig an der Verantwortbarkeit von Handlungsfolgen,
Lebensfolgen, Forschungsfolgen. Diese Folgen aber, und das heißt diesen ganz neuartigen
Gegenstandsbereich moralischer Beurteilung, können wir uns weder mit unserem gesunden
Menschenverstand noch mit unserem moralischen Gefühl zureichend vorstellen; haben wir es
hier doch zu tun mit sehr komplizierten Kumulativwirkungen und äußersten Fernwirkungen
unserer hochtechnischen Lebensgewohnheiten und Lebensformen, Produktionen und
Produktionsweisen, unseres Konsumverhaltens aber auch unserer Risikoforschungen und
riskanten Technologien.
Daraus ergibt sich eine neue Rolle des Wissens in der Moral und die Pflicht, sich
Wissen zu beschaffen. Freilich stößt diese Wissensbeschaffung an schmerzliche Grenzen.
Denn die Kumulativwirkungen, die ökologischen Fernwirkungen etwa, entziehen sich der
exakten bedingten Prognose, wie sie in einem geschlossenen System möglich ist. Die Kluft
zwischen unserem Prognosewissen und der Wirkungsmacht unserer hochtechnologischen
Projekte, Praktiken aber auch Lebensgewohnheiten erzeugt „ein neues ethisches Problem.
Anerkennung der Unwissenheit wird dann die Kehrseite der Pflicht des Wissens und damit
ein Teil der Ethik“.32 Aus diesem Grunde plädieren Sie für eine „Heuristik der Furcht“, für
„eine Furcht geistiger Art“, die uns fähig machen solle, das nichterfahrbare „Unheil
kommender Geschlechter“ vorauszudenken und uns davon betreffen zu lassen.33
Daraus haben Sie für unsere öffentlichen Dialoge über das, was zu tun sei, und damit
für unsere Forschungsplanung, für wirtschaftliche Produktions- und Marktstrategien wie für
politische Entscheidungen die Vorschrift abgeleitet, „der Unheilsprophezeiung mehr Gehör zu
31
32
33
Vgl. Max Weber, Politik als Beruf, in: Gesammelte politische Schriften, hg. von J. Winckelmann, 3. Aufl.
Tübingen 1971, S. 551.
Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 28.
Ebd., S. 64, 65.
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Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
geben ... als der Heilsprophezeiung“34, also der schlechten Prognose einen Vorrang vor der
guten einzuräumen. Sie legen damit eine Dialogregel nahe, die den Befürwortern eines
Projekts und den Anwendern einer Technik die Beweislast für die Unschädlichkeit und die
Verantwortbarkeit auferlegt. In dubio pro humanitate, und damit: in dubio contra projectum,
in dubio contra quaestum würde das regulative Prinzip für unsere öffentlichen Diskurse
lauten müssen.35
Viertens: Das „Prinzip Verantwortung“ enthält also ein zukunftsethisches Prinzip
Vorsicht. Mit diesem gehen das Werk und die politisch-ethischen Stellungnahmen des
Verantwortungsethikers vorsichtig um: Sie lassen keinen Zweifel daran, daß ein solches
Prinzip jeweils in interdisziplinären öffentlichen Diskursen zu prüfen und nur nach Maßgabe
einer solchen Prüfung anzuwenden ist.
Gegenüber einer globalen Technikkritik, gegenüber einer modischen Totalkritik an der
technologischen Zivilisation, die er als alternativenlos aber entwicklungsfähig ansieht, sagt
uns der Weise: „Nur im Bunde mit Wissenschaft und Technik, die zur Menschheitssache
gehören, kann die sittliche Vernunft dieser Sache dienen. Dafür gibt es kein einmaliges
Rezept, nur viele Wege des Vergleichs, die von Fall zu Fall, jetzt und künftig, in steter
Wachsamkeit immer neu zu suchen sind. Bestenfalls kann sich, immer wiederholt, eine
Übung dafür einstellen. Darauf ist zu hoffen. Doch zu jener Wachsamkeit anzuhalten ist des
Denkens Pflicht.“36
Abschließend zitiere ich aus der Ehrendoktorurkunde:
‚... In dem hervorragenden Wissenschaftler und Philosophen ehrt der Fachbereich zugleich
den Menschen Hans Jonas, dessen Gründlichkeit und Güte, dessen moralische
Unbeugsamkeit und Würde ihn zu einem Vorbild künftiger Wissenschaftler und Weltbürger
macht.
Qui Berolini, qua in urbe Mose Mendelssohn auctore cultura et Iudaica et Germano-Iudaica
effloruerat, universitatem et per biennium academiam scientiae rerum Iudaicarum
promovendae adiit, opuscula prima publicavit;
Berolini, qua ex urbe dignitatis et legum destructio, civium Iudaicorum numero carentium
expulsio atque excisio initium sumpserunt;
34
35
36
Ebd., S. 70.
Dietrich Böhler, Mensch und Natur: Verstehen, Konstruieren, Verantworten - in dubio contra projectum, in:
Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 39, Heft 9, S. 999-1019, hier bes. S. 1013 ff.
Hans Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 30.
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Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Berolini, quae urbs libertate, iure, hominis dignitate donata est ex occidente cuiusque libera
universitas libertatem, iura, dignitatem hominis colit coletque studiose. Quibus de causis hac
in urbe viro doctissimo totiusque orbis terrarum civi honoris quam maximi debentur.
Aktualisierendes Nachdenken schulden wir dem Hermeneutiker, der mit seiner Methode einer
entmythologisierenden existentialen Interpretation die Aporien der christlich abendländischen
Freiheits- und Erbsündenlehre aufwies und uns den spätantiken Geist der Gnosis als
Verfremdung der Moderne erschloß. Aktualisierendes Nachdenken schulden wir dem Sucher
eines
Gottesbegriffs
nach
Auschwitz
und
dem
eindringlichen
Denker
der
Zukunftsverantwortung.
Hans Jonas verdanken wir die Ausweisung und Konkretion des Prinzips einer Ethik für die
technologische Zivilisation, von der er zeigt, daß ihr in dem Maße Verantwortung für das
Ganze zuwächst, als ihre Fernwirkungen die Zukunft der Menschengattung gefährden.
Maxima cum reverentia Hans Jonas homo Iudaeus colendus est nobis, qui cum universitates
Germaniae adulescenti doctissimo intercluderent aditum pro libertate et iure, pro Iudaeorum
incolumitate atque dignitate contendere constituit.
Qui miles legionis Iudaicae bello pugnavit, ut in Germania res tandem publica foret, in qua et
tertii quod dicitur imperii et inhumanitatis et interfectorum memores, ut condiciones vitae
vere humanae in mundo permanerent, curare possemus sequentes iussum illud categoricum,
quo homines continuo ad officiorum conscientiam vocat Hans Jonas philosophus.
Als Soldat der jüdischen Brigade kämpfte er mit für die Gewinnung eines politischen Raumes
in Deutschland, der uns die Erinnerung an die nationalistische Unmenschlichkeit und ihre
Opfer ebenso möglich macht wie eine Verantwortungsübernahme für „die Permanenz echten
menschlichen Lebens auf Erden“ – im Sinne des kategorischen Imperativs von Hans Jonas.‘
Sehr verehrter Herr Professor Jonas, ich überreiche Ihnen nun die Ehrenurkunde. Uno actu
verleihe ich Ihnen den akademischen Grad eines Doktors der Philosophie ehrenhalber. Ich
beglückwünsche Sie zu Ihrem großen Werk.“
Soweit, liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, unser Rückblick auf Hans Jonas, den
Ehrendoktor der Freien Universität Berlin.
Fassen wir jetzt am Beispiel von Jonas zusammen, welchen Stellenwert eine Metaphysik
heute legitimerweise noch haben kann. Generell zeigt unser Blick auf Hans Jonas zweierlei:
(1) Auch nach Kant ist Metaphysik und sogar deren spekulativer Teil, die Vermutung
über Gott, noch möglich. Dann nämlich, wenn sie als Hypothese entwickelt wird, und
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
wenn überdies die pragmatischen und logischen Bedingungen der Rede eruiert sowie
berücksichtigt werden.
(2) Eine solche Metaphysik kann höchst fruchtbar für die moralphilosophische Aufgabe
sein, die neuartige Verantwortung der Menschheit für eine Menschheitszukunft und
eine menschendienliche Zukunft der Erde zu denken. Jedenfalls dann, wenn eine
hypothetische Metaphysik als Antwort auf die Motivationsfrage ins Spiel gebracht
wird, die sich noch stellt, wenn die Legitimationsfrage/Begründungsfrage nach einem
einsehbaren Prinzip der Moral – ‚Warum soll man überhaupt moralisch sein?‘ – schon
beantwortet worden ist. Denn auch dann können wir uns noch fragen: ‚Was motiviert
mich eigentlich, diesem Prinzip wirklich Folge zu leisten?‘ Und: ‚Warum will ich das
eigentlich? Warum ist mir das der Mühe wert? Warum gehört diese Mühe zu einem
guten, sinnerfüllten Leben?‘
Die metaphysisch religiöse Antwort motiviert den aufgeklärt religiösen Menschen. Sie könnte
mit Jonas lauten: ‚Dir, der du ein religiös-metaphysisches Gefühl hast und Gott als den
wahrhaft Gütigen verstehst, ist doch einsichtig: Du willst es den gütigen Gott nicht bereuen
lassen, daß er die Welt hat werden lassen.‘
Die nicht-theologische sondern allgemeine Motivation könnte im Anschluß an Jonas
folgendermaßen lauten: ‚Du, der du die Verbindlichkeit des Moralprinzips erkannt hast,
widersprich dir nun nicht in praxi, sondern siehe es als deinen höchsten Wert und mithin als
deinen eigentlichen Willen an, so zu handeln, daß die Wirkungen deines Handelns vereinbar
sind mit der Permanenz menschenwürdigen Lebens auf Erden.‘
Die Berliner Diskurspragmatik versucht beide Schritte, den Verbindlichkeitserweis des
Moralprinzips, also die Lösung des Legitimationsproblems für einen Denker und die
Selbstmotivation des Akteurs (zu einer moralischen Einstellung) von vornherein
zusammenzudenken: durch Reflexion, und zwar durch Rückgang auf unseren impliziten, aber
tragenden und umfassenden Geltungsanspruch, ein glaubwürdiger Diskurspartner sein zu
können, auch und gerade im Diskurs über unser Tun und Lassen. In diesem sokratischdialogreflexiven Ansatz sehe ich den konsequenten Begründungsweg des dritten Paradigmas
der Philosophiegeschichte.37
37
In dem Text von 1992 (s. Fn. 10) sind für die VL SoSe 2009 einige Ergänzungen hinzugefügt worden.
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Wir kehren jetzt zurück zum ersten Paradigma und seiner Fortwirkung im zweiten Paradigma,
um dann die grundlegende Kritik, die Hans Jonas’ Lehrer, Martin Heidegger an beiden
Paradigmen geübt hat, zu würdigen und zu diskutieren.
1.5 Der voraussetzungs- und kommunikationsvergessene Weltbezug der traditionellen
Metaphysik, dessen Fortwirkung im neuzeitlichen Subjekt-Objekt-Paradigma und
Heideggers hermeneutisch-pragmatische, aber reflexionsvergessene Metaphysikkritik.
Wir erinnern uns:
Die antike Metaphysik begreift die Erkenntnis der Welt, genauer: die des Ganzen, was da ist,
nach dem Muster des Etwas-Sehens im Sinne der theoria. Darunter versteht sie ein geistiges
Sehen, eine begreifende Schau – was immer das sein mag. Nach Parmenides ist Platon
Urheber und Klassiker dieser Auffassung. Lesen Sie etwa im naturphilosophischen Dialog
Timaios den kosmologisch-theoretischen Passus 47a bis c (in der Stephanus-Numerierung) –
fast ein Hymnus auf den „Adel des Sehens“ (H. Jonas), auf die Erkenntniskraft und die
religiös-ethische Harmonisierung des Schauens…
Anlage 13
Oder lesen Sie, wie Platon in der Politeia, nämlich im Liniengleichnis (511c), von der
„dialektischen Wissenschaft“ sagen kann, sie „schaue“ das Seiende und Denkbare. Schaut
aber eine Wissenschaft, oder erkennt sie etwas durch Analyse, durch Begreifen etc.?
Lesen Sie auch, wie Platon im Kommentar zum Höhlengleichnis die höchste Erkenntnis
erläutert, die er zuvor (im Sonnengleichnis) als den Möglichkeitsgrund unseres EtwasErkennens und zugleich als dessen Geltungsgrund angenommen hatte (508ff), nämlich als die
Idee des Guten; und beachten Sie dabei, welche kognitive Tätigkeit er dieser höchsten
Erkenntnis, ganz selbstverständlich, zuordnet: das Etwas-Sehen: „Was ich sehe [...], das sehe
ich so, daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt
wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich anerkannt wird als die Ursache alles
Richtigen und Schönen – im Bereich des Sichtbaren erzeugt sie gleichsam die Sonne und
damit das Licht (welches Erkenntnis ermöglicht); in der Sphäre des Erkennbaren bringt sie
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervor. Daher muß, wer vernünftig handeln
will, diese [Idee des Guten] sehen“ (517 b/c).
Die metaphysische Tendenz, sowohl ‚das Ganze‘ bzw. ‚das Sein‘ als auch die
Erkenntnisgrundlage des Seins, bei Platon das Gute als solches, die Idee des Guten, nach dem
Muster des Sehens von Dingen, mithin unreflektiert direkt, anzugehen, ist Grund genug für
einen erkenntniskritischen Rückgang auf die Rolle des Erkenntnissubjekts. Hinter dem
Erkennen steht doch das Subjekt der Erkenntnis, welches sein Erkenntnisvermögen ins Spiel
bringen muß. Darauf insistiert die Philosophie der Neuzeit (z. B. Descartes, Kant). Die
optische Unmittelbarkeit der antiken Metaphysik, nämlich die Auffassung von Erkenntnis als
einem vermeintlichen geistigen Sehen des Seins im Sinne eines Gegenstands und der Sprache
als eines Systems von Namen zur nachträglichen Bezeichnung der geschauten Gegenstände,
gab schließlich – in der Moderne – auch den Grund ab für einen pragmatisch hermeneutischen
Neuansatz bei dem verstehenden „In-der-Welt-sein“ des Menschen (Heidegger), welches
immer schon in Form regelfolgender, daher intersubjektiver „Sprachspiele“ praktiziert wird
(Wittgenstein).
Anstatt die dialog- und denkkonstitutive Klasse der – doch von ihnen ständig verwendeten –
Behauptungsakte
als
Sprachhandlungen
mit
Geltungsansprüchen
zu
thematisieren,
unterstellen die meisten Metaphysiker seit Platon und Aristoteles, sie würden
Anlage 3a
(und könnten) das Thema ihrer Behauptungen betrachten, als sei es ein dinglicher
Gegenstand: „das Seiende“, das „Wesen“ resp. die „Substanz“ oder das „Ding“. Das ist eine
folgenschwere Vorentscheidung: die Frage nach dem Ganzen wird von dem Vorverständnis,
dieses sei nach dem Muster eines dinglichen Gegenstandes zu verstehen, bestimmt, d. h. aber
in einer sprach- und kommunikationsverzerrenden Verdinglichung.
Noch das folgende Paradigma, das der subjektphilosophischen Erkenntniskritik, behält diese
verdinglichende
Perspektive
bei
und
überspringt
die
sprachlich-kommunikativen
Interpratationsleistungen, die jeder Erkennende als ein lebensweltlich Verstehender immer
schon vollbracht hat. Sprach- und kommunikationsvergessen entwickeln Kant und die
Neukantianer die neue Disziplin der „Erkenntnistheorie“ lediglich im Blick auf das Verhältnis
von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisgegenstand: Sie thematisieren es als eine bloße SubjektObjekt-Beziehung, so als wäre diese nicht von vornherein getragen von der SubjektKosubjekte-Relation
des
Vorverständigtseins
und
der
Sinnverständigung
in
einer
Sprachgemeinschaft. Zum Beispiel rekonstruiert der Vollender, später auch Überwinder des
Neukantianismus,
Ernst
Cassirer,
in
seiner
gewaltigen
Problemgeschichte
„Das
Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit“, vier Bände, die
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
gesamte neuzeitliche Geistesgeschichte als Denken in der Subjekt-Objekt-Relation. Ebenfalls
ganz der Subjekt-Objekt-Beziehung verpflichtet ist Heinrich Rickerts neukantianischer
Klassiker „Der Gegenstand der Erkenntnis“, 1892, wiewohl Rickert darin den Primat der
praktischen Vernunft begründen will, indem er eine „andere Welt“, die Welt der
nichtseienden, aber absoluten „Werte“ nachzuweisen sucht. Doch bezieht er sich darauf wie
auf ein Objekt. Nach dem Vorbild Descartes’ und Kants setzt der Neukantianismus voraus,
daß das Ganze der realen Erkenntnisgegenstände uns wie ein Gegenstand im Großen,
abgetrennt von uns als Erkenntnissubjekten, gegenüberstehe: eine ‚Außenwelt‘ der Dinge im
Gegensatz zu der ‚Innensphäre‘ des Geistes.
In dem modernen, insonderheit kantianischen
Erkenntnisproblem steckt eine sprachwidrige Verdinglichung der Weltbeziehung des nach
seinen Erkenntnismöglichkeiten doch fragenden, darüber dann Thesen behauptenden und
über den Erkenntnisgegenstand, Welt und Natur, doch sprachlich schon vorverständigten
Menschen, der ja Sprechakte in einem Argumentationszusammenhang vollzieht. Seit Kant
führt sie in die Probleme eines Subjekt-Objekt-Dualismus, die zu einem Gutteil
Scheinprobleme sind: Wie ist die Außenwelt, wenn doch ihr Wesen – Kant: das „Ding an
sich“ – unerkennbar ist, für das Erkenntnissubjekt erkennbar? Ist die Außenwelt überhaupt
erkennbar?
Ontologisch
gewendet:
Ist
sie
etwas
Reales?
Oder
können
‚wir’
Erkenntnissubjekte allenfalls die Realität unserer selbst annehmen?
Der Kantianismus entsubstanzialisiert die Metaphysik als Weltanschauung, indem er die
Geltung ihrer Aussagen zu Vermutungen herabsetzt; aber er führt zu dem
Anlage 4
Erkenntnisschema eines Subjekt-Objekt-Dualismus und perpetuiert insofern die
metaphysische Verdinglichung des erkennbaren Ganzen durch zwei Grundannahmen (1 und
2), zwei Ausblendungen (3 und 4) und eine Abschattung (5):
(1) Verabsolutierung der Subjekt-Objekt- oder InnenAußen- bzw. Ich – Nicht-Ich-Differenz infolge von
Descartes’ dualistischer Ontologie:
res cogitans – res extensa.38
(2) Die Unterstellung einer Weltlosigkeit des
Erkenntnissubjekts;39
38
39
Heidegger, Sein und Zeit (SuZ), S. 60-62.
Diese kritisiert eigentlich schon Husserl, insofern er bei der Intentionalität des Bewußtseins ansetzt: E.
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana Bd. I, Den Haag 1950, §§ 40, 42f., 62 und 64.
31
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
(3) Das Überspringen der Leiblichkeit des
Erkenntnissubjekts und seiner Situiertheit
in einem organismischen Austauschzusammenhang
mit lebendiger und anorganischer Umwelt;40
(4) Das in (3) mitvollzogene Überspringen der Sinn
und Bedeutung ermöglichenden bzw. vorgebenden
Sprachlichkeit des Menschen;
(5) Die in (4) mitgesetzte Abschattung der Gültigkeit
(bzw. Wahrheits- und Richtigkeitssuche)
ermöglichenden Geltungsansprüche des Denkens
als Miteinander-Argumentieren i.S. von
Diskurs/Dialog.41
Leib- und
Sprachapriori:
geschichtlichpragmatische
Dimension
Reflexionsund Argumentationsapriori:
geltungs- bzw.
dialogpragmatische
Dimension
1.4.1 Vorgriff auf die pragmatisch-hermeneutische Wende und ihre Probleme: der frühe
Heidegger
Die Wende zum dritten Paradigma der Philosophie wurde m. E. zunächst durch eine
sprachphilosophische (W. v. Humboldt) und eine handlungs- sowie zeichentheoretische
(Charles S. Peirce) Aufmerksamkeit für die ersten beiden Probleme ausgelöst. Anstoß nahm
man zumal an den beiden subjektphilosophischen Suggestionen, der etwas als etwas
Bestimmtes erkennende Mensch, (subjektphilosophisch genauer: der allererst etwas als etwas
erkennen wollende Mensch) befinde sich gegenüber einem Ensemble stummer Gegenstände
bzw. unverständlicher ‚Objekte’, welche ‚draußen’ in einer strikt von ihm abgetrennten
Außenwelt ‚vorhanden’ seien; und es komme nun darauf an, diese Außenweltobjekte allererst
zu entdecken, zu erschließen und sie durch eine Erkenntnisprozedur mit der Innenwelt des
Erkenntnissubjekts zu vermitteln.
Einige dieser Vorannahmen der nachcartesischen Kritik und der
Anlage 5
Erkenntniskritik bzw.
Erkenntnistheorie seit Kant deckte Heidegger metakritisch 1927 in „Sein und Zeit“ auf,
jedenfalls die Annahmen (1) und (2). Dort lesen wir in dem grundlegenden Paragraphen 13:
40
41
Vgl. H. Gronke, Das Denken der Anderen, Würzburg 1999, S. 62f., S. 78-82, vgl. 174ff.
Hans Jonas, Organismus und Freiheit. Göttingen 1973.
W. v. Humboldt, Schriften zur Sprachphilosophie, in: Werke in fünf Bänden, hrsg. v. A. Flitner und K. Giel,
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963, Band 3. K.-O. Apel, Transformation der Philosophie,
Frankfurt a. Main 1973, Bd. 1: Einleitung, und Teil II, Bd. 2: Teil II „Transformation der
Transzendentalphilosophie“.
32
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
„Je eindeutiger man nun festhält, daß das Erkennen zunächst und eigentlich ‚drinnen’
ist, ja überhaupt nichts von der Seinsart eines physischen und psychischen Seienden
hat [ergänze: vielmehr die Seinsart eines starren Betrachtens], umso
voraussetzungsloser glaubt man in der Frage nach dem Wesen der Erkenntnis und
der Aufklärung des Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt vorzugehen.“42
In Wahrheit entstehe erst durch diese Vorannahmen das sogenannte
Erkenntnisproblem, „die Frage nämlich: Wie kommt dieses erkennende Subjekt aus
seiner inneren ‚Sphäre’ hinaus in eine ‚andere und äußere’, wie kann das Erkennen
überhaupt einen Gegenstand haben, wie muß der Gegenstand selbst gedacht werden,
damit am Ende das Subjekt ihn erkennt [...]?“43
Heideggers Kritik als Sinnkritik erläuternd, können wir sagen:
Der neuzeitliche Ansatz bei der Subjekt-Objekt-Spaltung, in gewisser Weise aber schon die
antik-griechische Auffassung des Erkennens als eines geistigen Sehens im Sinne von theoria
und noein, mache sich blind gegenüber der Sinnbedingung jeder Rede von Erkenntnis. Denn
es ignoriere, daß Erkennen „ein Seinsmodus des Daseins als In-der-Welt-sein“ ist. Jedes
Erkennen
gründe
„vorgängig
in
einem
Schon-sein-bei-der-Welt“,
weil
es
auf
Lebensinteressen, „auf dem Besorgen“ des Leibes und der ganzen „Existenz“ des Menschen
aufruhe.44 Insofern sei in der Lebenswelt immer schon eine Vermittlung des Menschen mit
seiner Welt geleistet: Der Mensch existiere verstehend, Welt verstehend, und zwar so, daß er
von vorneherein – bei Kant heißt es „a priori“, bei Heidegger „vorgängig“ – Welt und sich in
der Welt verstanden hat.
Dieses
alltagsweltliche
Schon-Verstandenhaben
sieht
Heidegger
als
notwendige
Voraussetzung, als „existenziale“ Bedingung auch jeder wissenschaftlichen Erkenntnis an.
Warum und inwiefern? Weil und insofern nur das vorgängige Welt- und Daseins-Verstehen
„Bedeutsamkeit“ vorgibt: die Bedeutung von Dasein „hinsichtlich seines In-der-Weltseins“45. Und erst vor diesem sprachlich und zugleich praktisch erschlossenem
Sinnhintergrund, erst dank dieses Schon-Verstandenhabens seiner „Lebenswelt“ (Husserl)
kann der Mensch auch wissen, was er wissenschaftlich und philosophisch untersuchen, was er
zum Gegenstand seiner methodischen Erkenntnis machen will. Von eigentlicher Erkenntnis
können wir überhaupt nur reden, weil wir ein vorwissenschafliches Verständnis dessen, was
methodisch erkannt werden soll, immer schon mitbringen. Ein Begriff von Erkenntnis, der
42
43
44
45
Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag (zit.:SuZ), S. 60.
A.a.O.
SuZ, §§ 15f, 26, 69a, passim.
SuZ, S. 87. Vgl. §§ 18, 31 und 69c.
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
nicht die lebensweltlichen Voraussetzungen möglichen Erkennens, dieses „schon-sein-beider-Welt“, berücksichtige, sei sinnlos.
Anlage 6
In diesem Sinne stellt Heidegger gegen das dualistische Schema von Subjekt und Objekt oder
Ich und Welt die Perspektive einer vorgängigen Vermittlung beider Seiten, eines
pragmatischen, handlungsbezogenen In-der-Welt-Seins. Damit radikalisiert er den Ansatz
seines Lehrers Edmund Husserl bei der Intentionalität des Bewußtseins als der kognitiven
Beziehung, die ein Bewußtsein im Rahmen seiner Lebenswelt zu allen Gegenständen habe,
die es ‚meinen‘ könne. Er geht von dem alltäglichen bzw. lebensweltlichen Verständnis aus,
welches der Mensch, der lebe und sich am Leben erhalten wolle, immer schon im Sinne eines
„apriorischen Perfekts“ besitze: Der alltägliche Mensch habe immer schon den Kontext
seiner Lebenswelt ‚erkannt’. Denn er befinde sich „immer schon“ in einer Lebenswelt aus
sinnhaften Dingen und Einrichtungen, wie „Zeug“46, Kultur, Institutionen, welche nicht etwa
bloß „vorhanden“, sondern dem Alltagsmenschen mehr oder weniger schon „zuhanden“ sind
– und daher apriori verstanden47 als Gebrauchsdinge seiner Alltags- und Lebenswelt. Eben
deshalb lasse sich die menschliche Lebensform als „verstehendes“ und „besorgendes In-derWelt-sein“ und der Mensch selbst als „Dasein“ bestimmen und nicht als betrachtendes
„Subjekt“ gegenüber stummen, fremden Objekten.48
Das ist eine grundlegende Einsicht der pragmatisch-hermeneutischen Wende hin zu einem
dritten Paradigma der Philosophie. Das Pragmatische dieses Ansatzes ist die Aufdeckung des
interessierten Lebens- und Handlungsbezugs, der auch das wissenschaftliche und
philosophische Erkennen des Menschen trägt. Heidegger drückt das plastisch mit dem Begriff
der Sorge als eines Besorgens aus, welches den Menschen, weil er sich stets im Dasein halten
muß, unablässig begleitet. Die Sorge ist gleichsam der Schatten des Daseins. Das
Hermeneutische dieser Perspektive zeigt sich in der ontologischen Tieferlegung der
Fundamente unseres kognitiven Weltbezuges. Heidegger setzt nicht erst bei dem
Seinsverhältnis eines philosophischen bzw. wissenschaftlichen Theorie-Subjekts zu dessen
Gegenständen an, sondern bei dem „besorgenden“ bzw. interessierten Welt-Verstehen,
welches auch einem methodischen Erkennenwollen zugrundeliege, ja dessen Sinnbasis
darstelle. Dieses alltägliche Verstehen bzw. Schon-Verstanden-haben sei die elementare Form
des Interpretierens von etwas Sinnhaftem: die Vorform jener Tätigkeit, welche seit 2000
Jahren in Theologie, Jurisprudenz und Literatur zu Methoden und Methodenlehren der
46
47
48
SuZ, § 23, §§ 15-18.
SuZ, S. 85ff, S. 109f.s
SuZ, §§ 12-14.
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Interpretation hochstilisiert und diszipliniert worden ist. Dafür hat sich der Fachterminus
„Hermeneutik“ eingebürgert. (Das griechische „hermeneuein“ bedeutet „auslegen“ und
„verdolmetschen“. In diesem Zusammenhang steht auch der Name des Götterboten
„Hermes“, der den Willen der Götter den Menschen übermittelt und insofern auslegt.)
Traditionskritisch pointiert Heidegger am Schluß des Paragraphen 13 von Sein und Zeit das
primäre kognitive Weltverständnis des Menschen folgendermaßen: „Im Sich-richten-auf ...
und Erfassen geht das Dasein nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die es zunächst
verkapselt ist, sondern es ist seiner primären Seinsart nach immer schon ‚draußen’ bei einem
begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt.“49
Diese Einsicht ist in der Tat ein notwendiges Element des dritten Paradigmas und damit der
Philosophie als Lebenswelt- und Kommunikationsreflexion. Aber es ist keine
Anlage 7
zureichende Einsicht, weil sie die dialog-pragmatische Geltungsdimension des Etwas-alsetwas-Verstehens links liegen läßt. Das Etwas-als-etwas-Bestimmtes-Verstehen ist nämlich
ein impliziter Sprach- und Kommunikationsvorgang. Dieser enthält von vornherein
Geltungsansprüche von Verstehern/Sprechern als Subjekten dieser Ansprüche und als
Teilnehmer einer Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft. Denn er setzt solche
Geltungsansprüche, logisch gesehen, geradezu voraus – so wie jemand, der etwas versteht,
bereits in Anspruch nimmt, daß man das Gehörte oder Erfahrene (normalerweise) richtig
verstanden hat, oder daß man es doch, in Zweifelsfällen, richtig verstehen kann. In diesem
vorausgesetzten Bezug auf Richtigkeit, diesem Geltungsanspruch unseres Verstehens, kommt
etwas von dem zum Vorschein, was seit Descartes und zumal von Kant im Sinne der Begriffe
Subjekt,
Urteilsautonomie
und
Kritik
gedacht
worden
ist:
das
Verhältnis
von
Geltungsanspruch und dessen kritischer Prüfung vor dem intersubjektiven Forum der
Vernunft, in dem jeder, insofern er ein sinnvolles Argument vorbringen mag, seine
gleichberechtigte Stimme hat.
Den Rückbezug auf das, was im zweiten Paradigma als „Subjekt“ gedacht worden ist, und
damit
eine
‚Aufhebung’
subjektvergessen
und
dessen
Kernbestandes überspringt Heidegger. Er denkt
sprachgeltungsvergessen,
insofern
logosvergessen
und
diskursvergessen. Radikal (besser: abstrakt) negiert er also den Kern des zweiten Paradigmas.
Er sucht keine Aufhebungsperspektive, so daß er dessen wertvolle Errungenschaften ernst
nähme – als Argumentationspartner im Wahrheitsgespräch eines philosophischen
Begründungsdiskurses. Über seiner hermeneutisch-pragmatischen Entdeckung der kultur- und
praxisrelativen Sinndimension, dank derer alle Menschen – auch Philosophen, die die Welt
49
SuZ, S. 62.
35
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
distanzieren und sie nur betrachten wollen – „immer schon“ geschichtlich in der Welt situiert
sind und sie apriori als ihre Lebenswelt verstanden haben, vergißt er die philosophisch
entscheidende Geltungsdimension.
Anlage 8: Querspalte III
Verwoben mit unserem vorgängigen Weltverständnis sind unsere impliziten Ansprüche auf
Gültigkeit, die ‚wir’ auch für dieses Verständnis notwendigerweise voraussetzen: etwa den
Anspruch auf intersubjektive Nachvollziehbarkeit des je eigenen Weltverständnisses – d.i. der
Geltungsanspruch der Verständlichkeit – und den Anspruch auf die Angemessenheit bzw.
sachliche Richtigkeit dieses Verständnisses – d.i. der Wahrheitsanspruch. Was nun Heidegger
selbst betrifft, der seinem Publikum ein Werk vorlegt, so vergißt er, daß der Philosoph
Heidegger ja auch für seine hermeneutisch-pragmatische Entdeckung schon Wahrheit
beansprucht hat. Schließlich ist er mit seinem Buch „Sein und Zeit“, in dem er diese
hermeneutisch-pragmatische
Einsicht
entwickelt,
seinem
Publikum
gegenüber
als
Diskurspartner aufgetreten. Er hat einen argumentativen Dialog eröffnet, in welchem er
gegenüber anderen für seine Thesen Wahrheit bzw. argumentative Prüfbarkeit, also
Zustimmungswürdigkeit im Diskursuniversum, in Anspruch genommen hat.
Insofern ist Heidegger (in gewisser Weise aber auch Wittgenstein) ein Musterbeispiel
dafür, daß in dem dritten Paradigma der Philosophiegeschichte vielfach nur die
gewissermaßen
weiche,
praxis-
und
kulturrelative
Seite
der
Sprach-
und
Kommunikationsvermittlung des Denkens und Erkennens berücksichtigt wird – gleichsam die
obere Hälfte der Querspalte III unserer Anlage 8.
Die Selbstvergessenheit Heideggers als Diskursteilnehmer, d. h. als eines Subjekts mit
Geltungsansprüchen, das sich gegenüber anderen Diskurs-Subjekten für seine Behauptungen
zu rechtfertigen hat, führt letztlich zur Selbstimmunisierung seines Denkens und zur
Preisgabe des Zentralbegriffs der Philosophie überhaupt, des Begriffs der Vernunft. Es lohnt
sich überaus, diese Tendenz bei der Lektüre von „Sein und Zeit“ im Auge zu behalten, will
man verstehen, wie Heideggers spätere, 1933 praktizierte und seit dem ‚Humanismusbrief’
von 194650 als „Kehre“ des Denkens verklärte, Preisgabe der Vernunft zugunsten eines
„Andenkens an das Sein“, das sich selbst als das Ohr und die Stimme des Seins wähnt,
möglich war. Mit anderen Worten: Wie Heidegger seine Philosophie um die Distanz und die
50
M. Heidegger, Über den Humanismus, Frankfurt am Main, o.J.
36
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Verantwortung der Kritik hat bringen können.51 So sehr, daß er die Philosophie als ganze
nicht nur blamiert sondern geradezu in „Schande“ und „Bankrott“ getrieben hat, um mit Hans
Jonas zu sprechen.
Heidegger erniedrigte die Philosophie zur Magd der deutschen geschichtlichen
Situation, nämlich der völkischen Bewegung des Nationalsozialismus. Denn er erhob den
Hitler, den „Führer“, zur Manifestation des „Seinsgeschicks“,52 statt dessen Ansprüche vor
dem „Gerichtshof der Vernunft“ (Kant) zu prüfen, also vor der Instanz des
Diskursuniversums. Dann nämlich wäre er den Ansprüchen der Nazis als autonomes
Diskurssubjekt gegenübergetreten, hätte also die Nazimythen entlarvt, hätte sich von deren
Vernunftzerstörung, mit der die Preisgabe des Menschenwürdegrundsatzes notwendig
verbunden ist, zumindest distanziert – allerspätestens zu dem Zeitpunkt, an dem diese
Vernunftzerstörung in Form gewalttätiger Menschenverachtung in Erscheinung trat. Das aber
war 1933 der Fall: Pogrome an Juden, widerrechtliche Verhaftungen von Sozialdemokraten,
Kommunisten etc.
Mit dieser kritischen Bemerkung lasse ich es jetzt bewenden. Für den weiteren Fortgang
dieser Vorlesung und Ihres Selbststudiums bitte ich Sie: Studieren Sie den Essay, den mein
früherer Tutor Tilman Lücke im Nachgang zu meinem doch reichlich kühnen, für alle
Beteiligten so anstrengenden wie erkenntnisreichen Proseminar „Sein, Selbst-Bewußtsein,
Kommunikation“ im Wintersemester 2000/2001 verfaßt hat. Vor allem, was die Inhalte
anbetrifft, bietet dieser Text eine gute Übersicht über den paradigmatischen Gang und einige
Grundfragen
dieser
Vorlesung,
nämlich
über
die
Entwicklungslogik
der
Philosophiegeschichte als Weg durch drei Paradigmen der Welterkenntnis. Da Lücke sich für
den Übergang zum dritten Paradigma auf Wittgenstein konzentriert und Heidegger fast
ignoriert
hat,
dieser
jedoch
–
ganz
im
Unterschied
zu
dem
problem-
und
philosophiegeschichtlich abstinenten Sprachanalytiker – traditionskritisch aus der Problemund Begriffsgeschichte zu denken weiß, überdies seinen Ansatz geradezu als Aufhebung der
Subjektphilosophie versteht, deshalb haben wir ihn eingehender berücksichtigt. Es ist
übrigens charakteristisch, daß drei prominente Sprachdenker der Gegenwart, der
Sprachanalytiker Ernst Tugendhat, der Theoretiker des kommunikativen Handelns Jürgen
Habermas und der Transzendentalpragmatiker bzw. Kommunikationsethiker Karl-Otto Apel
51
52
H. Jonas, Heidegger und die Theologie, 1964, zuletzt in: D. Böhler u. J.-P. Brune (Hg.), Orientierung und
Verantwortung. Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans Jonas. Würzburg, 2004, S. 39 – 58, bes.
S. 54 f.
Ebd., S. 44 ff.
37
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
sich gleichsam durch Heidegger hindurchgedacht haben. Und eben das erscheint mir
unabdingbar.
Auch
der
Denkweg
von
Hans
Jonas,
des
nachkantischen
und
nachheideggerschen Metaphysikers, belegt, daß an Heidegger kaum ein (fruchtbarer) Weg
vorbeiführt.
38
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
2
Über die drei Paradigmen der Philosophie und die doppelte Dialogizität
des Denkens als Kommunikation.
Text aus: H. Burckhart, H. Gronke (Hg.): Philosophieren aus dem
Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik. Würzburg: Königshausen &
Neumann, 2002, S. 45 ff.
2.1 Eine Problemübersicht zum Selbststudium:
Tilman Lücke: Mit skeptischen Fragen durch die Philosophiegeschichte*
Bei einer Tischgesellschaft saß neben Kant ein Mann, der ununterbrochen gleichermaßen dumme
wie hochmütige Reden führte und dabei auch noch herauskehrte, welch großer Skeptiker er sei.
Schließlich sagte Kant zu ihm: „Sind sie so skeptisch, daß Sie an nichts mehr glauben können?“ –
„Das nicht, ich glaube nur an das, was ich mit meinem Verstand begreifen kann.“ – „Das“, sagte
Kant, „bedeutet im Ergebnis dann ja wohl dasselbe.“53
Einleitung
„Sein, Selbst-Bewußtsein, Kommunikation. Grundkurs klassische Texte und Probleme der
Philosophiegeschichte“54 – unter diesem Titel kündigte Dietrich Böhler im Wintersemester
2000/2001 am Philosophischen Institut der Freien Universität Berlin ein Seminar an, welches
sich auch und besonders an Studienanfänger richtete. Schon im Titel ist auf jene „drei großen
Konzeptionen von Philosophie, die sich in unserer Tradition unterscheiden lassen“,
verwiesen, nämlich – wie sie Herbert Schnädelbach in seinem ‚Grundkurs Philosophie‘
benennt – „ein ontologisches, ein mentalistisches (...) und ein linguistisches Paradigma“55, die
man auch auf die Begriffe „Metaphysik, Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie“ bringen
kann.56
Wenn zugleich ein „Grundkurs klassische[r] Texte und Probleme der
Philosophiegeschichte“ angekündigt wird, dann könnte man meinen, hier gehe es um eine
bloße historische Rekonstruktion. Doch eine solche Rekonstruktion wäre noch nicht
Philosophie. Philosophisch wird das Denken frühestens, wenn es sich auch des
(philosophischen) Standpunktes klar wird, von dem aus diese Rekonstruktion unternommen
wird. Denn man kann „unabhängig von bestimmten Philosophiekonzeptionen nicht definieren
(...) was Philosophie sei. Man kann deswegen auch nicht in ‚die‘ Philosophie einführen, ohne
*
53
54
55
56
Einige Unklarheiten, Fehler oder Ergänzungsbedürftigkeitensind von mir, D. Böhler, durch eingefügte
[eckige] Klammerbemerkungen kompensiert worden. Einige Anlagen habe ich hinzugefügt.
Abgedruckt (im Kapitel der vermutlich erfundenen Anekdoten) bei Peter Kauder (2000): Hegel beim Billard.
München, S. 140; mit Verweis auf Information Philosophie 24 (1996), Heft 5, S. 93.
Böhler 2001 c, S. 1. Hervorhebungen in Zitaten sind vom Verf. durchgängig getilgt.
Schnädelbach 1986, S. 39. Die an Thomas Kuhn [1962/1967] anknüpfende Rede vom „Paradigma“ beinhaltet
Schnädelbach zufolge „immer Vorstellungen vom Gegenstandsgebiet, von einschlägigen Problemstellungen
und vorbildlichen Problemlösungen einer Disziplin, d.h. sowohl eine Ontologie (griech. ,tó òn‘ – das Seiende)
wie eine Methodologie der Wissenschaft insgesamt“.
So z.B. Richard Rorty, zit. n. Habermas 1999, S. 240; ähnlich Karl-Otto Apel und Tugendhat.
39
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
zumindest implizit das Philosophieverständnis ins Spiel zu bringen, das man als Einführender
selbst besitzt. Man kann somit auch nicht kontextfrei in ‚das‘ Philosophieren einführen; denn
auch das Methodenverständnis wandelt sich mit dem allgemeinen Bild von Philosophie.“57
Wenn keine kontextfreie Einführung in die Philosophie denkbar ist, so stellt sich nicht nur die
Frage, aus welchen Kontexten heraus sie vermittelt wird, sondern auch, anhand welcher
Argumentationsmodelle die in Philosophie Eingeführten sich ihrer eigenen Kontexte
klarzuwerden vermögen. Für diese Aufklärung scheinen Fragemodelle skeptischer Art
besonders geeignet zu sein, sind sie doch Ausdrucksmittel der „Neigung zum Zweifel am
allgemein Anerkannten, ungeprüft Übernommenen oder neu Auftretenden“ – so formuliert es
jedenfalls ein angesehenes philosophisches Wörterbuch.58
So gelten die ersten Fragen nicht nur dem Kontext, aus dem heraus heute immer noch
Studierende mit Philosophie beginnen59, sondern auch dem Zusammenhang, in dem uns
Philosophiegeschichte entgegentritt. Begegnet sie uns in Gestalt „einer kontingenten Folge
inkommensurabler Paradigmen“60, wie Richard Rorty61 behauptet? Oder handelt es sich eher
um einen dialektischen Zusammenhang, in dem das jeweils „folgende Paradigma (...) die
Antwort auf ein Problem, das die Entwertung des vorangehenden Paradigmas hinterlassen
hat“, bereithält, wie Jürgen Habermas62 meint?
Der hier unternommene kursorische Gang durch die Philosophiegeschichte soll – um
diese Perspektive gleich klarzustellen – die letztere Auffassung stützen. Die Zusammenhänge
verschiedener philosophischer Paradigmen sollen untersucht und herausgestellt werden,
analog zum pädagogischen Ansatz im erwähnten Seminar: Da ging es stets auch darum,
Studienanfängern der Philosophie Kompetenz darin zu vermitteln, ihnen begegnende
Argumentationsweisen und Positionen in Denkmodelle der Philosophie einordnen und interne
Bezüge und solche zu ihrem eigenen Kontext verstehen zu können. Nur so läßt sich – wenn
überhaupt – ein Überblick über die unübersehbare Vielfalt philosophischer Schulen
gewinnen.
So wie es ein gewisses Wagnis ist, einen verstehenden Durchgang durch diese drei
Paradigmen innerhalb eines Seminars in einem Semester absolvieren zu wollen (ein Wagnis,
das viel Disziplin und konzentrierte Mitarbeit erfordert), erscheint es auch hier vermessen, auf
wenigen Seiten dieses Wagnis nachzuvollziehen und kritisch zu rekonstruieren. So gilt für
beide Anliegen: Gelingen können sie höchstens unter der Maßgabe, zum einen bloß
schlaglichtartig Details der paradigmatisch umrissenen Hauptströmungen zu beleuchten und
zum anderen den Schwerpunkt auf den Zusammenhang der Paradigmen, auf die logischen
Abhängigkeiten und die ideengeschichtlichen Ablösungsprozesse zu richten.
[An dieser Stelle fügen wir in Tilman Lückes Text die Anlage 8 aus den „Denkstücken und
Arbeitsmaterialien zur Vorlesung und den Grundlagenseminaren Böhler und Herrmann 2009“
ein, welche aus diskurspragmatischer Sicht einen Überblick über die drei Hauptparadigmen
gibt, indem sie die jeweils dominante Erkenntnishaltung und Methodik zu der Bestimmung
des Gegenstandes in Beziehung setzt – und auf diese Weise eine Grundrichtung der
Philosophie als Paradigma charakterisiert.]
57
58
59
60
61
62
Schnädelbach 1986, S. 38.
Johannes Hoffmeister (Hg.) (1955): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg2, S. 562.
Der Frage „Wozu Philosophie (studieren)?“ soll und kann hier nicht nachgegangen werden. Vgl. hierzu das
Unterkapitel ‚Wozu brauchen wir heute noch den philosophischen Diskurs?‘ in Gronke 2001.
Habermas 1999, S. 242.
Polemisch und anregend (wenn auch mit – im Vergleich zum hiesigen Verfahren – quasi umgekehrter Intention)
beispielsweise Rortys Versuch, auf wenigen Seiten die „Geschichte (...) wie die Philosophie qua
Erkenntnistheorie sich in der modernen Periode ihrer selbst versichert“ zu erzählen (Rorty 1981, S. 155 ff.).
Habermas 1999, ebd.
40
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Anlage 8: Die drei (Haupt-) Paradigmen der Philosophiegeschichte
(idealtypisch in diskurspragmatischer Sicht)
Hauptepoche
Klassische Antike
I
(Platon, Aristoteles)
Neuzeit
II
(von Descartes bis
Kant)
Moderne
III
(W.v. Humboldt,
Heidegger I,
Wittgenstein II,
Habermas u.a.
versus
Ch. S. Peirce, Apel,
Kuhlmann u.a.)
Erkenntnishaltung/Methoden
Gegenstand
theoria:
Schau mit Analyse der
Strukturen des Seienden bzw.
Muster des Handelns: Platons
Ideen, Aristoteles’ Teleologien
und Tugenden/Kompetenzen
Das „Sein“
(Seiendes als Idee/Gestalt oder als
Wesen/Substanz in dem Ganzen als
Kosmos)
Reflexion auf das Subjekt mit
(bei Kant) transzendentaler
Analyse der
Erkenntnisbedingungen
Rekonstruktion der
Sinnbedingungen von Praxis-,
Kultur- und Lebensformen
(Kontextualismus;
Relativismus)
Das vom „Subjekt“ Erkennbare und
das Subjekt als
Erkenntnisvermögen bzw. als reiner
Wille mit postulierter Freiheit
„Bedingungen der Möglichkeit“
von Erfahrung/Erkenntnis bzw. der
„Prinzipien eines möglichen reinen
Willens“
Sprache/Handlung und Dasein/
Sprecher/Actor
in Lebenswelt mit realer
Kommunikationsgemeinschaft als
Sinnkonstitution
oder auch
oder auch in bezug auf
Rekonstruktion und aktuelle
Reflexion der
Sinnbedingungen des
Argumentierens
(Transzendental- bzw.
Diskurspragmatik)
ein Diskursuniversum mit idealer
Kommunikationsgemeinschaft
als Instanz der Sinngeltung und
Verbindlichkeit für den Dialog
41
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
I. Paradigma: Sein
Schöne alte Welt –
die klassisch-griechische Kosmosfrömmigkeit
Exemplarisch für die klassisch-griechische Weltauffassung, die am Anfang unseres
Durchgangs durch die Philosophiegeschichte steht, wird ein Auszug aus Platons Dialog
‚Timaios‘ herangezogen. Den Hauptteil des Dialoges macht Timaios’ Rede über das
Entstehen der Welt aus. Darin wird die „klassisch griechische Ontologie als ewigkeits- und
strukturbezogene Kosmostheologie“63 unter anderem so entfaltet:
„Ist aber diese Welt schön und ihr Werkmeister gut, dann war offenbar sein Blick
auf das Unvergängliche gerichtet (...), denn sie ist das Schönste alles Gewordenen,
er der Beste aller Urheber. So also entstanden, ist sie nach dem durch Nachdenken
und Vernunft zu Erfassenden und stets sich Gleichbleibendem auferbaut (...).
Indem nämlich Gott wollte, daß alles gut und, soviel wie möglich, nicht schlecht
sei, brachte er, da er alles Sichtbare nicht in Ruhe, sondern in ungehöriger und
ordnungsloser Bewegung vorfand, dasselbe aus der Unordnung zur Ordnung, da
ihm diese durchaus besser schien als jene. (...) [So] verlieh er der Seele Vernunft
und dem Körper die Seele und gestaltete daraus das Weltall, um so das seiner
Natur nach schönste und beste Werk zu vollenden.“64
Die Welt ist hier als Kosmos geordnete Schönheit65 und Abglanz des göttlich-planvollen
Ewigen dargestellt.
Was ist nun die Rolle des Denkenden in dieser Welt? Ihm ist es aufgegeben, mit seiner
Seele, die sich als Teil der wohlgestalteten Ordnung verstehen läßt, in diese Einblick zu
nehmen. Die ewigen Ideen, die allem Seienden zugrunde liegen, sind demzufolge Thema und
Erkenntnisgebiet der Philosophie; das bloß wandelbar-geschichtliche Auftreten der Dinge,
mithin die Praxis gilt es zu überwinden, um so zur reinen Theorie zu kommen. Dann wird der
„Philosoph, der mit dem Göttlichen, dem Kosmos und Logosgemäßen umgeht, (...) selber
Anlage 13
kosmosgemäß und göttlich“66.
Für die dem Menschen angeborene Erkenntnisfähigkeit gibt es eine dominante Metapher:
das Sehvermögen. Dahinter steht die vorgestellte Analogie, daß wir so, wie wir mit unseren
Augen unmittelbar aufnehmen könnten, was ist, in gleicher Weise durch Anschauung von
Sachverhalten unmittelbar zu Erkenntnis kämen. Verbunden ist damit die Überzeugung,
Philosophie überhaupt sei aus Anschauung der kosmischen Kreisläufe entstanden – so
rekonstruiert jedenfalls Timaios „das Wesen Philosophie, als welches ein größeres Gut weder
kam noch jemals kommen wird dem sterblichen Geschlecht als Geschenk von den Göttern“67.
Die optische Erkenntnisfähigkeit sei uns Menschen gegeben, heißt es weiter,
„damit wir beim Erschauen der Kreisläufe der Vernunft am Himmel sie für die
Umschwünge unserer eigenen Denkkraft benutzten, welche jenen, die regellosen
den geregelten, verwandt sind, und, nachdem wir sie begriffen und zur
naturgemäßen Richtigkeit unseres Nachdenkens gelangten, durch Nachahmung
63
64
65
66
67
Böhler 2001 c, S. 3.
Platon, Timaios 28c f. (S. 154 f.).
Als pädagogisch fruchtbar erwies sich in diesem Zusammenhang der Hinweis eines referierenden Studenten auf
das in die deutsche Sprache eingegangene Wort ‚Kosmetik‘, denn es knüpft (vermittelt durch französische
Übernahme) an die griechische ‚kosmetiké techné‘ – ‚Kunst des Schmückens‘ – an. (Vgl. Etymologisches
Wörterbuch des Deutschen, erarbeitet im Zentralinstitut für Sprachwissenschaft Berlin. München 1995, S. 721.)
So faßt Dietrich Böhler Politeia VI, 500c f. zusammen: Böhler 2001 c, S. 3.
Platon, Timaios 47 b f. (S. 169).
42
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
der durchaus von allem Abschweifen freien Bahnen Gottes unsere eigenen, dem
Abschweifen unterworfenen, danach ordnen möchten.“68
Wie sich wesentliche Elemente dieser Auffassung bis in die römische Stoa erhalten haben,
zeigt Hans Jonas, wenn er Ciceros „De natura deorum“ wie folgt zusammenfaßt:
Die Welt sei als All „beseelt, verständig und weise, und etwas von diesen
Eigenschaften wird auch in manchen seiner Teile sichtbar; (...) der Mensch hat
aber zusätzlich zu dem natürlichen Anteil, der ihm als einem Teil der
Vollkommenheit des göttlichen Universums zukommt, auch die Fähigkeit, sich
selbst zu vervollkommnen, indem er sein Sein dem des Ganzen durch Betrachtung
mittels seines Verstandes und Nachahmung in seiner Lebensführung angleicht“69.
Die Annäherung an die ewige Vernunft der Kosmos-Gesamtheit soll also als Orientierung der
aktuellen Lebenswelt diese selbst transzendieren.
Erschütterungen: Sophistik und Gnosis – und klassische Antworten
Für Erfahrungswelt und Intuitionen derjenigen, die heute mit Philosophie beginnen, ist
zunächst nur schwer eine Anknüpfungsmöglichkeit an dieses Weltverständnis abzusehen. Wir
empfinden heute die Welt, auf die sich unsere Praxis bezieht, als krisengeschüttelt und
unbeständig. Doch lenkt man den Blick zurück auf Platon, kann deutlich gemacht werden,
daß diese Krisenerfahrung keine Erscheinung der Moderne ist – Platons Philosophie selbst ist
nämlich in gewisser Weise schon eine Antwort auf zwei geschichtliche Krisenerfahrungen70,
„die die philosophische Reflexion herausforderten: Einmal die bedrängende Erfahrung eines
permanenten geschichtlichen Wandels, der alles erschüttert, verändert und in Frage stellt.
Zweitens die nicht minder bedrängende Erfahrung einer in dieser Zeit um sich greifenden
Aufklärungs- und Bildungsbewegung der Sophisten.“71 Der ‚Angriff‘ dieser sophistischen
Bewegung erschütterte die unhinterfragte Vertrautheit mit dem ontotheologischen
Hintergrund der platonischen Philosophie; auch wenn die Sophistik von Weisheitslehre über
Rhetorik mehr und mehr zu einem Skeptizismus wurde, der – wie es in der philosophischen
Einführung von Wilhelm Windelband und Heinz Heimsoeth dramatisch heißt72 – nur
„anfangs eine ernste wissenschaftliche Theorie war, jedoch bald in ein frivoles Spiel
überging. Mit der selbstgefälligen Rabulistik ihres Advokatentums machten sich die späteren
Sophisten zu Sprechern aller zügellosen Tendenzen, welche die Ordnung des öffentlichen
Lebens untergruben.“
Fruchtbar machen lassen sich indessen die Antworten Platons und Aristoteles’ auf diese
Erschütterungen. Im Hinblick auf die im Rahmen einer Einführung in die Philosophie
entscheidende Einsicht über den Zusammenhang philosophischer Paradigmen erweisen sich
insbesondere zwei Grundsätze als wesentlich, die Teil dieser Antworten an die skeptische
Herausforderung sind: Logosgrundsatz und Satz vom zu vermeidenden Widerspruch.
1. Wenn man den Logosgrundsatz rekonstruiert, läßt sich dort ein „fast sinnkritisch
dialogpragmatischer Vorgriff aus sokratischem Geist“73 festhalten, den Platon durch Sokrates
im Dialog ‚Kriton‘ anführen läßt: „Schon immer habe ich ja das an mir, daß ich nichts
68
69
70
71
72
73
Ebd.
Jonas 1999, S. 292.
Zum faktisch-historischen Kontext der griechischen Polis-Krise detaillierter vgl. Apel/Böhler/ Kadelbach 1984,
Bd. I, S. 306 ff.
Apel/Böhler/Kadelbach 1984, Bd. I, S. 309.
Windelband/Heimsoeth 1957, S. 58.
Böhler 2001 c, S. 5.
43
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
anderem von mir gehorche als dem Logos [lógos]74, der sich bei der Untersuchung mir als der
beste zeigt.“75 Entscheidendes Kriterium für die Anerkennung einer Rede als wahr oder
richtig ist also ihre Überzeugungskraft in argumentativen Diskursen. Nur was sich […durch]
wohlbegründete Argumente erweisen läßt, kann als verbindlich gelten.76 [Zwar können auf
den ersten Blick auch] überzeugende Argumente miteinander im Widerstreit stehen. [Aber
mit dem Logosgrundsatz] ist vom platonischen Sokrates zugleich […ein unhintergehbares
Geltungskriterium beansprucht worden. Denn er hat darurch] „die Diskursgemeinschaft der
sinnvoll Argumentierenden als die einzige Instanz für die Prüfung und für das In-GeltungSetzen von Normen akzeptiert. Damit hat er sich gegenüber dem Ethos einer realen NormenGemeinschaft auf die Ethik einer idealen Normenbegründungsgemeinschaft berufen.“77
Gleichwohl ist ein wichtiges Defizit festzuhalten: Konsequent gedacht wäre mit dieser
Vorstellung der unbegrenzten Rechtfertigungsgemeinschaft nicht mehr jene traditionelle
Auffassung zu vereinbaren, welche den inneren seelischen Dialog des Einzelnen (mit sich
selbst oder als Schau göttlicher Ideen) als Fundament für Erkenntnis ansieht und den Logos
bloß als „Ausfluß von jenem“78. Doch an dieser Vorstellung wird unreflektiert festgehalten;
Denken gilt weiterhin als Tätigkeit, „die man prinzipiell einsam, unabhängig von
Kommunikation und Sprache, vollziehen“79 könnte. „Erst heute, wo die Philosophie
sprachbewußt wird“,80 kommt ans Licht,81 daß mit der Einsicht in die Rationalität der
unbegrenzten Gemeinschaft der Argumentierenden gerade die Kommunikation mit diesen
Anderen als das unhintergehbare Erkenntnismodell schlechthin immer schon anerkannt
werden muß.
2. Damit zu einer anderen klassischen Antwort auf die skeptische Herausforderung:
Aristoteles’ Aufweis der Unbestreitbarkeit des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch –
Es kann nicht zugleich und in der selben Hinsicht82 gelten: A und non-A. „Mangel an
Bildung“83 wirft Aristoteles den Skeptikern vor, die einen Beweis in klassischer (d.h.
deduktiver) Form für diesen Satz vom zu vermeidenden Widerspruch fordern. Aristoteles
meint damit eigentlich – so könnte man es modern und weniger autoritär sagen – mangelnde
Selbstreflexion. Dies geht aus seiner Erläuterung hervor: Einerseits sei es unsinnig, für alles
einen Beweis nach dem Muster der deduktiven Ableitung zu verlangen, dies würde nämlich
heillosen „Fortschritt ins Unendliche“84, also infiniten Regreß, nach sich ziehen – denn jeder
deduktive Beweis ist von Prämissen abhängig, die selbst wieder in Frage gestellt werden
müßten, wenn für alles Beweise dieser Art eingefordert würden. Zum anderen kann ein
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
Schleiermacher übersetzt verengend lógos mit „Satz“, obwohl sich mindestens die Bedeutungen „das Sagen,
Sprechen, (...) Rede = Darstellung, (...) Rechenschaft, (...) Begründung, Beweis, (...) Denkkraft, Vernunft“
anbieten (Menge 1953, cf. logos, 274). [Kritisch dazu:]Apel/Böhler/Rebel 1984, Bd. II, S. 340 f.; vgl. den
Abschnitt ‚Dritte Reflexion der unterstellten sokratischen Bildungsidee: Logos‘ (S. 254-257) in Jürgen Sikora:
Bildung als Dialogpraxis. Einige Anmerkungen zu Sokrates, die Grenzen und Möglichkeiten ‚Mitverantwortung‘
zu lehren und zu lernen betreffend. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 247-270.
Platon, Kriton 46 b (S. 38).
Vgl. Böhler 2001 a, S. 47.
Apel/Böhler/Rebel 1984, Bd. II., S. 339.
Platon, Sophistes 263 e (S. 239).
Böhler 2001 c, S. 5.
Apel/Böhler/Rebel 1984, Bd. II., S. 342.
Die selbstverständliche Formulierung „ans Licht kommen“ zeigt erneut, wie sehr bis in unseren heutigen
Sprachgebrauch Erkenntnis mit optischer Metaphorik zusammenhängt.
Der einschränkende Verweis auf gleiche, mitgedachte und explizierbare Verwendungsweise der Begrifflichkeit A um
die es jeweils geht – hier durch die Wendung „in gleicher Hinsicht“ ausgedrückt –, hat sich im Seminar als
wichtig erwiesen. Denn andernfalls bringen Seminarteilnehmer leicht Beispiele, in denen A und non-A
gleichzeitig zu gelten scheinen, tatsächlich aber verschiedene Kategorien oder Verwendungsweisen zu Grunde
liegen. Diese Beispiele sind aber wenig geeignet, weil ‚zu schwach‘, um sich wirklich mit der Stärke des
Aristotelischen Aufweises messen zu können.
Aristoteles Metaphysik 1006 a (zit. n. Kuhlmann 1985, S. 271).
Ebd.
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
unbezweifelbarer indirekter Beweis geführt werden, indem gezeigt wird, daß die Gültigkeit
des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch nicht mit einer sinnvollen Äußerung bestritten
werden kann. Denn wenn eine Äußerung A (zum Beispiel die Äußerung: „Der Satz vom zu
vermeidenden Widerspruch gilt für mich nicht!“) verständlich sein soll, muß sie sich auf
etwas Bestimmtes beziehen und die Bedeutung A haben und nicht zugleich die Bedeutung
non-A; eine Äußerung, in der A und non-A enthalten sein würden, wäre so allgemein, daß sie
nichts Bestimmtes mehr bezeichnen würde und also unverständlich wäre.85 Ein Skeptiker, der
die Gültigkeit des Prinzips in Zweifel ziehen will, verwickelt sich folglich in einen
„Widerspruch immer dann, wenn er überhaupt redet und denkt. Das ist aber eine Bedingung,
die alle nur denkbaren Fälle abdeckt, in denen sich auch nur das Problem erheben könnte (...).
Das Prinzip ist also für jeden, gegen den überhaupt zu argumentieren sich lohnt (weil er es
selbst tut), unvermeidlich Voraussetzung.“86 Hervorzuheben ist, daß Aristoteles bei der
Begründung auf die Dialogpraxis reflektiert und „ganz ausdrücklich einen zentralen Teil
seiner Philosophie mit Hilfe dieses Argumenttyps“87 begründet. Die Bedeutung dieser
Argumentationsweise im Zusammenhang mit dem in diesem Seminar beabsichtigten
Lernfortschritt soll hier betont werden. Denn die indirekte Skeptikerwiderlegung nach diesem
Modell ist exemplarisch für die Art und Weise, wie Philosophen es vermögen, aus
skeptischen Erschütterungen hergebrachter Vorstellungen Kapital zu schlagen. Die
entscheidende Frage, die sie sich, da sie sich in einer Argumentation befinden, vorlegen,
lautet: Was ist Voraussetzung eines sinnvollen Redebeitrags?
Indes bleibt Aristoteles wegen seiner akommunikativen, gegenstandstheoretischen
Sichtweise ein bedeutender unreflektierter Rest vorzuhalten. Er geht einerseits nicht weit
genug mit dem reflexiven Ansatz, in dem er sich nicht selbst auf seine Rolle als
Argumentierender besinnt: „im Ganzen wird das Argument durchaus aus der distanzierten
Position des Theoretikers vorgetragen, der von außen ganz allgemein und unabhängig von
seiner faktischen Argumentationssituation hier und jetzt überlegt“88. Andererseits geht er zu
weit in der Abwehr sophistischer Rhetorik – dies ist ablesbar u.a. an der Aristoteles-Schule
seit Theophrast, der „die pragmatische Dimension der Rede (Kommunikation zwischen
Sprecher/Hörer und Hörer/Sprecher) (...) als erkenntnis- und daher philosophisch irrelevant
zurückstuft, um die Philosophie von der nicht wahrheitsfähigen Rhetorik etc. zu
emanzipieren“89. Der so interpretierte Aristoteles blendet die pragmatischen Bedingungen der
Rede, d.h. die Verwendungsweise von Sprache in bestimmten Handlungskontexten,
systematisch aus und konzentriert sich allein auf die logischen Voraussetzungen der Rede.
Dabei läßt sich sein Modell der Skeptikerwiderlegung – der indirekte Aufweis, in dem die
Sinnlosigkeit von Bestreitungsversuchen gezeigt wird –, wie zu sehen sein wird, insbesondere
für praktische Kontexte fruchtbar machen.
In historischer Perspektive könnte man sagen, daß zur Überwindung dieses
gegenstandstheoretischen Rests die völlige Erschütterung der traditionellen Auffassung von
Sprache und Welt noch ‚fehlte‘. Als eine der Vorbereitungen dieser Erschütterung kann das
Phänomen der Gnosis90 gesehen werden, das sich in den ersten Jahrhunderten nach Beginn
unserer Zeitrechnung im Mittelmeerraum in Gestalt zahlreicher Sekten und
Glaubensrichtungen zeigte. In ihnen „fand die geistige Krise des Zeitalters ihren
verwegensten Ausdruck und gleichsam ihre radikale Antwort“91: eine „jenseitsbezogene, die
85
86
87
88
89
90
91
Ausführlicher vgl. Kuhlmann 1985, S. 273-276.
Kuhlmann 1985, S. 275.
Kuhlmann 1985, S. 268.
A.a.O., S. 275 f.
Böhler 2001 c, S. 6.
Vgl. den Artikel Carsten Colpes in RGG, Sp. 1648-1652.
Jonas 1999, S. 55.
45
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Welt als heillose Entfremdung verneinende Selbstsorge und Selbsterlösungsreligiosität“92. An
Stelle der Auffassung von der einen Welt (in der sich die Zeichen göttlicher Vernunft
wiederfinden lassen) predigen gnostische Lehrer nun radikalen Dualismus zwischen Gott und
Welt: „Die Gottheit ist absolut außerweltlich, ihr Wesen ist dem des Universums fremd, das
sie weder geschaffen hat noch regiert und zu dem sie die vollkommene Antithese bildet: dem
in sich geschlossenen und fernen göttlichen Reich des Lichts steht der Kosmos als Reich der
Finsternis gegenüber.“93
Im Zusammenhang mit der Erlösungslehre der Gnosis wird die Besinnung auf das Innere
des Menschen zum entscheidenden Moment, denn Voraussetzung zur Erlösung ist „das
‚Wissen des Weges‘, nämlich des Weges der Seele aus der Welt hinaus (...). Die unmittelbare
Erleuchtung macht das Individuum nicht nur souverän in der Sphäre des Wissens (daher die
grenzenlose Vielfalt gnostischer Lehren), sondern bestimmt auch sein praktisches
Verhalten.“94 In unserem Kontext der Betrachtung philosophischer Paradigmen ist die damit
aufkommende individuelle Souveränität oder Autonomie relevant. Mit dem ‚Fluchtimpuls‘
aus der verkommenen Welt geht eine Herausforderung für die Erkenntnisleistung des
Einzelnen einher. Im Dualismus der Gnosis liegt somit „praktisch eine Vorstufe zu einem
autonomen Selbst- und Weltverhältnis, welches Normen und Sinn letztlich nicht in der Welt
vorfinden kann, sondern begründen bzw. prüfen und selbst erkennen muß.“95
II. Paradigma: Selbst [, Selbstbewußtsein bzw. Subjekt]
Selbstbesinnung bei Augustinus und Descartes
Voll in Besitz genommen wird diese Stufe der Autonomie durch Augustinus, der in seiner
Jugend dem Manichäismus, einer der wirkmächtigsten gnostischen Bewegungen, anhing.
Seine Aneignung und Weiterentwicklung der Vorstellung eines autonomen Ichs lassen
Augustinus zu „einem Urheber des modernen Denkens“ werden96. Seine Suche nach einem
sicheren Fundament für die Philosophie läßt ihn fündig werden im
„Prinzip der selbstgewissen Innerlichkeit, das Augustin zuerst mit voller Klarheit
ausgesprochen und als Ausgangspunkt der Philosophie formuliert und behandelt
hat. Unter dem Einfluß der ethisch-religiösen Bedürfnisse hatte sich allmählich
und fast unvermerkt das metaphysische Interesse aus der Sphäre der äußeren
Wirklichkeit in diejenige des inneren Lebens verschoben. An die Stelle der
physischen Begriffe waren die psychischen als Grundfaktoren getreten.“97
Damit wird zugleich eine neue Selbstbehauptung des Individuums in der Welt begründet.
Seele bzw. Bewußtsein werden (neben Gott und Geschichte) zu zentralen Themen der
Philosophie Augustins.
92
93
94
95
96
97
Böhler 2001 c, S. 9.
Jonas 1999, S. 69.
Jonas 1999, S. 72 f.
Böhler 1999, S. 2. Dieser Impuls bildet den Ansatzpunkt für Hans Jonas’ vergleichende Betrachtung von Gnosis
und modernem Existentialismus, die von einer Parallelität von – wie Jonas selbst zugibt – historisch sehr
unterschiedlichen Phänomenen ausgeht; aber eben dieser Fluchtimpuls evoziert deren Vergleichbarkeit – s. a.
die Attraktivität ‚gnostischer‘ Bewegungen in jüngster Zeit (vgl. Hans Jonas: Epilog – Gnostizismus,
Existentialismus und Nihilismus. In: Jonas 1999, S. 377-400).
Windelband/Heimsoeth 1957, S. 237.
Ebd.
46
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
„Die Wissenschaft von der Außenwelt, von der Natur, vom Kosmos ist dagegen
ganz unwichtig. Die Wendung geht jetzt – das zeigt den Beginn eines neuen
Paradigmas an – nach ‚innen‘.“98
Die in der Neuzeit aufkommende „Verinnerlichung des Denkens als Suche nach dem Selbst
im Denken und Erfahren bzw. nach dem Selbst als Subjekt des Denkens und Erkennens“99 hat
hier einen Ursprung. Die Bedeutung Augustins im Zusammenhang der Untersuchung und
Einführung philosophischer Paradigmenwechsel wird noch gesteigert dadurch, daß er sein
Interesse auch auf die menschliche Sprache richtet100, und durch seine selbst in Anspruch
genommene Rolle als Vermittler platonischer Philosophie.101
Mit dem Vorigen ist schon der Übergang zum methodischen Subjektivismus René
Descartes’ angedeutet. Als Wegbereiter wäre ergänzend noch die große mittelalterliche
Auseinandersetzung um die Universalien, also um die „Frage nach der metaphysischen
Bedeutung der Gattungsbegriffe“102 zu erwähnen, was hier – wenngleich die Folgen der
Auseinandersetzung weitreichend sind – nur am Rande geschehen kann. Hier wären vor allem
Spielarten des Nominalismus zu nennen, bei denen „das augustinische Gefühlsmoment,
welches der individuellen Persönlichkeit ihre metaphysische Würde gewahrt sehen will“103,
festzustellen ist. Zugleich macht sich aber auch „die antiplatonische Tendenz der erst jetzt
bekannt werdenden aristotelischen Erkenntnistheorie geltend, die nur dem empirischen
Einzelwesen den Wert der ‚ersten Substanz‘ zuerkennen will“104. Inwiefern der
Subjektivismus an den Nominalismus anknüpft, läßt sich an Wilhelm von Occams spätem
nominalistischem Modell ablesen (wie es in Windelbands Philosophiegeschichte beschrieben
ist): „Die Einzeldinge (...) werden von uns intuitiv (ohne Vermittlung von species
intelligibiles) vorgestellt; allein diese Vorstellungen sind nur die ‚natürlichen‘ Zeichen für
jene Dinge und haben zu ihnen nur eine notwendige Beziehung, dagegen eine sachliche
Ähnlichkeit mit ihnen so wenig, wie dies sonst für ein Zeichen in Hinsicht des bezeichneten
Gegenstands nötig ist.“105 Der Zusammenhang mit dem hier schon angedeuteten – und
spätestens mit Descartes vollzogenen – Übergang zum zweiten Paradigma, dem der
Subjektphilosophie, läßt sich mit Jürgen Habermas so auf den Punkt bringen:
„Der Nominalismus hatte die Dinge ihrer inneren Natur oder ihres Wesens
beraubt und die Allgemeinbegriffe zu Konstruktionen des endlichen Geistes
erklärt. Seitdem fehlte der gedanklichen Erfassung die Fundierung in der
begrifflichen Verfassung des Seienden selber. Die Korrespondenz des Geistes mit
der Natur konnte nicht mehr als Seinsrelation begriffen werden, die Regeln der
Logik spiegelten nicht mehr die Gesetze der Wirklichkeit.“106
Es ist die (wenn auch nicht konsequente, s.u.) Anwendung skeptischer Fragestellungen, die es
René Descartes möglich macht, die subjektivistische Wendung zu vollenden. Es gelingt ihm,
Skepsis zu „durchdenken und als methodischen Zweifel für begründete Erkenntnis fruchtbar
[zu] machen“107. Descartes’ gründlicher und allgemeinverständlich formulierter Neubeginn
der ‚ersten‘ Philosophie bewegt Hegel dazu, in seiner ‚Vorlesung über die Geschichte der
98
99
100
101
102
103
104
105
106
107
Kuhlmann 1985, S. 284.
Böhler 2001 c, S. 9.
Andererseits bietet der Aufweis der augustinischen Defizite auf diesem Gebiet den Vorreitern des dritten
Paradigmas Gelegenheit zur Weiterentwicklung eigener Ansätze, s.u.
Vgl. Böhler/Gronke 1994, Sp. 775.
Windelband/Heimsoeth 1957, S. 232.
A.a.O., S. 292.
Ebd.
A.a.O., S. 293.
Habermas 1999, S. 242.
Böhler 2001 c, S. 12. Vgl. Gronke 1999, S. 30 ff.
47
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Philosophie‘ über ihn zu sagen, er sei „so ein Heros, der die Sache wieder einmal ganz von
vorne angefangen und den Boden der Philosophie erst von neuem konstituiert hat“108.
Voraussetzung für diesen Neuanfang ist dabei eine „Umkehrung der Erklärungsrichtung“.109
Da die Vorstellung einer untrüglichen Korrespondenz zwischen äußerer Wirklichkeit und
Erkenntnis nicht mehr zur Verfügung stand, suchte Descartes nach einem alternativen
Fundament für gesicherte Erkenntnis: „Wenn das erkennende Subjekt einer entqualifizierten
Natur die Maßstäbe der Erkenntnis nicht mehr entnehmen kann, muß es diese aus der reflexiv
erschlossenen Subjektivität selbst schöpfen.“110 Es ist wichtig festzuhalten, daß nicht gleich
auf jegliche Maßstäbe gesicherter Erkenntnis111 verzichtet werden soll. Denn Descartes
verfolgt mit seinem ‚De omnibus dubitandum est‘ nicht die Strategie des haltlosen
Skeptizismus;
„es hat vielmehr den Sinn, man müsse jedem Vorurteil entsagen – d.h. allen
Voraussetzungen, die ebenso unmittelbar als wahr angenommen – und vom
Denken anfangen, um erst vom Denken auf etwas Festes zu kommen, einen reinen
Anfang zu gewinnen. Dies ist bei den Skeptikern nicht der Fall; da ist der Zweifel
das Resultat.“112
Das Ergebnis der Cartesischen Suche nach unbezweifelbarem Grund, wenn sich doch an allen
äußeren Erscheinungen zweifeln läßt, ist bekanntlich das cogito, mein ich denke: das
Bewußtsein als Zweifelnder, das ich nicht sinnvoll bezweifeln kann, ohne mir selbst zu
widersprechen. Skeptiker, die wirklich an allem zweifeln wollen, werden von Descartes –
durchaus in augustinischer Tradition – auf ihr eigenes zweifelndes Bewußtsein verwiesen und
auf die Gewißheit, die sie darin finden können, wenn sie sich bewußt machen: „Indem ich
zweifle, weiß ich, daß ich, der Zweifelnde, bin; und so enthält gerade der Zweifel in sich die
wertvolle Wahrheit von der Realität des bewußten Wesens: denn wenn ich in allem anderen
irren sollte, so kann ich darin nicht irren; denn um zu irren, muß ich sein.“113 Oder, wie es
dann bei Wittgenstein heißt: „Wer an allem zweifeln wollte, der würde auch nicht zum
Zweifel kommen. Das Spiel des Zweifelns selbst setzt schon die Gewißheit voraus.“114 Die
Ähnlichkeit zur aristotelischen Zurückweisung desjenigen Skeptikers, der meint, den Satz
vom zu vermeidenden Widerspruch nicht anerkennen zu müssen, ist unübersehbar: Die
Zurückweisung des Skeptikers verwendet eine indirekte Argumentation, die ihm nachweist,
mit seinem Bestreitungsversuch zugleich […unhintergehbare, ontologische und dialogische]
Voraussetzungen zu machen – und diese Voraussetzungen muß er reflektierend sofort
einsehen, und damit ebenso die Sinnlosigkeit seines Bestreitungsversuchs. Die
unhintergehbare Gewißheit des cogito erstreckt sich sogar – mindestens mit dieser Erwägung
geht Descartes über Augustinus hinaus – auf die ketzerische (in gnostischen Lehren
angespielte) Eventualität, wir würden in dieser Welt von einem bösen Dämon mit Absicht
verführt, und alle unsere Wahrnehmungen seien von diesem Dämon eingepflanzte
Täuschungen; denn selbst dann, so Descartes, sei ja gewiß, daß ich es bin, der da getäuscht
wird.
Diese so reflexiv aufweisbare Unhintergehbarkeit [scil.: ontologischer Elemente und
dialogischer Normen] ist von Vertretern des dritten, kommunikationsbezogenen Paradigmas
108
109
110
111
112
113
114
Hegel 1986, S. 123.
Habermas 1999, S. 242.
Ebd.
Insofern geht die Polemik Rortys, wenn er mit Étienne Gilson davon spricht, daß „Descartes’ Hirngespinste“
deshalb so aufsehenerregend gewesen wären, „weil man Fragen ernst nimmt, die zu stellen die Scholastiker (...)
zu vernünftig waren“, ins Leere (Rorty 1981, S. 246 f.).
Hegel 1986, S. 127.
Windelband/Heimsoeth 1957, S. 238 mit Verweis auf Augustinus, De beata vita 7; Solil., II, 1 ff.; De ver. Rel. 72
f.; sowie De trin. X, 14. Vgl. auch Kuhlmann 1985, S. 287 f.
Wittgenstein, Über Gewißheit § 115, zit. n. Habermas 1999, S. 244.
48
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
der Philosophiegeschichte etwas mißverständlich als ‚Letztbegründung‘ bezeichnet worden –
mißverständlich, weil Kritiker sie so verstehen konnten, als sei mit der einmaligen
Begründung von Gewißheiten dieser Art die Reflexionsarbeit ein für alle Mal ‚erledigt‘ und
deren Ergebnisse müßten fortan dogmatisch anerkannt werden (was Vertretern des
Paradigmas den Vorwurf latenten Fundamentalismus’115 eingebracht hat); gemeint ist aber
Unhintergehbarkeit im Sinne von jeweils in der aktuellen Auseinandersetzung als
unbezweifelbar – d.h. nicht mit sinnvollen, widerspruchsfreien Argumenten bezweifelbar –
anerkennungswürdiger Grundlagen [der jeweiligen] Argumentation [und der
Argumentationssituation als eines ontisch realen und moralisch verpflichtenden
Verhältnisses]. In diesem Sinne ist Wolfgang Kuhlmann zu verstehen, wenn er schreibt, daß
es sich bei der cartesischen Verwendungsweise der reflexiven Wendung „tatsächlich um ein
Letztbegründungsargument handelt, ein Argument, mit dem selbst der äußerste Skeptizismus,
derjenige, der sogar mit einer uns absichtlich täuschenden Instanz zu rechnen bereit ist, noch
zu bezwingen ist.“116
Descartes erweitert dieses Modell jedoch noch in anderer Hinsicht entscheidend
gegenüber Augustinus: Die in reflexiver Denkrichtung zu gewinnende Gewißheit steht im
Mittelpunkt seiner Philosophie, ja im Mittelpunkt von Wissenschaft überhaupt.
Descartes macht das reflexive Argument
„zum Zentrum und zugleich zum Prinzip seiner ganzen Philosophie. Zum
Zentrum und Angelpunkt insofern, als alle sachhaltigen Aussagen der cartesischen
Philosophie in mehr oder weniger direkter Abhängigkeit stehen zu diesem
Argument. Zum Prinzip insofern, als mit diesem reflexiven Argument die
cartesische Philosophie im engeren Sinne, die prima philosophia, ausdrücklich zur
Philosophie in der intentio obliqua, zur Reflexion wird, und zwar vor allem zur
Reflexion auf das erkennende Subjekt. Bei Descartes verliert das Argument
vollkommen den Charakter eines sophistisch spielerisch zu verwendenden bloßen
Versatzstückes aus dem Arsenal der nur halb ernst gemeinten
Skeptikerdiskussionen.“117
Grenzen der Subjektphilosophie – [uneinholbarer]
‚metaphysischer Rest‘ bei Augustinus, Descartes, Kant
Es bleibt jedoch – trotz all dieser Würdigungen – eine gewisse Ambivalenz festzuhalten, die
aus der mangelnden ‚Sprachbewußtheit‘ von Augustinus und Descartes resultiert. Augustinus
hatte zwar noch den Erkenntnisprozeß als ‚Dialog‘ verstanden, allerdings als inneren Dialog
der Seele mit Gott, also als „sprachfreie Erleuchtung“118. Der Bewußtseinsphilosoph
Descartes übersieht hingegen vollends, „daß Sprache und Kommunikation zu den
Bedingungen der Möglichkeit sinnvollen Zweifelns gehören“119. Die Folge sind interne
Inkonsequenzen: Denn ohne Inanspruchnahme sprachlicher Zusammenhänge müßte die
cartesische Gewißheit strenggenommen beschränkt bleiben auf „das mögliche apriorische
Wissen, welches ein Erkenntnissubjekt von sich selbst – als real zweifelndem, also
115
116
117
118
119
Vgl. Karl-Otto Apels Einschätzung in: Primordiale Mitverantwortung. Zur transzendentalpragmatischen
Begründung der Diskursethik als Verantwortungsethik. Gespräch von Horst Gronke, Jens Peter Brune und
Micha H. Werner mit Karl-Otto Apel. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 97-121, S. 118 mit dem Verweis auf
Jürgen Habermas 1996; sowie dessen Abschnitt über den „Sinn von ‚Letztbegründungen‘ in der Moraltheorie“
in Habermas 1991, S. 185-199; vgl. Habermas 1999, S. 256 ff.
Kuhlmann 1985, S. 290.
A.a.O., S. 291.
Böhler/Gronke 1994, S. 775.
Böhler 2001 c, S. 13.
49
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
sprachfähigem, also auf Andere bezogenem und leibhaftem, also in der Welt befindlichem
Kommunikations-Lebewesen etc. – muß haben und daher auch als sicher müßte voraussetzen
können“120. Doch dies genügt Descartes eben nicht, er vermengt diese geltungslogische
Funktion mit seinem „psychologischen und ontotheologischen Ziel, den Bestand einer
individuellen Seele als eigentümlicher Substanz (res cogitans) zu erweisen.“121 Damit verstößt
Descartes gegen seine eigene Programmatik, derzufolge er sich doch verpflichtet hatte, nichts
anzuerkennen, was sich mit gutem Grund bezweifeln läßt. Statt sich durchgehend reflexiv auf
die Voraussetzungen seiner Argumentation zu besinnen, nimmt er wieder eine theoretische
Einstellung ein. Von strikter Reflexion läßt er sich nur bis zum Erweis des cogito leiten
– wenn „dies feststeht: ‚sum, existo‘, sofort wechselt Descartes die Einstellung:
die strikte Reflexion, die einzige Einstellung, in der der drohende Regreß gestoppt
werden kann“, verläßt er und „analysiert in theoretischer Einstellung, was es ist,
was er da gewonnen hat, und gelangt so zu der überaus problematischen
Bestimmung: ‚sum res cogitans‘ und zu (...) ebenso problematischen
Brückenprinzipien, die (...) sich offenbar sämtlich ohne Selbstwiderspruch
bestreiten [lassen], und damit ist der Letztbegründungseffekt vertan“122.
Die breite Inanspruchnahme dieser – von sinnvollen skeptischen Argumenten eben durchaus
erschütterbaren – Brückenprinzipien bei Descartes sorgt dafür, daß er als „unfreiwilliger
Kronzeuge für die These von der Unfruchtbarkeit reflexiver Argumente in Anspruch
genommen werden“123 kann. Es ist aber eigentlich mangelnde Reflexivität, die für diese
Defizite verantwortlich ist. Was als Leistung Descartes’ festzuhalten bleibt, ist der Anspruch,
daß philosophische Erkenntnisse den Standards wissenschaftlicher Sicherheit zu genügen
haben, womit „Descartes die Grundform des Anfangs aller wahrhaft wissenschaftlichen
Philosophie entdeckt“ hat – „wie sehr er den Sinn dieses Anfangs auch mißverstanden und
damit den wirklichen Anfang verfehlt hat“.124
Einen wirklichen unbezweifelbaren Anfang in der Philosophie wollte in vergleichbarer
Weise Immanuel Kant gewinnen. Er spielt natürlich in einem Seminar, das Paradigmen der
Philosophiegeschichte und ihren Zusammenhang untersucht, eine Schlüsselrolle. Auch Kant
verfolgte den Anspruch, daß die zu erreichende „Selbsterkenntnis der Vernunft durch
Begrenzung ihrer Ansprüche“125 wissenschaftlichen Anforderungen genügen müsse: In seiner
Vorrede zur ‚Kritik der reinen Vernunft‘ gibt er zu, daß bei einem Vorhaben wie dem seinen
unter anderem „Gewißheit und Deutlichkeit (...) als wesentliche Forderungen anzusehen
[sind, T.L.], die man an den Verfasser, der sich eine so schlüpfriche Unternehmung wagt, mit
Recht tun kann“126. Diese wissenschaftliche Sicherheit soll durch strikte Verfolgung der
transzendentalen Methode erreicht werden, die kritisch nach den Bedingungen der
Möglichkeit von Erkenntnis fragt. Auch Kant bedient sich dabei einer indirekten
Argumentationsstrategie – derjenigen,
„daß die ‚objektive Gültigkeit‘ eines x (sei es eines ‚Prinzips der Sinnlichkeit‘, sei
es einer Kategorie, sei es eines ‚Grundsatzes des Verstandes‘, sei es auch z.B.
eines ‚teleologischen Prinzips der Zweckmäßigkeit der Natur‘) auch dadurch
120
121
122
123
124
125
126
A.a.O., S. 14.
Ebd.
Kuhlmann 1985, S. 297.
A.a.O., S. 291.
Edmund Husserl (1956): Erste Philosophie. Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion. Hg. v. Rudolf
Boehm. Den Haag (Husserliana Bd. VIII), S. 5. Zit. n. Gronke 1999, S. 37.
Böhler 2001 b, S. 16.
Kant KrV A, S. XV, zit. n. Kant 1956, S. 9.
50
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
erwiesen werden kann, daß gezeigt wird: Ohne dieses x, ohne die ‚objektive
Gültigkeit‘ dieses x, kann es Erfahrung nicht geben.“127
Kant argumentiert dabei „ganz im Sinne des cartesischen Paradigmas“128. Denn er bemüht
sich nicht etwa, den Skeptiker auf klassisch-metaphysische Weise zu überzeugen – also
dadurch, daß er „neben sich und seine Erkenntnisbeziehungen zur objektiven Welt tritt und
(...) nach dem Muster der ontologischen Wahrheitstheorie durch Vergleich des Subjektiven
mit dem Objektiven von einer dritten Position aus die bezweifelte Übereinstimmung
(adaequatio) in den fraglichen Punkten“129 zu zeigen versuchte – denn er weiß, daß sich eine
solche Übereinstimmung niemals unbezweifelbar erweisen ließe. „Er versucht den Nachweis
vielmehr aus der Position des neuzeitlichen Erkenntnissubjekts“130: von der Frage ausgehend,
was die Sinnbedingungen dafür sind, „daß ein Vernunftsubjekt objektive Erfahrung überhaupt
haben kann.“131 Diese Methode ist auch als Antwort auf den empiristisch-objektivistischen
Skeptizismus von Hume zu verstehen. Insofern macht die kantische Vernunftkritik im
Hinblick auf das erkenntnissichernde Fundament „Schluß mit unkritischer Ontologie /
Metaphysik im Sinne der theoria-Tradition“132.
Anlage 14a
127
128
129
130
131
132
Kuhlmann 1985, S. 300.
A.a.O., S. 303; vgl. KrV B, S. 817 ff.
Ebd.
Ebd.
Gronke 1999, S. 39.
Böhler 2001 c, S. 21.
51
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Anlage 14a:
Stand 2. Juni 2009
Kants transzendentale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit
der Erfahrung und objektiven (Natur-)Erkenntnis:
Aufhebung der theoria-Ontologie (Sein der Dinge*) in eine transzendentale Subjektanalyse (mögliche Erfahrung von Dingen):
Zwei-Welten-Schema
und
Schema der beiden Haupt-„Stämme menschlicher Erkenntnis“
Göttliches Subjekt als absolut
anschauender Verstand =
Archetyp des Intellekts
Unser gegenstandsbezogenes Erkenntnisvermögen aus sinnlicher Anschauung und
begrifflichem Verstand mit aktbezogenem Selbstbewußtsein
↓
Intelligible Welt (Noumena
einer intellekt. Anschauung
(„Grenzbegriffe“)
Dinge
an sich
selbst
(für uns unerkennbar!)
Sinnenwelt als Welt der kausaldeterminierten Erscheinungen
bzw. Phaenomena i.S. von
Objekten
Sinnlichkeit:
rezeptiv
Dinge als
Erscheinungen
für uns
Formen der
sinnlichen
Anschauung:
Raum, Zeit
Verstand:
spontan
Reine Begriffe des
Verstandes:
Kategorien der
- Quantität:
Einheit, Viel-, Allheit
„Höchster Punkt“ der
transzendentalen Deduktion:
„›Ich denke‹, das alle meine
Vorstellungen und Begriffe muß
begleiten können.“
- Qualität:
Realität, Negation, Limitation
- Relation:
z.B. Kausalität
- Modalität:
Möglichkeit-Unmöglichkeit
Dasein-Nichtsein
Notwendigkeit-Zufälligkeit
von der Vernunft nur
postulierbar
(natur-)wissenschaftlich
objektivierbar
Gegenstandsbewußtsein (GB)
Selbstbewußtsein als
Bewußtsein des GBs
Unser Erkenntnisvermögen
52
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
[Kants transzendentalphilosophisches System, entfaltet in der „Kritik der reinen
Vernunft“, vermag die theoria-Metaphysik nicht wirklich aufzuheben. Vor allem das
transzendentalphilosophische Zwei-Welten-Schema (siehe die ersten beiden Säulen der
Anlage 14a) zeigt, daß die Kantische Erkenntnistheorie einen nicht durch sinnvolle
Argumente einholbaren „metaphysischen Rest“133 enthält…] Denn die Erkenntnis richtet sich
seinem Modell zufolge letztlich auf das hinter dem Gegenstand der Erfahrung (der
Erscheinung) liegende ‚Ding an sich‘ (also quasi außerhalb der Erfahrung) „auf die Dinge, ‚so
wie sie an sich selbst sind‘ (reines Wesen)“134. In diesem reinen ‚An-sich-Sein‘ bleiben sie
jedoch für uns – „im Unterschied zu dem göttlichen, alles direkt anschauenden Verstand“135 –
letzten Endes unerkennbar. Denn wir sind auf Erkenntnis durch Erfahrungsvermittlung [und
durch diskursiven Gebrauch von Kategorien, die Kant transzendental als reine
Verstandesbegriffe rekonstruiert,] notwendigerweise angewiesen. Der Skeptiker kann Kant
nun zeigen, daß diese Vorstellung inkonsistent ist [und daß die Aufhebung der unkritischen
Metaphysik in eine kritische, transzendental fragende Philosophie allenfalls halb gelingt.
Einmal setzt Kant nämlich das metaphysische Erkenntnisideal der puren, nicht
sprachvermittelten, insofern auch nicht kommunikationsbezogenen Anschauung als göttlichen
archetypus intellectus voraus, worüber er nicht allein als Transzendentalphilosoph gar nichts
wissen kann, sondern worüber sich überhaupt nicht sinnvoll reden und nachdenken läßt, weil
auch ein solcher Gedanke (wie jeglicher Gedanke) nur sprachlich möglich ist.
Hinzu kommt, daß der damit verbundene Gedanke eines (unerkennbaren) Dings an sich
selbstwidersprüchlich ist, eine performativ bzw. pragmatisch widersprüchliche Behauptung.
Denn der im performativen Akt („ich behaupte es ist wahr bzw. wahrheitsfähig, daß“) geltend
gemachte Wahrheitsanspruch wird in der Aussage direkt bestritten: „daß das Ding an sich
unerkennbar ist, so daß keine wahrheitsfähigen Aussagen darüber möglich sind.“ Somit ist
das] Argumentieren für ein Modell, das sich auf etwas letzten Endes Unerkennbares stützt, in
sich widersprüchlich, „eine sinnlose Rede“136. Dies wird deutlich, wenn wir Kant selbst mit
den Voraussetzungen konfrontieren, die er implizit benötigt, um uns gegenüber diese Theorie
zu vertreten. Denn Kant führt die Rede vom für uns prinzipiell unerkennbaren ‚Ding-an-sich‘
im Mund und macht zugleich Aussagen über dieses: „daß es sich um ein ‚unerkennbares
Reales‘ handele, behauptet man ja schon erkannt zu haben“;137 und dies, während er das Ziel
verfolgt, eine Erkenntnistheorie zu begründen, „die nach ihrem eigenen Verständnis
Vernunftkritik auf den Bereich des vom Bewußtsein Erfahrbaren beschränkt“138.
Für diese „kritische“ Erkenntnistheorie ist eine solche „immanent widersprüchliche
Auffassung“ natürlich fatal;139 entgegen Kants Unterstellung läßt sich „der Begriff eines
unerkennbaren Dinges an sich nicht einmal denken“140. So läßt sich dem kantischen Projekt
entgegenhalten, daß der Skeptiker nicht ‚besiegt‘ sei, und zwar „solange er noch sinnvoll nach
133
134
135
136
137
138
139
140
Ebd.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
Ebd. „Eine Folge davon ist, daß sich der Philosoph unter der Hand Erkenntnismöglichkeiten zubilligt, die er als
vernunftkritischer Denker, der nur das reflexiv Ausweisbare in Anspruch nimmt, nicht haben kann. Kant macht
sich etwa nicht klar, daß er sich einen quasi-göttlichen Einblick in das Verhältnis von einer erkennbaren
Erfahrungswelt und einer vermeintlich unerkennbaren Welt an sich zugesteht. Wenn man solcherart Einträge in
den philosophischen Diskurs unausgewiesen einbringt, weil man nicht reflexiv genug philosophiert, tangiert
dies auch den Geltungsstatus der möglichen Ergebnisse dieses Diskurses.“ (Gronke 2001, S. 216 f.)
Gronke 1999, S. 49 und Anm. 103.
Kuhlmann spricht davon, „daß es überhaupt verheerend sei für ein Unternehmen, welches mit dem
Dogmatismus endgültig abrechnen wolle, wenn es selbst des Dogmatismus bezichtigt werden könne.“
(Kuhlmann 1985, S. 306).
Gronke 1999, S. 49 und Anm. 103.
53
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Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
einer Rechtfertigung für das kantische Verfahren fragen könne“141. Wie kommt es zu diesem
[sinnlos] metaphysischen, unreflektierten Rest? Hauptursache ist, „daß Kant sich im Rahmen
der Vernunftkritik statt der an sich für sein Projekt erforderlichen strikten Reflexion
ausschließlich der theoretischen Reflexion bedient“142. Kant reflektiert zwar auf die
Bedingungen der Erkenntnis, letztlich aber in „theoretisch selbstvergessener distanzierender
Reflexion von außen“ 143; und statt von sich selbst – dem Philosophen – als Reflexionssubjekt
auszugehen, thematisiert er eigentlich „den Physiker“144 als exemplarisches Reflexionsobjekt.
Die skeptische Frage: „Welche Erkenntnisbedingungen kann / muß ich als
Transzendentalphilosoph
beachten?“145,
mithin
die
quaestio
iuris
der
146
Transzendentalphilosophie , bleibt ungestellt.
Anlage 14b
[
Kants inkonsequente Aufhebung der theoria-Ontologie*:
* Das, was Kant nicht aufhebt:
(a) Die theoretische Einstellung mit ihrer Fixierung auf Sein bzw. Welt als Inbegriff von
Dingen/Gegenständen.
D.h.: Kant reflektiert nicht auf seine eigenen Voraussetzungen als Philosoph, der
Erkenntnis beansprucht und auch über (die vermeintlich unerkennbaren) Dinge an sich
Behauptungen aufstellt (!);
Kant ‚blickt’ durch das sprachliche Verstehen von Welt (ganz i. S. der theoriaTradition) wie durch Glas hindurch – als sei Erfahrung nichts als sinnliche
Wahrnehmung von Dingen und deren Rasterung durch Kategorien.
(b) Die Unterstellung eines methodologischen Solipsismus mit den Hauptannahmen, daß
das als einsam unterstellte transzendentale Erkenntnissubjekt allein aus sich –
unabhängig von Kommunikation mit Anderen – der Welt Sinn abgewinnen (sinnvolle
Sätze bilden) und wahre Erkenntnis haben (Geltungsansprüche einlösen) könne.
Für die Menschen als Wesen mit sinnlicher Anschauung „erscheinen“ die
Dinge als etwas sinnlich Wahrnehmbares in Raum und Zeit. Kant setzt
gewissermaßen platonisch voraus, daß die Dinge in zwei Welten anzusiedeln
sind: einer „intelligiblen“ Welt der reinen Erkenntnis i.S. einer göttlichen
Vernunftschau und einer Sinnenwelt der menschlichen Wahrnehmung bzw.
Erfahrung. Genaugenommen, setzt er voraus, daß „die Dinge, so wie sie an
sich selbst sind“ (Prol. § 9), (1.) nur von Gott erschaubar seien, (2.) den
Menschen unerkennbar blieben, daß sie aber (3.) bei den sinnlichen Menschen
Erscheinungen hervorriefen und insofern Gegenstände der Erfahrung würden.
Das zeigt in unserer Figur der nächste Pfeil an:
Als Erscheinungen affizieren die Dinge die menschliche Sinnlichkeit als
„rezeptives“ Vermögen der „Anschauung“. (Diesen „Hauptstamm“ der
Erkenntnis behandelt Kants Kr.d.r.V. in der „transzendentalen Ästhetik“.)
141
142
143
144
145
146
Kuhlmann 1985, S. 306.
A.a.O., S. 308.
Ebd.
Ebd.
A.a.O., S. 42 f.
Vgl. Böhler 2001 c, S. 18.
54
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Der Verstand denkt, indem er das Mannigfaltige der Anschauung unter
Begriffe bringt. Er gilt als selbsttätiges „spontanes“ Vermögen. (Das
Verstandesvermögen erörtert Kant im Abschnitt „transzendentale Logik I:
Analytik.“)]
Trotz dieser Defizite soll hier noch einmal die Weiterentwicklung des Vernunftbegriffes
Würdigung finden, die Kant gegenüber dem klassischen Modell vornimmt und die als
‚kopernikanische Wende‘ in die Philosophiegeschichte eingegangen ist; Kant gibt mit seinen
„Überlegungen zur Konstitution des Selbstbewußtseins einen überzeugenden
Beleg dafür, daß sein transzendentaler Ansatz, in dem der vorneuzeitliche Vernunftbegriff eines vernehmenden Erfassens zugunsten der Vorstellung einer
leistenden, geltungskonstitutiven Vernunft zurückgedrängt wird, gegenüber Descartes’ noch von scholastischen Einflüssen durchwirktem Denken einen
wesentlichen Denkfortschritt markiert.“147
III. Paradigma: Sprache[, Kommunikation, Dialog]
Radikaler Skeptizismus als widersprüchliche Konsequenz aus der Kant-Kritik
Die skeptischen Anfragen, gegen die man sich innerhalb der kantischen Vernunftvorstellung
schwerlich eine schlagende Argumentation denken kann, sind wohl deutlich geworden.
Überblicksartig kann gesagt werden, daß diese Erschütterung erneut einen
Paradigmenwechsel einleitet und insofern vergleichbar ist mit dem Paradigmenwechsel
zwischen klassischer Ontologie und Subjektphilosophie: „Wie der Universalienstreit im
ausgehenden Mittelalter zur Entwertung der objektiven Vernunft, so hat im ausgehenden 19.
Jahrhundert die Kritik an Introspektion und Psychologismus zur Erschütterung der
subjektiven Vernunft beigetragen.“148 Aus dem nun mehrfach angeführten sprachreflexiven
Ansatz ergibt sich, in welcher Richtung die Suche nach unhintergehbaren Fundamenten
philosophischer Argumentation – die Suche nach ‚Skepsis-resistenten‘ Ergebnissen also –
fruchtbar sein kann: im Bereich der Sprache selbst [als realer Kommunikationsgemeinschaft
und als möglicher Argumentationsgemeinschaft.] Ihre Thematisierung als gewißheitsermöglichende Voraussetzung an Stelle der subjektiven Vernunft markiert den Übergang vom
zweiten zum dritten Paradigma.
„Mit der Verlagerung der Vernunft aus dem Bewußtsein in die Sprache als dem
Medium, über das handelnde Subjekte miteinander kommunizieren, ändert sich
die Erklärungsrichtung noch einmal. Die epistemische Autorität geht vom
erkennenden Subjekt, das die Maßstäbe für die Objektivität der Erfahrung aus sich
selber schöpft, auf die Rechtfertigungspraxis einer Sprachgemeinschaft über [scil.:
als Argumentationsgemeinschaft]. Bis dahin ergab sich eine intersubjektive
Geltung von Meinungen aus einer nachträglichen Konvergenz von Gedanken und
Vorstellungen (...). Aber nach der linguistischen Wende gehen alle Erklärungen
vom Primat einer gemeinsamen Sprache aus.“149
147
148
149
Gronke 1999, S. 42 f.
Habermas 1999, S. 243 f.
Ebd.
55
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Dieser ‚linguistic turn‘ macht es möglich, so nun die These, das „Scheitern von Descartes’
und Kants transzendentalphilosophischen Ansätzen“150 zu überwinden.
Könnte man nun auch ein anderes Modell vertreten, welches das Scheitern einfach hinnimmt?
Also dem radikalen Skeptiker ‚nachgeben‘ und sich dessen Position des „skeptischen
Relativisten, der die Möglichkeit einer absoluten Selbstrechtfertigung der Philosophie und
einer rationalen Vernunftkritik bestreitet“151, zu eigen machen? Man würde also – von den
bisherigen Erfolgen skeptischer Erschütterung ermuntert und im skeptischen Aufspüren
‚metaphysischer Reste‘ geübt – die These vertreten wollen, daß es unhintergehbare Wahrheit
im Grunde genommen nicht gibt ebensowenig wie verläßliche Kriterien dafür. Zur Prüfung
wollen wir kurz aus dem historischen Durchgang heraustreten und aufzeigen, daß diese
Argumentationsweise sich nicht wirklich vertreten läßt, weil sie sich nicht widerspruchsfrei
äußern, ja nicht einmal denken läßt. Dietrich Böhler [begründet], warum es nicht möglich ist,
diese Position in einem aktuellen Dialog mit sinnvollen Argumenten zu vertreten. Dies kann
dem so auftretenden Skeptiker anhand seiner eigenen Praxis, in der er sich – diese Auffassung
äußernd oder denkend – befindet, gezeigt werden. In [seinem] Beitrag
Anlage 20
152
zum Sammelband ‚Zwischen Universalismus und Relativismus‘ von 1998 heißt es:
„Der Rückgang auf die notwendige, alles menschliche Tun und Lassen zumeist
unausdrücklich begleitende, mithin für jeden erfahrbare und erkennbare MetaPraxis des Etwas-Behauptens, welche einen argumentativen Dialog eröffnet oder
antizipiert, erschließt uns einen universalen ‚Grund der Verbindlichkeit‘ (Kant)
und damit zureichende Kriterien für die Suche nach dem Wahren und
Richtigen.“153
Denn diese unhintergehbare Meta-Praxis [, dieser Begleitdiskurs einer Stellungnahme zu sich
selbst,] begleitet eben auch das Tun und Lassen des Skeptikers – erst recht, wenn er versucht,
irgendeine Position (zum Beispiel eine skeptische) zu vertreten. Und dies kann dem Skeptiker
gezeigt werden, in dem er „in einen dialogreflexiven Test verwickelt“154 wird[, also in eine
sinnkritische Prüfung seines Zweifels als eines jetzt von ihm zu vertretenen Diskursbeitrags.]
Darin wird der Skeptiker erstens „auf die aktuelle Dialogsituation hingewiesen (...), in die er –
sich selbst und uns gegenüber – bereits eingetreten ist (...)“; dann wird zweitens „diese
Dialogsituation mit seiner Meinung, seinen Aussagen, konfrontiert“; und drittens wird
„geprüft (...), ob diese Aussagen von uns, in der Rolle argumentativer Dialogpartner, jetzt als
Dialogbeitrag ernst genommen und dementsprechend mit einer begründbaren Rede (einem
sinnvollen Dialogbeitrag) beantwortet werden könnten.“
Daß Dietrich Böhler im Zusammenhang mit diesem Modell der
Skeptikerwiderlegung155 auf Kant verweist, hat trotz der oben vorgebrachten Kritik an Kants
theoretischer Einstellung seine Berechtigung – denn sein Ansatz, der für die Frage nach
Wahrheit ja Kriterien wie Allgemeinheit und vernunftgemäße Prüfbarkeit heranzieht, läßt sich
sprachlich transformieren. Wie dies möglich ist, zeigt in überzeugender Weise schon die
Kant-Kritik des Charles Sanders Peirce. Dessen „Konzeption der Konsensbildung in der
‚Gemeinschaft der Wissenschaftler‘“156 ersetzt die kantische theoria-Einstellung und zugleich
den Solipsismus der Subjektphilosophie. Die solipsistisch vorgestellte Gewißheit des
150
151
152
153
154
155
156
Gronke 1999, S. 52.
A.a.O., S. 70.
Böhler 1998.
Böhler 1998, S. 136.
Dies und die folgenden Zitate: Böhler 2001 a, S. 51.
In welcher sprachlichen Gestalt dieser Dialog mit dem Skeptiker im einzelnen ablaufen könnte, dazu Beispiele
bei Gronke 1999, S. 93-96 mit dem Verweis auf Wolfgang Kuhlmann (1993): Bemerkungen zum Problem der
Letztbegründung. In: Alexander Dorschel u.a. (Hg.): Transzendentalpragmatik. Frankfurt a. M., S. 233-327; und
bei Brune 1995, S. 69-73.
Apel 1973 Bd. I, S. 12.
56
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Einzelsubjekts wird abgelöst durch die „Experimentier- und Interpretationsgemeinschaft (...)
als Konkretisierung des transzendentalen Subjekts bei Kant“157. Wahrheit ist das, worüber in
dieser Instanz sich „Konsens in methodisch kontrollierbarer Form herstellen“158 ließe. An die
Stelle der von Kant vorgestellten Einheit von Bewußtseinsinhalten tritt „semantische
Konsistenz einer intersubjektiv gültigen ‚Repräsentation‘ der Objekte durch Zeichen, die nach
Peirce freilich erst in der (...) Dimension der Interpretation der Zeichen entschieden wird.“159
Transformation Kants am Anfang der
‚Transformation der Philosophie‘ [nach Apel]
Wenn zunächst nur von einer ‚ersetzenden‘ Vorstellung oder ‚Ablösung‘ der kantischen
Vernunftinstanz die Rede ist, dann wird damit der Erkenntnisfortschritt noch nicht deutlich
genug. Er liegt darin, daß skeptische Kritik an diesem Modell der ‚indefinite community of
investigators‘ keinen Ansatzpunkt mehr findet. [Der Skeptiker muß nämlich], um Kritik an
ihm vorzubringen, selbst diese Instanz in Anspruch nehmen – denn genau ihr gegenüber
müßte die Kritik des Skeptikers verständlich sein, will er sich überhaupt nur theoretisch die
Möglichkeit offen halten, gegebenenfalls bessere Argumente zu haben. Die unbegrenzte
Gemeinschaft der Argumentierenden als ‚höchster Punkt‘ der Peirceschen Transformation
Kants160 bedarf damit höchstens noch der Explikation, die Karl-Otto Apel so leistet:
Darin „konvergiert das semiotische Postulat einer überindividuellen Einheit der
Interpretation und das forschungslogische Postulat einer experimentellen
Bewährung der Erfahrung in the long run. Das quasi-transzendentale Subjekt
dieser postulierten Einheit ist die unbegrenzte Experimentier-Gemeinschaft, die
zugleich die unbegrenzte Interpretationsgemeinschaft ist.“161
Im Rahmen dieser Konzeption läßt sich auch die problematische Unterscheidung von ‚Dingan-sich‘ und Erscheinungen verabschieden: An ihre Stelle „tritt in der sinnkritischrealistischen Transzendentalpragmatik die Peircesche Unterscheidung zwischen dem Realen
als dem prinzipiell – in the long run – Erkennbaren einerseits und dem hier und jetzt faktisch
Erkannten andererseits“162.
Für den Übergang zum dritten Paradigma, dem Paradigma der Kommunikation, ist damit
etwas Wichtiges geleistet, denn Peirces Auffassung kann ergänzt werden von der
„kommunikationsbezogenen Auffassung der Sprache und des Denkens, (...) einer
(transzendental-pragmatischen) Rekonstruktion der Bedingungen sinnvoller Rede und
wahrheitsfähigen Argumentierens“163. Diese Transformation der Philosophie verändert die
Zielrichtung philosophischen Denkens weg „von jedweder Betrachtung (bloße
Beobachterperspektive, also subjekt- und dialogvergessen) hin zu einer aktuell
dialogbezogen-sinnkritischen Reflexion auf sich und Andere als Partner des jetzigen
Dialogs“164. Vollendet werden kann diese Transformation als Reflexion auf die Dialogizität
von Sprache überhaupt, wobei sie im Rahmen deutschsprachiger Philosophie anknüpfen kann
auch an „Wilhelm von Humboldts kaum rezipierte (mit Kant gegen Kant denkende) Einsicht:
157
158
159
160
161
162
163
164
Ebd.
Ebd.
Apel 1973 Bd. II, S. 169.
Vgl. A.a.O., S. 173.
Ebd.
Kuhlmann 1985, S. 25.
Böhler 2001 c, S. 25.
Ebd.
57
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Sprechen als miteinander Sprechen und als Aktualisieren einer dualischen bzw.
dialogförmigen Struktur der Sprache“165. Bedingung der Möglichkeit des Sprechens ist
Humboldt zufolge „Anrede und Erwiderung“166; und dies „hat zur Folge, daß ein Sprecher die
eigene Rede nur verstehen, mithin sie auch nur vorbringen kann, weil er immer schon in
Erwartung und Erwartungserwartung des resp. der Anderen redet“167.
[Sprache und Kommunikation] als Thema der Philosophie nach dem ‚linguistic
turn‘
Insgesamt läßt sich der ‚linguistic turn‘ als „Durchbruch der sprachanalytischen Philosophie
zum beherrschenden Paradigma der Philosophie im 20. Jahrhundert“168 beschreiben. Das
Verhältnis von Erfahrungssubjekt auf der einen und Welt auf der anderen Seite wird abgelöst:
Das von der Gnosis bis Kant als einsames Subjekt gedachte Selbst „stellt sich nun als gar
nicht absolut und nicht als autonomer Grenzpunkt der Welt heraus, sondern zeigt sich als
realkommunizierender Akteur, der in Welt als einen Sozial- und Sinnzusammenhang von
vornherein einbezogen ist“169. Die Beschäftigung mit diesen Kommunikationsprozessen wird
zum vorherrschenden Thema der Philosophie. Sprache als Ausdruck dieses Zusammenhanges
rückt in den Mittelpunkt philosophischer Analyse, was dazu führt,
„daß die Sprache, die lange Zeit nur als ein – freilich stets besonderer –
Gegenstand der Erkenntnis figurierte, nun endlich in die ihr eher gemäße Stelle
einer entscheidenden subjektiven Erkenntnisvoraussetzung rückt (...). Statt mit
zunächst nur privat zugänglich scheinenden ‚Tatsachen des Bewußtseins‘ hat die
Analyse es nun mit öffentlich zugänglichen Strukturen von Zeichen und Sprache
zu tun, was sowohl die Analyse selbst, wie auch ihre kritische Diskussion, ganz
wesentlich erleichtert.“170
Zunächst gilt es, das Phänomen der Sprache zu differenzieren. Neben der semantischen und
der syntaktischen Dimension der Sprache entdeckt die Analyse (z.B. bei Carnap und
Morris171) die Bedeutung der dritten, der pragmatischen Dimension der Sprache. Hieraus
resultiert die Rede von der pragmatischen Wende der (Sprach-)Philosophie; „Sprache ist jetzt
etwas, das erst im Gebrauch durch Subjekte Bedeutung erhält; der Gebrauch (das kognitive
Verhältnis des Sprechers zur Sprache) wird zentrales Thema unter Titeln wie ‚Was heißt es,
einer Regel zu folgen‘ oder ‚How to do Things with Words‘.“172
Das Verständnis von Sprache als ‚Regelfolgen‘ [im Sinnzusammenhang einer jeweiligen
Praxis und Lebensform] hat am nachhaltigsten Ludwig Wittgenstein geprüft. Doch seine
Bedeutung im Rahmen des ‚linguistic turn‘ ist insgesamt ambivalent. Denn in seinen frühen
Schriften beschäftigte er sich zwar bereits mit Sprache, allerdings ganz und gar in
theoretischer Einstellung – was ihn gegenüber skeptischer Kritik schwächt: „Der frühe
Wittgenstein eröffnet die Bewegung mit der paradoxen Fassung einer Sprachkritik, welche
ganz ausdrücklich für den Sprachkritiker selbst und seine kritischen Aktivitäten keinen
165
166
167
168
169
170
171
172
Ebd.
Wilhelm von Humboldt (1960): Über den Dualis. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Berlin (Akademie-Ausgabe). Bd.
VI., S. 27. Zit. n. Böhler 2001 b, S. 168.
Böhler 2001 b, S. 168.
Kuhlmann 1985, S. 16.
Böhler 1985, S. 65.
Kuhlmann 1985, S. 16 f. [Aus diesem, von Kuhlmann genannten Grunde] ist es vielleicht eher zu verschmerzen,
wenn das Folgende tendenziell wie eine historische „Nacherzählung“ einiger Stationen des dritten Paradigmas
wirkt und zuweilen weniger wie eine gründlich-kritische Würdigung.
Vgl. Kuhlmann 1985, S. 17.
A.a.O., S. 18.
58
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
legitimen Platz vorsieht.“173 Leitfaden des frühen Wittgenstein ist nämlich sein methodischsolipsistisches Verständnis von Sprache174 – Wittgenstein ist dabei nicht klar geworden, daß
er selbst ja als Kritiker und Argumentierender über Sprache als Regelfolgen zu uns, seinen
Lesern spricht und somit bereits eine Meta-Ebene von Sprache in Anspruch genommen hat.
Doch beim späten Wittgenstein wird dieser ‚logische Atomismus‘ (Apel) überwunden, indem
der „neue Schlüsselbegriff des späten Wittgenstein: der Begriff des ‚Sprachspiels‘ oder besser
gesagt: der ‚Sprachspiele‘“175aufkommt. Dieses Modell ist leistungsfähig zur Illustration der
logischen Verbindung von „Handlungssinn und sozialem Handlungskontext“176.
Anlage 17
Der Sinn einer konkreten Handlung läßt sich nur dann verstehen, wenn auch die
Lebenspraxis, auf die die Handlung bezogen ist, bereits – mindestens teilweise –
mitverstanden wird[, genau genommen: schon mitverstanden worden ist. Das „apriorische
Perfekt“ des Weltverstandenhabens und Sich-in-derWelt-Verstandenhabens, das Heidegger I
in seiner Daseinsanalytik rekonstruiert hatte, ist auch für Wittgenstein II grundlegend. Zeigt er
doch, daß die Gebrauchs-Regeln einer Sprache, welche unsere „Sprachspiele“
charakterisieren, getragen werden von der Lebenspraxis bzw. „Lebensform“, in der Menschen
zu handeln pflegen und worin sie sich auskennen – in gemeinsamer Vorverständigung, der
geronnenen kommunikativen Erfahrung unserer Lebenswelt.]
„Ein Akteur muß immer schon ein wie immer unvollständiges Wissen haben, so
daß er sich im Totum eines Handlungszusammenhangs (...) in gewisser Weise
auskennt, wenn er eine bestimmte Handlungsweise (...) als Handlungsweise einer
sozialen Praxis soll richtig verstehen und anwenden können.“177
[Ein solches Vorwissen ist ein Vorverständigtsein, welches A und B, Subjekt und Kosubjekt,
im vorhinein verbindet.
Dieses Apriori der Intersubjektivität hat in seiner geschichtlich-pragmatischen Hinsicht – und
bloß in dieser – Heidegger I analysiert. Als logische Form dieses Schon-Verstandenhabens
gibt er das „Etwas als Etwas-um-zu“ an: Wir haben die Gebrauchsdinge, Institutionen und
Techniken unserer Welt immer schon als etwas Bestimmtes „besorgend“ verstanden, in den
Sorge- bzw. Nutzenhinsichten unserer Daseinsfristung: X ist ein „Zeug“, das wir nutzen
können, um etwas Bestimmtes damit anzufangen.
In eben dieser pragmatischen Lebenswelt-Hinsicht haben die Wittgensteinianer und ihm nahe
Denker, man denke an Gilbert Ryles Rezension von „Sein und Zeit“ (Mind, N.S., Vol.
XXXVIII, No. 151, 1929), Heidegger zustimmend rezipiert und zugleich damit dessen
Reflexionsvergessenheit und pauschale Subjekt-Kritik akzeptiert. Erinnern und vertiefen wir
daher unsere Heideggerkritik, die zugleich Wittgensteins empirische, bloß empirische
Pragmatik betrifft:
Anlage 18a
1. Heideggers Daseinsanalytik überspringt das Verwobensein der alltagsweltlichen Etwasals-Etwas-um-zu-Struktur mit Reflexion und Kritik, besser gesagt: mit der Möglichkeit
eines Begleitdiskurses. Sie ignoriert, daß auch in dem Etwas-als-Etwas-um-zu, in dieser
Einstellung des Etwas-Besorgens, hintergründig Geltungsansprüche stehen, mit denen
sich der Verstehende und Handelnde virtuell auf andere bezieht. Solche
Geltungsansprüche lassen sich nur durch das Miteinander-Argumentieren/das Teilnehmen
173
174
175
176
177
A.a.O., S. 17.
Darin „war die Funktion der intentionalen Ausdrücke wie ‚meinen‘ als etwas aufgefaßt, das man nicht selbst
wieder meinen, d. h. als etwas ‚bezeichnen‘ kann; ihre Funktion sollte identisch sein mit dem Meinen, d. h. der
Bezeichnungsfunktion überhaupt.“ (Apel 1973 Bd. II, S. 71)
Apel 1973 Bd. II, S. 71.
Böhler 1985, S. 202.
Ebd.
59
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Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
an einem Diskurs einlösen, das heißt, in Form eines kommunikativen Handelns mit
anderen in dem gemeinsamen Rahmen eines dialogischen Anerkennungsverhältnisses und
letztlich
vor
der
Geltungsinstanz
einer
idealen
und
unbegrenzten
Argumentationsgemeinschaft. Ideal ist diese Instanz, weil sie nichts anderes zuließe als
eine argumentierende Kommunikation; nämlich sinnvolle Argumente, deren
propositionaler Gehalt sich im Einklang mit den normativen Sinnbedingungen der Rolle
eines Argumentationspartners befindet. Unbegrenzt ist diese Instanz, weil sie alle
möglichen Argumente zur Sache, mithin auch alle möglichen Anspruchssubjekte als
mögliche Argumentationspartner einbezieht.
2. Das interessierte Etwas-Verstehen läßt sich also nicht denken, ohne daß man apriori einen
nicht etwa monologischen, sondern kommunikativen und zugleich reflexiven Typ der
Kognition und der Praxis ins Spiel bringt:
a)
b)
das kommunikative Sich mit anderen über etwas Verständigen und
das kommunikative Handeln als Interagieren mit anderen in dem gemeinsamen
Rahmen von Anerkennungsverhältnissen.
Anlage 18b
Auch dann, wenn wir für die regulierte, institutionalisierte, mehr oder weniger festgelegte
Alltagswelt mit Heidegger, übrigens auch mit Wittgenstein, annehmen wollen, daß es darin
wenig Verständigungsbedarf gibt, insofern alle Benutzer von Zeug über dessen Gebrauch
schon mehr oder weniger verständigt sind, so handelt es sich bei diesem Verständigtsein doch
um eine geronnene kommunikative Erfahrung, eine geronnene Kommunikation. Das ist ein
Angelpunkt der „Rekonstruktiven Pragmatik“ Böhlers.
Vielfach ist aber die moderne, nämlich hoch technisierte Alltagswelt und deren
Zeugverständnis, zumal wenn es sich um hochtechnologisches Zeug handelt, keineswegs
unproblematisch. Heideggers Blickwinkel einer handwerklichen Alltagswelt des
Schwarzwaldes und analog Wittgensteins Konzentration auf einfache institutionalisierte
„Sprachspiele“ blenden den Verständigungsbedarf aus. Ihre Unterdrückung einer
transzendentalpragmatischen Sprach- und Selbstreflexion aber verdeckt die Diskursoffenheit
des Sprechens und Verstehens überhaupt. Infolgedessen werden sie auf desaströse Weise
unmodern: unsensibel für das Kritik- und Diskurspotential einer hochmodernen Lebenswelt
und unseres Sich-in-dieserWelt-Verstehens.]
Wittgenstein überwindet zudem niemals vollständig – dies muß als entscheidendes Defizit
festgehalten werden – die Aporie seiner Frühschriften, die er sich einhandelt, weil „die Stelle
des Zeicheninterpreten, die Stelle des zeichenverwendenden Subjekts, entweder ganz leer
bleibt oder nur – halbherzig – im Sinne der empirischen Pragmatik besetzt wird.“178
Wittgensteins Kritik an der klassischen Sprachauffassung
und Aufhebung dieser Kritik: Doppelte Dialogizität
Zwar wird diese Leerstelle auch vom späten Wittgenstein nicht ausgefüllt; im Rahmen einer
auf den Zusammenhang philosophischer Paradigmen konzentrierten Untersuchung ist
Wittgenstein dennoch zu würdigen. Denn in Absetzung zu traditionellen Sprachvorstellungen
lassen sich die von (oder zumindest mit) Wittgenstein errungenen Fortschritte erkennen: Mit
seinen ‚Philosophischen Untersuchungen‘ vollendet er die Kritik des „seit Aristoteles die
Sprachlogik beherrschenden Denkmodells“, welches naiv angenommen hatte, „daß die
178
Kuhlmann 1985, S. 25.
60
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Wörter der Sprache ihre ‚Bedeutung‘ dadurch haben, daß sie ‚etwas bezeichnen‘, und (...) daß
die Wörter ‚Namen‘ für ‚vorhandene Dinge‘ oder ‚Gegenstände‘ sind“179.
Wittgenstein verabschiedet nun diese Vorstellung ebenso nachhaltig wie das Augustinische
Modell des Spracherwerbs, demzufolge Kinder sprechen lernen würden, indem sie die von
den Eltern vorgesagten Bezeichnungen für Gegenstände (auf die diese dabei hinweisen)
nachahmen. Dieses Modell hatte nämlich übersehen, „daß ein Kind, das zum erstenmal die
Sprache erlernt, hinweisende Erklärungen noch gar nicht verstehen kann, da es weder über
eine strukturelle Artikulation der Welt schon verfügt, die ihm sagt, was jeweils durch einen
Hinweis gemeint ist (ob z.B. die Farbe oder Form oder Art oder Zahl), noch die Funktion des
zu erklärenden Wortes in der Sprache, seine Verwendung, schon kennt. Eine hinweisende
Erklärung von Namen versteht nach W[ittgenstein] nur der, ‚der schon etwas mit ihr
anzufangen weiß‘ (...).“180
Wittgenstein macht also auf bislang nicht berücksichtigte Voraussetzungen des
eingeschränkten Sprachspiels Benennung von Gegenständen aufmerksam und weist es aus als
„‚defizienten Modus‘ derjenigen Sprachspiele (...), in denen Kinder zugleich mit der
Erlernung ihrer Muttersprache auch eine bestimmte Lebensform und ein bestimmtes
strukturell artikuliertes Verständnis der Welt als Situation der Lebenspraxis sich aneignen“181.
Und da ohne diese fundierenden Bezüge zu [einer kognitiv differenzierten] Lebensform und praxis kein Erlernen von Sprache denkbar ist, kommt so die Kritik an Augustins182
„apragmatischer, nämlich instrumentalistisch gegenstandstheoretischer und methodisch
solipsistischer Sprachauffassung“183 zum vorläufigen Abschluß.
Die Reichweite [eines solchen pragmatischen] Sprachverständnisses beim späten
Wittgenstein erweist sich indessen, wie oben angedeutet, aufgrund der unaufgeklärten
Irreflexivität als begrenzt. Dieses Defizit arbeitet Audun Øfsti auf, indem er zeigt, daß das
Sprachspielmodell nicht geeignet ist, das Ganze einer Sprache abzubilden [und ihre
notwendige Reflexivität zu begreifen. Eine logisch vollständige Sprache – und jede
Umgangssprache sei in diesem Sinne komplett – ermögliche stets zugleich den Bezug auf
Gemeintes, auf Themen der Rede, wie auf die Rede selbst; sie verbinde immer schon die
objektsprachliche und die metasprachliche Ebene. Eben das zeigt sich bereits an der
logischen Form einer einfachen Äußerung, wie sie von Jürgen Habermas (im Anschluß an die
Sprachpragmatik Austins und Searles) herausgearbeitet worden ist: Jede einfache Äußerung
hat die Form einer…] „Doppelstruktur der Rede“184 aus performativem und propositionalem
Teil. Aussagen können nur verständlich sein, „weil sich die Sprecher immer schon und
unvermeidlich in eine performative Distanz zu ihnen bringen, indem sie für sie Geltung
beanspruchen. So hat jeder, der etwas [und damit propositionalen ‚Inhalt‘, T.L.] behauptet,
weil seine Behauptungshandlung Geltung (mögliche Wahrheit bzw. Richtigkeit) für die
Aussage unterstellt [und zwar den Anderen, den Adressaten seiner Behauptungshandlung
gegenüber – hierdurch kommt die Performativität ins Spiel, T.L.], die Ebene des
argumentativen Dialogs betreten und dadurch bereits die Rolle eines Dialogpartners auf sich
genommen.“185
Øfstis Erweiterung zur doppelten Doppelstruktur weist nun darauf hin, daß mit dieser
Doppelstruktur stets auch die Bezugsmöglichkeit auf diese einhergeht: Wir können auf diese
Doppelstruktur noch einmal reflektieren und diese Reflexion explizieren. Also sei es doch
richtiger, so Øfsti, von einer doppelten Doppelstruktur der Rede zu sprechen, um das Ganze
179
180
181
182
183
184
185
Apel 1973 Bd. I, S. 253.
A.a.O., S. 261 mit Verweis auf Wittgenstein, Phil. Unters. § 31.
A.a.O., S. 262.
Z.B. in Confessiones I, Kap. 8.
Böhler 2001 c, S. 26.
Böhler 2001 a, S. 29 mit Verweis auf Habermas 1991.
Böhler 1998, S. 134 f.
61
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
einer Sprache ausdrücken zu können: „Notwendig für eine vollständige Sprache und
Kommunikationskompetenz ist die doppelte Reflexivität der performativ-propositionalen
Äußerung und des Stellungnehmenkönnens zu solchen Äußerungen.“186 Nun ist nach dieser
Präzisierung noch einmal an die Geltungsansprüche, die wir mit dem Vorbringen einer
Äußerung zugrundelegen, zu erinnern.
Da „das Vorbringen und das Erläutern einer Äußerung wiederum die Form von
Dialogbeiträgen hat, deren Geltungsansprüche mit der Anerkennung anderer als
gleichberechtigter Argumentationspartner etc. verwoben sind“, schlägt Böhler
vor, „diese doppelte dialogbezogene Doppelstruktur ‚doppelte Dialogizität der
Kommunikation‘ oder ‚doppelte Dialogstruktur der Sprache‘ zu nennen“187.
[Denn eine einfache vollständige Äußerung ist der Form nach dialogisch, weil sie durch die
impliziten Geltungsansprüche des Performativums (z.B.: „Ich behaupte hiermit“ oder „Ich
frage euch“ etc.) eine bestimmte Dialogsituation eröffnet oder bekräftigend fortführt. Kommt
es aber dazu, daß ein Sprecher mit einer Äußerung Stellung zu eigenen Äußerungen bezieht,
dann führt er schon einen Diskurs über seine Rede, und zwar ausdrücklich oder unausdrücklich
mit Adressaten als (möglichen) Diskurspartnern. Insofern hat die kommentierende Rede, in der
wir zu etwas schon Gesagtem Stellung nehmen, die Form einer zweifachen Dialogizität. Denn
sie stellt einen Begleitdiskurs dar: einen Diskurs über Äußerungen, die selbst schon eine
(einfach) dialogische Form haben.
Folgendes Schema mag die Aufstufung der dialogischen Struktur menschlicher Rede
veranschaulichen.]
Anlage 19
186
187
Böhler 2001 c, S. 26 a.
Böhler 2001 a, S. 33 in Anknüpfung an Audun Øfsti (1994): Abwandlungen. Essays zur Sprachphilosophie und
Wissenschaftstheorie. Würzburg, S. 139-147, 166-181.
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
„Doppelstruktur“ einer einfachen, logisch vollständigen Äußerung (Habermas),
durch die ein Sprecher anderen etwas (pG) zur Geltung bringt (pA).
Performativer Akt (pA)
(Einfache)
Dialogizität:
Einbettung des
pG durch pA
in Äußerung /
Rede (R)
(Doppelte)
Dialogizität der
Stellungnahme
zu einer R: Die
beschriebene
bzw.
kommentierte /
eingeholte Rede
hat die dialogische Form eines
Begleitdiskurses.
Handlungsweise
artikulieren und
Z.B.:
„Ich behaupte
und
sich an Andere
wenden, und zwar
euch [allen] gegenüber:
propositionaler Gehalt (pG) bzw. „Aussage“
den pG durch Geltungsansprüche einführen;
es ist wahr(-heitsfähig),
also jetzt prüf- und
diskutierbar,
dem Akt Inhalt
verleihen
daß H lebensgefährliche Risiken
für N.N. einschließt.“
„Doppelte Doppelstruktur“ der logisch vollständigen, sich einholenden
Rede/Sprache (Øfsti):
Sprecher nimmt mit logisch vollständiger Äußerung zu seiner Rede (also zu logisch vollständigen
Äußerungen) Stellung.
Wie? Indem er durch Behauptung mit Wahrheitsanspruch einen „Begleitdiskurs“ über seine Rede führt und
damit implizit auf mögliche Erwartungen antwortet:
„Ich behaupte euch [allen] gegenüber, es ist wahr, daß meine Rede ein Versprechen mit folgender
Verpflichtung / eine These mit folgender Begründung / eine Frage aufgrund folgender wahrer Annahmen …
etc. ist“ (Böhler).
63
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Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
So ist das dritte Paradigma der Philosophiegeschichte vollständig entfaltet, indem die
„betrachtende (theoretische bzw. analytische) Einstellung“ verlassen worden ist und statt
dessen die Besinnung „auf den jeweiligen Dialog und die Dialogpartnerrolle“188 durchgeführt
wird. Die zutage tretenden Bestimmungen der Sprache lassen sich dabei als Differenzierungen
der Voraussetzungen verstehen, die mit sinnvollen Äußerungen einhergehen. Um zu prüfen, ob
sie skeptischen Anfragen standhalten, können wir sie dem sinnkritischen Test [angemessener:
der reflexiv-sinnkritischen Prüfung im Dialog mit dem Skeptiker] unterziehen: Lassen sich
sinnvolle Argumente finden – also Argumente, die sich vom Skeptiker vorbringen lassen, ohne
daß er damit selbstwidersprüchlich die Vorbedingungen bestreitet, die er als Argumentierender
anerkennen muß –, die die vorgebrachten Thesen bestreiten? Dann müssen diese Thesen
verworfen werden. Zeigt sich dagegen, daß sich keine Argumente finden lassen, ja daß keine
sinnvoll gedacht werden können, die diesem Sinnkriterium standhalten, dann können die
Thesen als bestätigt gelten.189
[Als dieser Text Tilman Lückes in einer Böhlerschen Lehrveranstaltung des
Wintersemesters 2006 auf 2007 diskutiert wurde, stellte ein Teilnehmer die Frage, wie der
sinnkritische Test funktioniere. Daraus ergab sich folgende Erörterung:
Anlage 20
Was ist und wie funktioniert der sinnkritische Test?
Sinnkritik als Reflexion auf die Sinnbedingungen des Argumentierens im jeweiligen Dialog:
„Lassen sich sinnvolle Argumente geltend machen – also Argumente, die sich vom Skeptiker
vorbringen lassen, ohne daß er damit selbstwidersprüchlich die Vorbedingungen bestreitet, die er
als Argumentierender notwendigerweise vorausgesetzt hat, –die die vorgebrachte PrinzipienThese ‚x ist eine Sinnbedingung eines Beitrags zum/im argumentativen Diskurs’ in Zweifel
ziehen bzw. widerlegen?“
A)
Kritische Vorbemerkung
„Wie genau funktioniert der sinnkritische Test?“
Wird die Frage auf diese Weise gestellt, dann haben Sie als Fragende/r schon zwei heikle
Vorentscheidungen getroffen:
1. haben Sie sich für eine theoretische Einstellung entschieden, in der Sie selbst als Denkende/r,
als Argumentationsteilnehmer ersichtlich nicht vorkommen.
188
189
Böhler 2001 c, S. 27.
Ebd. Micha Werner zeigt beispielhaft, wie fruchtbar mit diesem Kriterium im Hinblick auf bestimmte Probleme
gearbeitet werden kann und welche Beschränkungen zu berücksichtigen sind. (Micha Werner 2001: „Who
counts“, in: Marcel Niquet u.a. (Hg.), Diskursethik. Grundlegungen und Anwendungen. Würzburg, S. 265-292.
64
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
2. haben Sie, weil Sie nach dem Funktionieren von etwas fragen, davon abgesehen, daß es
Subjekte sind, welche die sinnkritische Prüfung vornehmen müssen, und daß es sich dabei
um ein reflexives Verfahren handelt.
Beides, Subjekte und Besinnung der Subjekte, wird ausgeblendet, wenn man objektivierend nach
dem Funktionieren von etwas fragt, was z.B. bei einem Apparat angemessen ist.
Auch der Begriff ‚sinnkritischer Test‘ ist erläuterungsbedürftig, er kann einem objektivistischen
Methodenverständnis Vorschub leisten: als handele es sich um ein Verfahren, dessen Anwender
bei der Durchführung des Verfahrens außen vor bleiben könne. Hier aber geht es um eine strikt
reflexive Methode. Sie besteht in einer aktuellen Besinnung von Teilnehmern (Subjekten) eines
Streitgesprächs,
1. auf Sinnvoraussetzungen jedweder auf Gültigkeit zielenden, daher nur Argumente
zulassenden Untersuchung, also eines (argumentativen) Diskurses
2. darauf, ob die von einem Teilnehmer vorgebrachte, strittige Behauptung vereinbar ist mit
den erkannten Sinnvoraussetzungen eines argumentativen Diskurses.
B)
Wie lassen sich die Sinnvoraussetzungen des argumentativen Diskurses erkennen?
Die Sinnvoraussetzungen des argumentativen Diskurses müssen
1. zunächst (nach Art des hermeneutischen Zirkels aus unserem Vorverständnis vom
argumentativen Diskurs) rekonstruiert werden, sodann aber
2. im Dialog mit einem Skeptiker dem Versuch einer sinnvollen Bezweiflung unterzogen
werden.
Dazu wird ein konkreter Zweifel angemeldet, der sich im Unterschied zu einer globalen
Bezweiflung – wie z.B. ‚keine Rekonstruktion von Diskurspräsuppositionen kann
Letztgültiges erbringen’ – wirklich diskutieren und prüfen läßt: etwa der Zweifel an der
Allgemeingültigkeit eines der vier Geltungsansprüche oder eines der rekonstruierten
vorgängigen Dialogversprechen.
Erst dann kann
3. der eigentliche sinnkritische Erweis folgen, der in reflektierender Einstellung der
Zweifelnden als Teilnehmer an dem argumentativen Diskurs vorgenommen wird. An
dieser Stelle ist die aktuelle Besinnung der Teilnehmer fällig, die sich fragen:
„Bleiben wir glaubwürdige Diskurspartner, wenn wir an der Gültigkeit von X, einem
Ergebnis der Rekonstruktion, zweifeln? Oder widersprechen wir damit einer
Voraussetzung unserer Diskurspartnerrolle, die wir selbst durch unseren soeben
vorgebrachten Diskursbeitrag implizit als gültig und verbindlich in Anspruch genommen
haben?“190
C)
Wie haben wir uns demgemäß eine reflexive sinnkritische Prüfung zu denken?
Denken wir uns, daß sich Personen in einem Streitgespräch auf die von ihnen in Anspruch
genommene Rolle des Argumentationspartners besinnen, indem sie sich fragen:
Dazu: D. Böhler, „Glaubwürdigkeit des Diskurspartners.“ In: Th. Bausch, D. Böhler, Th. Rusche (Hg.), Wirtschaft
und Ethik. EWD Band 12, Münster (Lit) 2004, bes. S. 105-139.
190
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
„Bleibe ich ein glaubwürdiger Argumentationspartner, wenn ich die These T als Beitrag zum
argumentativen Dialog vertrete?“
Nicht also ein „Test“, der mich außen vor läßt, sondern eine aktuelle Dialogreflexion wird
angestellt: Eine Konfrontation der Sinnbedingungen bzw. Normen der Diskurspartnerrolle mit
dem Gehalt einer These, die ‚ich‘ jetzt als Argumentationspartner vertrete.]
Diese [sinnkritische Prüfung] kann auch Anwendung beispielsweise für diesen
Durchgang durch die Philosophiegeschichte finden – und dabei die Frage klären helfen,
welche Erkenntnisse der einzelnen Argumentationsweisen und Konzeptionen jeweils als
entscheidende (und zu bewahrende) Denkfortschritte gegenüber vorherigen Modellen
Gültigkeit beanspruchen können. So kann eine kritisch-logische Einschätzung dieser
paradigmatischen Entwicklungen erreicht werden, die mehr und anderes als ihre historische
Rekonstruktion191 zu leisten vermag. Analog lassen sich Fehlentwicklungen – sozusagen
Sackgassen im ‚Labyrinth der Ideen‘192 – aufdecken:
„Seit Augustin kommt ein philosophischer Individualismus auf, seit Kant ein
transzendentaler Solipsismus, der voraussetzt oder behauptet, einer könne für sich
allein (solus ipse) Sinn und Gültigkeit haben. Darin sehe ich das, erst dank KarlOtto Apels gemeinschafts- und diskursbezogener ‚Transformation der
Philosophie‘
überwundene,
próton
pseūdos
der
abendländischen
Bildungstradition, ihren elementaren Denkfehler. Er ist der hohe Preis, den die
abendländische Philosophie für ihre vielleicht größten Errungenschaften, die
Begründung des kritischen, Vorgegebenes distanzierenden Denkens und der
freien, selbständig urteilsfähigen Person, hat entrichten müssen.“193
Ob und inwieweit dieser Preis unvermeidlich ist, kann die dialogreflexive Sinnkritik
aufweisen, deren kritische Prüfung und Aneignung philosophischer Paradigmen man in
Dietrich Böhlers Seminarpraxis erlernen kann.
Literatur
Apel, Karl-Otto (1973): Transformation der Philosophie. Bd. I: Sprachanalytik, Semiotik,
Hermeneutik; Bd. II: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Frankfurt a. M.
Ders.; Böhler, Dietrich; Kadelbach, Gerd (Hg.) (1984): Funk-Kolleg Praktische Philosophie / Ethik:
Dialoge. 2 Bde. Frankfurt a. M.
Ders.; Böhler, Dietrich; Rebel, Karl-Heinz (Hg.) (1984): Funk-Kolleg Praktische Philosophie / Ethik:
Studientexte. 3 Bde. Weinheim.
Ders.; Burckhart, Holger (Hg.) (2001): Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und
Pädagogik. Würzburg (zit.: Prinzip Mitverantwortung).
Die Tatsache, daß hier und im zugrundeliegenden Seminarprogramm Dietrich Böhlers Paradigmen und
Philosophen grosso modo entsprechend der historischen Abfolge behandelt werden, hat dementsprechend primär
einen pädagogischen Grund – so läßt sich eine (natürlich sehr schematische) Systematisierung wichtiger
Strömungen der Philosophiegeschichte vermitteln, die spätere Einordnungen erleichtert. Dieser
Erkenntnisfortschritt wurde von den Teilnehmern des Seminars in einer Evaluierung am Ende des Semesters als
besonders wertvoll gewürdigt.
192
Vgl. Böhler 2001 c, S. 1.
193
Böhler 2001 b, S. 154.
191
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Böhler, Dietrich (1985): Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur
Kommunikationsreflexion. Frankfurt a. M.
Ders. (1998): Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik versus kulturalistische (Unternehmens)Strategik. Besteht eine Pflicht zur universalen Dialogverantwortung? In: Horst Steinmann,
Andreas Georg Scherer (Hg.): Zwischen Universalismus und Relativismus. Philosophische
Grundlagenprobleme des interkulturellen Managements. Frankfurt a. M., S. 126-178.
Ders. (1999): Gnosis. Existentialismus und Hermeneutik der Entmythologisierung. Interdisziplinäres
Seminar zu Hans Jonas [Seminarprogramm Institut für Philosophie der Freien Universität
Berlin]. Typoskript.
Ders. (2001 a): Warum moralisch sein? Die Verbindlichkeit der dialogbezogenen Selbst- und
Mitverantwortung. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 15-67.
Ders. (2001 b): Bildung zur dialogbezogenen Mitverantwortung. Zweckrationales und dialogethisches
‚Lernen des Lernens‘. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 147-176.
Ders. (2001 c): Leitfaden zum Proseminar 16015 ‚Sein, Selbst-Bewußtsein, Kommunikation.
Grundkurs klassische Texte und Probleme der Philosophiegeschichte.‘ Institut für Philosophie der
Freien Universität Berlin. Typoskript.
Ders.; Gronke, Horst (1994): Diskurs. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik.
Tübingen. Bd. II, Sp. 1256-1298.
Brune, Jens Peter (1995): Setzen ökonomische ‚Sachzwänge‘ der Anwendung moralischer Normen
legitime Grenzen? In: Ders., Dietrich Böhler, Werner Steden (Hg.): Moral und Sachzwang in der
Marktwirtschaft ( = Ethik und Wirtschaft im Dialog VIII). Münster, S. 1-114.
Gronke, Horst: (1999): Das Denken des Anderen. Führt die Selbstaufhebung von Husserls
Phänomenologie der Intersubjektivität zur transzendentalen Sprachpragmatik? Würzburg.
Ders. (2001): Was können wir im philosophischen Diskurs lernen? Elemente einer sokratischen
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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986): Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. In:
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M./Leipzig.
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Kuhlmann,
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(1985):
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Sprache. Berlin.
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Ders.: Sophistes. Nach der Übersetzung von F. Schleiermacher. In: Sämtliche Werke Bd. IV., S. 183244.
Ders.: Timaios. Nach der Übersetzung von F. Schleiermacher. In: Sämtliche Werke Bd. V., S. 141-213.
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Windelband, Wilhelm; Heimsoeth, Heinz (151957): Lehrbuch der Geschichte der Philosophie.
Tübingen.
67
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
III
Grundlagen: Diskurs als argumentativer Dialog – systematisch und
philosophiegeschichtlich erörtert.
3.1
Die drei philosophischen Paradigmen und die wiedergängerische Rhetorik.
Wir fragen nach den Sinnkriterien des philosophischen Diskurses. Im Blick auf diese Frage
können wir die Etappen der Philosophiegeschichte teleologisch, vom Zielpunkt her, darstellen
und kritisch prüfen. Als internes Entwicklungsziel nehmen wir eine zustimmungswürdige,
argumentativ konsensfähige Selbsteinholung der Philosophie an, der Philosophie als
Sachwalterin des einsehbar Allgemeinen, des Logos. Die Philosophie soll das einholen
können, was sie beim Philosophieren in Anspruch nehmen muß.
In einer solchen Selbsteinholung liegt die Selbstverantwortung der Philosophierenden.
Verantwortlich sind sie in erster Linie für die Klärung des Diskursphänomens, zu dem ihre
Denkpraxis gehört, und die Sorge für eine Übereinstimmung ihrer Thesen mit den
Grundlagen der kommunikativen Praxis des Diskurses.
Die Klärung betrifft das Diskursphänomen in seinen verschiedenen Erscheinungen: elementar
als Begleitphänomen aller Formen und Ausdrucksweisen menschlichen Lebens, kultiviert und
differenziert sowohl als Medium und Geltungsinstanz der gesellschaftlichen bzw. politischen
Kultur wie auch als Medium und Geltungsinstanz der Wissenschaften und der Philosophie
selbst.
Diese Klärung, hier nur im kursorischen Überblick zu leisten, ist zunächst eine
Rekonstruktionsaufgabe
und
dann
die
Sache
einer
selbstkritischen
Prüfung
der
Rekonstruktionsergebnisse, eine Geltungsreflexion. Letztere ist erforderlich, wenn die
Philosophie diejenigen Voraussetzungen begründen (und dadurch verantworten) soll, die sie
selbst in Anspruch nimmt, wofern sie sich – seit Sokrates, Platon und Aristoteles – als
Sachwalterin des Logos und damit als die erste Wissenschaft versteht, als die
Grundlegungswissenschaft. Kraft einer Reflexion in dem strittigen Diskurs, in dem sich ein
Philosoph mit seinen Thesen gerade befindet, auf die Sinnvoraussetzungen bzw.
Geltungsbedingungen jedes argumentativen Diskurses, müssen die Philosophierenden
erweisen können, daß sie mit dem argumentativen Diskurs ein kommunikatives und moralisch
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
bindendes Verhältnis mit allgemeingültigen Regeln und Grundnormen in Anspruch nehmen:
das Argumentieren überhaupt, welches immer schon eine Sache des Erkennens und des
gesollten Wollens ist, eine logische und moralische Verbindlichkeit.
Die logische Verbindlichkeit des Argumentierens hängt an seinem Ziel, Wahrheitsansprüche
einzulösen, indem auf konsistente Weise gute Gründe für eine These erarbeitet werden, so
daß sich ein einsehbar Allgemeines ergibt. Damit verwoben ist eine mögliche moralische
Verbindlichkeit für praktische Urteile und konkrete Normen: eine verallgemeinerbare
Gegenseitigkeit, so daß auch alle Betroffenen, sofern sie den Diskurs konsequent als
Argumentationspartner mitvollziehen, dem Urteil oder Normenvorschlag zustimmen würden.
Insofern es den Philosophen gelingt, die internen normativen Grundlagen des argumentativen
Diskurses als dialogischer, mithin logisch und moralisch verbindlicher Praxis zunächst
aufzudecken, nämlich zu rekonstruieren, und sie dann reflexiv zu erweisen, haben sie die
Basis dessen eingeholt, was wir „Philosophieren“ nennen. Sie haben dann erkannt und
demonstriert, worauf sich jeder, der sich und anderen etwas verständlich machen und uno actu
zur Geltung bringen will, bereits eingelassen hat: die Rolle eines Partners im argumentativen
Dialog, der auf das logisch Allgemeine und auf die verallgemeinerbare Gegenseitigkeit als
Ziel verpflichtet ist.
So ergibt sich das interne Entwicklungsziel des Diskursbegriffs durch Reflexion auf die
Diskurspraxis selbst. Es ist zuvörderst die Erkenntnis der konstitutiven Regeln und Normen
des Dialogs der Argumente, sodann deren Berücksichtigung und Befolgung in der je
besonderen Philosophie, Theorie oder auch Lebenskunst. Im Blick auf dieses Telos können
wir die unterschiedlichen Beiträge zur Entfaltung dieses Grundbegriffs allen Denkens
zwanglos interpretieren und kritisch beurteilen: als einen Fortschritt oder eine Regression,
oder auch als beides in verschiedener Hinsicht. Darin sehe ich den kriteriologischen Kern
einer philosophischen, reflexiv argumentierenden Begriffsgeschichte und einer Theorie des
Diskurses, die auch die praktischen Diskurse einschließt, mithin die moralische
Urteilsbildung.
Eine solche entwicklungslogisch angelegte, kritische Begriffsgeschichte ist ein Spiegel des
Geistes. Historisch zunächst ein Geistesspiegel Europas, kann sie logisch und ethisch ein
Geistesspiegel aller Denkenden sein. Warum? Der argumentative Diskurs ist für alle
möglichen Thesen und Fragen offen, über die sich mit Gründen streiten läßt. Die Idee dieses
friedlichen Streits, die Auseinandersetzung, in der allein sinnvolle Argumente zählen, hat im
Athen des fünften vorchristlichen Jahrhunderts nicht bloß Schule gemacht, sondern eine neue
Kultur des Miteinander-Denkens und Miteinander-Streitens ermöglicht. Deren Urbild ist der
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Sokratische Dialog als Institution des Gründe-Gebens, des λόγον διδόναι (logon didonai).
Denn Sokrates sucht nach dem geltungslogisch Allgemeinen, nach Wahrheit und richtiger
Definition, und führt diese Suche in Form eines dem Gerichtsverfahren entlehnten έλεγχος
(elenchos) durch. Daraus entwickelte sich in Europa das Paradigma kritischer Vernunft, in
dem die Gerichtshofmetapher – am pointiertesten in Kants „Kritik der reinen Vernunft“194 –
eine ausgezeichnete Rolle spielt. Dank seiner Kritik eines Scheinwissens, das unfähig ist, die
naiv behaupteten Interessen und Meinungen als Geltungsansprüche einzulösen, und dank
seiner Aufnahme juridischer Verfahrenselemente weist die Idee des sokratischen Dialogs über
die inkommunikativen Voraussetzungen sowohl des antiken Seinsparadigmas als auch des
neuzeitlichen Subjekt- bzw. Bewußtseinsparadigmas hinaus auf ein kommunikatives
Verständnis von „Kritik“ und „Vernunft“, von „Geltung“ aus Gründen und „Gewißheit“
durch Rechtfertigung. Die deutlichste klassische Richtungsanzeige gibt Kant, zwar im
Bezugsrahmen des Subjektparadigmas, aber an dessen Grenze, weil durchdrungen von zwei
Kampfbegriffen der Aufklärung, denen der freien Öffentlichkeit und der öffentlichen Kritik.
So führt Kant den Begriff der kritischen Vernunft folgendermaßen ein:
Anlage 21
„Die Vernunft muß sich in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen, und
kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch tun, ohne sich selbst zu
schaden und einen ihr nachteiligen Verdacht auf sich zu ziehen. Da ist nun nichts so
wichtig, in Ansehung des Nutzens, nichts so heilig, das sich dieser prüfenden und
musternden Durchsuchung, die kein Ansehen der Person kennt, entziehen dürfte.
Auf dieser Freiheit beruht sogar die Existenz der Vernunft, die kein diktatorisches
Ansehen hat, sondern deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier
Bürger ist, deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein veto, ohne
Zurückhalten muß äußern können.“195
Bis auf die Gegenwart nur unterschwellig wirksam oder gar, wie bei Descartes, solipsistisch
ausgeklammert, blieben freilich der egalitär kommunikative Verständigungsaspekt und die
dialogische Ethik des Diskurses, obzwar beide nicht erst von Kant in Anspruch genommen
werden, sondern bereits in Platons sokratischen Dialogen angelegt sind – schon und noch.
Das „Noch“ verweist auf die ontologische und ideentheoretische Verdeckung, ja
Überformung der freien Verständigung unter Gleichberechtigten und ihrer gemeinsamen
moralischen
Basis
als
Dialogpartner:
Der
Seinstheologe
Platon
verdrängte
den
argumentativen Dialog zunehmend durch eine kontemplativ spekulative Wesensschau, die
theoria. Ineins damit überformte er den, in Dialogen wie „Apologie“, „Kriton“, „Gorgias“
und „Thrasymachos“ spürbaren, Ansatz einer sokratischen Moralbegründung, nämlich eine
194
195
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (zit.: KrV), A XI f; B 697, 767 f, 779f.
Ebd., B 766f.
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
dialogische Besinnung auf normative Grundlagen des Denkens. Denn er zwängte den
Sokratischen Richtungsstoß zu einem Denken aus dem Dialog in den undialogischen Rahmen
einer Seinsschau – einer geistigen Schau des Ganzen und seines Urgrundes. Diesen bestimmte
er als das ewig in sich ruhende Gute und Eine. Den Dialogansatz des Sokrates, dessen
konsequente Durch- und reflexive Weiterführung ein Denken jenseits einer uneinholbaren
Metaphysik erlaubt hätte, ersetzte Platon durch eine ungeschichtlich denkende, spekulative
Kosmostheologie. Aus seiner Deutung des göttlichen Kosmos leitete er dann die höchsten
Werte und deren normative Gehalte ab – naturalistischer Fehlschluß im Rahmen eines
spekulativen Intellektualismus?
Platon stellt eine erste Weggabelung unter mehreren dar, die uns vor die Alternativfrage
stellen: Wie hätte sich das europäische Denken – hier: nach Sokrates – entwickeln können?
Und wie würde es sich im Sinne einer Entwicklungslogik entwickelt haben, wenn Platon und
auch sein eigenwilliger Schüler Aristoteles schon reflexiv dialogisch gedacht hätten? Das ist
keine müßige rückwärtsgewandte Perspektive. Kraft einer Entwicklungslogik kann die Frage
fruchtbare
Gedankenexperimente
eröffnen,
die
uns
über
unsere
eigenen
Traditionsabhängigkeiten aufklären und uns emanzipatorische Anstöße geben mögen. Eine
aufregende Sache. Um sie zu betreiben, versuche ich in dieser Einleitung, die Darstellung
stets mit der Auseinandersetzung, die Hermeneutik mit der Kritik zu verbinden. So nämlich,
daß wir Zeitgenossen unser Denken wirkungsgeschichtlich in dem der Tradition spiegeln und
das der Tradition kritisch mit den Geltungsansprüchen des argumentativen Diskurses
konfrontieren.
Jene Alternativfrage weist uns einerseits auf das Abenteuer der faktischen europäischen
Ideengeschichte hin; andererseits eröffnet sie die Perspektive einer Entwicklungslogik,
welche die unverzichtbaren Elemente einer Selbstaufklärung des Denkens als Stufen seiner
Selbsterkenntnis aufeinander aufbauen würde. Die Alternativfrage provoziert dazu, derart mit
und gegen die tatsächliche Philosophiegeschichte zu denken, daß sich die faktische Genese
der Diskursidee mit ihrer normativen Rekonstruktion verbindet: die Frage danach, wie es in
der Geistesgeschichte wirklich vor sich gegangen ist, mit der Frage, wie sich die Diskursidee
konsequenterweise entwickelt hätte.
71
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
3.2
Die Glaubwürdigkeit des Diskurspartners: Sinnkriterium für Diskursbeiträge und
Kern der moralischen Identität.
In Platons „Kriton“ gibt Sokrates, von seinen Schülern und Freunden zur Flucht aus der
Todeszelle gedrängt, eine Antwort, die ihn als glaubwürdigen Mann des kritischen Diskurses
berühmt gemacht und sein Selbstverständnis auf eine eingängige Maxime gebracht hat. Man
kann sie den Logos-Grundsatz nennen, formuliert sie doch ein Kriterium sowohl für die
Diskurspraxis, das λογίζεσθαι (logízesthai), als auch für den lebenspraktischen Umgang mit
Diskursergebnissen. Der Satz heißt: „Denn nicht erst jetzt, sondern immer schon habe ich (I)
es so gehalten, daß ich (II) nichts anderem in mir (I) gehorche als dem lógos (Rede,
Argument), der sich mir (II) in der Argumentation als der beste gezeigt hat."196
3.2.1 Der Logosgrundsatz oder:
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit.
Sokrates’
Vorwegnahme
und
Verfehlung
der
Präzise verständlich ist diese Aussage erst, wenn man klärt, was das „Ich“ des Sprechers
jeweils bedeutet. Die erste Person kommt hier offenbar in zwei verschiedenen Hinsichten ins
Spiel: einerseits als das biographische Ich (I) des Menschen mit Namen Sokrates, der sein
individuelles Leben im Athen des späten 5. Jahrhunderts vor Christus lebt, bestimmte Werte
vertritt und seine eigenen Meinungen hat, andererseits als das Stellung nehmende,
argumentationsbezogene Ich (II) desselben Sokrates, der sich freilich ausdrücklich auf das
Argumentieren im Dialog eingelassen hat, mithin nur nach dem besten Argument sucht.
In der Tat, geltungslogisch und diskurspragmatisch betrachtet, nimmt Platons Text bzw. die
Selbstaussage des Sokrates für die Form des sokratischen Elenchos zwei Rollen in Anspruch:
die alltägliche Rolle dessen, der etwas meint, behauptet und will (Ich I), und die DiskursRolle dessen, der allein sinnvolle Argumente, einsichtige Gründe, gelten lassen will (Ich II).
Das Bild, das uns Platon von Sokrates vermittelt, wodurch er im Abendland und in Europa
zum Vorbild geworden ist, entsteht aus der Harmonie dieser beiden Rollen. Im „Gorgias“
spielt Sokrates auf deren praktische Einheit in seiner Person an, was sein Gesprächspartner,
der Selbstbehaupter Kallikles, als unnatürlich empfindet, als philosophische Verrücktheit.
Sokrates sagt dort: „Es wäre besser für mich, daß meine Lyra oder ein Chor, den ich leitete,
ganz falsch klänge, und daß noch so viele Menschen mit mir uneins wären, als daß ich, der
196
Platon, Kriton, 46 b.
72
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
ich Einer bin, nicht im Einklang mit mir selbst sein und mir [scil: , der ich der Philosophie
obliege,] widersprechen sollte.“197
Es kommt hinzu, daß Sokrates diese Harmonie oder Einheit der Rollen auch im Verhältnis
des argumentativen Diskurses zur Lebenspraxis gewahrt sehen will, als Einheit von
Argumentieren und Handeln, was ja unsere „Kriton“-Stelle deutlich macht. Zu Recht?
Machen wir die Probe, fragen wir uns: Können wir jemanden als glaubwürdigen
Diskursteilnehmer (N.N. II) erachten und achten, der sich im Leben (N.N. I) nicht bemüht,
dem Diskursergebnis, das er als den besten Logos erkennt (N.N. II), praktisch gerecht zu
werden und es in die Tat umzusetzen (N.N. I)?
In der Tat steht und fällt die Glaubwürdigkeit eines Diskursteilnehmers damit, daß er beide
Rollen, die Lebens- und Meinungs-Rolle (Ich I) und die Diskurspartner-Rolle (Ich II) in
Einklang bringt, indem er in der Praxis (Ich I) sich an das zu halten bemüht, was er im
Diskurs (Ich II) als richtig erkennt.198 Diese zweite Voraussetzung bzw. implizite Einsicht des
Sokrates mag man die sokratische Theorie-Praxis-Vermittlung nennen, postuliert sie doch
eine Kohärenz von ‚Theorie’ und Praxis, besser: von Diskurs und praktischem Handeln. Da
Sokrates das Streben nach Übereinstimmung von Diskurs und Lebenspraxis geradezu
verkörpert, konnte er, wie mir scheint, durch die Jahrtausende als moralisches Vorbild
anerkannt werden. Was ist es, das Sokrates, mit Karl Jaspers gesprochen, mit Recht zu einem
„maßgebenden Menschen“ gemacht hat,199 wenn nicht die Permanenz dieses Strebens?
Für den Diskursbegriff wie für die Diskursethik kommt alles, aber auch alles, darauf an, die
ursprünglich sokratische Idee der stets anzustrebenden Einheit von Diskurs und Lebenspraxis
einzuholen, sie durchzuhalten und fruchtbar zu machen. Anderenfalls entleert sich der
Diskursbegriff,
verliert
seinen
Verpflichtungsgehalt
und
damit
seine
ethische
Orientierungskraft. Die Diskursethik löst sich dann in eine „Diskurstheorie“ (Habermas) auf,
die zu keiner Verbindlichkeit mehr fähig ist, so daß ihr Diskursprinzip ‚D’ nur mehr den
bescheidenen Stellenwert eines diskursinternen Geltungskriteriums für Diskursbeiträge bzw.
für Normenvorschläge von Diskursteilnehmern haben kann. Das ist die Habermassche
Konsequenz.200 Man muß sie ziehen, wenn man nicht sokratisch auf sich selbst als
Diskurspartner reflektiert, sondern in bloß theoretischer Einstellung über Diskurse nachdenkt.
197
198
199
200
Platon, Gorgias, 482 b/c.
Dazu meine, an Hannah Arendts Sokratesinterpretation angelehnte, diskurspragmatische Rollenanalyse: D.
Böhler, Warum moralisch sein? (2001), bes. S. 42-51.
K. Jaspers, Die großen Philosophen. Erster Band, München/Zürich 1988, S. 105-127.
J. Habermas, Moralbewußts. u. kommunik. Handeln (1983), S. 103ff.
73
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Ethische Substanz und orientierungskräftige Verbindlichkeit gewinnt der Diskursbegriff allein
durch eine Erschließung des sokratischen Erbes, die zunächst die Diskursvoraussetzungen
rekonstruiert, um dann strikt dialogreflexiv zu fragen: was würde mit der eigenen
Diskurspartnerrolle – mit ‚meiner’ Glaubwürdigkeit als Partner im argumentativen Dialog –
passieren, wenn ‚ich’ die Gültigkeit und Verbindlichkeit einer solchen Voraussetzung in
Zweifel ziehe? Der Begriff der Diskursglaubwürdigkeit und die Frage, was es bedeutet, sie zu
gewinnen und zu bewahren, ist der (zugleich geltungslogische und moralische) Angelpunkt
der „Diskurspragmatik“. So nenne ich die Selbstbegründung der Philosophie, weil die
Philosophie in erster Linie ein Diskurs ist, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Das
Philosophieren spielt sich zuallererst als Argumentieren und als Rechenschaftslegung über
eine jeweils geleistete Argumentation ab und schließlich als Besinnung auf die
unverzichtbaren Grundlagen bzw. notwendigen Bedingungen des Argumentierens überhaupt.
Dieser faktisch oder natürlicherweise zuletzt getane Diskursschritt hat den ersten Rang, weil
er die Voraussetzungen ans Licht bringt, von denen alles Philosophieren getragen wird: die
logischen Regeln des Argumentierens, dessen dialog-ethische Normen.
Diese aufzudecken, zu rekonstruieren, und alsdann die einzelnen Resultate der
Rekonstruktion, und zwar jedes für sich („X ist eine Sinnbedingung des Argumentierens“), in
einem reflexiven Dialog als nicht sinnvoll bezweifelbar zu erweisen – darin besteht das
Geschäft der Diskurspragmatik. Sie ist eine zweistufig verfahrende Selbstbegründung der
Philosophie:
Eine
Selbsteinholung
ihre
und
tragenden
eine
Bedingungen
kritische,
durch
aufdeckende
den
Zweifel
bzw.
an
explizierende
den
eigenen
Rekonstruktionsannahmen hindurchgehende, Selbstverantwortung. Sie versucht zunächst, die
eigenen Sinn- und Geltungsvoraussetzungen durch deren, allerdings fehlbare, Rekonstruktion
einzuholen. Sodann verantwortet sie diesen Einholungsversuch in Form eines reflexiven
Dialogs mit dem Skeptiker, der an der Gültigkeit eines jeweiligen Rekonstrukts zweifelt: im
Dialog der Argumente wird getestet, ob der Zweifel daran sich halten läßt oder aber, hält man
ihn aufrecht, den Diskurs zerstört und die Glaubwürdigkeit des Zweiflers als unseres
Argumentationspartners zunichte macht.
Im Lichte der Diskurspragmatik ergibt sich für uns nun zunächst eine Rekonstruktionsfrage:
Welche normativ gehaltvollen Diskursvoraussetzungen sind es, die Platon in der berühmten
Sokratischen Selbstaussage zu Recht als unbedingt gültig und moralisch verbindlich
beansprucht? Interpretieren wir diese Aussage im stärksten Sinne, den sie haben kann:
74
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Nehmen wir sie so als fehle ihr nichts und als sei sie unmißverständlich – im Sinne von
Gadamers „Vorgriff der Vollkommenheit“201.
Was tun wir, wenn wir dermaßen zuvorkommend mit einem Geschriebenen oder auch einem
Gesagten umgehen? Wir befolgen dann keine pure Höflichkeitskonvention, sondern ziehen
die interpretationsmethodische Konsequenz aus einer formalen, und zwar normativ
geladenen, „Voraussetzung, die alles Verstehen leitet. Sie besagt, daß nur das verständlich ist,
was wirklich eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt.“ Den Blick auf die Auslegung
geschichtlich überlieferter Texte richtend, erläutert Gadamer: “So machen wir denn diese
Voraussetzung der Vollkommenheit immer, wenn wir einen Text lesen, und erst wenn diese
Voraussetzung sich als unzureichend erweist, d.h. der Text nicht verständlich wird, zweifeln
wir an der Überlieferung und suchen zu erraten, wie sie zu heilen ist.“202
Eines textkritischen Erratens, der philologischen Kunst der Konjektur, bedarf es nicht, wenn
wir den Sokratischen Logos-Satz als Maxime für Diskursteilnehmer würdigen wollen. Nötig
ist aber, daß wir über zwei logische Schwächen hinwegsehen. Denn erstens scheint Sokrates
seine persönliche Einschätzung, seine subjektive Evidenz, zum Maßstab für „den besten
Logos“ zu machen, wenn er ihn mit jenem Logos gleichsetzt, „der sich mir bei der
Untersuchung als der beste zeigt“. Denn damit fällt er hinter die Gültigkeitsansprüche der
Wahrheit und Richtigkeit zurück, weil diese eben auf Intersubjektivität statt auf Subjektivität
zielen. Eine zweite geltungslogische Schwäche ist die fehlende logische Unterscheidung: Das
faktische Ergebnis einer Diskursveranstaltung, welches fehlerhaft sein kann, weil diese von
allerlei Zufälligkeiten und Dürftigkeiten, etwa von partikularen Interessen, Vorurteilen und
Stimmungen, auch von Zeitknappheit etc. beeinträchtigt sein kann, wird in dem Logos-Satz
nicht abgehoben von dem Ergebnis eines rein argumentativen Dialogs unter kompetenten
Argumentationspartnern, die alle relevanten Argumente zur Situation hinlänglich
berücksichtigt hätten. Was hier fehlt, ist die regulative Idee eines rein argumentativen
Diskurses in einer idealen Argumentationsgemeinschaft.
Das können wir allein sagen, wenn und weil wir ausdrücklich die Rolle eines
Argumentationspartners
einnehmen,
der
sich
auf
deren
logische
und
ethische
Voraussetzungen besinnt. Wir stellen das als Diskurspragmatiker fest, indem wir die Sinnund Geltungsbedingungen der Diskurspartnerrolle zu rekonstruieren suchen. Und dabei setzen
wir die Begriffs- und Problemerörterung seit der Ideenlehre Platons fort. Nachplatonisch
unterscheiden wir zwischen zufälligen empirischen Gegebenheiten (Erscheinungen) und
201
202
H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41979
(zit.: Wahrheit und Methode), S. 277 f.
Op. cit., S. 278.
75
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
logisch notwendigen Kriterien bzw. Normen (Ideen). Nachkantisch erkennen wir, daß
Geltungskriterien nicht das Wesen der Wirklichkeit sind – wohl aber Maßstäbe und
Zielbestimmungen, die für unsere Orientierung in der Welt unverzichtbar, höchst fruchtbar
und kritisch vorausweisend sind: Sie haben eine „regulative“ Funktion, transzendieren die
Faktizitäten unseres Tuns und Lebens, also auch unsere Diskussionsveranstaltungen, unsere
Wissenschaftseinrichtungen
und
sämtlichen
Diskurs-Institutionen
bzw.
realen
Argumentationsgemeinschaften. Aber als regulative Ideen tragen sie die Ansprüche auf
Geltung, dank derer menschliche Äußerungen überhaupt nur ernstgenommen und begründet,
diskutiert und ggfs. (als gültig) anerkannt werden können.203
Kurz und gut; nehmen wir einen idealen Rollentausch mit Sokrates vor,204 indem wir ihm die
Rolle
eines
konsequent
verfahrenden
(pragmatisch
und
semantisch
konsistenten)
Argumentationspartners zuschreiben – wie sie dem ‚vervollkommneten’ Logosgrundsatz
entspräche. Das heißt, wir nehmen die Position eines Sokrates ein, der sich nicht allein auf
einen faktischen Diskurs (mit all dessen Einschränkungen und Fehlerquellen) bezöge, sondern
in
diesem
kritisch
auf
den
kontrafaktischen
Diskurs
einer
idealen
Argumentationsgemeinschaft. Unser Sokrates würde sich demzufolge an einem Logossatz
ohne jene beiden geltungslogischen Defizite orientieren – etwa an der Maxime: ‚Ich will es
immer so halten, daß ich nichts anderem gehorche, als dem Argument, das sich in einem
faktischen
Diskurs
als
das
beste
zeigt
und
das
auch
in
einer
idealen
Argumentationsgemeinschaft (in der alle relevanten Informationen und alle sinnvollen
Argumente im Blick auf alle Beteiligten/Betroffenen berücksichtigt würden) Zustimmung
fände.’
Haben wir den Logos-Satz in diesem Sinne vervollkommnet, dann gibt er schon auf den
ersten Blick zwei zuverlässige Kriterien für die Verbindlichkeit einer
Anlage 23
Aufforderung an die Hand: Die für das Sich-Verständigen und für das Etwas-Geltendmachen
konstitutiven Bedingungen verpflichten ‚mich’ dazu, im Dialog der Argumente so
mitzuarbeiten, daß
(1) ‚ich’ letztlich keiner anderen Autorität als der des besten Arguments folge
und daß
203
204
Auf den Begriff der regulativen Ideen kommen wir zurück. S. u. ??????
Vgl. G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 305 f. und 358 f.
Ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, hrsg. v. H. Joas, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 408 ff.
K.-O. Apel, „Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen
des moralischen Bewußtseins“, in: Apel u.a. (Hg.), Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 1, S. 61-63. Th.
Bausch: Ungleichheit und Gerechtigkeit, Berlin: Duncker & Humblot 1993, S. 186 ff. und 204 f., vgl. 61 f.
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
(2) ‚ich’ die Diskurs-Gemeinschaft aller sinnvoll Argumentierenden als die entscheidende
Instanz für die Prüfung und Anerkennung von vorgeschlagenen Normen bzw. von
behaupteten Sätzen beachte, damit ‚wir’ den Horizont unserer faktischen Gemeinschaft
selbstkritisch überschreiten, um möglichst alle Argumente zur Sache sowie alle
involvierten Ansprüche Betroffener gleichermaßen aufzusuchen und zu prüfen.
Dermaßen expliziert, bringt der Sokratische Dialog Selbstverpflichtungen ins Spiel, die nicht
irgendwie von den Diskursteilnehmern gesetzt werden, sondern unhintergehbar sind. Genauer
gesagt: Sie sind durch keinen sinnvollen Diskursbeitrag mehr hintergehbar, weil die
Prüfbarkeit eines Diskursbeitrags, also seine Diskutierbarkeit, voraussetzt, daß der
Diskursteilnehmer nur solche Behauptungen macht bzw. Zweifel vorbringt, die den
vorgängigen Verpflichtungen der Diskurspartnerrolle entsprechen.
Doch
hier
werden
Sie,
meine
Leser,
mit
Recht
nachfragen,
warum
diese
Selbstverpflichtungen eigentlich logisch gültig und prinzipiell verbindlich, insofern
unhintergehbar also, sein sollen. Sie sind es, weil sie an jener Kommunikationsrolle haften,
die man schon übernommen hat, indem man (sich und anderen gegenüber) etwas (einen
Gedanken, ein Gefühl, ein Erlebnis oder eine andere Art von Sinn) verständlich macht und
indem man diesen Sinngehalt durch eine, als wahr unterstellte bzw. behauptete, Äußerung
(sich und anderen gegenüber) zur Geltung bringt. Es ist dies die Rolle eines
Diskursteilnehmers, der als solcher die Pflichten eines Partners hat. Inwiefern?
Nun, diese Rolle wird getragen von generellen dialogbezogenen Verpflichtungen, die wir alle
im Diskurs der Argumente haben. Sie sind allgemeingültig, weil sie zu den Sinnbedingungen
jeder wahrheitsbezogenen Überlegung und argumentativen Klärung gehören, mit der wir zu
unseren Annahmen wie zu denen Dritter Stellung nehmen können. Es sind diskurstragende
normative Voraussetzungen. Ohne deren diskurspraktische Anerkennung, ohne ihre
Berücksichtigung in dem, was ‚ich’ mir und anderen sage, würde mein Argument sinnlos; es
wäre eine unverständliche Argumentationshandlung, so daß andere Diskursteilnehmer nicht
wissen könnten, woran sie mit meinem Diskursbeitrag und mit mir als Argumentationspartner
sind.
Warum? Die Argumentations- und Dialogerwartungen anderer Argumentationsteilnehmer
beruhen genau darauf: sie, die ‚mir’ nicht allein zuhören sondern sich mit ‚mir’ auf die Suche
nach Wahrheit und Richtigkeit gemacht haben, erwarten kraft dieser Diskursrolle von ‚mir’,
meine Rede werde die konstitutiven Diskursbedingungen erfüllen, so daß sie mit ‚mir’ als
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
ihrem Diskurspartner kooperieren können. Aus diesem dialogethischen Wechselverhältnis
zieht der sokratische Dialog seine Geltungs- und Orientierungskraft. Dermaßen expliziert,
würde Sokrates allein eine solche Rede als wahr gelten lassen und nur eine solche
Handlungsaufforderung bzw. Norm als wohlbegründet und daher verbindlich anerkennen, die
in rein kommunikativen Diskursen rational verteidigt werden kann, so daß sie die begründete
Zustimmung aller verdient.205 Und das beste praktische Argument, sagten wir, ist dasjenige,
welches
sich
sowohl
durch
Verständigungsgegenseitigkeit
als
auch
durch
Geltungsgegenseitigkeit ausweisen kann, so daß es der kommunikativ erweiterten Urteilsstufe
6 gerecht wird.
Lassen Sie uns jetzt diese Explikation des Logosgrundsatzes mit den Argumenten
vergleichen, die der Platonische Sokrates im Fortgang des „Kriton“ tatsächlich vorbringt, und
berücksichtigen wir zudem Ansprüche, die aus der Sicht der abwesenden Betroffenen, zumal
seiner Frau und Kinder, geltend gemacht werden können! Fragen wir uns: Wie würden wir,
wenn wir konsequent und umsichtig die Rolle von Argumentationspartnern einnehmen, an
Sokrates’ Stelle argumentieren?
Lassen Sie uns also den idealen Rollentausch vornehmen, ohne den ein Vorgriff der
Vollkommenheit zur Würdigung einer philosophischen Aussage nicht gelingen kann. Es
ergibt sich dabei freilich – darauf werden wir gestoßen – die kritische Frage: Argumentiert
Sokrates eher im Sinne seiner Vorlieben und Meinungen als ‚Ich I’ oder strikt als Partner in
einem rein argumentativen Dialog, der nach verallgemeinerbarer Gegenseitigkeit sucht,
mithin als Ich II?
Für seinen Entschluß, die Hinrichtung auf sich zu nehmen, statt zu entfliehen, bringt Sokrates
vor allem sechs Gründe vor.
(I) Der erste Grund bezieht sich noch nicht konkret auf die Handlungssituation, sondern ist
eine allgemeine moralische Maxime. Sie erhebt den Anspruch, den besten Logos über das
Gut-Leben (ευ ζην, eu zen) darzulegen, daß dieses nämlich „mit dem ehrenhaft und gerecht
leben“ identisch sei (48 b 6-8). Diesen Logos gelte es zu berücksichtigen: nicht die Meinung
„der Vielen, sondern das, was der Einsichtige und Sachverständige hinsichtlich des Gerechten
und Ungerechten „sagen wird, und das, was die Wahrheit selber“ sagt (48a 5-7).
205
Vgl. D. Böhler, Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und Praxis, in:
Funkkolleg Studientexte (1984), II, S. 313-355, hier 339. Ders., HIER EINEN
NEUEREN TEXT D.B.s ZUM LOGOS-SATZ ANFÜHREN!
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Das ist eine radikale kriteriologische Differenz zwischen den faktischen Meinungen und der
Wahrheit. Ihre immerhin berechtigte Absicht können wir einholen, indem wir uns
klarmachen, daß wir als Argumentierende selbst schon in Differenz zu Meinungssubjekten,
uns und Anderen, getreten sind, indem wir Wahrheit beanspruchen – also das beste
Argument, welches die Argumentationswilligen und Einsichtigen überzeugen würde. Insofern
zeigt es sich, daß Sokrates, geltungslogisch analysiert, eben das voraussetzt und ins Spiel
bringt, was die Diskurspragmatik als transzendentale Differenzen der möglichen Geltung
erläutert: die Differenz zwischen faktischen Vertretern einer Meinung (Ich I) und strikten
Argumentationspartnern (Ich als Diskurspartner), wie auch die damit verwobene Differenz
zwischen einer realen Meinungs- bzw. Kommunikationsgemeinschaft und einer reinen oder
idealen Argumentationsgemeinschaft.
Allerdings denkt Sokrates nicht eigentlich das, was er hier in Anspruch nimmt; und noch
weniger denkt er es strikt dialog- und argumentationsgemäß. Vielmehr geht er auf ein
Expertenmodell zurück, was die Philosophen und viele andere bis heute immer wieder tun,
und allzu gerne. Damit übergeht er nicht nur den dialogischen Aspekt einer Kommunikation
unter gleichberechtigten Argumentationsteilnehmern, sondern auch eine Sinnbedingung der
Rede von „Argumentation“ und „Argumentationsgemeinschaft“, daß diese nämlich den Plural
von Argumentationsteilnehmern und Argumenten voraussetzen, mithin auch deren
Verschiedenheit – also die „Pluralität“ (im Sinne Hannah Arendts).206 Er nähert sich der
Suggestion eines metaphysischen Singulars, als könne die Wahrheit selber sprechen, so wie
ein Sachverständiger spricht. Es ist ein methodischer oder transzendentaler Solipsismus, der
hier hervorlugt: ein uneinholbarer, daher unhaltbarer Standpunkt – pure Metaphysik, die
sinnlos ist, weil im Denken nicht rechtfertigungsfähig. Denn alles Denken ist ein Erheben von
Geltungsansprüchen gegenüber möglichen oder realen Anderen…
Ganz unschuldig und Plausibilität heischend kommt die metaphysische Suggestion der
einsamen Wahrheit daher. Sokrates führt die Instanz des Sachverständigen bzw. des
Einsichtigen am Beispiel des Arztes oder des Turnmeisters ein, um dann die Analogie
plausibel zu machen, der Leib verhalte sich zur Seele, wie sich die Gesundheit, die man beim
Arzt oder Turnmeister zwecks guten Lebens pflegen oder wiederherstellen lasse, zu der
Gerechtigkeit verhalte. Ebenso entsprächen Krankheit und Ungerechtigkeit einander (47 b 206
H. Arendt, Vita actica oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960 und München (Piper) o. J., (zit: Vita activa),
S. 14 f., 164 ff., und 214 ff.
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
48 a 1). Walter Bröcker faßt das bündig zusammen: Wenn diese Analogie angenommen wird,
was Kriton, ohne auch nur nachzufragen, tut, dann „ist die Frage beantwortet: Warum soll ich
das Gerechte tun und das Ungerechte meiden? Weil ich andernfalls mich selbst, nämlich
meine Seele beschädigen würde. Und da sie edler ist als der Leib, ist der seelische Schaden
auch schlimmer. Da sich kein Mensch vorsätzlich Schaden zufügen wird, kommt es nur
darauf an, ihn zu der Einsicht zu bringen, was gerecht ist und was ungerecht, und daß er mit
dem einen sich selbst nützt und mit dem anderen sich selbst schadet. Wenn er das wirklich
eingesehen hat, wird er gar nicht anders können als gerecht handeln. Aus der vorausgesetzten
Analogie: Leib verhält sich zu Gesundheit wie Seele zu Gerechtigkeit, folgen logisch die
berühmten Sätze […], daß Tugend Wissen ist und daß niemand freiwillig das Schlechte
tut.“207
Dieser bekannte intellektualistische, besser: theoria-metaphysische und, wie sich zeigen wird,
kosmos-mimetische Fehlschluß dient hier dazu, die von Sokrates geltend gemachte
moralische Maxime ins Sakrosankte zu erheben, mithin dialogische Argumentationen
darüber, ob ihr unbedingte, alle Situationen einschließende, Gültigkeit zukomme oder nicht,
als gegenstandslos erscheinen zu lassen. Die berühmte Maxime lautet: Unrechthandeln ist auf
keine Weise weder gut noch schön bzw. ehrenhaft, sodaß auch der, dem Unrecht geschehen
ist, nicht wieder Unrecht tun darf (49 a 5 - b 6).
(II) Sokrates führt den Logosgrundsatz also durch die Maxime weiter, man solle auf ein
erlittenes Unrecht nicht mit einem anderen Unrecht reagieren. Unklar ist jedoch, welchen
Geltungssinn diese Maxime beanspruchen kann: Soll sie ein Prinzip sein, welches die
Berücksichtigung von besonderen Notsituationen und moralischen Ansprüchen Dritter noch
zuläßt, also einem verantwortungsethischen Diskurs und möglichen moralischen Strategien
noch Raum gibt? Oder ist sie als eine unbedingte Norm gemeint, die unter allen Umständen
gilt; also auch dann, wenn man – in einer Notlage – aus berechtigter Fürsorge gegen andere,
etwa Frau und Kinder, eine (im Prinzip auch von einem selbst lösbar ist, kann) anerkannte
Rechtsnorm verletzen würde? Ein solches verantwortungsethisches Problem, das allein durch
eine moralische Strategie- bzw. Konterstrategiebildung (im Sinne unserer Urteilsstufe 7) kann
Sokrates aber nicht stellen und angehen. Warum nicht?
(III) Er legt sich darauf fest, alle Rechtsnormen, die er als Polisbürger gleichsam durch den
Sozialvertrag anerkannt hat (Urteilsstufe 5), uneingeschränkt einzuhalten, was immer sie auch
207
W. Bröcker, Platos Gespräche, Frankfurt a. M. 21967, S. 32.
80
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
befehlen mögen208. Er pflichtet nämlich den Gesetzen der Polis bei, als diese ihm vorhalten,
„daß er durch die Tat uns gegenüber sein Einverständnis erklärt hat, zu tun, was immer [sic!]
wir befehlen.“209
Bedeutet das nicht einen Rückfall auf bedingungslosen Rechtsgehorsam im Sinne von „law
and order“ (auf der konventionellen Urteilsstufe 4) und damit die Preisgabe des
metakonventionellen Urteilsniveaus? Denn dieses schließt die prinzipienbezogene Prüfung
der von einem selbst anerkannten Konventionen und der Implikationen bzw. Folgen
freiwilliger Übereinkünfte ein. Das aber bedeutet: Auch die Verbindlichkeit eines einmal
gegebenen Einverständnisses kann, ja soll bei gravierenden Zweifeln eingeklammert werden
– allgemein zugunsten der Suche nach dem besten Logos und moralisch im Lichte des
Prinzips der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Denn auch ein im guten Glauben
geschlossener Vertrag bzw. anerkannter Verfassungsvertrag kann moralisch bedenkliche, ja
illegitime Verbindlichkeiten einschließen.
(IV) Außerdem fällt Sokrates hinter seinen Logosgrundsatz zurück, weil er seine faktische
Vaterlandsliebe, die ihn als Athener prägt (Ich I), über alles zu stellen scheint, so daß sich aus
der Verbindung von meinem Vaterland (Urteilsstufe 3) und unseren Gesetzen (Stufe 4) für ihn
de facto eine letzte Geltungsinstanz ergibt.210 Doch als Diskurspartner (Ich II) hat er die
Suche nach dem besten Argument und damit die unbegrenzte Argumentationsgemeinschaft,
welche dieses anerkennen würde, als letzte Gültigkeitsinstanz vorausgesetzt.
Auch ein Vergleich des Arguments (III) mit den biblischen Traditionen fällt übrigens für
Sokrates bzw. für den Autor Platon ungünstig aus. Erheben sie doch tendenziell die
Nächstenliebe und die Achtung vor dem menschlichen Leben als dem Ebenbild Gottes zum
Kriterium dafür, inwieweit man dem Vaterland und seinen Gesetzen Gehorsam schulde.
(V) Kaum von der Hand zu weisen ist hingegen die angestellte Erwägung, daß eine Flucht des
Sokrates seine Freunde in die Notlage bringen könnte, ihrerseits aus Athen fliehen zu
müssen.211 Doch nehmen die Freunde dieses Risiko offenbar im Sinne einer
verantwortungsethischen Abwägung (Stufe 7) auf sich, so daß die verallgemeinerbare
Gegenseitigkeit hier erreichbar wäre. Dennoch stellte sich u.U. für Sokrates – ebenfalls auf
Stufe 7 – die Frage, ob man den Freunden diese Gefahr zumuten dürfe. Diese Frage läßt sich
wohl allein in einem realen argumentativen Diskurs mit den Betroffenen klären. Doch wird
208
209
210
211
Platon, Kriton, 51 e 4f. Diese Festlegung wird auch nicht dem Wortlaut gerecht, mit dem er den
Vertragsgedanken bzw. die Anerkennung der Gesetze eingeführt hat: 50 a 1 ist von den Gerechtsamen
(δίκαια, dikaia) die Rede die von den „Gesetzen“ versprochen worden seien.
Schleiermacher übersetzt: „daß er uns [den Gesetzen] durch die Tat angelobt habe“.
Ebd., 51 a 2 - c 5.
Ebd., 53 a 8 - b 3.
81
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
der moralisch Empfindsame – und Sokrates verkörpert diesen zweifellos – seine Freunde
kaum dem Offenbarungseid eines solchen aussetzen mögen. Wie leicht könnte dieser u.U.
existentiell peinliche Diskurs in eine Nötigung umschlagen. Da überlegt man lieber allein für
seine Freunde.
(VI) Ambivalent ist das Argument, er selbst hätte in Theben oder Megara (vielleicht) kein
gutes Leben, das die Flucht lohnen würde, zu erwarten. Warum? Zwei Gründe werden
angegeben. Einer im „Kriton“-Dialog, der andere schon in der Verteidigungsrede vor Gericht.
Im „Kriton“ weist Sokrates darauf hin, daß man ihn auch außerhalb Athens als
Rechtsverächter ansehen könnte.212 Doch kommt dieser Grund über die vorkonventionelle
Egoperspektive ‚meines’ Glücks (Stufe 1) und die konventionelle Perspektive der
Anerkennung durch je meine partikulare Bezugsgruppe (Stufe 3) eigentlich hinaus? In
Widerspruch dazu steht außerdem, daß Sokrates solche faktischen Bezugsgruppen zuvor noch
selbst, und zwar kraft seines substantialistischen Wahrheitskriteriums, als „die Vielen“
distanziert hatte (47). Hier aber beruft er sich darauf, als handele es sich um eine
Gültigkeitsinstanz im Sinne des besten Logos und der Wahrheit…
Das Argument gewinnt auch dadurch nicht unbedingt an Überzeugungskraft und Gültigkeit,
daß
es
abschließend
mit
dem
Hinweis
auf
den
Glaubwürdigkeitsverlust
des
Gerechtigkeitslobredners Sokrates verknüpft wird, der sich selbst der Herrschaft der Gesetze
entzogen hätte213 – und daher wohl bloß in die Gegend Kritons, nach Thessalien, gehen
könne, weil „dort ja Unordnung und Ungebundenheit am größten“ seien.214 Auf der reinen
Geltungs-
und
Prinzipienebene
wäre
das
Glaubwürdigkeitsargument
allein
dann
durchschlagend, wenn es nicht bloß auf die faktische Glaubwürdigkeit von Sokrates I in der
realen Gesellschaft von Megara und Theben Bezug nähme (Stufe 3), sondern auf den
Diskurspartner (Sokrates II) zielte, der sich letztlich auf die ideale Gemeinschaft derer
bezöge, die nach dem besten Logos suchen.
Davon könnte aber nur die Rede sein, wenn für Sokrates’ Entscheidung gültige Argumente,
verallgemeinerbare Gründe im Sinne der Urteilsstufen 6 und 7 sprächen. Dann hätte er den
besten Logos auf seiner Seite. Zweifellos ist das auf der idealisierenden Ebene eines reinen
Geltungsdiskurses (im Sinne der Prinzipienstufe 6) nicht der Fall.
Verantwortungsethische Überlegung
212
213
214
Ebd., 53 b 3 - c 8.
Ebd., 53 c 5ff.
Ebd., 53 d 1ff.
82
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Aber könnten wir Sokrates nicht mit einer verantwortungsethischen Argumentation zu Hilfe
kommen, indem wir für ihn eine moralische Strategiebildung versuchen? Die läßt sich an eine
dritte, in der „Apologie“ vorgebrachte Begründung anschließen: „Das größte Gut für den
Menschen ist, täglich sich über die Tugend zu unterreden“215, „zu philosophieren […] und
sich selbst sowie andere zu prüfen“216, um so Rechenschaft über die Lebensführung zu
geben.217 Wenn aber schon die Athener, Sokrates’ Mitbürger, nicht imstande gewesen seien,
dessen philosophisch kritische Lebensweise zu ertragen, so würden andere sie ebensowenig
akzeptieren. Also müßte Sokrates in seinem Alter „immer unhergetrieben eine Stadt mit der
anderen vertauschen“.218
Eine solche Existenz wäre dem Philosophen und alten Mann nicht zumutbar. Gewiß. (Wir
berücksichtigen jetzt freilich –wie es auch Sokrates selbst tut - ’ eigene Argumentation – bloß
das Individuum Sokrates in seiner Rolle als Philosophen, nicht Sokrates als Vater und als
Ehemann, der für die Ansprüche seiner Familie mitverantwortlich ist.)
Nun hängt die Wirksamkeit der philosophisch-kritischen Lebensform, realistisch betrachtet,
offenbar von der durchschnittlichen ethischen Orientierung der Polisbürger ab. Und das ist
nun einmal eine ebenso schlichte wie eifersüchtige (und auch kleinliche) Fixierung auf
Vorbilder (Stufe 3), also hier auf den Philosophen Sokrates, und auf die ‚bei uns’ etablierten
Gesetze (Stufe 4). Letztere sind zwar unzureichend und bedürfen dringend einer strukturellen
Verbesserung mit der Perspektive auf Menschenrechte, Menschenwürde, auf Prozeßrecht mit
prozeduraler Revidierbarkeit erstinstanzlicher Urteile usw. Doch sind sie der Rechtlosigkeit
vorzuziehen.
Was die Vorbildorientierung anbelangt, so könnte Sokrates ein politisch-ethisches Vorbild
dann und nur dann werden, wenn er sich nach athenischem Recht und Gesetz verhält – also
die Hinrichtung auf sich nimmt, nachdem er die Möglichkeit der Verbannung verworfen
hatte.219 Daß aber Sokrates als Vorbild anerkannt werde, ist die Voraussetzung für die
moralische Langzeitstrategie „Aufhebung der stark gerechtigkeitsdefizitären Gesetze Athens
in eine menschenrechtsfundierte und rechtsstaatlich revisionsfähige Rechtsordnung“. Also
lohnt es das Lebensopfer des alten Mannes Sokrates, sofern sowohl Sokrates selbst - vor der
Hinrichtung öffentlich und in einem Vermächtnis als auch seine Freunde später - die Ziele
einer solchen Verbesserung der Rechtsordnung und des Polis-Geistes nicht allein entfalten,
sondern öffentlich resp. auch politisch strategisch daraufhin wirken. In diesem Sinne könnten
215
216
217
218
219
Platon, Apologie, 38 a 2.
Ebd., 28 e.
Ebd., 39 c 7.
Ebd., 37 c 7 - d 6.
Ebd., 37 c 4 - 38 a 8.
83
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
wir fast den folgenden Passus der „Apologie“ auslegen: „Ich behaupte also, ihr Männer, die
ihr mich hinrichtet, es wird sogleich nach meinem Tode eine weit schwerere Strafe über euch
kommen als die, mit welcher ihr mich getötet habt. Denn jetzt habt ihr dies getan in der
Meinung, nun entledigt zu sein von der Rechenschaft über euer Leben. Es wird aber ganz
entgegengesetzt für euch ablaufen, wie ich behaupte. Mehr werden sein, die euch zur
Untersuchung ziehen, welche ich nur bisher zurückgehalten, ihr aber gar nicht bemerkt habt.
Und um desto beschwerlicher werden sie euch werden, je jünger sie sind.“220
Dann käme Sokrates’ Selbstopfer einer moralischen Situationsstrategie gleich, von der gölte,
daß sie erfolgsfähig und moralisch verträglich einbezogen würde in eine moralische
Langzeitstrategie zur Verbesserung der Rechts- und Kommunikationsverhältnisse Athens.
So ließe sich auf Stufe 7 und im Sinne der moralstrategischen Ebene B der Diskurs- und
Verantwortungsethik
argumentieren.
Verantwortlichkeiten für Sokrates’
Allerdings
nur
dann,
wenn
auch
die
Frau und Kinder angemessen berücksichtigt werden
könnten: Kann ihnen die Selbstopferung des Ehemannes und Vaters zugemutet werden? Die
Fürsorgepflicht des Sokrates gegenüber seiner Familie (Stufe 3) erscheint nämlich von neuem
als Frage der moralischen Zumutbarkeit auf der verantwortungsethischen Prinzipienstufe 7; ist
also alles andere als leicht zu nehmen.
Als Leser von Platons Texten, der „Apologie“, des „Kriton“ oder auch des „Phaidon“ müssen
wir freilich ernüchtert feststellen: es gibt wenig Anhaltspunkte für eine politisch-ethische
Moralstrategie, wie wir sie eben skizziert haben. Als eine – wie auch immer stark explikative
– Interpretation zumal des „Kriton“ wäre unsere verantwortungsethische Skizze wohl zu
schwach belegt. Das gilt es zumal dann festzuhalten, wenn wir Sokrates’ Aussagen und
Nichtaussagen über seine Familienverantwortung berücksichtigen. Stellt der platonische
Sokrates sich diesem Zumutbarkeitsproblem? Oder sind wir drauf und dran ihn
verantwortungsethisch hoch zu interpretieren?
Von seiner Frau, der Verantwortung ihr gegenüber, und von seiner Familie – Frau, Kinder
und Vater zusammen als Lebens- und Verantwortungsgemeinschaft – redet Sokrates
überhaupt
nicht.
Die
zu
berücksichtigenden
Ansprüche,
Tugenden
und
Gerechtigkeitsbeziehungen werden von ‚seinem Vaterland’ aufgesogen. Zu einer Abwägung
‚Familie versus Vaterland’, die nach Maßgabe der Stufen 6 und 7 vorzunehmen wäre, kommt
es nicht einmal. Allein von den Kindern spricht er. Warum will er sie nicht auf eine Flucht
mitnehmen, und sei es nach Thessalien? Die Antwort: um sie nicht zu Fremdlingen zu
220
Ebd., 39 c 3 - d 2.
84
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
machen, und weil die Freunde in Athen (nach seiner Hinrichtung) sich ihrer annehmen
werden, so daß sie, in Athen, besser aufgezogen und ausgebildet werden dürften...221
Ob die Kinder und die Ehefrau eigene, andere Ansprüche haben können und daher die Flucht
auf sich nehmen und diese vorziehen würden, fragt Sokrates nicht. Über eine
Verständigungsgegenseitigkeit ist der, tendenziell methodisch solipsistisch argumentierende,
jedenfalls monologisierende Sokrates, den uns der spätere Kosmostheoretiker Platon hier
präsentiert, gänzlich erhaben. Er weiß im vorhinein, welches die Bedürfnisse, Interessen und
Werte der Betroffenen sind. Darüber bedarf es keiner Kommunikation mit ihnen. Die hat
allein zwischen ihm und den „Gesetzen“ statt. Denen gibt er denn auch das letzte Wort, damit
sie versichern können, was dem Logosgrundsatz zuwiderläuft und die Inhumanität von
Platons „Politeia“ und „Nomoi“ einläutet: „Achte weder die Kinder, noch das Leben, noch
irgend etwas anderes höher als das Recht.“222 Der Law-and-Order-Standpunkt siegt über die
Argumentationsgemeinschaft,
der
Realathener
(Sokrates
I)
überwältigt
den
Argumentationspartner, Sokrates II. Kein guter Ausgang, sondern eine konventionalistische
Regression.
Daß Lawrence Kohlbergs Würdigung des „Kriton“ weitaus günstiger ausfällt – „hier steht der
Gesellschaftsvertrag der Stufe 5 im Mittelpunkt“223 – fordert zur Diskussion heraus. Man
berücksichtige zunächst Kohlbergs Zitatauswahl aus dem „Kriton“: Auszüge 50 a bis 52 e,
doch unter Auslassung der rechtspositivistischen Absolutheitsformel „zu tun, was immer wir
[die Gesetze] befehlen“. Eben dieser, von Kohlberg unberücksichtigt gelassene, totale
Gesetzesgehorsam ist unvereinbar mit dem metakonventionellen Gedankenexperiment eines
Gesellschaftsvertrags. Denn ein solches klammert die Geltung der faktisch gegebenen
Gesetze und Verfahren ein, weil es deren Legitimität prüfen soll. Sokrates hingegen führt kein
solches Gedankenexperiment durch, sondern schließt von dem Faktum seiner bisherigen
rechtsgehorsamen Bürgerexistenz in Athen auf die Sollgeltung bzw. Legitimität der
athenischen
Gesetze
und
Verfahren.
Das
bedeutet
die
Vermeidung
einer
Legitimationsprüfung, ja ihre Ersetzung durch einen faktischen bzw. naturalistischen
Fehlschluß: Sokrates macht nichts geltend als eine ‚normative Kraft des Faktischen’ –
gewissermaßen eine Art Gewohnheitsrecht der Institutionen gegen die Rechtsperson. Das ist
Rechtspositivismus, bestärkt durch einen Institutionalismus, der die angestammten
221
222
223
Ebd., 54 a - b 1.
Ebd., 54 b 2 - 4.
L. Kohlberg, Education for Justice. A modern statement of the Platonic view, in: N.F. Sizer & T.R. Sizer
(Hg.), Moral education. Five lectures, Cambridge 1970, S. 57-83. Dazu D. Garz, Kohlberg (1996), S. 119f,
vgl. 116ff und 60f.
85
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Rechtsinstitutionen, sofern die Rechtsperson sich ihrem Geltungs- und Sanktionsbereich nicht
entzogen und durch diese Unterlassung de facto deren Geltung akzeptiert habe, ins
Sakrosankte erhebt.
Dem steht der kritische, rechtsprüfende bzw. rechtskonstitutive Impetus der Idee des
Sozialvertrags diametral entgegen. Dessen Orientierungsfunktion kann Kohlberg zwar als
„legalistische Orientierung“ beschreiben; eine solche hat jedoch – eben das unterscheidet die
„postkonventionelle“ Urteilsstufe 5 von der konventionellen Law-and-Order-Stufe 4 – das
gelungene Legitimationsexperiment, besser: einen von allen Beteiligten argumentativ
geführten praktischen Willensbildungsdiskurs, zur geltungsstiftenden Voraussetzung.
Anderenfalls
könnte
Kohlberg
den
Sozialvertragsgedanken
nicht
zu
Recht
als
postkonventionelles (logisch: metakonventionelles prinzipien- und gültigkeitsbezogenes)
Urteilsniveau auszeichnen. Schon gar nicht könnte er annehmen, daß bereits auf dieser
Urteilsstufe individuelle Rechte als vorpositive, rechtstragende Menschenrechte gefordert
werden können. Eben das hat er getan – nicht zuletzt, indem er die US-amerikanische
„Declaration of Independence“ als „Dokument der Stufe fünf“ würdigte.224
Dazu war Kohlberg, auch problemgeschichtlich gesehen, durchaus berechtigt, ist doch der
Sozialvertragsgedanke ein integraler Bestandteil des „Naturrechts“ bzw. Vernunftrechts, der
den Nutzenstandpunkt eines Kollektivs, der Nation als Bürgerschaft, mehr oder weniger
verbindet mit dem universalen Rechtsstandpunkt der „frei geborenen“ und (qua
Gottesebenbildlichkeit) mit der Würde des Anspruchs auf „unveräußerliche Rechte“
ausgestatteten Menschen. Und es ist dieser rechtsmoralische Anspruch der Menschenwürde,
der aus Samuel Pufendorfs „De jure naturae et gentium“ Eingang in die US-amerikanische
Unabhängigkeitsbewegung gefunden zu haben scheint.225
Von hier aus können wir zum Hauptargument des Kriton-Dialogs zurückkehren, der
Vorhaltung, des Vertragsbruchs, den die ‚Gesetze’ Sokrates machen - und damit die
Diskussion
mit
Frau
Kinne
fortsetzen.
Es
fragt
sich
hier
nämlich,
ob
das
Sozialvertragsargument Platons, so wie es im ‚Kriton’ vorgebracht wird, einen
224
225
L. Kohlberg, The quest for justice in 200 years of American history and in contemporary American
education, in: Contemporary Education, 48. Jg. (1976), S. 5-16, hier S. 11.
Hans Welzel hat gezeigt, daß dignitas humana, von Samuel Pufendorf zum „naturrechtlichen
Zentralbegriff“ erhoben worden, durch den „Vater der amerikanischen Demokratie“, Pfarrer John Wise – „I
shall principally take Baron Pufendorf for my chief guide“ – dem Geist der US-amerikanischen
Unabhängigkeitsbewegung eingepflanzt worden ist: H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit,
Göttingen 1962, S. 140ff.
86
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
naturalistischen Fehlschluß darstellt. Was ist ein naturalistischer Fehlschluß im
differenzierbaren Sinne?
Es handelt sich um Schluß von einer bloßen (sei es einer natürlichen, sei es einer sozialeninstitutionellen oder einer handlungsmäßigen) Tatsache und deren Beschreibung: „Sein“ auf
eine moralisch gültige, verbindliche Pflicht: „Sollen“.
Im „Kriton“ läßt Platon ‚die Gesetze’ der Polis schließen:
Du
hast
den
Sozialvertrag
durch
dein
faktisches
Verhalten
geschlossen
(->
situationsbezogener Diskurs in Athen) d. h. uns als deine geltenden Gesetze anerkannt,
also
ist es deine moralische Pflicht, unseren normativen Implikationen in allem zu folgen.
Prämissen:
1) Fallibilität situationsbezogener Diskurse gibt es nicht / ist nicht zu berücksichtigen
[Verstoß gegen vorgängiges Dialogversprechen b5) ]
2) Das bloße Faktum einer Anerkennung verschafft dessen Gegenstand unbedingte
moralische Gültigkeit im Sinne von Verbindlichkeit.
D. h. Die Anerkennungswürdigkeit des faktisch Anerkannten müsse nicht geprüft werden.
Dieser Begriff und Maßstab entfällt. So suggeriert es, wenngleich in kritischer Absicht, die
Spruchweisheit „Mitgegangen, mitgefangen, (zu Recht?!) mitgehangen.“ Diese Annahme
verstößt freilich gegen normative Sinnvoraussetzungen einer Argumentation, insbesondere
gegen zwei Geltungsansprüche und Diskursversprechen. Es sind dies die Geltungsansprüche
der Legitimität aus Gründen (a4) sowie der Wahrheit (a3) und die vorgängigen
Dialogversprechen,
- das Universum der sinnvollen Argumente bzw. der sinnvoll argumentierbaren
Lebensansprüche als letzte Sinn- und Gültigkeitsinstanz, (selbst- und ergebniskritisch) zu
berücksichtigen (b2)
- mitverantwortlich zu sein für den Diskurs (als Möglichkeit der Verantwortung, jetzt und in
Zukunft (b4) ]
Abschließend können wir unseren philosophischen Diskurs zum „Kriton“, dem es nicht um
eine historisch hermeneutische Würdigung der Auffassungen des Platonischen Sokrates,
sondern um deren Beurteilung als Argumente im Diskursuniversum zu tun ist, in die Form
87
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 12. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
folgender Tabelle bringen. Horizontal stellt sie Kriterien zusammen, welche Teilnehmer eines
argumentativen Diskurses (also auch Platons Sokrates) geltend machen können. In der
Vertikalen listet sie Instanzen auf, die wir als Diskurspartner berücksichtigen müßten: die
Betroffenen als Anspruchssubjekte im weitesten Sinne – von Sokrates über die Institution
„Polis“ bis zur Metainstitution aller geschichtlichen Institutionen, dem philosophischen
Diskurs
der
Argumente.
88
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 9. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Mögliche Beurteilung von Sokrates’ Argumenten I bis IV, Kriton 48 c - 54 e
Kriterien,
Bezugspunkte
Betroffene als moralisch Anspruchsberechtigte und andere moralische Instanzen:
Sokrates (S.)
Person
(Ich I)
Anspruch auf
Wahrheit,
Gültigkeit
qua
Verständigungsund Geltungsgegenseitigkeit
Gerechtigkeit
Frau
Kinder
Freunde
Polis
Philos. Diskurs (alle sinnvollen
Argumente, auch Ansprüche der
Nachwelt, zu berücksichtigen)
Unberücksichtigt:
Situationsanalyse fehlt,
keine Verständigung
Unzureichend:
Kritikfähige
Situationsanalyse, keine
Verständigung (auch nicht
advokatorisch)
Unzureichend:
Kritikfähige
Situationsanalyse, keine
Verständigung
Ja, in der
Verteidigung
seiner selbst vor
Gericht
[Argument V]
Keine Situationsanalyse,
keine Verständigung, daher
keine Berücksichtigung von
Gerechtigkeits-ansprüchen
Daher bezweifelbare
Berücksichtigung von
Gerechtigkeits-ansprüchen
Keine Situationsanalyse,
keine Verständigung,
daher bezweifelbare
Berücksichtigung von
Gerechtigkeitsansprüchen
Argument II
Argument I
Antizipation von
Stufe (5) mit
Regression auf
Stufe (4)
Ein moral. Gehalt des LogosGrundsatzes, aber nicht
metakonventionell, sondern
konventionell (regressiv) gehandhabt
Diskurspartner
(Ich II)
[Argument V]
Bedeutet die Flucht den
Verlust der Diskursglaubwürdigkeit?
- Reale vs. ideale Diskursgemeinschaft (6)
- [Märtyrertum als
moral. Strategie (7) →
Wahrung von
Rechtsloyalität u. –
sicherheit (4 u. 5)?]
Argument I
Ein moral. Gehalt des
Logos-Grundsatzes (6),
aber gesinnungsethisch
verabsolutiert, mithin
eher als Stufe 4-Norm
denn als autonom
anzuwendendes,
metakonventionelles
Moralkriterium angesetzt
Siehe Spalte Sokrates
Argument III
faktizistischer
Fehlschluß von
Sokrates’
Bürgerverhalten
(3) auf
Legitimität der
Gesetze (4)
89
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand 9. Juni 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Kriterien,
Bezugspunkte
Leben
Betroffene als moralisch Anspruchsberechtigte und andere moralische Instanzen:
Sokrates (I + II)
Frau
Kinder
Freunde
Polis
Philos. Diskurs (alle sinnvollen
Argumente, auch Ansprüche der
Nachwelt, zu berücksichtigen)
Argument V
Argument VI
Argument VI
Argument IV
Sokrates scheint sich in
der Egoperspektive Stufe
(1) auf persönliches
Glück zu berufen und auf
die faktische Akzeptanz
durch eine Gruppe (Stufe
3)
S. delegiert seine
Fürsorgeverantwortung
undialogisch und ohne das
moralische Prinzip der
Zumutbarkeit zu klären
In Übereinstimmung mit
seiner lebensweltlichen
Rolle (3) übt Sokrates
Fürsorgeverantwortung für
seine Kinder, aber
Ausblendung der
Fürsorgeobjekte als
Diskurspartner
Asymmetrische
Fürsorgeverantwortung
(Ausblendung der
Fürsorgeobjekte als
Diskurspartner,
solipsistisch verkürzende
Antizipation von (7))
Unbe-rücksichtigt
bleibt und muß
die Frage bleiben,
ob ein Staat das
Recht auf
Todesstrafe
beanspruchen
darf, da die Idee
der Menschenwürde fehlt
Es fehlt die Frage: Ist ein Sozialvertrag
überhaupt legitim, der einem Staat die
Todesstrafe zuspricht (Prinzip der
Menschenwürde als Rechtskonstituens)
bei Ausblendung von
Verantwortungspflichten des
Familienoberhaupts (3);
aber in „Apologie“ mit
verantwortungs-ethischer
Perspektive:
Wirkungsmöglichkeit für
kritische Philosophie
wahren (Stufe 7)!
Menschen
würde
__________
__________
__________
__________
_______
Menschenwürdegrundsatz unvereinbar
mit Todesstrafe
→ Legitimation der Flucht
90
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
3.2.2 Der Sokratische Elenchos und die Diskurs-Tugend. Wissen und Wollen der
Dialogverpflichtungen bei (möglichem) Nichtwissen der Sachen.
Wie enttäuschend Platons Argumente am Schluß des Kritondialogs und auch dessen
monologischer Charakter für uns als Diskurspartner auch sind, wie tief sie auch unter das
Urteilsniveau
des
Logosgrundsatzes,
geschweige
des
der
verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit, zurückfallen, so bahnbrechend und im Kern allgemeingültig ist die
Logosmaxime selbst und der Kontext, in dem sie entdeckt wird, nämlich Sokrates’ Suche
nach einer dialogförmigen Prüfung von Geltungsansprüchen, dem Elenchos. Das sind zwei im
Diskursuniversum unverlierbare, für die Argumentationsgemeinschaft unverzichtbare
sokratische Errungenschaften: Sie gehören zum eisernen Bestand der Diskurspartnerrolle.
Jede Person kann sie sich als Ich II aneignen, wie sehr sie auch die geschichtlichen
Kontextbedingungen, Konventionen und partikularen Ansichten eines Ich I – hier die des
antiken Atheners Sokrates bzw. seines Schülers Platon – überholen und kritisch distanzieren
mögen.
Das Verfahren und der Begriff des élenchos bzw. der έλεγξις sind oft weich und können teils
moralische, teils juridische Nuancen haben. Beim frühen Platon mündet der Elenchos in eine
Kritik des vermeintlichen Wissens, in ein Wissen des Nicht-Wissens. Dieses negative Wissen
besagt jedenfalls, daß die naiv behaupteten Meinungen und deren naiver Anspruch, sie
präsentierten hinreichendes Sachwissen, dann nicht mehr Bestand haben, wenn sich ihre
Vertreter auf das dialegesthai als logízesthai einlassen, auf die strenge Suche nach dem
zureichenden
Argument.
Die
naiven,
vor-argumentativen
und
vor-dialogischen
Wissensansprüche können nicht mehr bestehen, wenn man heraustritt aus der Arena der
alltäglichen Selbstbehauptung und eintritt in den dialogisch-logischen Raum des Erhebens
und Prüfens der eigenen Ansprüche als Geltungsansprüche; d.h. als dialogischer Angebote,
welche mit Gründen zu versehen sind und anhand von Gründen geprüft werden müssen –
gemeinsam im Argumentieren. Was bedeutet es, wenn man sich auf jene Suche begibt? Man
läßt die unphilosophische Praxis des puren Fürwahrhaltens seiner jeweiligen Meinung und
des Durchsetzenwollens seiner Orientierungen bzw. normativen Vorstellungen hinter sich,
distanziert sich insofern ein ganzes Stück von sich selbst und eröffnet die philosophierende
Praxis von Argumentationspartnern in einer Gemeinschaft strikten Argumentierens. Das ist
der kritische Eröffnungszug des Philosophierens als Diskurs: Durch die Distanzierung der
Alltagsnaivität und der bloßen Selbstbehauptung setzt man sein bisheriges, vermeintliches
Wissen skeptisch in Klammern, man betrachtet es als ein Nicht-Wissen und sucht nunmehr
91
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
nach begründbarem Wissen, das sich nicht bloß auf ein Meinen und Wollen, sondern auf den
einsehbaren Logos soll stützen können.
Legen wir den sokratischen Ansatz in dieser Weise aus, dann lassen sich auch die Ironie des
Sokrates, ja zum Teil sogar Platons rabulistisches Dreinschlagen,226 als strategische
Diskursmittel
würdigen
–
eine
harte
Schule,
die
es
mit
der
bornierten
Selbstbehauptungspraxis des alltäglichen Etwas-Meinens und Etwas-Wollens zu tun hat und
dieser eine Erziehung sowohl zur Autonomie als auch zum Miteinanderargumentieren
entgegen setzt. Sicher bleibt, wie Gottfried Martin betont, auch die Ironie des Sokrates zum
Teil, wie so vieles an ihm, rätselhaft. Doch dürfte sie des öfteren zur Autonomie provoziert
haben, als wolle er bzw. der junge Platon zu verstehen geben: ‚Nein, ich gebe dir keine
positive Antwort, die du als fertige Münze einstreichen könntest; denke gefälligst selbst. Eher
verstelle ich mich oder ziehe dich belustigt auf, als daß ich dir eine fertige Antwort serviere –
lieber erscheine ich euch allen als ein Zitterrochen, der anderen gern elektrische Schläge
versetzt.227 Will ich euch doch aus dem bloßen Etwas Meinen und Nachreden von
Sprichworten herausschlagen, auf daß ihr ernsthaft zu denken euch bemüht.‘ Offenbar
verfährt der kritische, teils ironische, teils strikt aporetische Sokrates nach der Maxime: Ohne
schmerzhafte Einsicht in das Nichtwissen des alltäglichen Durchsetzenwollens von
Meinungen, Praktiken bzw. Normvorstellungen ist der Weg zur Erkenntnis des Wahren und
Richtigen im vorhinein verstellt.
Anlage 24
Zwar steht die sokratische Negativität nicht nur am Anfang von Dialogen, sondern macht bei
dem frühen Platon auch den Beschluß: hier münden die Dialoge in eine Aporie, die
Erkenntnis einer Ausweglosigkeit228 oder in die Einsicht, daß das Gesagte nicht mit der
Lebensweise übereinstimmt.229 Doch erschließt diese praktische Einsicht eben jene ‚positive‘
Orientierung, die Sokrates im „Kriton“ als seinen Grundsatz formuliert: die Orientierung an
der Vereinbarkeit von Verhalten und Sagen, von Handlungsweise und Logos – eben des
diskursiv geprüften Logos. Denn als zuhöchst erstrebenswert zeichnet Sokrates die
Verträglichkeit von Lebenspraxis und diskursiver Einsicht aus. Selbst Hegels emphatische
Kritik der Sokratischen Negativität muß daher zugestehen, daß sich in der Gestalt des
226
227
228
229
Dazu: J. Hirschberger, Die Phronesis in der Lehre Platons vor dem „Staate“, Leipzig 1932 (Philologus
Suppl. 25,1), S. 90. Vgl. auch K. Bormann, „Platon: Die Idee“, in: J. Speck (Hg.), Grundprobleme der
großen Philosophen. Philosophie des Altertums und des Mittelalters, Göttingen 1978, S. 47 f.
Menon 80 a. Zur Ironie: G. Martin, Sokrates in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei
Hamburg 1967, S. 127 ff.
Zur Aporie: Menon 80a-86c; Charmides 169c-d; Theaitetos 149e. Dazu B. Waldenfels, Das sokratische
Fragen. Aporie, Elenchos, Anamnesis, Meisenheim a. Glan, 1961.
Vgl. G. Picht, Wahrheit, Vernunft, Verantwortung. Philosophische Studien, Stuttgart 1969 (zit.: Wahrheit
(1969)), bes. S. 91 ff, vgl. S. 87-107.
92
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Sokrates das Prinzip der Subjektivität mit dem des Logos verbindet – genaugenommen mit
dem Prinzip eines in gegenseitiger Achtung zu führenden Dialogs.230 Eben daraus ergibt sich
implizit eine positive moralische Orientierung: die zwiefältige Tugend der dialogischen
Praxis, die der Diskurspartner als Selbstzweck bzw. Wert an sich hochachtet, und des
Strebens nach Übereinstimmung von Leben und Logos, woraus Glaubwürdigkeit und
Lebendigkeit erwachsen. Jedenfalls in dem Maße, in welchem der Logos als Resultat eines
argumentativen Dialogprozesses verstanden, mithin auf kommunikative Weise nach
Erkenntnis gesucht wird, ergibt sich eine neue Tugend der Tugenden: Glaubwürdigkeit in
Gestalt der Kohärenz von Lebenspraxis und Diskurs, von Meinungs- bzw. Interessensubjekt
und Dialogpartner.
So stellt Platon in der Rede des Feldherrn Laches den Sokrates als Menschen vor, der die
Tugend verwirkliche, weil er in der Übereinstimmung von Rede und Taten lebe.231 Sein
Leben sei harmonisch gestimmt: „zusammenklingend mit den Worten die Werke“.232 Wie
aber bringt er es zu diesem Einklang? Nicht anders, als daß er jeweils kritisch danach sucht.
Nach dem Vorbild eines Gerichtsprozesses, in dem ein Rechtsanspruch geprüft wird, läßt er
sich auf eine Prüfung der üblicherweise mitgebrachten Wissensansprüche ein. Dabei kommt
er – klassisch in der „Apologie“ – zu dem Eingeständnis, diese nicht einlösen zu können: „ich
bin Mitwisser, des Tatbestands, daß ich nichts weiß“, bekennt er vor Gericht233.
Um dieser paradoxen Aussage einen haltbaren Sinn abgewinnen zu können, sind erneut die
Explikationsfragen zu stellen, wer denn jene erste Person sei, die ein – wie immer kritisches –
Wissen von sich zum Ausdruck bringt, und wer sich hinter dem Ich verbirgt, über das sie das
kritische Urteil fällt, es wisse nichts. Letzteres, von dem behauptet wird, es habe kein Wissen
von der gerade verhandelten Sache, ist das naive, seine Meinungen und Annahmen schlicht
behauptende Alltags-Ich, das Meinungssubjekt (I). Das andere ‚Ich’ hingegen, welches als
kritischer Zeuge auftritt, der das Zu-wissen-Meinen des Selbstbehaupters als Nichtwissen
entlarvt, ist der Logos-Sucher ‚Ich’ (II). Dieses zweite Ich agiert als Partner eines Diskurses,
in dem nicht Meinungen zählen, sondern einzig gute Gründe, die für oder gegen eine
Annahme sprechen.
230
231
232
233
„Dem zufälligen partikulären Innern hat Sokrates jenes allgemeine, wahrhafte Innere des Gedankens
entgegengesetzt. Und dieses eigene Gewissen erweckte Sokrates, indem er nicht bloß aussprach: Der
Mensch ist das Maß aller Dinge, sondern: Der Mensch als denkend ist das Maß aller Dinge.“ So G.W.F.
Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in: Werke (1971), Bd. 18, S. 472, vgl. 467, 471,
497 und 514f.
Platon, Laches, 188 c - 189 b. Ich folge hier der Auslegung Georg Pichts: ders., Wahrheit (1969), S. 87107, bes. S. 88ff.
Platon, Laches, 188 d.
Platon, Apologie, 22 c.
93
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
So können wir zusammenfassen: Als Elenktiker lebt Sokrates von einer Zwei-RollenDialektik. Denn der Sokratische Elenchos ist so angelegt, daß die unmittelbare Rolle dessen,
der schlicht etwas meint und es naiv zu wissen behauptet (I), konfrontiert wird mit der
reflektierten Rolle dessen, der sich in einem argumentativen Diskurs weiß und nun als
Diskurspartner (II) zu einer bestimmten Meinung – hier zu einer, die er selbst (als I) vertritt –
Stellung bezieht. Die paradox anmutende Selbstaussage in der Apologie entspringt keiner
skeptizistischen Attitüde. Sokrates tritt weniger als Skeptiker denn als tendenziell
diskursbewußter Dialektiker auf. Auch wenn er z.T. dahinter zurückfällt, so gilt doch: er hat
das dialogreflexive Argumentationsniveau markiert.
Als Dialektiker kann Sokrates die naiven Ansprüche des Sachwissens einklammern, ja ein
Nichtwissen der Sache konzedieren, weil er ein Wissen vom argumentativen Dialog hat.
Aufgrund
eines,
wenngleich
nicht
näher
bestimmten
geschweige
denn
reflexiv
ausgewiesenen, sondern unterstellten dialogpragmatischen Vorwissens kann er sich selbst und
andere auf das Verfahren des Elenchos, die kritische dialogische Prüfung, verweisen – mithin
auf den argumentativen Diskurs als die letzte Geltungsinstanz. Daraus bezieht der Typos
Sokrates seine eigentümliche Glaubwürdigkeit, die au fond kritische Tugend der
Diskursglaubwürdigkeit.
Nun läßt sich Diskursglaubwürdigkeit nicht als eine Tugend verstehen, die man haben kann,
wie man einen Besitz oder eine Eigenschaft hat, wohl aber als Bereitschaft zu einer
permanenten Aufgabe. Diese Aufgabe hat etwas von einer „regulativen Idee“ (à la Kant,
Peirce und Apel) an sich, weil ‚wir‘, auch wenn wir im Diskurs Geltungsansprüche erheben
und prüfen, gewiß keine reinen Vernunftsubjekte, sondern leibhafte Menschen sind: endliche
und leibliche, affektbeladene und interessengeleitete, auf fallible Informationen und
Interpretationen angewiesene Wesen. Doch als reale Diskurspartner wissen wir implizite, in
der Weise eines tacit knowledge (Polanyi), zweierlei zugleich: daß wir nach Gültigkeit, nach
Wahrem und Richtigem, suchen, und daß wir uns täuschen können.
Worin können wir uns prinzipiell täuschen? Vor allem in der Erkenntnis von Sachverhalten
und der Einschätzung von Situationen der Welt. In der semantischen Relation der
Gegenstandserkenntnis, genauer gesagt, in der Erkenntnis von Dingen der sogenannten
Außenwelt, können wir uns so gut wie immer irren. Denn hier sind wir, wenn es um
objektivierbare Sachverhalte geht, auf Vermutungen bzw. Hypothesen vor dem Hintergrund
einer Theorie angewiesen oder aber, wenn wir Sinnzusammenhänge erschließen wollen, auf
Vorverständnisse und Vorgriffe mit dem Hintergrund eines Interpretationsrahmens.
94
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Hypothesen und Theorien sind fallibel, Vorverständnisse und Interpretationsrahmen können
unangemessen sein. Vorsicht ist am Platze und kritische Prüfung unverzichtbar.
Von einer solchen elementaren Kritikwürdigkeit und Kritikangewiesenheit will freilich die
natürliche Selbstbehauptungsperspektive wenig wissen – sie behauptet viel lieber: ‚ich weiß!’.
Dagegen setzen der Dialektiker Sokrates und erkenntniskritische Aufklärer wie Lessing und
Kant den selbstkritischen, unabschließbaren Erkenntnisprozeß. Das selbstkritisch suchende
Denken mit fallibilistischem Vorbehalt bei der Erkenntnis dialogexterner Dinge ist es,
welches den Typos Sokrates so lebensvoll macht. Aufgrund dessen erscheint er, im
Unterschied zu vielen seiner festgewurzelten und eingefahrenen Gesprächspartner, überaus
lebendig – aufgeschlossen und offen für Kritik, für begriffliche Horizonterweiterung und
Präzisierung der Rede. Hannah Arendt konnte daher pointieren: „Der Sinn von Sokrates’ Tun
lag in diesem selbst. Oder anders gesagt: denken und völlig lebendig sein ist dasselbe, und
daraus folgt, daß das Denken immer wieder neu anfangen muß.“234
Doch kann jene kritische Lebendigkeit nicht bedeuten, daß die Tugend des Denkens bzw. des
argumentativen Diskurses im puren Offensein bestünde, als ob ihr keine festen, wißbaren
logischen Regeln und dialogischen Verpflichtungen innewohnten. Nein, als Wachheit des
Geistes speist sich diese kritische Lebendigkeit aus der infalliblen Einsicht in die
Verbindlichkeit vorgängiger Dialogversprechen, die Sokrates dadurch abgegeben hat, daß er
nach dem besten Logos sucht und die er in dem Logosgrundsatz auf eine Formel gebracht hat.
Es sind zunächst die Versprechen, nichts als das beste Argument gelten zu lassen und die
Gesprächspartner als Argumentationspartner zu nehmen sowie zu achten. Insofern ist der
Sokratische Rückgang auf den kritischen Dialog auch der „erste Versuch einer Sprachethik
(besser: Dialogethik)“. Vittorio Hösle belegt diese Interpretationsthese vor allem mit dem
Thrasymachos- und dem Gorgias-Dialog.235 Zu Recht. Denn dort finden sich, wie auch im
„Kriton“ und der „Apologie“, Vorgriffe auf eine diskurspragmatische Begründung der Ethik
durch Rückgang auf die dialogische Praxis. Wird dieser Rückgang reflexiv und konsequent
vollzogen, dann erschließt er das dialogische Anerkennungsverhältnis zwischen denen, die ein
Problem lösen, eine Erkenntnis erwerben wollen: die moralisch geladene Gegenseitigkeit
zwischen Diskurspartnern.
Nun wird aber der Sokratische Anstoß zur Besinnung auf die diskurspragmatischen
Dimensionen des Gemeinschaftsbezugs und des Wahrheits- bzw. Gültigkeitsbezugs von
234
235
H. Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken, München 1998 (zit.: Vom Leben des Geistes (1998)), S.
178; vgl. 166ff.
V. Hösle, Wahrheit und Geschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1984 (zit.: Wahrh. u. Gesch. (1984)), S. 334f,
vgl. 314-359.
95
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Platon alsbald ontologisch neutralisiert und kosmostheoretisch konterkariert. Wenn wir die
Tragweite dieses Richtungsstoßes würdigen und in die diskurspragmatische Besinnung
eintreten wollen, empfiehlt es sich daher, mit Sokrates über Sokrates hinauszudenken und
seinen Dialogansatz ebenso aus der Metaphysik Platons wie aus dessen instrumentalistischer
Sprachphilosophie herauszulösen. Zuerst wende ich mich seiner Sprachtheorie zu.
Erstaunlicherweise scheinen nämlich einige ihrer Elemente selbst heute – nach dem linguistic
turn bzw. pragmatic turn der Gegenwartsphilosophie – noch wirksam zu sein, obwohl sie sich
sprachpragmatisch nicht halten lassen. So werfe ich zunächst einen Blick auf Platons
sprachphilosophischen Dialog „Kratylos“, um vor dieser Folie nach den pragmatischen
Dimensionen des Etwas-Denkens zu fragen.
3.2.3 Gemeinschafts- und Geltungsbezug als Basis einer dialogischen Sinnkritik. Die seit
Platon verdrängten kommunikativen Dimensionen des Etwas-Denkens
Im „Kratylos“ nimmt Platon expressis verbis die Möglichkeit einer sprachfreien Erkenntnis
an und stellt das methodologische Postulat auf, man solle die Dinge besser ohne Worte,
nämlich durch verwandte Dinge, oder durch sie selbst erkennen (438 e - 439 b). Was in dem,
kurze Zeit darauf entstandenen, „Phaidon“ schon als „abgedroschen“ gilt, die Erkennbarkeit
der Ideen ohne Worte (100 b), wird im „Kratylos“ entwickelt. Hier sucht Platon nach einem
„Paradigma“ für die richtige Benennung und Bedeutungserfassung der Dinge. Diese Suche
führt ihn stufenweise aus der Sprachphilosophie hinaus – und in die Ideenlehre als Ontologie
hinein. Der Dialog weist einen eidetischen Weg zur „Idee“ der Dinge, welcher vermittels
Worten als den „Werkzeugen“ der Benennung zu beschreiten sei. Dieser Weg führe von
einem, in verschiedenen Sprachen durchaus unterschiedlichen, Wortausdruck, der aber ein
und dieselbe „Idee des Wortes“, also den (idealen) Begriff wiedergeben müsse, auf das
Wesen, die Urgestalt der Dinge selbst als dem „bestimmten Sinn“ der Wortidee. Diese reine
Dinggestalt sei die sprachunabhängige Idee.236
Das
ist
die
ideentheoretische
Ausklammerung
des
sprachphilosophischen
Bedeutungsproblems. Sie trennt die Konstitution der Wortbedeutungen von dem realen
geschichtlichen Sprachgebrauch ab und deren Geltung von einem möglichen dialogischen
Konsensus. Wie konnte es dazu kommen?
236
Platon, Kratylos, 389 a-390 a; vgl. 422 d-424 e, 428 c-428 d/e und 438 a-439 b. Dazu J. Derbolav, Platons
Sprachphilosophie im Kratylos und in den späteren Schriften, Darmstadt 1972, bes. S. 58f, 89 und 95ff.
96
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Platon hat die Tendenz, Sprache als System von Worten, primär von Dingworten, zu
betrachten; und er verbindet diese Sprachauffassung mit einer instrumentalistischen
Perspektive. So erklärt er die Wortbildung mithilfe eines Werkzeugmodells: Wie ein
Werkzeugmacher, etwa der Tischler, beim Verfertigen eines Weberschiffchens auf das
Musterbild seines Werkzeugs (είδος, eidos) blicke, so schaue der Wortbildner auf die ίδέα
(idea) und gebe sie wieder (389 b 8 - 390 a 7).
Doch wer sind die Wortbildner, wenn nicht die realen Sprecher als aktive Teilhaber einer
Sprachgemeinschaft
und
sprachmodifizierende
Fortsetzer
ihrer
Sinn-
und
Ausdrucksgeschichte? Platons Werkzeugmodell enthebt uns, die geschichtlichen Wortbildner,
einer Verständigung über den Sinn eines fraglichen sprachlichen Ausdrucks und seiner
Abgrenzung von anderen Ausdrücken. Seine instrumentalistische und verdinglichende
Wortsemantik setzt zweierlei voraus: erstens, daß Wortbildung, also Sprachentwicklung,
prinzipiell einsam und kommunikationsunabhängig möglich sei, und – zweitens – daß
Sprachschöpfung (bzw. Weiterentwicklung der Sprache durch Wortbildung) nach dem
akommunikativen Modell des Produzierens von Dingen (hier: eines Instruments) gedacht
werden kann – also in einer bloßen Subjekt-Objekt-Relation.
Wenn man die urkommunikative Handlung der sprachlichen Sinnverständigung und des
Definierens als ein Herstellen begreift – so, als ginge es darum, daß einer, einsam und für sich
allein, ein Objekt produziere –, schneidet man sie aus der Welt der Kommunikation heraus.
Es ist dieser ganz und gar subjekt-objekttheoretische und herstellungstechnische
Zusammenhang, in dem Platon „als erster das Wort ‚Idee’ als ein Schlüsselwort
philosophischen Denkens einführte“. Hannah Arendt pointiert, daß er damit einen Begriff
zum philosophischen Terminus erhob, der „ursprünglich im Herstellen erfahren war“.237
Ganz konsequent löst Platon im „Phaidon“ und „Phaidros“ auch den anamnetischen Weg des
Ideenerwerbs von der kommunikativen Sprachpraxis ab. Denn er bestimmt ihn zum einen
wahrnehmungspsychologisch – die Erinnerung werde unmittelbar von der Wahrnehmung
eingeleitet238 –, zum anderen entelechetisch ontologisch und erkenntnislogisch: die
Erscheinungsmannigfaltigkeiten selbst strebten nach den Ideen239, auf deren Erkenntnis der
Mensch wesengemäß aus sei und die er synagogisch erlangen könne240. Daß die Sprache die
Sinnbasis auch für Ideen ist und der argumentative Dialog die Geltungsbasis des Denkens, hat
Platon, wirkmächtig bis heute, verdrängt.
237
238
239
240
H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München o.J. (zit.: Vita activa), S. 220, vgl. S. 129.
Platon, Phaidon, 75 a 5 und 75 e 3ff.
A.a.O., 74 d 6-75.
Platon, Phaidros, 249 b 6-249 c 3 und 265 d 3-265 d 5.
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Einwenden mag man hier, diese Kritik stütze sich vorwiegend auf Platons optisch orientierten
Rahmen, die theoria, vernachlässige aber die in diesem teils angesiedelten, teils ihm
entgegengestellten dialogischen Aspekte, insbesondere die berühmte dialogbezogene
Bestimmung des Verhältnisses von Denken und Reden. Nun: Zuallererst gilt natürlich, daß
Verträglichkeit herrschen muß zwischen dem Rahmen und den Elementen eines Denkens.
Keine zustimmungsfähige Philosophie ohne innere Kohärenz, die eine stimmige
Selbstbegründung ermöglicht, eine Selbsteinholung der Einzelthesen bzw. der einzelnen
Einsichten. Anderenfalls würde der Philosoph entweder mit seiner Rahmentheorie oder mit
einzelnen Gedanken aus dem argumentativen Dialog herausspringen – ins Abseits.
Was aber die Platonische Verhältnisbestimmung von Denken und Reden anbelangt, so hat es
damit die Bewandtnis eines „Zwar – aber“: Auf der einen Seite steht die Dominanz der
kosmos- und ideenschauenden Vernunft, auf der anderen der sokratische Dialogbezug. Nur,
was wird aus diesem in jenem emphatisch theoretischen Rahmen?
Die entscheidenden Stellen pro Denken als Dialog finden wir im „Sophistes“ und im
„Theaitetos“, die beide um 365/366, vor bzw. nach Platons zweiter italienischer Reise,
entstanden sein dürften. In dem späteren „Sophistes“ setzt der Fremde aus Elea zunächst
Denken und Reden gleich und präzisiert dann, daß es das innere Gespräch der Seele mit sich
selbst sei, was man Denken (διάνοια) nenne.241 Freilich setzt er ohne Umschweife, als ergebe
sich das von selbst, eine Definition hinzu, welche sich am ehesten im Sinne eines
kommunikationsunabhängigen Denkens verstehen läßt – als Erkenntnisweise, die sich der
Sprache bloß als eines Mediums von Lauten und Worten bediene: „Der Ausfluß von jenem
[dem Denken] aber vermittels des Lautes durch den Mund heißt Rede (λόγος).“242
Ganz ähnlich, doch differenzierter definiert Sokrates das Denken, διανοέισθαι, in dem wohl
nach 365 verfaßten „Theaitetos“ als „eine Rede (λόγος), welche die Seele mit sich selbst über
dasjenige durchführt, was sie erforschen will“, und zwar indem sie mit sich selbst rede
(διαλέγεσθαι): sich selbst fragend und antwortend, bejahend und verneinend.243 An dieser
Definition scheint in der Tat nichts auszusetzen zu sein, kann das Denken doch zweifellos als
Selbstgespräch eines Denkenden vonstatten gehen.
Und führe nicht auch ich in diesem Augenblick, wo ich, Dietrich Böhler, diese Erörterung
verfasse, ein Selbstgespräch nach Platons Definition? Ja und nein. Natürlich bin ich in einem
Selbstgespräch. Doch reicht Platons Bestimmung des Denkens als Selbstgespräch zu? ‚Ich’
241
242
243
Platon, Sophistes, 263 c 3.
A.a.O., 263 e 8f.
Platon, Theaitetos, 189 e 4 und 189 e 6 - 190 a 2.
98
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
frage doch nicht einfach mich selbst, antworte nicht bloß mir selbst. Außerdem treffe ich nicht
allein Ja- und Nein-Stellungnahmen.
Freilich wird das Etwas-Denken noch heute häufig auf Ja- und Nein-Stellungnahmen
reduziert: So spricht Ernst Tugendhat davon, daß die „Grundmodi“ des Sprachhandelns
„wesensmäßig Ja/Nein-Stellungnahmen“ seien.244 Habermas und Knut Erik Tranøy lassen
hingegen drei Grundmodi gelten. So konstatiert Habermas: „Die zulässigen Reaktionen [auf
eine Äußerung mit Geltungsanspruch] sind Ja/Nein-Stellungnahmen oder Enthaltungen.“245
Auch Tranøys Pragmatik der Forschung hebt diese drei konstitutiven Akte hervor: „die Akte
des Verwerfens, Annehmens und der Urteilsenthaltung bezüglich einer Aussage“.246
Diese traditionelle Triade übersieht eine vierte Gruppe von zulässigen Reaktionen, die
Rückfragen nach Sinn und Geltung des Gesagten. Harmlos stellt sich hier zunächst die
semantische Frage nach der Bedeutung des Gemeinten. Kritisch legt sich die Frage nach der
Validität der Begründung nahe. Radikal kritisch können Diskursteilnehmer schließlich die
Prüfbarkeit und Zulässigkeit einer Meinungsäußerung als Diskursbeitrag in Frage stellen: ist
sie überhaupt ernsthaft diskutierbar?
Die letztgenannte Frage ist eine diskurspragmatisch sinnkritische Reaktion. Sie drückt den
Zweifel aus, ob das Gesagte überhaupt als Einlösung eines Geltungsanspruchs und damit als
prüfbarer Diskursbeitrag verständlich ist, so daß es von Anderen geprüft und diskutiert
werden kann. Wer so fragt, fährt gleichsam scharfes Geschütz auf. Er eröffnet eine
sinnkritische Argumentation, die zu begründen hätte, daß die Rede pragmatisch nicht
verstehbar ist. Was müßte eine solche Begründung leisten?
Sie muß zeigen, daß die möglichen Adressaten sich zu dieser Rede nicht als
Argumentationspartner verhalten können und daß, vice versa, der Sprecher diese seine Rede
seinerseits nicht als Argumentationspartner entfalten und in einem Diskurs, worin nur
prüfbare Diskursbeiträge statthaft sind, durchhalten kann, sondern durch seine Aussage in
Widerspruch zu den Geltungsansprüchen und Anerkennungsverbindlichkeiten seiner
Diskurspartnerrolle
gerät.
Aus
der
Adressatenperspektive
wäre
der
pragmatische
Sinnlosigkeitsverdacht also so zu erhärten, daß man dem Sprecher zeigt: aus seiner Rede
könne ein Adressat gar nicht entnehmen, als was das Gesagte eigentlich zu nehmen sei; als
Diskurspartner werde man von dieser Rede düpiert statt ernstgenommen, weil sie einem die
Möglichkeit verstelle, ihren argumentativen Gehalt zu erfassen, zu prüfen und begründet
244
245
246
E. Tugendhat, Vorlesungen (1976), S. 518, vgl. 76f, 242f, passim.
J. Habermas, Theorie d. kommunik. Handelns, I (1981), S.65.
K.E. Tranøy, Pragmatik der Forschung, in: D. Böhler u. a. (Hg.), Die pragmatische Wende (1986), S. 3654, hier: S. 40f.
99
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Stellung zu beziehen. Kurz: das Gesagte sei kein Diskursbeitrag; der Sprecher springe damit
aus dem Dialog der Argumente heraus – insofern disqualifiziere er sich und mißachte die
Diskurspartner-Rechte. Eine derartige Begründung zieht ihre sinnkritischen Argumente aus
dem Diskurs, verstanden als Sinnzusammenhang von Geltungsansprüchen und Gründen zu
deren Einlösung – mithin zugleich als Anerkennungszusammenhang von Partnern; denn
allesamt haben sie die Diskursrolle eingenommen und dadurch die diskurstragenden
Verbindlichkeiten
auf
sich
genommen.
Die
Begründung
des
pragmatischen
Sinnlosigkeitsverdachts ist eine praktische Begründung aus dem Dialog der Argumente.
So begründbar, ist das Geltendmachen eines Sinnlosigkeitsverdachts völlig legitim, ja zur
Rettung des Diskurses erforderlich. Es wäre geradezu riskant und gefährdete die Dialog- und
Denkkultur, wenn man diese u.U. ganz legitime sinnkritische Reaktionsmöglichkeit übergeht,
weil man, wie etwa Habermas, nicht nachfragt, ob eine Urteilsenthaltung wirklich immer
zulässig ist bzw. wann sie unzulässig wird. Ist letzteres nicht zumindest dann der Fall, wenn
sich hinter der Enthaltung die Weigerung verbirgt, auf das Verhältnis von Geltungsanspruch
und propositionalem Gehalt eines Diskursbeitrags zu reflektieren? Denn das käme der
Verweigerung gleich, Rechenschaft darüber abzulegen, ob sich das inhaltlich Gesagte
überhaupt mit der selbst beanspruchten Rolle eines Partners im argumentativen Dialog
vereinbaren läßt. Dann läge eine Selbstimmunisierung gegen dialogische Sinnkritik vor: der
Diskursteilnehmer zeigte, daß er nicht bereit ist, seine Verpflichtungen als Diskurspartner ins
Auge zu fassen und sie zu befolgen.
Sowohl Platons Bestimmung des Denkens als Selbstgespräch wie auch Tugendhats
satzsemantische Verengung der Grundmodi des Sprachhandelns auf Ja- und Nein-Sätze und
Tranøys bzw. Habermas’ Anerkennung von nur drei zulässigen Stellungnahmen verkürzen
die zum Teil moralisch geladene, weil mit Diskurspartner-Pflichten verwobene,
kommunikative Geltungsdimension der Pragmatik, welche der sachbezogene Sprecher zwar
im Rücken läßt, von denen der Sinn des Gesagten aber getragen wird. Im puren Sachbezug
konzentriert sich ein Sprecher auf die satzsemantischen und pragmatisch semantischen
Aspekte des Sprachgebrauchs; man verengt den Blickwinkel auf den (assertorischen) Satz als
Ensemble propositionaler Ausdrücke, die, wie Wittgenstein festhält, „bipolar“ sind.247 Nur im
Zuge einer Ausblendung der Pragmatik kann man überhaupt annehmen, daß unser
Sprachhandeln wesentlich aus Ja- und Nein-Stellungnahmen bestehe.
Fassen wir zusammen:
247
L. Wittgenstein, Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1960, S. 188.
100
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Hinsichtlich des Sachbezugs der Rede ist der Blick auf das (Zu-sich-selber-)Ja-oder-NeinSagen zu erweitern durch eine Berücksichtigung der schon erwähnten beiden anderen
Redeweisen. Einmal können Sprecher im Dialog auch mit einer Urteilsenthaltung reagieren.
Dann lassen sie die Wahrheit oder normative Richtigkeit einer Rede dahingestellt sein248: als
unentschieden oder moratorisch oder gar als unentscheidbar. Weitaus signifikanter für das
Denken als argumentativen Dialog sind freilich die Verständigungs- und Begründungsfragen.
Deren Spektrum reicht von der einfachen Erläuterungsbitte, wie das Gesagte zu verstehen sei,
über die Forderung nach Angabe von Gründen für eine Behauptung bis zum sinnkritischen
Zweifel an der Nachvollziehbarkeit der Rede als eines prüfbaren Diskursbeitrags.
Es ist der letztgenannte, der pragmatisch kritische Fragetyp, der tief im Sokratischen Elenchos
angelegt ist, praktiziert er doch ein sinnkritisches Rückfragen, das den Proponenten bei seiner
Rolle als Diskurspartner packt – und letztlich die Vereinbarkeit seiner aktuellen These mit
dieser Rolle in Zweifel zieht.
Da das Denken nicht als einsames Selbstgespräch vonstatten geht, sondern als trans- und
intersubjektives Erheben und Prüfen von Geltungsansprüchen, einen geltungsbezogenen
Diskurs eröffnend oder fortsetzend, eignet ihm die eigentümlich reflexive und
horizontöffnende Möglichkeit, Sinnkritik zu üben. Davon hat schon Sokrates schon einen
gewissen Gebrauch gemacht. Allgemein gilt: wenn ein Elenchos zur Selbstaufhebung einer
These führt, indem er zeigt, daß sich eine Position nicht als Diskursbeitrag verstehen und
durchhalten läßt, dann handelt es sich um eine dialogpragmatische Sinnkritik. Diese radikal
kritische Option steht jedem Diskurspartner offen. Da jeder, der über etwas nachdenkt, den
dadurch angestrengten Erkenntnisprozeß nur durchführen kann, indem er sich an den
Geltungsansprüchen messen läßt, die seinen Erkenntnisprozeß tragen, hat er auch – für die
Anderen und für sich selbst – die Möglichkeit einer diskurspragmatischen Sinnkritik. Weil er
mit Ansprüchen auf Geltung seiner Gedanken gegenüber Anderen und sich selbst hinsichtlich
seiner Erörterung einer Sache bzw. Situation nachdenkt, provoziert er auch Fragen zweiter
Ordnung: sinnkritische Fragen, die sich auf die Verstehbarkeit seiner Rede als einer
dialogischen Handlung zur Einlösung der charakteristischen Geltungsansprüche beziehen.
Zum Beispiel kann der Geltungsanspruch auf Verständlichkeit die Erläuterungsfrage
auslösen, wie das Gesagte denn genau gemeint sei; und ‚mein’ Gegenüber kann ‚mir’
entgegnen: „diese Aussage(n) habe ich nicht verstanden“. Und die eigentlichen
Gültigkeitsansprüche auf Wahrheit der Sacherörterung und Richtigkeit bzw. Legitimität der
implizierten Normen können die sinnkritische Reaktion hervorrufen: „diese deine Behauptung
248
Vgl. K.E. Tranøy, in: D. Böhler u. a. (Hg.), Die pragmatische Wende (1986).
101
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
kann ich gar nicht als Diskursbeitrag verstehen, weil ihr propositionaler Gehalt
Geltungsansprüchen zuwiderläuft, die du als Diskurspartner ins Spiel gebracht hast. Ich kann
sie nicht als Diskursbeitrag verstehen, weil sie nicht prüfbar, mithin im argumentativen
Dialog sinnlos ist.“
Solche typischen Diskursakte sind eben weder Ja-oder-Nein-Stellungnahmen noch
Urteilsenthaltungen, sondern fragende Entgegnungen, die den Sprecher mit tragenden
Ansprüchen seiner Rolle als eines Diskurspartners konfrontieren. Sie bringen keine Meinung
des Opponenten über die Sache ins Spiel; vielmehr erinnern sie den Proponenten an seine
diskurskonstitutiven Verpflichtungen, die er dadurch eingegangen ist, daß er sein
Gedachtes/Gesagtes geltend macht und damit die Rolle eines Partners im Diskurs
übernommen hat. Fragen dieser Art setzen den sozialen und daher normativ geladenen
Anerkennungs- und Handlungszusammenhang gegenüber einem Sprecher und dessen These
in sein Recht. Uno actu machen sie – durch den normativen Basisgehalt der gemeinsamen
Institution Diskurs legitimiert und mandatiert – ihre Diskursrechte gegen den Sprecher
geltend.
Platons Definition des Denkens als Selbstgespräch der Seele verdeckt diesen sozialen und
normativen Handlungszusammenhang des Diskurses. Sie blendet aus, daß sowohl die Ja-undNein-Stellungnahmen als auch die ausgeklammerten sinnkritischen Entgegnungen immer
zugleich logische und normativ soziale, nämlich dialogische Akte sind. Durch sie beziehe
‚ich’ mich sowohl auf mögliche konkrete Andere – jetzt z.B. der Autor dieses Buches auf
Platon, Tugendhat und Habermas – als auch auf alle möglichen Anderen. Zu diesen zählen
Sie, meine Leserin, mein Leser, ebenso wie jedes andere intelligente Kommunikationswesen,
das meine Fragen, meine Thesen verstehen und beurteilen könnte.
Inwiefern und warum? ‚Ich’ kann, wenn ‚ich’ etwas denke (oder ‚du’ etwas denkst), mich gar
nicht anders verhalten als so, daß ‚ich’ (resp. ‚du’) sowohl die Verstehbarkeit als auch die
mögliche Gültigkeit meines Versuchs im ganzen und seiner einzelnen Schritte beanspruche –
gegenüber bestimmten realen Anderen, über deren Thesen ‚ich’ rede, aber auch allen
möglichen Anderen gegenüber.
Wenn wir uns auf einen sinnkritischen sokratischen Dialog mit einem Skeptiker einlassen, der
das Gegenteil zu behaupten versucht, erkennen wir leicht, daß eine Bestreitung (oder auch nur
eine Bezweiflung) des sozialen Verhältnisses der Geltungsansprüche eine sinnlose
Behauptung ist. Sinnlos, weil für Andere und für mich selbst nicht mehr verständlich als
Rede, die man aufnehmen bzw. in ihrem Sinn nachvollziehen und hinsichtlich ihrer
Wahrheits- oder Richtigkeitsfähigkeit beurteilen kann: ohne Verstehbarkeitsanspruch
102
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
bestünde keine Fragemöglichkeit, wie ein Gesagtes genau gemeint sei; und ohne
Gültigkeitsanspruch hätten wir keinen Anhaltspunkt, von dem Sprecher Gründe (oder bessere
Gründe) für seine These zu verlangen, und ebenso fehlte uns das Mandat, seine These zu
kritisieren und ihn in eine kritische Prüfung zu ziehen. Kurzum, ohne Geltungsansprüche
könnten wir keinen Diskurs mit einem Sprecher führen – und ebensowenig er mit sich selbst.
Wir wüßten nicht, worüber wir mit wem diskutieren könnten. Eine Diskussion könnte es nicht
geben.
Nun müßten wir uns noch zweierlei klarmachen: wer zu den realen Anderen gehört, auf die
‚wir’ uns als Diskursteilnehmer mit Geltungsansprüchen von vornherein beziehen; und
warum ‚wir’ uns mit unseren Geltungsansprüchen – um Himmels willen – auf alle möglichen
Argumentationssubjekte und deren Argumente müssen beziehen sollen.
Zum ersten Punkt: Es leuchtet ein, daß der Sprecher seine Geltungsansprüche denen
gegenüber erhebt, mit denen er sich auseinandersetzt, hier vor allem gegenüber Platon. Doch
damit sei, so mag man annehmen, der Kreis der realen Kommunikationssubjekte, auf die sich
ein Diskursteilnehmer beziehen muß, auch erschöpft. – Nein, weit gefehlt. Bedenke doch, daß
du, indem du eine bestimmte Sprache sprichst, an der gesamten Gemeinschaft derer
teilnimmst, die diese Sprache bis auf den heutigen Tag gesprochen haben und sie dadurch
mitgebildet haben; du setzt diese Sprachkultur fort und sprichst auf ihren Wegen weiter. Also
beziehst
du
dich
implizit
auf
eine
empirisch
kaum
begrenzbare
reale
Kommunikationsgemeinschaft, z.B. auf die Gemeinschaft aller, die bislang deutsch
gesprochen haben.
Dieser reale Traditions- und Gemeinschaftsbezug bildet die Sinn vermittelnde geschichtlich
pragmatische Dimension, die die Rede immer schon im Rücken hat: Etwas als etwas
Bestimmtes meinend bzw. sagend, zehren wir von dem lebensweltlichen Hintergrund
tradierten und mehr oder weniger institutionalisierten Sinns.249 Als Mitglieder einer umgangsund bildungssprachlichen, real geschichtlichen Kommunikationsgemeinschaft oder mehrerer
Sprachgemeinschaften, schöpfen wir mit jedem Satz aus dem Sinnreservoir, das die Sprecher
ganzer Generationenketten angesammelt haben. Mit ihnen sind wir unausdrücklich
verbunden; sie begleiten uns als unsere impliziten Mitsprecher, wenn wir laut oder leise
reden, in Gespräch oder Selbstgespräch, vom Assoziieren bis zum Argumentieren.
So
ergibt
sich
schon
aus
diesem
Grund,
nämlich
aus
der
geschichtlichen
Traditionsvermitteltheit unseres möglichen Redens und Etwas-Denkens, auf die der
rhetorische Humanismus und das hermeneutische Sprachdenken (etwa Humboldt, Gadamer,
249
D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), S.360ff.
103
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Apel) aufmerksam machen, daß unser Etwas-Denken nicht einfach ein Selbstgespräch unserer
Seele mit sich ist, sondern ein Selbstgespräch in hintergründiger Kommunikation mit
Anderen, die aus unseren Traditionszusammenhängen gewissermaßen mitsprechen. Das heißt:
Auch wenn unsere Gedanken überhaupt nicht ausdrücklich auf Andere Bezug nehmen, sind
sie (und durch sie wir selbst) im vorhinein auf reale Andere aus Geschichte und Gegenwart
bezogen. Dieses kommunikative Vermitteltsein unserer Gedanken und unserer selbst läßt sich
mit Apel als „das Apriori der realen Kommunikationsgemeinschaft“250 einer intersubjektiven
Sinnverständigung durch geschichtliche Sprachen begreifen und mit Hans-Georg Gadamer als
„das Prinzip der Wirkungsgeschichte“251.
Aus diesem philosophisch- bzw. transzendental-hermeneutischen Grund, nämlich aus dem
„apriorischen Perfekt“ (Heidegger) der Sinnvermitteltheit möglicher Rede folgt bereits, daß
ein Selbstgespräch bloß als defizienter Modus einer intersubjektiven Sinnverständigung
begriffen werden kann – mithin nicht als Paradigma des Etwas-Denkens taugt. Dieses
Paradigma ist vielmehr in dem argumentativen Dialog mit dessen geschichtlichem Kontext zu
suchen, also im Blick auf die sprachliche Sinn- und Traditionsvermittlung. Darauf weist die
nachfolgende Abbildung mit der unteren geschweiften Klammer hin; insgesamt
veranschaulicht sie die Dimensionen der Zeichenverwendung (Semiose), indem sie die drei
von Charles W. Morris unterschiedenen semiotischen Dimensionen, die semantische, die
syntaktische
250
251
und
die
umgreifende
pragmatische,
weiter
differenziert.
Vgl. K.-O. Apel, Transf. d. Philos., II (1973), S. 338ff, 397-435, 178-219 und Transf. d. Philos., I (1973),
S. 22-76.
H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (1965), S. 250-290, 324-395.
104
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Die semiotischen Sinn-Dimensionen des Über-Etwas-Redens bzw. Etwas-Denkens
dialogisch-pragmatische Dimension: Primat d. Geltungsansprüche u.
Geltungsrechtfertigung – „Apriori d. idealen Kommunikationsgemeinschaft“
S2, 3, ...
referentiell-semantische Dimension:
Situations- bzw. Sachbezug
pragmatisch-semantische Dimension:
Wortgebrauch
Z
Z
SxÆ∞
Z
Syntaktische
Dim.∗
Sit
Z
S1
Z
Sn, n 1, n 2, ...
geschichtlich-pragmatische Dimension: Prius der lebensweltlich-kulturellen
Vermittlung u. Institutionalisierung von Sinn – „Apriori der realen Kommunikationsgemeinschaft“
Erläuterungen:
Sit
Z
S1
Situation bzw. Sache
Sprachzeichen
Sprecher als über etwas (Sit) nachdenkendes (oder auch in Bezug
darauf handelndes) Subjekt
faktische Argumentations- und Kommunikationsgemeinschaft,
auf die sich S1 bezieht
S1 _____________ Z
pragmatisch-semantische Dimension der Sprachverwendung eines
Sprechers/Denkenden
dialogisch-pragmatische Dimension der Voraussetzung bzw. Erhebung
S1 -----Z ------S2 / SxÆ∞
und Prüfung von Geltungsansprüchen im Diskurs
S2, 3, ...
Z .............................. Sn, Sn1, n2 ...
geschichtlich-pragmatische Dimension der Traditionsvermittlung und
Institutionalisierung von Sinn
Sn, Sn1, n2 ...
lebensweltliche Sprach- und Kulturgemeinschaft, von der jeder schon
Sinn und Bedeutung übernommen hat
∗
Das Schema gibt der Einfachheit halber die syntaktische Dimension nur einmal wieder; diese wäre überall dort, wo „Z“ (für Sprachzeichen) steht, mitzudenken. Denn ein sprachlicher
Ausdruck (Zeichen) verweist immer auf einen sprachlich ausdrückbaren Kontext, aus dem er (es) nur in Bezug auf andere verständlich ist.
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
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kontrafaktische Argumentationsund Kommunikationsgemeinschaft als Beurteilungsinstanz für Geltungsansprüche von S1, und S2, S3, ...
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Für die Auseinandersetzung mit Platons Definition des Denkens als Selbstgespräch der Seele
ist die, in der Abbildung getroffene, Unterscheidung der „geschichtlich-pragmatischen SinnDimension“ von der „dialogisch-pragmatischen Geltungsdimension“ von besonderer
Bedeutung. Denn beide Begriffe verweisen auf einen in gewisser Weise eigenständigen
Aspekt des Kontextes der möglichen Rede, der sich jedoch auf den anderen Aspekt intern
bezieht. Inwiefern? Argumente, für die wir als Denkende bzw. als Diskursteilnehmer Geltung
beanspruchen, blieben leer und semantisch unverständlich ohne den Kontext einer realen
Sprach- und Traditionsgemeinschaft, aus der sie erst den sprachlichen Sinn und die
Wortbedeutung
beziehen.
Umgekehrt
müßte
die
sprachgemäße
Wortverwendung,
Sinnübernahme und Sinnschöpfung in Sprechakten blind und rechtfertigungsunfähig, also
bloß willkürlich oder gänzlich heteronom bleiben, wären sie nicht verknüpft mit tragenden
Geltungsansprüchen, hinsichtlich derer die Behauptungen (und die als sinnvoll etc.
behaupteten Fragen), überprüft werden könnten.
Den von einer Rede nicht abzuziehenden Geltungssinn, der den Mitdenkenden, darunter dem
Sprecher selbst, erst das Mandat der Kritik vermittelt, hat Platon zweifellos gedacht – so im
Begriff des richtigen Logos (ορθός λόγος, orthos logos) und im Begriff der Idee. Nicht zuletzt
damit hat er dem europäischen Denken einen kritischen Impetus, ja eine kritische Gesinnung
übermittelt. Doch siedelt er diese, die Denkenden zur Kritik seines Etwas-Meinens und Sagens anhaltenden Begriffe einfach in der Beziehung des Denksubjekts auf den gedachten,
und zwar intelligiblen Gegenstand an – übertragen auf unser semiotisches Schema: in der
metaphysisch überhöhten referenzsemantischen Dimension der reinen Strukturen und Muster
bzw. „Paradigmen“. Damit verdeckt er „das eigene Wesen der Sprache“ (Gadamer)
gründlich.252 Wieso? Er ignoriert den zweifachen Gemeinschaftsbezug der Sprache als Rede,
genauer: das zwiefache soziale, dialogische, daher mehrstellige Verhältnis zwischen einem
Denk- bzw. Redesubjekt und anderen solchen Subjekten. Es ist eingelagert in den Sachbezug
des Denkens/Redens, und es trägt diesen, indem es sowohl Bedeutung als auch Geltung
ermöglicht.
Sein Modell ist nicht die Teilnahme an einer Gemeinschaft und deren Diskurs, es ist das je
einsame Schauen eines Bildes bzw. eines Musters oder der Gestalt eines herzustellenden
Dinges, so wie er es im X. Buch der „Politeia“ am Handwerkermodell erläutert.253 Geleitet
und verführt vom Schein der theoria-Metapher, die das Etwas-Denken nicht als
Verständigung über Sinn und als Kooperation über Geltung (Wahrheit und Richtigkeit),
252
253
So H.-G. Gadamer, a.a.O., S. 385.
Platon, Politeia, 595 c 7 - 597.
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sondern als einsam mögliches Erschauen unterstellt, verharrt Platon in einer Subjekt-ObjektRelation, die als solche bloß zweistellig ist.
Infolgedessen überspringt Platon neben der Sinnbeziehung des Gesagten auf eine reale
geschichtliche Kommunikationsgemeinschaft auch die Geltungsansprüche eines Gedankens
als Diskursbeitrag, also die Geltungsbeziehung einer Rede auf das ideale Diskursuniversum.
Dieses ist freilich ein regulatives Prinzip: Inbegriff eines Diskussionsforums, auf dem einzig
sinnvolle Diskursbeiträge zählen würden und wo alle, samt und sonders alle, sinnvollen
Argumente zur Sache die gehörige Berücksichtigung fänden. Wer an die ewigen Seins-Ideen
glaubt und vermeintlich den Zugang zu ihnen besitzt, bedarf einer solchen regulativen, daher
zur Selbstkritik auffordernden Geltungsinstanz nicht. Er ist sich des Wahrheitsbesitzes sicher.
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