Dietrich Böhler Vorlesung im Sommersemester 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie* * Der im Text begegnende Hinweis Anlage 2, 3 etc. verweist dann, wenn er in der Zeilenmitte erscheint, auf das mit derselben Nummer versehene Stück der (als selbstständige Datei unter www.hans-jonas-zentrum.de herunterladbaren) „Denkstücke und Arbeitsmaterialien zur Vorlesung und zu den Grundlagenseminaren Böhler und Herrmann 2009“. Tritt dieser Hinweis rechts am Rande der Seite auf, ist das Stück in den Text der Vorlesung eingearbeitet. Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Inhalt I Philosophie als Metaphysik oder strikt als Dialog und Begründung? Vorblick auf die drei Paradigmen. 1 Metaphysik als Seinsschau (Theoria) versus Erkenntniskritik im Subjekt- ObjektSchema versus Lebenswelt- und Kommunikationsreflexion……….....……………...06 1.1 Metaphysik als Studienschwerpunkt und als Zentrum der Philosophiegeschichte oder: Entwicklungslogik der drei Paradigmen: Sein/Metaphysik – Subjekt / Erkenntniskritik – Sprache / Diskursreflexion? …...............…………………………….....………….. 1.2 Zum Begriff und zur Kritik der Metaphysik…………………………….………….... 1.3 Ist Metaphysik nach Kant und nach der pragmatisch-hermeneutischen Wende noch möglich? Das Beispiel von Hans Jonas’ „rationalem Mythos“……………...………. 1.3.1 Hans Jonas – von der Hermeneutik der Entmythologisierung zur Ethik der Zukunftsverantwortung. Laudatio des Dekans, Professor Dr. Dietrich Böhler……… 1.4.1 Der voraussetzungs- und kommunikationsvergessene Weltbezug der traditionellen Metaphysik, dessen Fortwirkung im neuzeitlichen Subjekt-Objekt-Paradigma und Heideggers hermeneutisch-pragmatische, aber reflexionsvergessene Metaphysikkritik.......................................................................................................… 1.4.1 Vorgriff auf die pragmatisch-hermeneutische Wende und ihre Probleme: der frühe Heidegger……...……...………………………………………………………... 2 Über die drei Paradigmen der Philosophie und die (doppelte) Dialogizität des Denkens…………..…………………………………………………………………... 2.1 Eine Problemübersicht zum Selbststudium: Tilman Lücke, „Mit skeptischen Fragen durch die Philosophiegeschichte“, in: H. Burckhart u. H. Gronke (Hg.), Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik. Festschrift für D. Böhler. Würzburg (Königshausen u. Neumann) 2002, S. 45-68…………………………………………………………………….….. 2 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie II Grundlagen: Diskurs als argumentativer Dialog – systematisch und philosophiegeschichtlich erörtert. Einholung des argumentativen Dialogs als Entwicklungsziel der Philosophie 3.1 Die drei philosophischen Paradigmen und die widergängerische Rhetorik………….. 3.2 Die Glaubwürdigkeit des Diskurspartners: Sinnkriterium für Diskursbeiträge und Kern der moralischen Identität……………………………………………………………... 3.2.1 Der Logosgrundsatz oder: Sokrates’ Vorwegnahme und Verfehlung der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. ……………………………………...... 3.2.2 Der Sokratische Elenchos und die Diskurs-Tugend. Wissen und Wollen der Dialogverpflichtungen bei (möglichem) Nichtwissen der Sachen………...… 3.2.3 Gemeinschafts- und Geltungsbezug als Basis einer dialogischen Sinnkritik. Die seit Platon verdrängten kommunikativen Dimensionen des EtwasDenkens………………………………………………………………………. III Diskurs und Begründung im geschichtlichen Spannungsfeld von Seinsschau, Selbst-Bewußtsein und Kommunikationsreflexion. 4 Die klassische Metaphysik 4.1 Platon 4.1.1 Metaphysik, Logos und Ideen Die Entdeckung des Allgemeinen und Platons Ideenlehre………………….... 4.1.2 Platons strukturale theoria-Ontologie: Vom Diskurs zur einsamen Ideenschau, vom argumentativen und reflexiven Dialog zum totalitären Kosmos-Polis-Mythos………………………………………………………... 4.1.3 Wann ist eine Norm moralisch verbindlich? Was sich aus Platons naturalistischen Fehlschlüssen (und seinem metaphysischen Intellektualismus) lernen läßt……………………………………………………………….…... 4.2 Aristoteles 4.2.1 Aristoteles’ teleologische theoria-Ontologie………………………............... 4.2.2 Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch: Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Aristoteles als Diskurspragmatiker avant la lettre?........................... 4.2.3 Die peripatetische Verbannung der Pragmatik aus der Philosophie – Türöffnung für den methodischen Solipsismus………………………..…… 3 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie [4.3 Thomas’ folgenschwere Einordnung der Erkenntnis in das Schema ‚diskursiv versus intuitiv’] 5 Zerfall der mittelalterlichen ordo-Welten und Emanzipationen von deren Macht und theoria................................................................... 5.1 Sprachsensibilität, Bildungsreichtum und tendenzielle Diskursautonomie des italienischen Humanismus…………………………………………………………... 5.2 Luthers Reformation versus Humanismus des Cusaners: Verdeutschung der Bibel, behauptete und verweigerte Gewissensfreiheit – innerreligiöse Toleranz und Idee der Menschenwürde………………………………………………………………….…. 5.3 Die kopernikanische Revolutionierung des geozentrischen Weltbildes und die Suche nach einem künstlichen Zentrum………………………………………………….... 6 Neuzeitliche Stationen der (Praktischen) Philosophie: Descartes, Hobbes und Kant. Oder: Das sich selbst vergewissernde und sich selbstbehauptende Subjekt zwischen instrumenteller Rationalität und praktischer Vernunft 6.1 Metaphysische Hintergrundserfahrung der Neuzeit oder: Kopernikanischer Choc, selbstbewußtes Subjekt und mathematisierte Technologie…………..…….... 6.2 Zwei Formen der Aufklärung – ein Preis: Verdrängung der Kommunikation durch emanzipatorisch gemeinten Solipsismus der Methode………………………. 6.3 Descartes: Selbstvergewisserung durch wissenschaftliche Methode und durch Reflexion des Erkenntnissubjekts…………………………………………………... 6.4 Thomas Hobbes oder die politische Hintergrundserfahrung der Neuzeit. Die konfessionellen Bürgerkriege als Offenbarung einer Wolfsnatur und die Antwort der zweckrationalistischen Vertragstheorie…………………………….…. 6.5 Immanuel Kants Suche nach praktischer Vernunft oder: Einsehbare Verbindlichkeit in den Grenzen einer Zwei-Welten-Metaphysik und deren Gesinnungsethik………………………………………………………….…………. 6.5.1 Verallgemeinerbarkeitstest als Weg zur Verbindlichkeit…………………… 6.5.2 Recht und Grenze einer idealistischen Vernunftethik in dualistischem Rahmen………………………………………………………. 4 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie 7 ‚Kommunikation’. Die pragmatisch-hermeneutische Entdeckung der Kommunikation als Sinnbasis des Etwas-Denkens: Auf dem Wege zu einem dritten Paradigma der Philosophie. 7.1 Weichenstellungen zur Pragmatik. Sprachphilosophisch: W. von Humboldt, semiotisch und naturwissenschaftstheoretisch: Ch. S. Peirce.1……………………? [7.2 Diskurstheorie (Habermas) versus Transzendentalpragmatik (Apel) versus sokratische Diskurspragmatik.2]………………………………………………………………..? 7.3 Welches sind die Sinnbedingungen des Verstehens und Erkennens? Charakteristische Antworten auf die transzendentalpragmatische Frage: Aristoteles, Tugendhat und Heidegger I versus W. von Humboldt, Wittgenstein II und Diskurspragmatik………………………………………………………………….196 IV Wo bist Du? Hast du etwas unweigerlich in Anspruch genommen und es zu Recht als verbindlich anerkannt, indem du (anderen gegenüber) etwas geltend machst? Aufhebung von Metaphysik und Kritik durch Einholung unserer selbst als Diskurspartner. 1 2 In der Vorlesung nur angesprochen. Daher empfehle ich zur Lektüre: D. Böhler, H. Gronke, Artikel „Diskurs“, Hist. Wörterbuch der Rhetorik, Band 2, Tübingen 1994, S. 794798. J. Habermas, „Hermeneutische und Analytische Philosophie. Zwei komplementäre Spielarten der linguistischen Wende“. In: Ders., Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt a.M., Suhrkamp 1999, S. 65-101. Artikel „Diskurs, a.a.O., S. 811-819. 5 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie 1 Metaphysik als Seinsschau (Theoria) versus Erkenntniskritik im SubjektObjekt-Schema versus Lebenswelt- und Kommunikationsreflexion. 1.1 Metaphysik als Studienschwerpunkt und als Zentrum der Philosophiegeschichte oder: Entwicklungslogik der drei Paradigmen: Sein / Metaphysik – Subjekt / Erkenntniskritik – Sprache / Diskurs? Gestatten Sie mir eine kritische Vorbemerkung zum Studienprogramm, die Ihnen gleich Charakteristisches meiner Denkweise offenlegen soll, insoweit sie diese Vorlesung trägt. Sie wissen dann, woran sie mit mir sind und was Ihnen im Hintergrund, z.T. auch auf der Bühne dieses Kollegs begegnen wird, und können sich damit auseinandersetzen. Dieses bitte auch in offenen Diskussionen während der Vorlesungszeit. Zu meinem nicht geringen Erstaunen, zu meiner befremdeten Verwunderung scheint Metaphysik wieder Konjunktur zu haben. Und das Institut, dem ich angehöre, hat „Metaphysik / Ontologie“ als Studienschwerpunkt für den Bachelor-Studiengang festgesetzt. Zu meinem Befremden! Warum? Ich fragte mich: Mon Dieu, wie will man Metaphysik als Schwerpunkt eines Studiengangs rechtfertigen? Sollten wir nicht einerseits von den transzendentalen Subjektphilosophen Immanuel Kant und vor allem Edmund Husserl, andererseits von dem nachkantischen Kommunikationsphilosophen bzw. dialektischem ‚Aufheber‘ der Transzendentalphilosophie Karl-Otto Apel gelernt haben, daß Philosophie zunächst und immer auch Selbstverantwortung des Denkens bzw. des Denkers für seine Annahme sein sollte? Genaugenommen Selbstverantwortung im Diskurs der Argumente? Erstens wissen wir doch, daß Metaphysik einer Spekulation gleichkommt, die sich schwerlich argumentativ einholen läßt; einer Spekulation, die sich jedenfalls nicht in einer Argumentation mit Skeptikern begründen läßt, welche keine metaphysischen Vorannahmen, gleichsam weltanschauliche Glaubensannahmen, akzeptieren. Jedenfalls die klassische vorkantische Metaphysik – und solche gibt es auch in der Zeit nach Kant, etwa im Werke Ernst Blochs – ist so etwas wie eine große Weltanschauung auf dem schlüpfrigen Grunde frei schwebender Vermutungen, eine Spekulation über das Ganze, das Sein als Ganzes, oder, landläufig gesagt, über Gott und die Welt und den möglichen Zusammenhang beider. So war mein erster Einwand ein kritischer Verantwortungsimpuls: Metaphysik, das ist etwas, worüber sich nicht strikt argumentativ urteilen läßt, weil oder doch sofern sich ihre Spekulationen nicht ausweisen lassen im Rahmen strenger Vernunft, nicht prüfen lassen im Rahmen eines streng argumentativen Dialogs. Denn der vorkantische Metaphysiker bezieht 6 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie einen Standpunkt, den ‚wir‘ als Teilnehmer eines argumentativen Dialogs, in dem nur jetzt und hier gleichberechtigt diskutierbare Thesen zugelassen sind, überhaupt nicht einnehmen können. Der klassische Metaphysiker schließt ‚uns‘ Diskurspartner nämlich insofern aus dem Diskurs aus, als er methodisch unterstellt, die (von ihm geleistete) Seinserkenntnis stelle einfach eine Schau auf die Welt von einem Standpunkt außerhalb der Welt dar, den er selber einnehme. Eigentlich beansprucht er einen Gottesstandpunkt. ‚Wir‘ haben aber einen solchen privilegierten ‚Sehepunkt‘ nicht, vielmehr verstehen ‚wir‘ alles in einer Lebenswelt und vor dem Sinnhintergrund von Traditionen‚ Institutionen, Interessen etc. – mithin in einem Geflecht von Kommunikation und Deutungsperspektiven… Mein zweiter Einwand: Warum fragt man nicht nach einer Entwicklungslogik in der Philosophiegeschichte? Ignoriert man, daß auf die unmittelbare, die spekulative, dogmatisch an Begriffen sich entlang hangelnde Metaphysikbetrachtung des Ganzen, oder des Seienden im Ganzen, zu Recht die Kritik, insbesondere die Erkenntniskritik Immanuel Kants gefolgt ist? Die Transzendentalphilosophie? Diese geht aus von der erkenntniskritischen Frage: Welches sind die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis? Diese Erkenntnisvoraussetzungen müßten die Philosophen aufdecken und bedenken. Die müßten sie als Grenzen ihrer spekulativen Vernunft, der reinen Vernunft, anerkennen, wie Kant es ihnen ins Stammbuch geschrieben hat. Das war die kritische Fragestellung seiner Transzendentalphilosophie, weshalb diese dann von ihren neukantischen Vertretern schlicht als „die Kritische Philosophie“ bezeichnet worden ist – etwa von den großen Neukantianern Hermann Cohen in Marburg, Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert in Heidelberg. Über die neukantische Subjektphilosophie hinaus führte in gewisser Weise Ernst Cassirer, hervorgegangen aus der Marburger Schule. Denn sein Werk „Philosophie der symbolischen Formen“ (1925-1928) deutet den Übergang zu einer auf die Kommunikation, auf die Symbolvermitteltheit des Denkens achtenden, dafür sensiblen Philosophie jedenfalls an. Zwar steht eine konsequente Einbeziehung der Sprache und Kommunikation in die transzendentale Fragestellung Kants – nach den Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens – auch bei Cassirer noch aus, doch kommt sie jetzt auf die Tagesordnung. So können wir festhalten: Es hat erstens eine Aufhebung der klassischen Metaphysik durch die Erkenntniskritik gegeben und es gibt zweitens auch eine Selbstaufhebungstendenz der bewußtseinsphilosophischen Erkenntniskritik – hin zur Kommunikationsreflexion. Das war gewissermaßen mein zweiter Einwand. Daran schlossen sich noch manche Einwände an. Deswegen habe ich mir gesagt: Du liest, zumal wenn es um Philosophiegeschichte geht, nicht bloß über Metaphysik. Das kommt nicht in Frage. Du mußt gleich die 7 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie transzendentalphilosophische Metaphysik-Kritik in Spiel bringen – und dann auch die transzendentalpragmatische Aufhebungsreflexion der noch subjektphilosophisch eingeschränkten Erkenntniskritik, die nunmehr auf das Denken als Kommunizieren achtet, das Denken als Kommunizieren rekonstruiert und begreift. Dann aber meldete sich ein immanenter Einwand – ein Argument, das eine gewisse Selbstkorrektur meiner starken Ablehnungstendenz bedeutet, nämlich der Blick auf Sokrates. Ist es nicht etwas Wunderbares, daß bereits zu Anfang der Metaphysik der Griechen, von der die ganze metaphysische Tradition zehrt, schon eine methodische Kritik etabliert wird? Und zwar Kritik im Rahmen von Kommunikation und z.T. auch im Blick auf Kommunikation: Kritik als Funktion des Diskurses i.S. eines argumentativen Dialoges. Sokrates ist gewissermaßen die Verkörperung eines Denkens, welches – freilich vor einem metaphysischen Hintergrund, mit spekulativen Kosmosharmonie-Annahmen und ethisch eudaimonistischen Obertönen – Kritik etabliert im Blick auf das Sich-mit-AnderenUnterreden, im Blick auf eine Diskussion, in der nichts zählt als ein sinnvolles, jetzt im Diskurs prüfbares Argument. Sokrates hat die Kritik in seiner Lebenspraxis durchgestanden als Diskurs auf der Straße bzw. auf der Agora. Er war auch ein Mann der Straße, ein Mann, der auch auf der Straße die Anderen nötigt, das, was wir heute ihre Geltungsansprüche nennen, durch intersubjektiv geltungsfähige Gründe, durch Logoi, zu rechtfertigen. Er zeigt seinen Gesprächspartnern, daß sie mit ihrer Spruchweisheit, mit vorschnell verallgemeinerten Exempeln aus ihrer Lebenspraxis keinen Logos zu Stande bringen: kein Argument, welches verallgemeinerbar ist; kein Argument, welches auch für Andere, die von anderen Situationen ausgehen als denjenigen, die sie in ihren Beispielen hochstilisieren, nachvollziehbar, prüfbar und dann als wahr akzeptierbar ist. Darauf zielte Sokrates. Dieses positive Wahrheitsziel ist es, das ihn seine Gesprächspartner in die Kritik ziehen und in aporetische Situationen verstricken läßt. Davon geleitet, bringt er sie in die Lage, erkennen zu müssen, daß sie eigentlich gar nicht wissen, was sie zu wissen vorgeben. So sind in dem sokratischen Anfang der Metaphysik schon Kritik und Kommunikation verwoben. Das, meine Damen und Herren, ist es, was aus der bloßen Metaphysik im Abendland Philosophie werden läßt: diskursive, streitend dialogisierende Suche nach Wahrheit und Verbindlichkeit. Bloße, mehr oder weniger unkritisch spekulative Metaphysik gibt es auf dem Wege von archaischen Mythen zu Religionen und Weltanschauungen der frühen Hochkulturen in der von Karl Jaspers so genannten „Achsenzeit“ vielerorts. Doch im klassischen Griechenland, an dieser Wiege Europas, kommt es zur Philosophie im strengen 8 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Sinne, zum argumentativen Denken. Das lohnt es, immer neu zu bedenken. Ohne Philosophie kein Europa, aber eben auch: ohne Europa keine Philosophie. Die Entfaltung des Philosophierens durch Verknüpfung von Metaphysik, Kritik und Kommunikation bei ganz unterschiedlicher Gewichtung dieser drei Elemente zu rekonstruieren und zu diskutieren, heißt Philosophiegeschichte zu betreiben, beginnend in Athen. Der erste große systematische Philosoph ist Platon. Er ist der Metaphysiker des theorein, kein Mann der Straße mehr, der sich mit den Leuten in den Dialog hier und da konkret einläßt, vielmehr ein Mann höchster Aristokratie, der ganz am Rande, meistens auf einem Gut außerhalb Athens lebt. In Athen etabliert er seinen Garten Akademos als Lehrort, die später so genannte Akademie, von der die Athener damals kaum Notiz genommen haben. Für sie war die Platonschule nur eine Sekte, wie es viele Sekten in Athen gegeben hat; ein Kreis Eingeweihter, wie es viele Cliquen spekulativer oder mythischer Art gegeben hat. Platon ist viel auf Reisen; ansonsten existiert er zurückgezogen. Systematiker, der er ist, übt er gleich eine gewisse Kritik an Sokrates. Denn er gibt sich nicht damit zufrieden, in unmittelbaren, auch zufällig sich ergebenden Dialogen – gleichsam ad personam, ad hominem, auf den unmittelbaren Gesprächspartner bezogen, auf ihn zugreifend – sein Gegenüber zu verunsichern und auf den Weg des kritischen Selbstdenkens zu bringen. Nein, Platon sucht das, was wir heute, nach der kommunikationsbezogenen Wende des Denkens, als „intersubjektive Gültigkeit“ bezeichnen würden. Deswegen entfaltet er Konzepte wie die Ideenlehre und die Anamnesis, den Weg hin zur Erkenntnis von Ideen, die Annahme, daß man doch schon ein begriffliches Vorwissen braucht, um überhaupt sinnvoll nach etwas fragen zu können. Und so weiter. Freilich: So, wie Platon diese Konzepte entfaltet, wird das eine spekulativ metaphysische Methode im Rahmen einer rational uneinholbaren Kosmos-Spekulation. Und bei Aristoteles können wir das in gewisser Weise auch sagen: Auch hier der Anspruch, mehr Rationalität, mehr intersubjektive Gültigkeit oder – vorsichtiger gesagt: intersubjektive Geltungsfähigkeit – zu erlangen, um es modern auszudrücken. Und dann doch wieder der ganz handfeste, spekulative Anspruch, ein für alle Mal die Substanz, die ousía, das Wesen der Dinge, zu erkennen: gewissermaßen nicht mehr die Idee oder Struktur hinter der Welt zu erkennen, wie bei Platon, sondern in der Welt oder in den Dingen, die ousía áneu hýles, das Wesen ohne Stoff, die Form, die Struktur. Mitten darin aber plötzlich der Rückgriff auf die Reflexion à la Sokrates, wenn es um die Kritik von Gegnern geht, die fragen: ‚Wie willst du eigentlich deinen eigenen Ansatz, Aristoteles, als Logiker, begründen?‘ Hier greift er auf eine 9 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie sokratische Reflexion zurück: Den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch kann man nur begründen, sagt er zu seinen relativistischen herakliteischen Gegnern, wenn man reflektierend zurückgeht auf das, was ich und was du, was wir beide im Etwas-Verständlich-Machen, im Etwas-Sagen, im Für-eine-These-Geltung-Beanspruchen schon vorausgesetzt haben. Damit unsere These überhaupt verständlich und auch für Andere nachvollziehbar ist, haben wir schon vorausgesetzt, diese These widerspruchsfrei vorbringen zu können. Damit haben wir die Gültigkeit des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch bereits in Anspruch genommen und diesen als verbindliche Regel implizit anerkannt. So etwa begründet Aristoteles: Er entdeckt durch Reflexion im Gespräch mit dem Zweifler, daß der Geltungsanspruch der Verständlichkeit unhintergehbar ist – und daß seinen Implikationen allgemeine Verbindlichkeit zukommt. Derart kann man immer wieder zeigen, daß auch innerhalb der Metaphysik strikt rationale – will sagen: dialogreflexive – Anstöße da sind. So daß sich aus der Metaphysik der Weg zur Erkenntniskritik gleichsam herauswindet, und aus dieser dann der Weg zur Reflexion darauf, daß auch das Erkenntnissubjekt ein Kommunikator ist, ein Diskursteilnehmer. So schließt sich an Kants, noch klassisch vorkommunikativ konzipierte, transzendentale Anlage 8 Erkenntniskritik die Reflexion auf das Einbezogensein in den Sinnzusammenhang einer (oder mehrerer) Sprach- und Handlungsgemeinschaft(en) an. Im dritten Paradigma macht sich die Philosophie zunächst klar, daß alles Denken und jede (im weitesten Sinne) kognitive Beziehung von vornherein in einem sprach- bzw. zeichenhaften Kontext steht, - und daß diese Kontextualität eine Bedingung der Möglichkeit von Denken und Kognition ist. Man fragt also, was es für die Begriffe des Denkens und der Erkenntnis (im weitesten Sinne) bedeutet, daß dem „Ich“ von vornherein eine eigene Lebenswelt gemeinsam mit den anderen Teilhabern dieser Welt, und zwar grundsätzlich auf dieselbe Weise, erschlossen und vertraut ist. Man reflektiert darauf, daß die Anderen und ich eine gemeinsame Sinnwelt teilen, eine „Weltansicht“, wie Wilhelm von Humboldt sagt. So entdeckt man das geschichtliche Sprachund Sinnapriori, die „geschichtlich pragmatische Sinndimension“ (Böhler). Die so entdeckte „geschichtlich pragmatische Sinndimension“ beruht darauf, daß jeder (jedes mögliche Subjekt) sich nur von uns sich nur Kraft Vermittlung der Zeichen, Begriffe und Handlungsweisen einer Sprache – in diesem Sinne redet Wittgenstein von „Sprachspielen“ – überhaupt eine Beziehung zu Dingen, zu anderen und zu sich selbst (seinen Gedanken, Antrieben, Wünschen usw.) haben kann. 10 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Nun ist aber – das überspringen die meisten Vertreter der sprachpragmatisch-hermeneutischen Wende, dieser Neuorientierung der Philosophie hin zur Sprache, zur Lebenswelt und zum Diskurs – mit dieser geschichts- und kulturrelativen Sinndimension, dieser z.T. ‚weichen‘ Dimension, die den Kulturrelativisten und Historisten Recht zu geben scheint, die gleichsam harte Dimension der allgemeinen, geschichts- und kulturübergreifenden Geltungsansprüche, Sinnkriterien und Geltungsstandards verwoben. Darum ging es der subjekt- oder bewußtseinsphilosophischen Transzendentalphilosophie Kants und Transzendentalphänomenologie Husserls, aber auch schon der Ideenlehre Platons und der Logik des Aristoteles. Und höchst bedeutsamerweise hat diese geltungspragmatische Dimension, die sich in jedem unserer Sprechakte und Dialogbeiträge zeigt, auch eine moralische Verbindlichkeit. Anlage 9 Wir können uns das zu Bewußtsein bringen, indem wir uns fragen, was wir eigentlich anerkennen und beachten müssen, wenn wir mit anderen zu kommunizieren. Normativ gewendet: Habe ‚ich’ mich als Diskurspartner eigentlich schon zu etwas – und wozu genau – verpflichtet, wenn ‚ich’ mit Anderen kommuniziere? Soviel gewissermaßen als offenlegende, daher vorgreifende Einleitung in diese Vorlesung, als Fingerzeig, wie sie zu verstehen ist, und wie man sich meines Erachtens heute, nach der linguistischen und pragmatisch hermeneutischen Wende ernsthaft mit Metaphysik als einer Grundströmung der Philosophie und ihrer Geschichte beschäftigen kann und sollte. 1.2 Zum Begriff und zur Kritik der Metaphysik. ‚Was heißt Metaphysik?’ Anders gefragt: Gibt es in der Geistesgeschichte gemeinsame Leitthemen, Gegenstände und Fragen dessen, was wir im Rückblick auf das Denken seit der vorsokratischen und nachsokratischen Antike „Metaphysik“ nennen? Ja. Wir begegnen immer wieder spekulativen Themen, die als solche weder empirisch durch Theorien, Beobachtungen und Experimente i. S. kausaler Gesetzeserklärungen objektivierbar sind, noch durch erkenntnis- und sinnkritische Reflexion auf interne und unvermeidbare, weil erkenntnistragende und eine Erkenntnis oder sinnvolle Erörterung erst ermöglichende, Voraussetzungen (Kant: „Bedingungen der Möglichkeit“ von Erkenntnis) aufweisbar sind, – Themen, die aber von denkenden Menschen nach den archaisch mythischen Kulturepochen immer wieder aufgebracht werden. Dazu gehören in erster Linie: Anlage 2 11 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie 1) Das Ganze als Inbegriff dessen, vom dem sich – vermutlich – Existenzaussagen (der Form: ‚p existiert’, ‚p existiert wirklich’) behaupten lassen. Dafür steht seit der griechischen Antike der Kunstausdruck „das Sein“. Metaphysik ist traditionell die Lehre vom „Seienden, insofern es ist“3 (Aristoteles), und von dem „Umgreifenden“ (Jaspers), dem Sein als einen Ganzen, das mehr sei (Euklid, Laotse), nämlich „ursprünglicher“4 (Aristoteles) als die Summe seiner Teile, d. h. des je einzelnen Seienden. Diese „ontologische Differenz“ werde, so Heidegger, jedoch von der Metaphysik vernachlässigt und von den modernen Wissenschaften, die „gesonderte Gebiete des Seienden“ zum Objekt machen, ganz übergangen, so daß „das Sein selbst vergessen“ werde.5 2) Das Ganze a) als Inbegriff eines (vermeintlich) objektiven, unvordenklich 6 vorgegebenen und (vermeintlich nur) teleologisch verstehbaren, etwa von (→ objektiv einem Schöpfer teleologisch gegebenen angesetzte Sinnzusammenhangs Seins- bzw. Schöpfungstheologie), b) als Inbegriff eines möglichen Sinnzusammenhangs, d. h.: Wir Menschen können unser Verhältnis zum All nur verstehen, indem wir ihm Sinn abgewinnen (→ Sinnentwurf einer hypothetischen Metaphysik/Theologie als „rationaler Mythos“ i. S. von Hans Jonas). 3) Der teleologische und theologische Begriff des „Ganzen“ führt auf den Begriff eines Zentrums und ursächlichen Grundes eines solchen Ganzen: In zahlreichen (mythisch-)metaphysischen Traditionen – Sonderfall Buddhismus – ist das „Gott“, z. B. als ‚Demiurg’ oder ‚Schöpfer’, und in den biblischen Traditionen (AT und rabbinische, NT und christliche Lehren) auch als 3 4 5 6 Aristoteles, Metaphysik, IV, 1, 1003 a 21 – 32. Aristoteles, Politik, I, 2, 1253 a, 20. Vgl. a.a.O., 19-29. M. Heidegger, Was ist Metaphysik?, Frankfurt a. M. 81960, bes. Einleitung. Ders., Vom Wesen des Grundes, Frankfurt a. M. 41955, S. 5. Ders., Zur Seinsfrage, Frankfurt a. M. 41977, S. 38 f. In welcher begrifflichen Nähe Heidegger trotz seines Pathos einer „Verwindung der Metaphysik“ zu Aristoteles steht, verrät gerade der zuletzt angegebene Passus mit der Entgegensetzung von Wissenschaften und Denken des Seins als dem „ganz Anderen zum Seienden“; vgl. Aristoteles, Metaphysik, IV, 1. Wenn man einen Zusammenhang, der einem selbst geordnet erscheint, objektiv teleologisch versteht, deutet man ihn als zweckvoll angelegt. Dabei unterstellt man häufig ein Subjekt, welches diese zweckvolle Anlage verursacht oder geschaffen hat – einen schöpferischen Geist. 12 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie personales Gegenüber, als Inbegriff der Gerechtigkeit und barmherzigen Liebe. Verwandt ist der Gottesbegriff der dritten abrahamitischen Religion, des Islams. Zeitlich bzw. denkepochal erstreckt sich Metaphysik in verschiedensten Ausprägungen vom mythischen Denken über die griechische theoria bis in die gegenwärtige Philosophie – zum Teil auch innerhalb der, seit Kant, weithin metaphysikkritisch gewordenen Philosophie. Als inhaltlicher Überblick bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts empfiehlt sich das exemplarische Werk von Karl Jaspers: „Die großen Philosophen. Erster Band: Die maßgebenden Menschen: Sokrates, Buddha, Konfuzius, Jesus. Die fortzeugenden Gründer des Philosophierens: Plato, Augustinus, Kant. Aus dem Ursprung denkende Metaphysiker: Anaximander, Heraklit, Parmenides, Plotin, Anselm, Spinoza, Laotse, Nagarjuna“ (München: Piper 1957, Neuauflage 1981). Mit Ausnahme Kants thematisiert Jaspers in diesem bedeutenden Werk ausnahmslos spekulative Metaphysiker, die also weder erkenntniskritisch im Sinne der Kantischen transzendentalen Rückfrage nach Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis, noch gar sinnkritisch denken, also nicht gemäß der Frage nach den Sinnbedingungen und Sinngrenzen metaphysischer Theorien: ‚Wann wird eine metaphysische Position ein sinnloses Argument in einem jetzt zu führenden Dialog? Nicht mit dem weiten, explizit nachkantischen Horizont von Jaspers, sondern zumal metaphysik-immanent, ja eher dogmengeschichtlich, angelegt ist das 2001 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienene Buch Jörg Disses, „Kleine Geschichte der abendländischen Metaphysik. Von Platon bis Hegel“. Was den Geltungsstatus metaphysischer Theorien anbelangt, so plädiert jedoch auch Disse dafür, diesen „nur einen grundsätzlich hypothetischen Charakter“ zuzubilligen. Er schreibt aber der Metaphysik die Kraft zu, das auf naturwissenschaftlichen Theorien gründende Wissen „zu einem einheitlichen Verständnis von Welt zusammenzudenken bzw. von einem spekulativen Einheitspunkt aus rückwärts schreitend“ dieses Wissen in seinen wichtigsten Grundzügen einzuholen (!). Befremdlicherweise referiert Disse die Positionen der traditionellen Metaphysik von Platon bis Hegel bloß und hat überhaupt kein Verständnis für die Notwendigkeit einer Sinnkritik der traditionellen Metaphysik. Den Sinnlosigkeitsverdacht, der mit der linguistischen und der pragmatisch-hermeneutischen Wende des Philosophierens begründeterweise aufgekommen ist, scheint er für eine abwegige Zumutung zu halten und unterstellt einfach, daß die Aussagen der traditionellen Metaphysiker sinnvoll sind und daher auch aktuell sein können. 13 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Karl Jaspers’ Darstellung ist in diesem Betracht durchaus differenzierter, wiewohl er selbst die linguistische und pragmatisch-hermeneutische Wende nicht nachvollzogen hat und nicht auf deren Niveau philosophiert. Aber er ist konsequent durch Kant hindurchgegangen. Überdies hat er ein Gespür für das Unzureichende der Subjekt-Objekt-Beziehung und des Subjekt-Welt-Dualismus, aus dem heraus die neuzeitliche Metaphysik denkt. Da er zudem selbst die Kommunikation mehr und mehr in den Mittelpunkt seines Denkens gerückt hat, ist er auch des methodischen Solipsismus unverdächtig, der die metaphysische Tradition durchzieht. Freilich vermißt man eine sinnkritische Aufarbeitung der metaphysischen Positionen unter der Frage, was von ihnen noch gelten bzw. aufgehoben werden kann, wenn die drei Strukturfehler der Metaphysik, jedenfalls der traditionellen – nicht durch Kants Vernunftkritik noch durch eine (transzendental-)pragmatische Sinnkritik hindurchgegangenen – Metaphysik, beseitigt würden, nämlich Anlage 3 das Denken aus einem uneinholbar theoretischen Gesichtspunkt heraus, gleichsam von einem Gottesstandpunkt außerhalb der Welt auf diese ‚schauend‘ – als sei sie (erstens) so etwas wie ein Ding, und als könne man dieses (zweitens) kommunikations- bzw. sprachunabhängig, also methodisch einsam ‚wahrnehmen‘, statt sie traditions- und vorverständnisabhängig deuten zu müssen, also hypothetisch, mithin kritik- und konsensbedürftig; die Unterstellungen eines methodischen Solipsismus, nämlich, daß einer alleine, jeder Metaphysiker für sich, Sinn und Bedeutung sowie Wahrheit und Gewißheit der Wahrheit erlangen könne; d. h. ohne die Vermittlung seiner Thesen durch die reale Kommunikationsgemeinschaft (z. B. Tradition) berücksichtigen zu müssen, und ohne als letzten Geltungsmaßstab die sinnvolle Vertretbarkeit und die argumentative Zustimmungswürdigkeit seiner These im Rahmen einer (als regulative Idee vorauszusetzenden) unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft zum Kriterium zu machen; die damit verwobene Erkenntnishaltung einer Subjekt-Objekt-Spaltung bzw. eines Dualismus zwischen Erkenntnissubjekt und Welt als Inbegriff möglicher Erkenntnisobjekte, welche nach dem Muster dinglicher Gegenstände verstanden, also verdinglicht werden. Diese drei Strukturprobleme sollten wir bei jeder Auseinandersetzung mit der Metaphysik genau im Auge behalten. Ohne den Blick darauf läuft die Beschäftigung mit Metaphysik ins 14 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Naive und Dogmatische. Das gilt aber auch für die Diskussion aller anderen philosophischen Positionen, die sich nicht als Metaphysik verstehen. Auch sie können genau diese Strukturfehler haben, schließlich liegen diese nicht offen zutage, sondern werden gleichsam hinterrücks mitgeschleppt. 1.3 Ist Metaphysik nach Kant und nach der pragmatisch-hermeneutischen Wende möglich? Das Beispiel von Hans Jonas’ „rationalem Mythos“. Für die Gegenwart möchte ich Ihnen ein besonders reiches und reflektiertes Beispiel eines eigenständigen metaphysischen Ansatzes vorstellen, nämlich den „rationalen Mythos“ von Hans Jonas. Dazu sei zweierlei bemerkt. Einmal steht dieser Versuch nicht im Zentrum seines Denkens, welches sich nämlich von einer kritischen, nämlich entmythologisierenden Hermeneutik, ausgeübt vor allem an dem Gnostizismus und der Metaphysik von Augustinus, über eine leibphänomenologisch orientierte Evolutionstheorie des Lebens bzw. einer philosophischen Biologie hin zur Ethik der Zukunftsverantwortung in der technologischen Gefahrenzivilisation erstreckt. Zum anderen, und das geht uns jetzt vor allem an, stellt Jonas’ rationaler Mythos einen bemerkenswert metaphysikkritischen metaphysischen Versuch dar. Denn er nimmt – erstens – die erkenntniskritische Wende zum transzendentalphilosophischen Paradigma einer Erkenntnistheorie auf, die nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis fragt und von daher die Grenzen, innerhalb derer ein metaphysischer Versuch gelten kann, eng zieht: Hier sei keine Gewißheit der Wahrheit möglich, so daß es sich nur um „metaphysische Vermutungen“ handeln könne, welche keinen höheren Geltungsstatus als den der Plausibilität zu erreichen vermögen. Jonas berücksichtigt Kants Kopernikanische Wende von der vergleichsweise naiven Seinsschau zur Rückbesinnung auf die Erkenntnisvoraussetzungen des Subjekts gleich in seinem metaphysischen Versuch. Zweitens gibt er eine logische Kohärenzkritik und eine avant la lettre sprachpragmatische Sinnkritik an Grundgehalten der jüdischen und christlichen Theologie, dem spekulativen Zentrum der europäischen Metaphysik als philosophischer Theologie. Zunächst prüft er die Kohärenz der drei Gottesattribute der absoluten Güte, der absoluten Macht oder Allmacht und der Verstehbarkeit. Von diesen Attributen sagt Jonas, sie stünden „in einem solchen Verhältnis, daß jede Verbindung von zweien von ihnen das dritte ausschließt“. Und er fährt fort: „Die Frage ist dann, welche von ihnen sind wahrhaft integral 15 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie für unseren Begriff von Gott und daher unveräußerlich, und welches dritte muß als weniger kräftig dem überlegenen Anspruch der anderen weichen? Gewiß nun ist Güte, d. h. das Wollen des Guten, untrennbar von unserem Gottesbegriff und kann keiner Einschränkung unterliegen. Verstehbarkeit oder Erkennbarkeit, die zweifach bedingt ist: vom Wesen Gottes und von den Grenzen des Menschen, ist in letzterer Hinsicht allerdings der Einschränkung unterworfen, aber unter keinen Umständen duldet sie totale Verneinung. Der deus absconditus, der verborgene Gott (nicht zu reden vom absurden Gott), ist eine zutiefst unjüdische Vorstellung.“7 Anlage 10 Schließlich beruhe die Thora darauf, daß wir Gott verstehen können, „nicht vollständig natürlich, aber etwas von ihm – von seinem Willen, seinen Absichten und sogar von seinem Wesen, denn er hat es uns kundgetan.“8 Wir besäßen ja seine Gebote, die wir befolgen sollen, also verstanden haben müssen. Zudem habe Gott durch seine Propheten, wenn auch in dem beschränkenden Medium der Sprache einer Zeit, mit den Menschen gesprochen. Daher sei die Annahme eines gänzlich verborgenen, unverständlichen Gottes ein unannehmbarer Begriff. Unannehmbar sei auch ein Gottesbegriff, welcher Gott zusammen mit der Allgüte auch Allmacht zuschreibt: „Nach Auschwitz können wir mit größerer Entschiedenheit als je zuvor behaupten, daß eine allmächtige Gottheit entweder nicht allgütig oder (in ihrem Weltregiment, worin allein wir sie erfassen können) total unverständlich wäre. Wenn aber Gott auf gewisse Weise und in gewissem Grade verstehbar sein soll (und hieran müssen wir festhalten), dann muß sein Gutsein vereinbar sein mit der Existenz des Übels, und das ist es nur, wenn er nicht allmächtig ist. Nur dann können wir aufrechterhalten, daß er verstehbar und gut ist und es dennoch Übel in der Welt gibt“.9 Diese immanente Kritik ergibt sich aus einer Kohärenzprüfung, welche auf seiten ihres Gegenstands nichts voraussetzt als den Anspruch, den jeder, der eine Lehre vorbringt, notwendigerweise schon erhoben hat: den elementaren Geltungsanspruch der Verständlichkeit dieses seines Diskursbeitrags. An diese immanente Kritik, die von der diskurspragmatischen Einsicht in die Unhintergehbarkeit von Geltungsansprüchen ausgeht, schließt Jonas eine 7 8 9 Hans Jonas: „Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme“, in: ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M.: Insel 1992, S. 203 f. A.a.O. Ebd., S. 203 f. 16 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie direkt sprachpragmatische und implizit diskurspragmatische Sinnkritik des Begriff „Allmacht“ an: Die Rede von Allmacht sei sinnlos, weil wir bei jeder Verwendung des Begriffs „Macht“ mitverstehen und voraussetzen müssen, es auch umgangssprachlich bzw. lebensweltlich tatsächlich voraussetzen, daß sich eine Macht auf die Existenz von etwas anderem bezieht, das als solches schon eine Begrenzung der Macht ist. Macht sei kein einsames und von daher gänzlich autarkes, sondern ein immer schon sozial bezogenes Phänomen, welches einen Gegenstand oder ein Gegenüber voraussetze, worauf es wirken könne, um es zu überwinden. Die Annahme einer absoluten Alleinmacht wäre liefe ins Leere. Denn sie behauptete eine „machtlose Macht, die sich selbst aufhebt. ‚All’ ist hier gleich Null [...]. Kurz, Macht ist ein Verhältnisbegriff und erfordert ein mehrpoliges Verhältnis [...]. Macht kommt zur Ausübung nur in Beziehung zu etwas, was selber Macht hat. Macht, wenn sie nicht müßig sein soll, besteht in der Fähigkeit, etwas zu überwinden; und Koexistenz ist als solche genug, diese Bedingung beizustellen. Denn Dasein heißt Widerstand und somit gegenwirkende Kraft.“ Daher könne es nicht sein, „daß alle Macht auf Seiten eines Wirksubjekts allein sei. Macht muß geteilt sein, damit es überhaupt Macht gibt“.10 Genau aus diesem, wie Jonas sagt, zugleich logischen und ontologischen Grund – wir können genauer sagen: aus diesem sprachpragmatisch-logischen und sozial-ontologischen Grund –, daß die Rede von Allmacht sinnlos und das Phänomen einer Allmacht in der Wirklichkeit nicht denkbar sei, müsse auf das Attribut der absoluten Macht Gottes verzichtet werden. Wir bemerken also, daß Jonas’ rationaler Mythos eine gewissermaßen metaphysikkritische Metaphysik darstellt. Denn sein Urheber nimmt Kants Beschränkung des Gültigkeitsstatus aller Spekulationen auf, übrigens gleich zu Anfang des Vortrags „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“. Zudem bringt er zweimal den grundlegenden Geltungsanspruch der Verstehbarkeit der Rede ins Spiel; das zweite Mal, indem er den metaphysisch-theologischen Begriff der Allmacht selbst an diesem Anspruch mißt und daher als sinnlos, weil nicht verstehbar verwirft. Gestatten Sie, daß ich nach dieser Pointierung des metapysikkritischen Charakters von Jonas’ „unverhüllt spekulativer Theologie“11 dieses Stück in den Kontext seines Denkens rücke. So aber, daß der Referierte dabei selber angesprochen wird, insofern ich Ihnen ein Stück aus der Berliner Ehrenpromotion von Hans Jonas im Jahre 1992 vor Augen führe: Die Laudatio. 10 11 Ebd., S. 201 f. Ebd., S. 190. 17 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Video: Einzug ins Auditorium Maximum 1.3.1 Hans Jonas – von der Hermeneutik der Entmythologisierung zur Ethik der Zukunftsverantwortung.12 Laudatio des Dekans, Professor Dr. Dietrich Böhler Verehrter Herr Professor Jonas, meine Laudatio spielt sich nach einem hermeneutischen Auftakt in zwei Teilen ab: „Rationaler Mythos und Aufhebung des Dualismus“ zunächst, „Metaphysisch ontologische Wertlehre und ‚Prinzip Verantwortung‘“ sodann. Aus Ihrer frühen Forschung kann ich nur auf ein wertvolles Instrument hinweisen: auf Ihre, in Rudolf Bultmanns theologischem Seminar entwickelte Methode, Dogmen und Mythen rational zu erschließen, Ihre Hermeneutik der Entmythologisierung. Von Heidegger und auch von Hegel belehrt, zeigen Sie in Ihrer Frühschrift „Augustin und das paulinische Freiheitsproblem“, Göttingen 1930, daß der Geist nur über den Umweg des Symbols „zu sich kommen könne“; genauer gesagt, über eine Veranschaulichung und Verdinglichung seiner wesentlichen Daseinsprobleme und Daseinserfahrungen. Diese liegen eigentlich in seinem Verhältnis zu sich selbst. Aber in seiner Kindheit, einer unreflektierten Entwicklungsphase, neigt der Geist dazu, sich innere Daseinsprobleme und -erfahrungen zu erklären, indem er sie projiziert auf angeblich objektive Ereignisse oder Mächte außer sich. So erklärt Augustinus – wirkungsträchtig am Anfang des abendländischen Verständnisses von Freiheit und Moralität – das Dilemma des menschlichen Willens, einerseits moralisch sein zu wollen, andererseits aber unmoralischen Willensrichtungen zu folgen, etwa der Selbstliebe, dem Hochmut und dem bösen Begehren bzw. Haben-Wollen, mit dem (m.E. unbiblischen) Mythos der Erbsünde: Augustinus führt also ein Dilemma des Willens zurück auf die vermeintlich schicksalhafte Kausalität von Adams Sündenfall. Indem Sie, Professor Jonas, diesen Mythos als veranschaulichende Objektivierung eines inneren, existentialen Dilemmas enthüllen, wird exemplarisch zweierlei geleistet: rationale Kritik an einem Mythos, die diesen als Verzerrung eines Existentialphänomens bestimmt, und Rettung des zugrunde liegenden Dilemmas als eines Phänomens unseres moralischen Selbstverhältnisses. Auf diese Weise bewahrt Ihre Methode den Gehalt von 12 Durchgesehene und stellenweise erweiterte Fassung. Original in: Herausforderung Zukunftsverantwortung. Hans Jonas zu Ehren, hrsg. von D. Böhler und R. Neuberth, Münster: LIT, 2. Aufl. 1993, S. 27-36. 18 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Dogmen und Mythen vor einem rationalistischen Verdikt und macht sie uns als Beiträge menschlicher Selbstverständigung zugänglich. Rationaler Mythos und Aufhebung des Dualismus Ihre Methode einer nicht-mythologischen Rekonstruktion von Mythen war also nicht dekonstruktiv sondern sinnerschließend: Rekonstruktion von Erfahrungen und Problemen des Daseins. Daher schuf sie einen Spielraum, den der Geist braucht, um die letzten Fragen, die spekulativen Fragen, stellen und gehaltvoll erörtern zu können; jene Fragen, die uns existentiell und gleichsam gattungsexistentiell angehen, als Personen und als menschliche Wesen in einem materiellen All. Da ist zunächst das Ur-Rätsel: Wie können wir uns verständlich machen, daß aus „den stummen Wirbeln“ von Materie Subjektivität hervorgegangen ist? Das ist wohl die erste jener Fragen, deren Antworten stets hinausgehen über die Grenzen unserer möglichen Erfahrung. Für solche Antworten können wir nicht mehr legitim den Anspruch des Wissens und einer rationalen Gewißheit erheben. Immanuel Kant hat uns gezeigt, daß es hier kein Wissen der Wahrheit, keinen Nachweis intersubjektiver Gültigkeit geben kann, obwohl uns diese Fragen umtreiben. Die Vernunft, sagt Kant, wird „durch ihr eigenes Bedürfnis getrieben“ zu metaphysischen Fragen, „die durch keinen Erfahrungsgebrauch der Vernunft und daher entlehnte Prinzipien beantwortet werden können“ (KdrV, B 21). Sofern der Mensch homo metaphysicus ist, muß es möglich sein, metaphysische Fragen zu erörtern und sinnvolle Antworten darauf zu versuchen. Erst wenn wir das tun, verhalten wir homines metaphysici uns dialogisch verantwortlich, weil wir unseren Dialogpartnern nur dann in Orientierungsfragen Rede und Antwort stehen können, wenn wir uns auch metaphysisch oder theologisch befragen lassen: Woher kommen wir? Wie können wir Menschen uns im Ganzen des Seins und dieses im Blick auf uns verstehen? Was hat es mit Gott auf sich? Und wenn es damit etwas auf sich haben mag, was kann es für unser Leben bedeuten? Wer bei solchen Fragen von vornherein auf das Ziel rationaler Gewißheit verzichtet, der darf, so Hans Jonas, im Blick auf „Sinn und Bedeutung sehr wohl über solche Dinge nachdenken“.13 Der kann sich im Dialog auch metaphysisch verantworten, indem er sinnvolle Antworten sucht: 13 Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1987, S. 9. 19 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie - Reflektierte Antworten, die auf den Anspruch ausweisbarer Wahrheit, erweisbarer Gültigkeit, von vornherein verzichten, - sinnvoll diskutierbare Antworten, die uns eine Orientierung anbieten, welche logisch stimmig ist und zu unserem Erfahrungswissen nicht etwa in ausschließendem Widerspruch steht, sondern sich daran anschließen läßt. Eine solche hypothetische Antwort nennt Hans Jonas ‚rationalen Mythos‘. Dreimal, wenn ich richtig sehe, Herr Jonas, haben Sie einen rationalen Mythos entworfen bzw. modifiziert und entfaltet: 1961 in dem Harvard-Vortrag „Unsterblichkeit und heutige Existenz“, deutsch in dem 1963 erschienenen Band „Zwischen Nichts und Ewigkeit“, 1984 in dem Vortrag bei Entgegennahme des Rabbi Leopold Lucas-Preises, „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“, und 1988 in der Schrift „Materie, Geist und Schöpfung“. Ihr erster Entwurf wie auch die späteren gehen von Grundlagen moderner Welterfahrung aus: von deren bedingungsloser Immanenz und von dem methodischen Atheismus der Wissenschaften. Der moderne Geist bestehe darauf, „unser In-der-Welt-Sein ernst zu nehmen: die Welt als sich selbst überlassen zu sehen“.14 Dasselbe fordert Ihr Mythos für „Gottes In-der-Welt-Sein“: Ein sinnvoller Gottesbegriff könne Gott zwar als den schöpferischen Grund des Seins charakterisieren, aber doch nur als den absolut machtlosen, dem Abenteuer der Evolution und damit der Menschheit ausgeliefert: „Im Anfang [...] entschied der göttliche Grund des Seins, sich dem Zufall, dem Wagnis und der endlosen Mannigfaltigkeit des Werdens anheimzugeben. Und zwar gänzlich: Da sie einging in das Abenteuer von Raum und Zeit, hielt die Gottheit nichts von sich zurück [...]. Vielmehr, damit Welt sei, und für sich selbst sei, entsagte Gott seinem eigenen Sein; er entkleidete sich seiner Gottheit ... Nachdem er sich ganz in die werdende Welt hineingab, hat Gott nichts mehr zu geben: jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben. Und er kann dies tun, indem er in den Wegen seines Lebens darauf sieht, daß es ... nicht zu oft geschehe, und nicht seinetwegen, daß es Gott um das Werdenlassen der Welt gereuen muß. Dies könnte wohl das Geheimnis der ‚sechsunddreißig Gerechten‘ sein, die nach jüdischer Lehre der Welt niemals mangeln sollen.“15 In dem Vortrag „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“, der ausdrücklich die Brücke zur kabbalistischen Lehre vom Zimzum schlägt und in Analogie zu Schellings Spekulation von der Zusammenziehung, der Kontraktion Gottes auf einen bloßen Punkt, gelesen werden kann, 14 15 Hans Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1963. S. 56. Hans Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit, S. 55, 56 u. 60. 20 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie geben Sie mit diesem Mythos eine Antwort auf die, durch Auschwitz wahrhaft abgründig gewordene, Hiobsfrage, die der Antwort des Buches Hiob entgegengesetzt ist: Diese, sagen Sie, „beruft die Machtfülle des Schöpfergottes; meine seine Machtentsagung. Und doch – seltsam zu sagen – sind beide zum Lobe: Denn der Verzicht geschah, daß wir sein könnten. Auch das, so scheint mir, ist eine Antwort an Hiob: daß in ihm Gott selbst leidet. Ob sie wahr ist, können wir von keiner [scil: spekulativen] Antwort wissen.“16 Ihre Schrift „Materie, Geist und Schöpfung“ stellt den Mythos in den Rahmen einer Teleologie, einer aristotelischen Theorie vom zweckvollen und zweckgerichteten Sein, mit der Sie auf die Kehrseite einer großen Errungenschaft des abendländischen Denkens im Sinne eines „Einerseits ... andererseits“ reagieren. Einerseits rühmen Sie z.B. an Platon, Paulus und Augustinus, an Descartes und Kant, Pascal und Kierkegaard, die Entdeckung der Seele, die Herausarbeitung der Subjektivität und Reflexivität des Menschen als Hiatus zur Natur. Es gehe darum, „genug von der dualistischen Einsicht“ zu bewahren, „damit die Menschlichkeit des Menschen (...) erhalten“17 werde. Daraus folgt eine Zurückweisung jeder Einheits- oder Ganzheitsanschauung; sei es ein materialistischer Monismus, der selbstwidersprüchlich das Geistes- und Seelenleben auf materielle Determinanten zurückführen will, sei es auch ein ökologischer Holismus, der den Menschen als bloßen Teil der Natur ansieht, als bloßes Moment einer kosmischen Lebensgemeinschaft oder eines Superökosystems. Eine solche Ganzheits- und Einheitsanschauung wäre nicht minder selbstwidersprüchlich, weil jede Theorie, auch eine holistische, sich der Freiheit des Geistes verdankt, die alles bloß Natürliche gerade überschreitet und distanziert; überdies, weil die praktisch normativen Sätze, die Verhaltensforderungen ökologischer bzw. physiozentrischer Einheitsdenker nur Sinn machen, wenn zweierlei geleistet wird. »Erstens ist nämlich eben das zu unterscheiden, was jene zusammenwerfen: Sein und Sollen, beschreibende Sätze über das Seiende und vorschreibende Sätze über richtiges Verhalten. Zweitens ist allererst zu demonstrieren, daß ein Skeptiker, der an physiozentrischen Wert- und Normensätzen zweifelt, sich selbst widersprechen müsse. Wann täte er das? Dann und nur dann, wenn er durch diesen Zweifel seine Rolle als Diskurspartner mißachten bzw. sie zerstören müßte. Das wäre aber erst dann nur insoweit der Fall, wenn die Wert- und Normensetzung eines Physiozentristen sich überlappt mit dem normativen Gehalt von Sinnbedingungen der Rolle eines Diskurspartners. Das ist ja möglich, etwa wenn und insoweit z.B. der Physiozentrismus direkt einen Lebensschutz fordert, der 16 17 Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 48 f. Hans Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit, S. 25. 21 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie dem Schutz einer Existenzbedingung der Vernunft und Verantwortung, mithin des Diskurses, gleich kommt18, oder wenn die Ablehnung / Bezweiflung einer Lebensschutzforderung aus anderen Gründen unvereinbar wäre mit der Glaubwürdigkeit eines Diskurspartners.19 Eine solche Demonstration ist der eigentliche Beweiszug der transzendentalen Diskurspragmatik, welche eine Diskursethik als Prinzipienethik begründet. Wie? Indem sie die Unbezweifelbarkeit des moralischen Gehalts von Geltungsansprüchen und vorgängigen Dialogversprechen im Dialog mit einem Skeptiker sokratisch aufweist.«20 Vorverweis auf Anl. 11 So entschieden Hans Jonas mit dem abendländischen Denken die „transzendierende Freiheit des Geistes“21 und damit die Sonderstellung des intelligenten und moralisch freien Menschen im Kosmos betont, so scharf kritisiert er andererseits die dualistische Metaphysik, die vielfach der Preis für deren Herausarbeitung gewesen ist. Von der Gnosis bis zum Existentialismus, von Augustin bis hin noch zu Heidegger findet Jonas einen, in dieser Form nicht haltbaren, Dualismus von Mensch und Natur, Seele und Leib, Geist und Materie oder dessen indirektes Fortwirken. Auch bei Heidegger hörte man „nichts vom ersten physischen Grund des Sorgenmüssens: unserer Leiblichkeit, durch die wir ... bedürftig-verletzlich in die Umweltnatur verwoben sind, zuunterst durch den Stoffwechsel“.22 Ihre Dualismus-Kritik – genährt vom hebräisch biblischen Denken, bestärkt von dem griechischen Arztsohn Aristoteles – und Ihre Kriegserfahrung der verletzlichen Leiblichkeit brachte Sie in Opposition zu dem Hauptstrom der Metaphysik, wie auch zum szientistischen Naturverständnis. In der Seinsweise, die wir mit allem Lebendigen teilen, dem Organismus, sahen Sie den metaphysischen Dualismus widerlegt; daher erschien „das Ziel einer Philosophie des Organischen oder einer philosophischen Biologie“ vor Ihren Augen. „Dafür bedurfte es aber einer Kenntnis der wissenschaftlichen Biologie in ihrem Ertrag und ihrer Methode. Daran wurde ich noch einmal zum Schüler“23 – so beschreiben Sie die Vorbereitung Ihrer philosophischen Biologie „Organismus und Freiheit“, die ohne Ihr Studium bei Biologen wie Ludwig von Bertalanffy und Ihren Dialog mit ihnen kaum möglich gewesen wäre. 18 19 20 21 22 23 Vgl. H. Gronke, Die ›ökologische Krise‹ und die Verantwortung gegenüber der Natur. In: Th. Bausch, D. Böhler u.a. (Hg.), Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft. EWD-Bd. 3, Münster 2000, S. 159-193. Vgl. D. Böhler, Embryonen ohne Menschenwürde? In: Hans Jonas, Fatalismus wäre Todsünde. Hg. von D. Böhler, Münster 2005, S. 191-204. In dem Text von 1992 (S. Fn.10) sind für die VL SoSe 2009 einige Ergänzungen hinzugefügt worden. Diese sind hier gekennzeichnet mit den Anführungszeichen »«. Hans Jonas, Materie, Geist und Schöpfung. Kosmologischer Befund und kosmogonische Vermutung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1988, S. 25 ff. Hans Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, S. 19. Ebd., S. 21. 22 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Metaphysisch ontologische Wertlehre und „Prinzip Verantwortung“ Das Resultat Ihrer philosophischen Biologie ist eine ontologische Wertlehre, die besagt: „Die Materie ist schlafender Geist“, alles organische Leben ist wertvoll und daher prinzipiell schutzwürdig, weil sich in ihm Freiheit oder doch die Tendenz zur Freiheit aufstufe und weil derart sich auch entwickele, was höchsten Wert habe: das „wirkliche Menschentum“24. In dessen moralischer Freiheit liegt die Fähigkeit zur Verpflichtung und Verantwortung, also das Überschreitenkönnen alles Gegebenen zum Idealen, alles Endlichen zum Unendlichen25, und damit das Überschreitenkönnen vom bloß Faktischen zum Normativen, vom Gegebenen zum Gerechtfertigten und Richtigen, wie ich hinzufügen möchte. Nun haben Sie nie verhehlt, daß Ihre metaphysisch ontologische Wertlehre auf Kriegsfuß oder gar auf Siegesfuß steht zur metaethischen Trennung von Sein und Sollen, Fakten und Normen, beschreibenden Sätzen und vorschreibenden Sätzen. Gleichwohl hege ich hier Konsenshoffnung. Zeichnet sich nicht Konsens ab, wenn man in Rechnung stellt, daß eine Ontologie des Organischen und eine Teleologie der Freiheit notwendigerweise geleitet ist von Ideen, die, wie Sie sagen, „über alles je Gebbare und seine Dimension als solche hinaus“26 sind? Dazu gehören: die Idee der moralischen Freiheit und die Idee einer „Selbstunterstellung unter die transzendenten Maßstäbe“ des Gewissens und der Verantwortung für das schutzbedürftige Wertvolle.27 Wenn dieser ideale Vorgriff auf moralische Freiheit und auf moralisches Sollen notwendige Bedingung dafür ist, daß wir die Evolution als Entwicklung zur Freiheit verstehen können, wie auch dafür, daß wir das organische Leben als prinzipiell wertvoll und schützenswert auszeichnen können, dann ist die Begründung von Ideen, von Maßstäben des Sollens, logisch das Erste. Dann aber wäre – ich weiß nicht, ob Sie mir darin zustimmen – methodisch gesehen, das „Sollen“ vom „Sein“ zu unterscheiden.28 Darin sehe ich die Bedingung für eine Rechenschaftslegung der Philosophie; zumal einer ontologischen Wertlehre und einer spekulativen Philosophie, die auch zum rationalen Mythos übergehen kann, ohne überschwenglich oder objektivistisch zu werden. Aber wie dem auch sei. Es ist ein 24 25 26 27 28 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 89. Hans Jonas, Materie, Geist und Schöpfung, S. 25 f. Ebd., S. 25. Ebd., S. 28, 29. Vgl. dazu die Erwiderung von Hans Jonas, in diesem Band, S. 123-125. 23 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie leuchtendes Zeichen für die Größe Ihres Denkens, daß es, in mindestens viererlei Hinsicht, über den Dissens innerhalb der Philosophie hinaus hochbedeutsam und fruchtbar, stimulierend und konsensfähig bleiben dürfte: Erstens bedarf es offenbar einer genau zu umreißenden Verhältnisbestimmung und Kooperation von naturästhetischer und naturethischer Heuristik als methodischem Sensus für Wert in der außermenschlichen Natur einerseits und einer Ethik der verbindlichen Normenbegründung, der rationalen Maßstäbe für intersubjektive Verbindlichkeit und Pflicht andererseits. Daß eine teleologische Deutung des Seins, eine ontologische Wertlehre, keine letztgültigen Aussagen machen kann, sondern eher den Stellenwert einer Wertheuristik behält, haben Sie selbst zu verstehen gegeben: „Letztlich kann mein (metaphysisch teleologisches) Argument nicht mehr tun als vernünftig eine Option begründen, die es mit ihrer inneren Überredungskraft dem Nachdenklichen zur Wahl stellt.“29 Gerade als Heuristik ist eine ontologische Wertlehre gut für das diskursive Zusammenspiel mit einer Sollensethik geeignet: Die ontologische Wertheuristik würde für Verantwortung empfänglich machen; die normative Ethik würde Maßstäbe dafür aufstellen, zu welcher Verantwortung wir verpflichtet sind, und Dialogverfahren entwickeln, um diese Maßstäbe anwendbar zu machen. Beide Seiten wären aber nicht unabhängig voneinander anzusetzen, um erst nachträglich in ein Kooperationsverhältnis zu treten; vielmehr müßten sie von vornherein im Verhältnis wechselseitiger Ergänzung und Erläuterung stehen. Dabei käme der ontologischen Wertheuristik das inhaltliche und das Motivations-Prius zu, während die Prinzipienreflexion und die Normenbegründungsdiskurse den logischen Primat beanspruchen könnten. Zweitens: Sinn und Geltung der Ethik hat Hans Jonas durch das „Prinzip Verantwortung“ tiefgreifend revidiert, indem er die moralischen Fragen nicht auf die personale Moralität beschränkt, sondern die persönliche Moralität erweitert um die zugleich kollektive und personale Verantwortung für die Zukunftsfolgen unserer hochtechnischen Lebensform und Gesellschaft. Sein kategorischer Imperativ, „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“30, überschreitet nicht nur die traditionelle Begrenzung der Ethik auf den zwischenmenschlichen Nahbereich sondern hebt auch die Ethik als Gesinnungsethik auf. Das Moralprinzip von Jonas läßt jede Ethik hinter sich, die entweder die Moral auf Pflichten gegen die Mitmenschen einschränkt, statt Pflichten gegen die Menschheit 29 30 Hans Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M./Leipzig: Insel Verlag 1992, S. 140. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 36. 24 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie einzubeziehen, oder die Moral tendenziell auf die Reinheit und Prinzipienrichtigkeit des Willens beschränkt – so, als ginge es darum, im Einklang mit moralischen Prinzipien „recht zu handeln“, als dürfe man aber die ungewollten Nebenfolgen seines Handelns de facto „Gott anheimstellen“.31 Durch das „Prinzip Verantwortung“ wird die normative Ethik schwerpunktmäßig eine Ethik der einsehbaren Pflicht zur Zukunftsverantwortung. Drittens, verehrter Herr Jonas, haben Sie auch den Übergang zur Anwendung der normativen Ethik erheblich verändert und neu bestimmt. Dazu mögen zwei Hinweise genügen. Gegenüber den traditionellen Ethiken, sei es der aristotelischen, sei es der kantischen Tradition, betonen Sie, daß keineswegs ethischer Gemeinsinn, moralisches Gefühl und gesunder Menschenverstand ausreichen, um das moralisch Richtige zu treffen. Denn dieses bemesse sich heute und künftig an der Verantwortbarkeit von Handlungsfolgen, Lebensfolgen, Forschungsfolgen. Diese Folgen aber, und das heißt diesen ganz neuartigen Gegenstandsbereich moralischer Beurteilung, können wir uns weder mit unserem gesunden Menschenverstand noch mit unserem moralischen Gefühl zureichend vorstellen; haben wir es hier doch zu tun mit sehr komplizierten Kumulativwirkungen und äußersten Fernwirkungen unserer hochtechnischen Lebensgewohnheiten und Lebensformen, Produktionen und Produktionsweisen, unseres Konsumverhaltens aber auch unserer Risikoforschungen und riskanten Technologien. Daraus ergibt sich eine neue Rolle des Wissens in der Moral und die Pflicht, sich Wissen zu beschaffen. Freilich stößt diese Wissensbeschaffung an schmerzliche Grenzen. Denn die Kumulativwirkungen, die ökologischen Fernwirkungen etwa, entziehen sich der exakten bedingten Prognose, wie sie in einem geschlossenen System möglich ist. Die Kluft zwischen unserem Prognosewissen und der Wirkungsmacht unserer hochtechnologischen Projekte, Praktiken aber auch Lebensgewohnheiten erzeugt „ein neues ethisches Problem. Anerkennung der Unwissenheit wird dann die Kehrseite der Pflicht des Wissens und damit ein Teil der Ethik“.32 Aus diesem Grunde plädieren Sie für eine „Heuristik der Furcht“, für „eine Furcht geistiger Art“, die uns fähig machen solle, das nichterfahrbare „Unheil kommender Geschlechter“ vorauszudenken und uns davon betreffen zu lassen.33 Daraus haben Sie für unsere öffentlichen Dialoge über das, was zu tun sei, und damit für unsere Forschungsplanung, für wirtschaftliche Produktions- und Marktstrategien wie für politische Entscheidungen die Vorschrift abgeleitet, „der Unheilsprophezeiung mehr Gehör zu 31 32 33 Vgl. Max Weber, Politik als Beruf, in: Gesammelte politische Schriften, hg. von J. Winckelmann, 3. Aufl. Tübingen 1971, S. 551. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 28. Ebd., S. 64, 65. 25 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie geben ... als der Heilsprophezeiung“34, also der schlechten Prognose einen Vorrang vor der guten einzuräumen. Sie legen damit eine Dialogregel nahe, die den Befürwortern eines Projekts und den Anwendern einer Technik die Beweislast für die Unschädlichkeit und die Verantwortbarkeit auferlegt. In dubio pro humanitate, und damit: in dubio contra projectum, in dubio contra quaestum würde das regulative Prinzip für unsere öffentlichen Diskurse lauten müssen.35 Viertens: Das „Prinzip Verantwortung“ enthält also ein zukunftsethisches Prinzip Vorsicht. Mit diesem gehen das Werk und die politisch-ethischen Stellungnahmen des Verantwortungsethikers vorsichtig um: Sie lassen keinen Zweifel daran, daß ein solches Prinzip jeweils in interdisziplinären öffentlichen Diskursen zu prüfen und nur nach Maßgabe einer solchen Prüfung anzuwenden ist. Gegenüber einer globalen Technikkritik, gegenüber einer modischen Totalkritik an der technologischen Zivilisation, die er als alternativenlos aber entwicklungsfähig ansieht, sagt uns der Weise: „Nur im Bunde mit Wissenschaft und Technik, die zur Menschheitssache gehören, kann die sittliche Vernunft dieser Sache dienen. Dafür gibt es kein einmaliges Rezept, nur viele Wege des Vergleichs, die von Fall zu Fall, jetzt und künftig, in steter Wachsamkeit immer neu zu suchen sind. Bestenfalls kann sich, immer wiederholt, eine Übung dafür einstellen. Darauf ist zu hoffen. Doch zu jener Wachsamkeit anzuhalten ist des Denkens Pflicht.“36 Abschließend zitiere ich aus der Ehrendoktorurkunde: ‚... In dem hervorragenden Wissenschaftler und Philosophen ehrt der Fachbereich zugleich den Menschen Hans Jonas, dessen Gründlichkeit und Güte, dessen moralische Unbeugsamkeit und Würde ihn zu einem Vorbild künftiger Wissenschaftler und Weltbürger macht. Qui Berolini, qua in urbe Mose Mendelssohn auctore cultura et Iudaica et Germano-Iudaica effloruerat, universitatem et per biennium academiam scientiae rerum Iudaicarum promovendae adiit, opuscula prima publicavit; Berolini, qua ex urbe dignitatis et legum destructio, civium Iudaicorum numero carentium expulsio atque excisio initium sumpserunt; 34 35 36 Ebd., S. 70. Dietrich Böhler, Mensch und Natur: Verstehen, Konstruieren, Verantworten - in dubio contra projectum, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 39, Heft 9, S. 999-1019, hier bes. S. 1013 ff. Hans Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 30. 26 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Berolini, quae urbs libertate, iure, hominis dignitate donata est ex occidente cuiusque libera universitas libertatem, iura, dignitatem hominis colit coletque studiose. Quibus de causis hac in urbe viro doctissimo totiusque orbis terrarum civi honoris quam maximi debentur. Aktualisierendes Nachdenken schulden wir dem Hermeneutiker, der mit seiner Methode einer entmythologisierenden existentialen Interpretation die Aporien der christlich abendländischen Freiheits- und Erbsündenlehre aufwies und uns den spätantiken Geist der Gnosis als Verfremdung der Moderne erschloß. Aktualisierendes Nachdenken schulden wir dem Sucher eines Gottesbegriffs nach Auschwitz und dem eindringlichen Denker der Zukunftsverantwortung. Hans Jonas verdanken wir die Ausweisung und Konkretion des Prinzips einer Ethik für die technologische Zivilisation, von der er zeigt, daß ihr in dem Maße Verantwortung für das Ganze zuwächst, als ihre Fernwirkungen die Zukunft der Menschengattung gefährden. Maxima cum reverentia Hans Jonas homo Iudaeus colendus est nobis, qui cum universitates Germaniae adulescenti doctissimo intercluderent aditum pro libertate et iure, pro Iudaeorum incolumitate atque dignitate contendere constituit. Qui miles legionis Iudaicae bello pugnavit, ut in Germania res tandem publica foret, in qua et tertii quod dicitur imperii et inhumanitatis et interfectorum memores, ut condiciones vitae vere humanae in mundo permanerent, curare possemus sequentes iussum illud categoricum, quo homines continuo ad officiorum conscientiam vocat Hans Jonas philosophus. Als Soldat der jüdischen Brigade kämpfte er mit für die Gewinnung eines politischen Raumes in Deutschland, der uns die Erinnerung an die nationalistische Unmenschlichkeit und ihre Opfer ebenso möglich macht wie eine Verantwortungsübernahme für „die Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“ – im Sinne des kategorischen Imperativs von Hans Jonas.‘ Sehr verehrter Herr Professor Jonas, ich überreiche Ihnen nun die Ehrenurkunde. Uno actu verleihe ich Ihnen den akademischen Grad eines Doktors der Philosophie ehrenhalber. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem großen Werk.“ Soweit, liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, unser Rückblick auf Hans Jonas, den Ehrendoktor der Freien Universität Berlin. Fassen wir jetzt am Beispiel von Jonas zusammen, welchen Stellenwert eine Metaphysik heute legitimerweise noch haben kann. Generell zeigt unser Blick auf Hans Jonas zweierlei: (1) Auch nach Kant ist Metaphysik und sogar deren spekulativer Teil, die Vermutung über Gott, noch möglich. Dann nämlich, wenn sie als Hypothese entwickelt wird, und 27 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie wenn überdies die pragmatischen und logischen Bedingungen der Rede eruiert sowie berücksichtigt werden. (2) Eine solche Metaphysik kann höchst fruchtbar für die moralphilosophische Aufgabe sein, die neuartige Verantwortung der Menschheit für eine Menschheitszukunft und eine menschendienliche Zukunft der Erde zu denken. Jedenfalls dann, wenn eine hypothetische Metaphysik als Antwort auf die Motivationsfrage ins Spiel gebracht wird, die sich noch stellt, wenn die Legitimationsfrage/Begründungsfrage nach einem einsehbaren Prinzip der Moral – ‚Warum soll man überhaupt moralisch sein?‘ – schon beantwortet worden ist. Denn auch dann können wir uns noch fragen: ‚Was motiviert mich eigentlich, diesem Prinzip wirklich Folge zu leisten?‘ Und: ‚Warum will ich das eigentlich? Warum ist mir das der Mühe wert? Warum gehört diese Mühe zu einem guten, sinnerfüllten Leben?‘ Die metaphysisch religiöse Antwort motiviert den aufgeklärt religiösen Menschen. Sie könnte mit Jonas lauten: ‚Dir, der du ein religiös-metaphysisches Gefühl hast und Gott als den wahrhaft Gütigen verstehst, ist doch einsichtig: Du willst es den gütigen Gott nicht bereuen lassen, daß er die Welt hat werden lassen.‘ Die nicht-theologische sondern allgemeine Motivation könnte im Anschluß an Jonas folgendermaßen lauten: ‚Du, der du die Verbindlichkeit des Moralprinzips erkannt hast, widersprich dir nun nicht in praxi, sondern siehe es als deinen höchsten Wert und mithin als deinen eigentlichen Willen an, so zu handeln, daß die Wirkungen deines Handelns vereinbar sind mit der Permanenz menschenwürdigen Lebens auf Erden.‘ Die Berliner Diskurspragmatik versucht beide Schritte, den Verbindlichkeitserweis des Moralprinzips, also die Lösung des Legitimationsproblems für einen Denker und die Selbstmotivation des Akteurs (zu einer moralischen Einstellung) von vornherein zusammenzudenken: durch Reflexion, und zwar durch Rückgang auf unseren impliziten, aber tragenden und umfassenden Geltungsanspruch, ein glaubwürdiger Diskurspartner sein zu können, auch und gerade im Diskurs über unser Tun und Lassen. In diesem sokratischdialogreflexiven Ansatz sehe ich den konsequenten Begründungsweg des dritten Paradigmas der Philosophiegeschichte.37 37 In dem Text von 1992 (s. Fn. 10) sind für die VL SoSe 2009 einige Ergänzungen hinzugefügt worden. 28 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Wir kehren jetzt zurück zum ersten Paradigma und seiner Fortwirkung im zweiten Paradigma, um dann die grundlegende Kritik, die Hans Jonas’ Lehrer, Martin Heidegger an beiden Paradigmen geübt hat, zu würdigen und zu diskutieren. 1.5 Der voraussetzungs- und kommunikationsvergessene Weltbezug der traditionellen Metaphysik, dessen Fortwirkung im neuzeitlichen Subjekt-Objekt-Paradigma und Heideggers hermeneutisch-pragmatische, aber reflexionsvergessene Metaphysikkritik. Wir erinnern uns: Die antike Metaphysik begreift die Erkenntnis der Welt, genauer: die des Ganzen, was da ist, nach dem Muster des Etwas-Sehens im Sinne der theoria. Darunter versteht sie ein geistiges Sehen, eine begreifende Schau – was immer das sein mag. Nach Parmenides ist Platon Urheber und Klassiker dieser Auffassung. Lesen Sie etwa im naturphilosophischen Dialog Timaios den kosmologisch-theoretischen Passus 47a bis c (in der Stephanus-Numerierung) – fast ein Hymnus auf den „Adel des Sehens“ (H. Jonas), auf die Erkenntniskraft und die religiös-ethische Harmonisierung des Schauens… Anlage 13 Oder lesen Sie, wie Platon in der Politeia, nämlich im Liniengleichnis (511c), von der „dialektischen Wissenschaft“ sagen kann, sie „schaue“ das Seiende und Denkbare. Schaut aber eine Wissenschaft, oder erkennt sie etwas durch Analyse, durch Begreifen etc.? Lesen Sie auch, wie Platon im Kommentar zum Höhlengleichnis die höchste Erkenntnis erläutert, die er zuvor (im Sonnengleichnis) als den Möglichkeitsgrund unseres EtwasErkennens und zugleich als dessen Geltungsgrund angenommen hatte (508ff), nämlich als die Idee des Guten; und beachten Sie dabei, welche kognitive Tätigkeit er dieser höchsten Erkenntnis, ganz selbstverständlich, zuordnet: das Etwas-Sehen: „Was ich sehe [...], das sehe ich so, daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich anerkannt wird als die Ursache alles Richtigen und Schönen – im Bereich des Sichtbaren erzeugt sie gleichsam die Sonne und damit das Licht (welches Erkenntnis ermöglicht); in der Sphäre des Erkennbaren bringt sie 29 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervor. Daher muß, wer vernünftig handeln will, diese [Idee des Guten] sehen“ (517 b/c). Die metaphysische Tendenz, sowohl ‚das Ganze‘ bzw. ‚das Sein‘ als auch die Erkenntnisgrundlage des Seins, bei Platon das Gute als solches, die Idee des Guten, nach dem Muster des Sehens von Dingen, mithin unreflektiert direkt, anzugehen, ist Grund genug für einen erkenntniskritischen Rückgang auf die Rolle des Erkenntnissubjekts. Hinter dem Erkennen steht doch das Subjekt der Erkenntnis, welches sein Erkenntnisvermögen ins Spiel bringen muß. Darauf insistiert die Philosophie der Neuzeit (z. B. Descartes, Kant). Die optische Unmittelbarkeit der antiken Metaphysik, nämlich die Auffassung von Erkenntnis als einem vermeintlichen geistigen Sehen des Seins im Sinne eines Gegenstands und der Sprache als eines Systems von Namen zur nachträglichen Bezeichnung der geschauten Gegenstände, gab schließlich – in der Moderne – auch den Grund ab für einen pragmatisch hermeneutischen Neuansatz bei dem verstehenden „In-der-Welt-sein“ des Menschen (Heidegger), welches immer schon in Form regelfolgender, daher intersubjektiver „Sprachspiele“ praktiziert wird (Wittgenstein). Anstatt die dialog- und denkkonstitutive Klasse der – doch von ihnen ständig verwendeten – Behauptungsakte als Sprachhandlungen mit Geltungsansprüchen zu thematisieren, unterstellen die meisten Metaphysiker seit Platon und Aristoteles, sie würden Anlage 3a (und könnten) das Thema ihrer Behauptungen betrachten, als sei es ein dinglicher Gegenstand: „das Seiende“, das „Wesen“ resp. die „Substanz“ oder das „Ding“. Das ist eine folgenschwere Vorentscheidung: die Frage nach dem Ganzen wird von dem Vorverständnis, dieses sei nach dem Muster eines dinglichen Gegenstandes zu verstehen, bestimmt, d. h. aber in einer sprach- und kommunikationsverzerrenden Verdinglichung. Noch das folgende Paradigma, das der subjektphilosophischen Erkenntniskritik, behält diese verdinglichende Perspektive bei und überspringt die sprachlich-kommunikativen Interpratationsleistungen, die jeder Erkennende als ein lebensweltlich Verstehender immer schon vollbracht hat. Sprach- und kommunikationsvergessen entwickeln Kant und die Neukantianer die neue Disziplin der „Erkenntnistheorie“ lediglich im Blick auf das Verhältnis von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisgegenstand: Sie thematisieren es als eine bloße SubjektObjekt-Beziehung, so als wäre diese nicht von vornherein getragen von der SubjektKosubjekte-Relation des Vorverständigtseins und der Sinnverständigung in einer Sprachgemeinschaft. Zum Beispiel rekonstruiert der Vollender, später auch Überwinder des Neukantianismus, Ernst Cassirer, in seiner gewaltigen Problemgeschichte „Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit“, vier Bände, die 30 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie gesamte neuzeitliche Geistesgeschichte als Denken in der Subjekt-Objekt-Relation. Ebenfalls ganz der Subjekt-Objekt-Beziehung verpflichtet ist Heinrich Rickerts neukantianischer Klassiker „Der Gegenstand der Erkenntnis“, 1892, wiewohl Rickert darin den Primat der praktischen Vernunft begründen will, indem er eine „andere Welt“, die Welt der nichtseienden, aber absoluten „Werte“ nachzuweisen sucht. Doch bezieht er sich darauf wie auf ein Objekt. Nach dem Vorbild Descartes’ und Kants setzt der Neukantianismus voraus, daß das Ganze der realen Erkenntnisgegenstände uns wie ein Gegenstand im Großen, abgetrennt von uns als Erkenntnissubjekten, gegenüberstehe: eine ‚Außenwelt‘ der Dinge im Gegensatz zu der ‚Innensphäre‘ des Geistes. In dem modernen, insonderheit kantianischen Erkenntnisproblem steckt eine sprachwidrige Verdinglichung der Weltbeziehung des nach seinen Erkenntnismöglichkeiten doch fragenden, darüber dann Thesen behauptenden und über den Erkenntnisgegenstand, Welt und Natur, doch sprachlich schon vorverständigten Menschen, der ja Sprechakte in einem Argumentationszusammenhang vollzieht. Seit Kant führt sie in die Probleme eines Subjekt-Objekt-Dualismus, die zu einem Gutteil Scheinprobleme sind: Wie ist die Außenwelt, wenn doch ihr Wesen – Kant: das „Ding an sich“ – unerkennbar ist, für das Erkenntnissubjekt erkennbar? Ist die Außenwelt überhaupt erkennbar? Ontologisch gewendet: Ist sie etwas Reales? Oder können ‚wir’ Erkenntnissubjekte allenfalls die Realität unserer selbst annehmen? Der Kantianismus entsubstanzialisiert die Metaphysik als Weltanschauung, indem er die Geltung ihrer Aussagen zu Vermutungen herabsetzt; aber er führt zu dem Anlage 4 Erkenntnisschema eines Subjekt-Objekt-Dualismus und perpetuiert insofern die metaphysische Verdinglichung des erkennbaren Ganzen durch zwei Grundannahmen (1 und 2), zwei Ausblendungen (3 und 4) und eine Abschattung (5): (1) Verabsolutierung der Subjekt-Objekt- oder InnenAußen- bzw. Ich – Nicht-Ich-Differenz infolge von Descartes’ dualistischer Ontologie: res cogitans – res extensa.38 (2) Die Unterstellung einer Weltlosigkeit des Erkenntnissubjekts;39 38 39 Heidegger, Sein und Zeit (SuZ), S. 60-62. Diese kritisiert eigentlich schon Husserl, insofern er bei der Intentionalität des Bewußtseins ansetzt: E. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana Bd. I, Den Haag 1950, §§ 40, 42f., 62 und 64. 31 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie (3) Das Überspringen der Leiblichkeit des Erkenntnissubjekts und seiner Situiertheit in einem organismischen Austauschzusammenhang mit lebendiger und anorganischer Umwelt;40 (4) Das in (3) mitvollzogene Überspringen der Sinn und Bedeutung ermöglichenden bzw. vorgebenden Sprachlichkeit des Menschen; (5) Die in (4) mitgesetzte Abschattung der Gültigkeit (bzw. Wahrheits- und Richtigkeitssuche) ermöglichenden Geltungsansprüche des Denkens als Miteinander-Argumentieren i.S. von Diskurs/Dialog.41 Leib- und Sprachapriori: geschichtlichpragmatische Dimension Reflexionsund Argumentationsapriori: geltungs- bzw. dialogpragmatische Dimension 1.4.1 Vorgriff auf die pragmatisch-hermeneutische Wende und ihre Probleme: der frühe Heidegger Die Wende zum dritten Paradigma der Philosophie wurde m. E. zunächst durch eine sprachphilosophische (W. v. Humboldt) und eine handlungs- sowie zeichentheoretische (Charles S. Peirce) Aufmerksamkeit für die ersten beiden Probleme ausgelöst. Anstoß nahm man zumal an den beiden subjektphilosophischen Suggestionen, der etwas als etwas Bestimmtes erkennende Mensch, (subjektphilosophisch genauer: der allererst etwas als etwas erkennen wollende Mensch) befinde sich gegenüber einem Ensemble stummer Gegenstände bzw. unverständlicher ‚Objekte’, welche ‚draußen’ in einer strikt von ihm abgetrennten Außenwelt ‚vorhanden’ seien; und es komme nun darauf an, diese Außenweltobjekte allererst zu entdecken, zu erschließen und sie durch eine Erkenntnisprozedur mit der Innenwelt des Erkenntnissubjekts zu vermitteln. Einige dieser Vorannahmen der nachcartesischen Kritik und der Anlage 5 Erkenntniskritik bzw. Erkenntnistheorie seit Kant deckte Heidegger metakritisch 1927 in „Sein und Zeit“ auf, jedenfalls die Annahmen (1) und (2). Dort lesen wir in dem grundlegenden Paragraphen 13: 40 41 Vgl. H. Gronke, Das Denken der Anderen, Würzburg 1999, S. 62f., S. 78-82, vgl. 174ff. Hans Jonas, Organismus und Freiheit. Göttingen 1973. W. v. Humboldt, Schriften zur Sprachphilosophie, in: Werke in fünf Bänden, hrsg. v. A. Flitner und K. Giel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963, Band 3. K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, Frankfurt a. Main 1973, Bd. 1: Einleitung, und Teil II, Bd. 2: Teil II „Transformation der Transzendentalphilosophie“. 32 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie „Je eindeutiger man nun festhält, daß das Erkennen zunächst und eigentlich ‚drinnen’ ist, ja überhaupt nichts von der Seinsart eines physischen und psychischen Seienden hat [ergänze: vielmehr die Seinsart eines starren Betrachtens], umso voraussetzungsloser glaubt man in der Frage nach dem Wesen der Erkenntnis und der Aufklärung des Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt vorzugehen.“42 In Wahrheit entstehe erst durch diese Vorannahmen das sogenannte Erkenntnisproblem, „die Frage nämlich: Wie kommt dieses erkennende Subjekt aus seiner inneren ‚Sphäre’ hinaus in eine ‚andere und äußere’, wie kann das Erkennen überhaupt einen Gegenstand haben, wie muß der Gegenstand selbst gedacht werden, damit am Ende das Subjekt ihn erkennt [...]?“43 Heideggers Kritik als Sinnkritik erläuternd, können wir sagen: Der neuzeitliche Ansatz bei der Subjekt-Objekt-Spaltung, in gewisser Weise aber schon die antik-griechische Auffassung des Erkennens als eines geistigen Sehens im Sinne von theoria und noein, mache sich blind gegenüber der Sinnbedingung jeder Rede von Erkenntnis. Denn es ignoriere, daß Erkennen „ein Seinsmodus des Daseins als In-der-Welt-sein“ ist. Jedes Erkennen gründe „vorgängig in einem Schon-sein-bei-der-Welt“, weil es auf Lebensinteressen, „auf dem Besorgen“ des Leibes und der ganzen „Existenz“ des Menschen aufruhe.44 Insofern sei in der Lebenswelt immer schon eine Vermittlung des Menschen mit seiner Welt geleistet: Der Mensch existiere verstehend, Welt verstehend, und zwar so, daß er von vorneherein – bei Kant heißt es „a priori“, bei Heidegger „vorgängig“ – Welt und sich in der Welt verstanden hat. Dieses alltagsweltliche Schon-Verstandenhaben sieht Heidegger als notwendige Voraussetzung, als „existenziale“ Bedingung auch jeder wissenschaftlichen Erkenntnis an. Warum und inwiefern? Weil und insofern nur das vorgängige Welt- und Daseins-Verstehen „Bedeutsamkeit“ vorgibt: die Bedeutung von Dasein „hinsichtlich seines In-der-Weltseins“45. Und erst vor diesem sprachlich und zugleich praktisch erschlossenem Sinnhintergrund, erst dank dieses Schon-Verstandenhabens seiner „Lebenswelt“ (Husserl) kann der Mensch auch wissen, was er wissenschaftlich und philosophisch untersuchen, was er zum Gegenstand seiner methodischen Erkenntnis machen will. Von eigentlicher Erkenntnis können wir überhaupt nur reden, weil wir ein vorwissenschafliches Verständnis dessen, was methodisch erkannt werden soll, immer schon mitbringen. Ein Begriff von Erkenntnis, der 42 43 44 45 Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag (zit.:SuZ), S. 60. A.a.O. SuZ, §§ 15f, 26, 69a, passim. SuZ, S. 87. Vgl. §§ 18, 31 und 69c. 33 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie nicht die lebensweltlichen Voraussetzungen möglichen Erkennens, dieses „schon-sein-beider-Welt“, berücksichtige, sei sinnlos. Anlage 6 In diesem Sinne stellt Heidegger gegen das dualistische Schema von Subjekt und Objekt oder Ich und Welt die Perspektive einer vorgängigen Vermittlung beider Seiten, eines pragmatischen, handlungsbezogenen In-der-Welt-Seins. Damit radikalisiert er den Ansatz seines Lehrers Edmund Husserl bei der Intentionalität des Bewußtseins als der kognitiven Beziehung, die ein Bewußtsein im Rahmen seiner Lebenswelt zu allen Gegenständen habe, die es ‚meinen‘ könne. Er geht von dem alltäglichen bzw. lebensweltlichen Verständnis aus, welches der Mensch, der lebe und sich am Leben erhalten wolle, immer schon im Sinne eines „apriorischen Perfekts“ besitze: Der alltägliche Mensch habe immer schon den Kontext seiner Lebenswelt ‚erkannt’. Denn er befinde sich „immer schon“ in einer Lebenswelt aus sinnhaften Dingen und Einrichtungen, wie „Zeug“46, Kultur, Institutionen, welche nicht etwa bloß „vorhanden“, sondern dem Alltagsmenschen mehr oder weniger schon „zuhanden“ sind – und daher apriori verstanden47 als Gebrauchsdinge seiner Alltags- und Lebenswelt. Eben deshalb lasse sich die menschliche Lebensform als „verstehendes“ und „besorgendes In-derWelt-sein“ und der Mensch selbst als „Dasein“ bestimmen und nicht als betrachtendes „Subjekt“ gegenüber stummen, fremden Objekten.48 Das ist eine grundlegende Einsicht der pragmatisch-hermeneutischen Wende hin zu einem dritten Paradigma der Philosophie. Das Pragmatische dieses Ansatzes ist die Aufdeckung des interessierten Lebens- und Handlungsbezugs, der auch das wissenschaftliche und philosophische Erkennen des Menschen trägt. Heidegger drückt das plastisch mit dem Begriff der Sorge als eines Besorgens aus, welches den Menschen, weil er sich stets im Dasein halten muß, unablässig begleitet. Die Sorge ist gleichsam der Schatten des Daseins. Das Hermeneutische dieser Perspektive zeigt sich in der ontologischen Tieferlegung der Fundamente unseres kognitiven Weltbezuges. Heidegger setzt nicht erst bei dem Seinsverhältnis eines philosophischen bzw. wissenschaftlichen Theorie-Subjekts zu dessen Gegenständen an, sondern bei dem „besorgenden“ bzw. interessierten Welt-Verstehen, welches auch einem methodischen Erkennenwollen zugrundeliege, ja dessen Sinnbasis darstelle. Dieses alltägliche Verstehen bzw. Schon-Verstanden-haben sei die elementare Form des Interpretierens von etwas Sinnhaftem: die Vorform jener Tätigkeit, welche seit 2000 Jahren in Theologie, Jurisprudenz und Literatur zu Methoden und Methodenlehren der 46 47 48 SuZ, § 23, §§ 15-18. SuZ, S. 85ff, S. 109f.s SuZ, §§ 12-14. 34 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Interpretation hochstilisiert und diszipliniert worden ist. Dafür hat sich der Fachterminus „Hermeneutik“ eingebürgert. (Das griechische „hermeneuein“ bedeutet „auslegen“ und „verdolmetschen“. In diesem Zusammenhang steht auch der Name des Götterboten „Hermes“, der den Willen der Götter den Menschen übermittelt und insofern auslegt.) Traditionskritisch pointiert Heidegger am Schluß des Paragraphen 13 von Sein und Zeit das primäre kognitive Weltverständnis des Menschen folgendermaßen: „Im Sich-richten-auf ... und Erfassen geht das Dasein nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die es zunächst verkapselt ist, sondern es ist seiner primären Seinsart nach immer schon ‚draußen’ bei einem begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt.“49 Diese Einsicht ist in der Tat ein notwendiges Element des dritten Paradigmas und damit der Philosophie als Lebenswelt- und Kommunikationsreflexion. Aber es ist keine Anlage 7 zureichende Einsicht, weil sie die dialog-pragmatische Geltungsdimension des Etwas-alsetwas-Verstehens links liegen läßt. Das Etwas-als-etwas-Bestimmtes-Verstehen ist nämlich ein impliziter Sprach- und Kommunikationsvorgang. Dieser enthält von vornherein Geltungsansprüche von Verstehern/Sprechern als Subjekten dieser Ansprüche und als Teilnehmer einer Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft. Denn er setzt solche Geltungsansprüche, logisch gesehen, geradezu voraus – so wie jemand, der etwas versteht, bereits in Anspruch nimmt, daß man das Gehörte oder Erfahrene (normalerweise) richtig verstanden hat, oder daß man es doch, in Zweifelsfällen, richtig verstehen kann. In diesem vorausgesetzten Bezug auf Richtigkeit, diesem Geltungsanspruch unseres Verstehens, kommt etwas von dem zum Vorschein, was seit Descartes und zumal von Kant im Sinne der Begriffe Subjekt, Urteilsautonomie und Kritik gedacht worden ist: das Verhältnis von Geltungsanspruch und dessen kritischer Prüfung vor dem intersubjektiven Forum der Vernunft, in dem jeder, insofern er ein sinnvolles Argument vorbringen mag, seine gleichberechtigte Stimme hat. Den Rückbezug auf das, was im zweiten Paradigma als „Subjekt“ gedacht worden ist, und damit eine ‚Aufhebung’ subjektvergessen und dessen Kernbestandes überspringt Heidegger. Er denkt sprachgeltungsvergessen, insofern logosvergessen und diskursvergessen. Radikal (besser: abstrakt) negiert er also den Kern des zweiten Paradigmas. Er sucht keine Aufhebungsperspektive, so daß er dessen wertvolle Errungenschaften ernst nähme – als Argumentationspartner im Wahrheitsgespräch eines philosophischen Begründungsdiskurses. Über seiner hermeneutisch-pragmatischen Entdeckung der kultur- und praxisrelativen Sinndimension, dank derer alle Menschen – auch Philosophen, die die Welt 49 SuZ, S. 62. 35 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie distanzieren und sie nur betrachten wollen – „immer schon“ geschichtlich in der Welt situiert sind und sie apriori als ihre Lebenswelt verstanden haben, vergißt er die philosophisch entscheidende Geltungsdimension. Anlage 8: Querspalte III Verwoben mit unserem vorgängigen Weltverständnis sind unsere impliziten Ansprüche auf Gültigkeit, die ‚wir’ auch für dieses Verständnis notwendigerweise voraussetzen: etwa den Anspruch auf intersubjektive Nachvollziehbarkeit des je eigenen Weltverständnisses – d.i. der Geltungsanspruch der Verständlichkeit – und den Anspruch auf die Angemessenheit bzw. sachliche Richtigkeit dieses Verständnisses – d.i. der Wahrheitsanspruch. Was nun Heidegger selbst betrifft, der seinem Publikum ein Werk vorlegt, so vergißt er, daß der Philosoph Heidegger ja auch für seine hermeneutisch-pragmatische Entdeckung schon Wahrheit beansprucht hat. Schließlich ist er mit seinem Buch „Sein und Zeit“, in dem er diese hermeneutisch-pragmatische Einsicht entwickelt, seinem Publikum gegenüber als Diskurspartner aufgetreten. Er hat einen argumentativen Dialog eröffnet, in welchem er gegenüber anderen für seine Thesen Wahrheit bzw. argumentative Prüfbarkeit, also Zustimmungswürdigkeit im Diskursuniversum, in Anspruch genommen hat. Insofern ist Heidegger (in gewisser Weise aber auch Wittgenstein) ein Musterbeispiel dafür, daß in dem dritten Paradigma der Philosophiegeschichte vielfach nur die gewissermaßen weiche, praxis- und kulturrelative Seite der Sprach- und Kommunikationsvermittlung des Denkens und Erkennens berücksichtigt wird – gleichsam die obere Hälfte der Querspalte III unserer Anlage 8. Die Selbstvergessenheit Heideggers als Diskursteilnehmer, d. h. als eines Subjekts mit Geltungsansprüchen, das sich gegenüber anderen Diskurs-Subjekten für seine Behauptungen zu rechtfertigen hat, führt letztlich zur Selbstimmunisierung seines Denkens und zur Preisgabe des Zentralbegriffs der Philosophie überhaupt, des Begriffs der Vernunft. Es lohnt sich überaus, diese Tendenz bei der Lektüre von „Sein und Zeit“ im Auge zu behalten, will man verstehen, wie Heideggers spätere, 1933 praktizierte und seit dem ‚Humanismusbrief’ von 194650 als „Kehre“ des Denkens verklärte, Preisgabe der Vernunft zugunsten eines „Andenkens an das Sein“, das sich selbst als das Ohr und die Stimme des Seins wähnt, möglich war. Mit anderen Worten: Wie Heidegger seine Philosophie um die Distanz und die 50 M. Heidegger, Über den Humanismus, Frankfurt am Main, o.J. 36 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Verantwortung der Kritik hat bringen können.51 So sehr, daß er die Philosophie als ganze nicht nur blamiert sondern geradezu in „Schande“ und „Bankrott“ getrieben hat, um mit Hans Jonas zu sprechen. Heidegger erniedrigte die Philosophie zur Magd der deutschen geschichtlichen Situation, nämlich der völkischen Bewegung des Nationalsozialismus. Denn er erhob den Hitler, den „Führer“, zur Manifestation des „Seinsgeschicks“,52 statt dessen Ansprüche vor dem „Gerichtshof der Vernunft“ (Kant) zu prüfen, also vor der Instanz des Diskursuniversums. Dann nämlich wäre er den Ansprüchen der Nazis als autonomes Diskurssubjekt gegenübergetreten, hätte also die Nazimythen entlarvt, hätte sich von deren Vernunftzerstörung, mit der die Preisgabe des Menschenwürdegrundsatzes notwendig verbunden ist, zumindest distanziert – allerspätestens zu dem Zeitpunkt, an dem diese Vernunftzerstörung in Form gewalttätiger Menschenverachtung in Erscheinung trat. Das aber war 1933 der Fall: Pogrome an Juden, widerrechtliche Verhaftungen von Sozialdemokraten, Kommunisten etc. Mit dieser kritischen Bemerkung lasse ich es jetzt bewenden. Für den weiteren Fortgang dieser Vorlesung und Ihres Selbststudiums bitte ich Sie: Studieren Sie den Essay, den mein früherer Tutor Tilman Lücke im Nachgang zu meinem doch reichlich kühnen, für alle Beteiligten so anstrengenden wie erkenntnisreichen Proseminar „Sein, Selbst-Bewußtsein, Kommunikation“ im Wintersemester 2000/2001 verfaßt hat. Vor allem, was die Inhalte anbetrifft, bietet dieser Text eine gute Übersicht über den paradigmatischen Gang und einige Grundfragen dieser Vorlesung, nämlich über die Entwicklungslogik der Philosophiegeschichte als Weg durch drei Paradigmen der Welterkenntnis. Da Lücke sich für den Übergang zum dritten Paradigma auf Wittgenstein konzentriert und Heidegger fast ignoriert hat, dieser jedoch – ganz im Unterschied zu dem problem- und philosophiegeschichtlich abstinenten Sprachanalytiker – traditionskritisch aus der Problemund Begriffsgeschichte zu denken weiß, überdies seinen Ansatz geradezu als Aufhebung der Subjektphilosophie versteht, deshalb haben wir ihn eingehender berücksichtigt. Es ist übrigens charakteristisch, daß drei prominente Sprachdenker der Gegenwart, der Sprachanalytiker Ernst Tugendhat, der Theoretiker des kommunikativen Handelns Jürgen Habermas und der Transzendentalpragmatiker bzw. Kommunikationsethiker Karl-Otto Apel 51 52 H. Jonas, Heidegger und die Theologie, 1964, zuletzt in: D. Böhler u. J.-P. Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung. Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans Jonas. Würzburg, 2004, S. 39 – 58, bes. S. 54 f. Ebd., S. 44 ff. 37 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie sich gleichsam durch Heidegger hindurchgedacht haben. Und eben das erscheint mir unabdingbar. Auch der Denkweg von Hans Jonas, des nachkantischen und nachheideggerschen Metaphysikers, belegt, daß an Heidegger kaum ein (fruchtbarer) Weg vorbeiführt. 38 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie 2 Über die drei Paradigmen der Philosophie und die doppelte Dialogizität des Denkens als Kommunikation. Text aus: H. Burckhart, H. Gronke (Hg.): Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002, S. 45 ff. 2.1 Eine Problemübersicht zum Selbststudium: Tilman Lücke: Mit skeptischen Fragen durch die Philosophiegeschichte* Bei einer Tischgesellschaft saß neben Kant ein Mann, der ununterbrochen gleichermaßen dumme wie hochmütige Reden führte und dabei auch noch herauskehrte, welch großer Skeptiker er sei. Schließlich sagte Kant zu ihm: „Sind sie so skeptisch, daß Sie an nichts mehr glauben können?“ – „Das nicht, ich glaube nur an das, was ich mit meinem Verstand begreifen kann.“ – „Das“, sagte Kant, „bedeutet im Ergebnis dann ja wohl dasselbe.“53 Einleitung „Sein, Selbst-Bewußtsein, Kommunikation. Grundkurs klassische Texte und Probleme der Philosophiegeschichte“54 – unter diesem Titel kündigte Dietrich Böhler im Wintersemester 2000/2001 am Philosophischen Institut der Freien Universität Berlin ein Seminar an, welches sich auch und besonders an Studienanfänger richtete. Schon im Titel ist auf jene „drei großen Konzeptionen von Philosophie, die sich in unserer Tradition unterscheiden lassen“, verwiesen, nämlich – wie sie Herbert Schnädelbach in seinem ‚Grundkurs Philosophie‘ benennt – „ein ontologisches, ein mentalistisches (...) und ein linguistisches Paradigma“55, die man auch auf die Begriffe „Metaphysik, Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie“ bringen kann.56 Wenn zugleich ein „Grundkurs klassische[r] Texte und Probleme der Philosophiegeschichte“ angekündigt wird, dann könnte man meinen, hier gehe es um eine bloße historische Rekonstruktion. Doch eine solche Rekonstruktion wäre noch nicht Philosophie. Philosophisch wird das Denken frühestens, wenn es sich auch des (philosophischen) Standpunktes klar wird, von dem aus diese Rekonstruktion unternommen wird. Denn man kann „unabhängig von bestimmten Philosophiekonzeptionen nicht definieren (...) was Philosophie sei. Man kann deswegen auch nicht in ‚die‘ Philosophie einführen, ohne * 53 54 55 56 Einige Unklarheiten, Fehler oder Ergänzungsbedürftigkeitensind von mir, D. Böhler, durch eingefügte [eckige] Klammerbemerkungen kompensiert worden. Einige Anlagen habe ich hinzugefügt. Abgedruckt (im Kapitel der vermutlich erfundenen Anekdoten) bei Peter Kauder (2000): Hegel beim Billard. München, S. 140; mit Verweis auf Information Philosophie 24 (1996), Heft 5, S. 93. Böhler 2001 c, S. 1. Hervorhebungen in Zitaten sind vom Verf. durchgängig getilgt. Schnädelbach 1986, S. 39. Die an Thomas Kuhn [1962/1967] anknüpfende Rede vom „Paradigma“ beinhaltet Schnädelbach zufolge „immer Vorstellungen vom Gegenstandsgebiet, von einschlägigen Problemstellungen und vorbildlichen Problemlösungen einer Disziplin, d.h. sowohl eine Ontologie (griech. ,tó òn‘ – das Seiende) wie eine Methodologie der Wissenschaft insgesamt“. So z.B. Richard Rorty, zit. n. Habermas 1999, S. 240; ähnlich Karl-Otto Apel und Tugendhat. 39 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie zumindest implizit das Philosophieverständnis ins Spiel zu bringen, das man als Einführender selbst besitzt. Man kann somit auch nicht kontextfrei in ‚das‘ Philosophieren einführen; denn auch das Methodenverständnis wandelt sich mit dem allgemeinen Bild von Philosophie.“57 Wenn keine kontextfreie Einführung in die Philosophie denkbar ist, so stellt sich nicht nur die Frage, aus welchen Kontexten heraus sie vermittelt wird, sondern auch, anhand welcher Argumentationsmodelle die in Philosophie Eingeführten sich ihrer eigenen Kontexte klarzuwerden vermögen. Für diese Aufklärung scheinen Fragemodelle skeptischer Art besonders geeignet zu sein, sind sie doch Ausdrucksmittel der „Neigung zum Zweifel am allgemein Anerkannten, ungeprüft Übernommenen oder neu Auftretenden“ – so formuliert es jedenfalls ein angesehenes philosophisches Wörterbuch.58 So gelten die ersten Fragen nicht nur dem Kontext, aus dem heraus heute immer noch Studierende mit Philosophie beginnen59, sondern auch dem Zusammenhang, in dem uns Philosophiegeschichte entgegentritt. Begegnet sie uns in Gestalt „einer kontingenten Folge inkommensurabler Paradigmen“60, wie Richard Rorty61 behauptet? Oder handelt es sich eher um einen dialektischen Zusammenhang, in dem das jeweils „folgende Paradigma (...) die Antwort auf ein Problem, das die Entwertung des vorangehenden Paradigmas hinterlassen hat“, bereithält, wie Jürgen Habermas62 meint? Der hier unternommene kursorische Gang durch die Philosophiegeschichte soll – um diese Perspektive gleich klarzustellen – die letztere Auffassung stützen. Die Zusammenhänge verschiedener philosophischer Paradigmen sollen untersucht und herausgestellt werden, analog zum pädagogischen Ansatz im erwähnten Seminar: Da ging es stets auch darum, Studienanfängern der Philosophie Kompetenz darin zu vermitteln, ihnen begegnende Argumentationsweisen und Positionen in Denkmodelle der Philosophie einordnen und interne Bezüge und solche zu ihrem eigenen Kontext verstehen zu können. Nur so läßt sich – wenn überhaupt – ein Überblick über die unübersehbare Vielfalt philosophischer Schulen gewinnen. So wie es ein gewisses Wagnis ist, einen verstehenden Durchgang durch diese drei Paradigmen innerhalb eines Seminars in einem Semester absolvieren zu wollen (ein Wagnis, das viel Disziplin und konzentrierte Mitarbeit erfordert), erscheint es auch hier vermessen, auf wenigen Seiten dieses Wagnis nachzuvollziehen und kritisch zu rekonstruieren. So gilt für beide Anliegen: Gelingen können sie höchstens unter der Maßgabe, zum einen bloß schlaglichtartig Details der paradigmatisch umrissenen Hauptströmungen zu beleuchten und zum anderen den Schwerpunkt auf den Zusammenhang der Paradigmen, auf die logischen Abhängigkeiten und die ideengeschichtlichen Ablösungsprozesse zu richten. [An dieser Stelle fügen wir in Tilman Lückes Text die Anlage 8 aus den „Denkstücken und Arbeitsmaterialien zur Vorlesung und den Grundlagenseminaren Böhler und Herrmann 2009“ ein, welche aus diskurspragmatischer Sicht einen Überblick über die drei Hauptparadigmen gibt, indem sie die jeweils dominante Erkenntnishaltung und Methodik zu der Bestimmung des Gegenstandes in Beziehung setzt – und auf diese Weise eine Grundrichtung der Philosophie als Paradigma charakterisiert.] 57 58 59 60 61 62 Schnädelbach 1986, S. 38. Johannes Hoffmeister (Hg.) (1955): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg2, S. 562. Der Frage „Wozu Philosophie (studieren)?“ soll und kann hier nicht nachgegangen werden. Vgl. hierzu das Unterkapitel ‚Wozu brauchen wir heute noch den philosophischen Diskurs?‘ in Gronke 2001. Habermas 1999, S. 242. Polemisch und anregend (wenn auch mit – im Vergleich zum hiesigen Verfahren – quasi umgekehrter Intention) beispielsweise Rortys Versuch, auf wenigen Seiten die „Geschichte (...) wie die Philosophie qua Erkenntnistheorie sich in der modernen Periode ihrer selbst versichert“ zu erzählen (Rorty 1981, S. 155 ff.). Habermas 1999, ebd. 40 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Anlage 8: Die drei (Haupt-) Paradigmen der Philosophiegeschichte (idealtypisch in diskurspragmatischer Sicht) Hauptepoche Klassische Antike I (Platon, Aristoteles) Neuzeit II (von Descartes bis Kant) Moderne III (W.v. Humboldt, Heidegger I, Wittgenstein II, Habermas u.a. versus Ch. S. Peirce, Apel, Kuhlmann u.a.) Erkenntnishaltung/Methoden Gegenstand theoria: Schau mit Analyse der Strukturen des Seienden bzw. Muster des Handelns: Platons Ideen, Aristoteles’ Teleologien und Tugenden/Kompetenzen Das „Sein“ (Seiendes als Idee/Gestalt oder als Wesen/Substanz in dem Ganzen als Kosmos) Reflexion auf das Subjekt mit (bei Kant) transzendentaler Analyse der Erkenntnisbedingungen Rekonstruktion der Sinnbedingungen von Praxis-, Kultur- und Lebensformen (Kontextualismus; Relativismus) Das vom „Subjekt“ Erkennbare und das Subjekt als Erkenntnisvermögen bzw. als reiner Wille mit postulierter Freiheit „Bedingungen der Möglichkeit“ von Erfahrung/Erkenntnis bzw. der „Prinzipien eines möglichen reinen Willens“ Sprache/Handlung und Dasein/ Sprecher/Actor in Lebenswelt mit realer Kommunikationsgemeinschaft als Sinnkonstitution oder auch oder auch in bezug auf Rekonstruktion und aktuelle Reflexion der Sinnbedingungen des Argumentierens (Transzendental- bzw. Diskurspragmatik) ein Diskursuniversum mit idealer Kommunikationsgemeinschaft als Instanz der Sinngeltung und Verbindlichkeit für den Dialog 41 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie I. Paradigma: Sein Schöne alte Welt – die klassisch-griechische Kosmosfrömmigkeit Exemplarisch für die klassisch-griechische Weltauffassung, die am Anfang unseres Durchgangs durch die Philosophiegeschichte steht, wird ein Auszug aus Platons Dialog ‚Timaios‘ herangezogen. Den Hauptteil des Dialoges macht Timaios’ Rede über das Entstehen der Welt aus. Darin wird die „klassisch griechische Ontologie als ewigkeits- und strukturbezogene Kosmostheologie“63 unter anderem so entfaltet: „Ist aber diese Welt schön und ihr Werkmeister gut, dann war offenbar sein Blick auf das Unvergängliche gerichtet (...), denn sie ist das Schönste alles Gewordenen, er der Beste aller Urheber. So also entstanden, ist sie nach dem durch Nachdenken und Vernunft zu Erfassenden und stets sich Gleichbleibendem auferbaut (...). Indem nämlich Gott wollte, daß alles gut und, soviel wie möglich, nicht schlecht sei, brachte er, da er alles Sichtbare nicht in Ruhe, sondern in ungehöriger und ordnungsloser Bewegung vorfand, dasselbe aus der Unordnung zur Ordnung, da ihm diese durchaus besser schien als jene. (...) [So] verlieh er der Seele Vernunft und dem Körper die Seele und gestaltete daraus das Weltall, um so das seiner Natur nach schönste und beste Werk zu vollenden.“64 Die Welt ist hier als Kosmos geordnete Schönheit65 und Abglanz des göttlich-planvollen Ewigen dargestellt. Was ist nun die Rolle des Denkenden in dieser Welt? Ihm ist es aufgegeben, mit seiner Seele, die sich als Teil der wohlgestalteten Ordnung verstehen läßt, in diese Einblick zu nehmen. Die ewigen Ideen, die allem Seienden zugrunde liegen, sind demzufolge Thema und Erkenntnisgebiet der Philosophie; das bloß wandelbar-geschichtliche Auftreten der Dinge, mithin die Praxis gilt es zu überwinden, um so zur reinen Theorie zu kommen. Dann wird der „Philosoph, der mit dem Göttlichen, dem Kosmos und Logosgemäßen umgeht, (...) selber Anlage 13 kosmosgemäß und göttlich“66. Für die dem Menschen angeborene Erkenntnisfähigkeit gibt es eine dominante Metapher: das Sehvermögen. Dahinter steht die vorgestellte Analogie, daß wir so, wie wir mit unseren Augen unmittelbar aufnehmen könnten, was ist, in gleicher Weise durch Anschauung von Sachverhalten unmittelbar zu Erkenntnis kämen. Verbunden ist damit die Überzeugung, Philosophie überhaupt sei aus Anschauung der kosmischen Kreisläufe entstanden – so rekonstruiert jedenfalls Timaios „das Wesen Philosophie, als welches ein größeres Gut weder kam noch jemals kommen wird dem sterblichen Geschlecht als Geschenk von den Göttern“67. Die optische Erkenntnisfähigkeit sei uns Menschen gegeben, heißt es weiter, „damit wir beim Erschauen der Kreisläufe der Vernunft am Himmel sie für die Umschwünge unserer eigenen Denkkraft benutzten, welche jenen, die regellosen den geregelten, verwandt sind, und, nachdem wir sie begriffen und zur naturgemäßen Richtigkeit unseres Nachdenkens gelangten, durch Nachahmung 63 64 65 66 67 Böhler 2001 c, S. 3. Platon, Timaios 28c f. (S. 154 f.). Als pädagogisch fruchtbar erwies sich in diesem Zusammenhang der Hinweis eines referierenden Studenten auf das in die deutsche Sprache eingegangene Wort ‚Kosmetik‘, denn es knüpft (vermittelt durch französische Übernahme) an die griechische ‚kosmetiké techné‘ – ‚Kunst des Schmückens‘ – an. (Vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, erarbeitet im Zentralinstitut für Sprachwissenschaft Berlin. München 1995, S. 721.) So faßt Dietrich Böhler Politeia VI, 500c f. zusammen: Böhler 2001 c, S. 3. Platon, Timaios 47 b f. (S. 169). 42 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie der durchaus von allem Abschweifen freien Bahnen Gottes unsere eigenen, dem Abschweifen unterworfenen, danach ordnen möchten.“68 Wie sich wesentliche Elemente dieser Auffassung bis in die römische Stoa erhalten haben, zeigt Hans Jonas, wenn er Ciceros „De natura deorum“ wie folgt zusammenfaßt: Die Welt sei als All „beseelt, verständig und weise, und etwas von diesen Eigenschaften wird auch in manchen seiner Teile sichtbar; (...) der Mensch hat aber zusätzlich zu dem natürlichen Anteil, der ihm als einem Teil der Vollkommenheit des göttlichen Universums zukommt, auch die Fähigkeit, sich selbst zu vervollkommnen, indem er sein Sein dem des Ganzen durch Betrachtung mittels seines Verstandes und Nachahmung in seiner Lebensführung angleicht“69. Die Annäherung an die ewige Vernunft der Kosmos-Gesamtheit soll also als Orientierung der aktuellen Lebenswelt diese selbst transzendieren. Erschütterungen: Sophistik und Gnosis – und klassische Antworten Für Erfahrungswelt und Intuitionen derjenigen, die heute mit Philosophie beginnen, ist zunächst nur schwer eine Anknüpfungsmöglichkeit an dieses Weltverständnis abzusehen. Wir empfinden heute die Welt, auf die sich unsere Praxis bezieht, als krisengeschüttelt und unbeständig. Doch lenkt man den Blick zurück auf Platon, kann deutlich gemacht werden, daß diese Krisenerfahrung keine Erscheinung der Moderne ist – Platons Philosophie selbst ist nämlich in gewisser Weise schon eine Antwort auf zwei geschichtliche Krisenerfahrungen70, „die die philosophische Reflexion herausforderten: Einmal die bedrängende Erfahrung eines permanenten geschichtlichen Wandels, der alles erschüttert, verändert und in Frage stellt. Zweitens die nicht minder bedrängende Erfahrung einer in dieser Zeit um sich greifenden Aufklärungs- und Bildungsbewegung der Sophisten.“71 Der ‚Angriff‘ dieser sophistischen Bewegung erschütterte die unhinterfragte Vertrautheit mit dem ontotheologischen Hintergrund der platonischen Philosophie; auch wenn die Sophistik von Weisheitslehre über Rhetorik mehr und mehr zu einem Skeptizismus wurde, der – wie es in der philosophischen Einführung von Wilhelm Windelband und Heinz Heimsoeth dramatisch heißt72 – nur „anfangs eine ernste wissenschaftliche Theorie war, jedoch bald in ein frivoles Spiel überging. Mit der selbstgefälligen Rabulistik ihres Advokatentums machten sich die späteren Sophisten zu Sprechern aller zügellosen Tendenzen, welche die Ordnung des öffentlichen Lebens untergruben.“ Fruchtbar machen lassen sich indessen die Antworten Platons und Aristoteles’ auf diese Erschütterungen. Im Hinblick auf die im Rahmen einer Einführung in die Philosophie entscheidende Einsicht über den Zusammenhang philosophischer Paradigmen erweisen sich insbesondere zwei Grundsätze als wesentlich, die Teil dieser Antworten an die skeptische Herausforderung sind: Logosgrundsatz und Satz vom zu vermeidenden Widerspruch. 1. Wenn man den Logosgrundsatz rekonstruiert, läßt sich dort ein „fast sinnkritisch dialogpragmatischer Vorgriff aus sokratischem Geist“73 festhalten, den Platon durch Sokrates im Dialog ‚Kriton‘ anführen läßt: „Schon immer habe ich ja das an mir, daß ich nichts 68 69 70 71 72 73 Ebd. Jonas 1999, S. 292. Zum faktisch-historischen Kontext der griechischen Polis-Krise detaillierter vgl. Apel/Böhler/ Kadelbach 1984, Bd. I, S. 306 ff. Apel/Böhler/Kadelbach 1984, Bd. I, S. 309. Windelband/Heimsoeth 1957, S. 58. Böhler 2001 c, S. 5. 43 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie anderem von mir gehorche als dem Logos [lógos]74, der sich bei der Untersuchung mir als der beste zeigt.“75 Entscheidendes Kriterium für die Anerkennung einer Rede als wahr oder richtig ist also ihre Überzeugungskraft in argumentativen Diskursen. Nur was sich […durch] wohlbegründete Argumente erweisen läßt, kann als verbindlich gelten.76 [Zwar können auf den ersten Blick auch] überzeugende Argumente miteinander im Widerstreit stehen. [Aber mit dem Logosgrundsatz] ist vom platonischen Sokrates zugleich […ein unhintergehbares Geltungskriterium beansprucht worden. Denn er hat darurch] „die Diskursgemeinschaft der sinnvoll Argumentierenden als die einzige Instanz für die Prüfung und für das In-GeltungSetzen von Normen akzeptiert. Damit hat er sich gegenüber dem Ethos einer realen NormenGemeinschaft auf die Ethik einer idealen Normenbegründungsgemeinschaft berufen.“77 Gleichwohl ist ein wichtiges Defizit festzuhalten: Konsequent gedacht wäre mit dieser Vorstellung der unbegrenzten Rechtfertigungsgemeinschaft nicht mehr jene traditionelle Auffassung zu vereinbaren, welche den inneren seelischen Dialog des Einzelnen (mit sich selbst oder als Schau göttlicher Ideen) als Fundament für Erkenntnis ansieht und den Logos bloß als „Ausfluß von jenem“78. Doch an dieser Vorstellung wird unreflektiert festgehalten; Denken gilt weiterhin als Tätigkeit, „die man prinzipiell einsam, unabhängig von Kommunikation und Sprache, vollziehen“79 könnte. „Erst heute, wo die Philosophie sprachbewußt wird“,80 kommt ans Licht,81 daß mit der Einsicht in die Rationalität der unbegrenzten Gemeinschaft der Argumentierenden gerade die Kommunikation mit diesen Anderen als das unhintergehbare Erkenntnismodell schlechthin immer schon anerkannt werden muß. 2. Damit zu einer anderen klassischen Antwort auf die skeptische Herausforderung: Aristoteles’ Aufweis der Unbestreitbarkeit des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch – Es kann nicht zugleich und in der selben Hinsicht82 gelten: A und non-A. „Mangel an Bildung“83 wirft Aristoteles den Skeptikern vor, die einen Beweis in klassischer (d.h. deduktiver) Form für diesen Satz vom zu vermeidenden Widerspruch fordern. Aristoteles meint damit eigentlich – so könnte man es modern und weniger autoritär sagen – mangelnde Selbstreflexion. Dies geht aus seiner Erläuterung hervor: Einerseits sei es unsinnig, für alles einen Beweis nach dem Muster der deduktiven Ableitung zu verlangen, dies würde nämlich heillosen „Fortschritt ins Unendliche“84, also infiniten Regreß, nach sich ziehen – denn jeder deduktive Beweis ist von Prämissen abhängig, die selbst wieder in Frage gestellt werden müßten, wenn für alles Beweise dieser Art eingefordert würden. Zum anderen kann ein 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 Schleiermacher übersetzt verengend lógos mit „Satz“, obwohl sich mindestens die Bedeutungen „das Sagen, Sprechen, (...) Rede = Darstellung, (...) Rechenschaft, (...) Begründung, Beweis, (...) Denkkraft, Vernunft“ anbieten (Menge 1953, cf. logos, 274). [Kritisch dazu:]Apel/Böhler/Rebel 1984, Bd. II, S. 340 f.; vgl. den Abschnitt ‚Dritte Reflexion der unterstellten sokratischen Bildungsidee: Logos‘ (S. 254-257) in Jürgen Sikora: Bildung als Dialogpraxis. Einige Anmerkungen zu Sokrates, die Grenzen und Möglichkeiten ‚Mitverantwortung‘ zu lehren und zu lernen betreffend. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 247-270. Platon, Kriton 46 b (S. 38). Vgl. Böhler 2001 a, S. 47. Apel/Böhler/Rebel 1984, Bd. II., S. 339. Platon, Sophistes 263 e (S. 239). Böhler 2001 c, S. 5. Apel/Böhler/Rebel 1984, Bd. II., S. 342. Die selbstverständliche Formulierung „ans Licht kommen“ zeigt erneut, wie sehr bis in unseren heutigen Sprachgebrauch Erkenntnis mit optischer Metaphorik zusammenhängt. Der einschränkende Verweis auf gleiche, mitgedachte und explizierbare Verwendungsweise der Begrifflichkeit A um die es jeweils geht – hier durch die Wendung „in gleicher Hinsicht“ ausgedrückt –, hat sich im Seminar als wichtig erwiesen. Denn andernfalls bringen Seminarteilnehmer leicht Beispiele, in denen A und non-A gleichzeitig zu gelten scheinen, tatsächlich aber verschiedene Kategorien oder Verwendungsweisen zu Grunde liegen. Diese Beispiele sind aber wenig geeignet, weil ‚zu schwach‘, um sich wirklich mit der Stärke des Aristotelischen Aufweises messen zu können. Aristoteles Metaphysik 1006 a (zit. n. Kuhlmann 1985, S. 271). Ebd. 44 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie unbezweifelbarer indirekter Beweis geführt werden, indem gezeigt wird, daß die Gültigkeit des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch nicht mit einer sinnvollen Äußerung bestritten werden kann. Denn wenn eine Äußerung A (zum Beispiel die Äußerung: „Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch gilt für mich nicht!“) verständlich sein soll, muß sie sich auf etwas Bestimmtes beziehen und die Bedeutung A haben und nicht zugleich die Bedeutung non-A; eine Äußerung, in der A und non-A enthalten sein würden, wäre so allgemein, daß sie nichts Bestimmtes mehr bezeichnen würde und also unverständlich wäre.85 Ein Skeptiker, der die Gültigkeit des Prinzips in Zweifel ziehen will, verwickelt sich folglich in einen „Widerspruch immer dann, wenn er überhaupt redet und denkt. Das ist aber eine Bedingung, die alle nur denkbaren Fälle abdeckt, in denen sich auch nur das Problem erheben könnte (...). Das Prinzip ist also für jeden, gegen den überhaupt zu argumentieren sich lohnt (weil er es selbst tut), unvermeidlich Voraussetzung.“86 Hervorzuheben ist, daß Aristoteles bei der Begründung auf die Dialogpraxis reflektiert und „ganz ausdrücklich einen zentralen Teil seiner Philosophie mit Hilfe dieses Argumenttyps“87 begründet. Die Bedeutung dieser Argumentationsweise im Zusammenhang mit dem in diesem Seminar beabsichtigten Lernfortschritt soll hier betont werden. Denn die indirekte Skeptikerwiderlegung nach diesem Modell ist exemplarisch für die Art und Weise, wie Philosophen es vermögen, aus skeptischen Erschütterungen hergebrachter Vorstellungen Kapital zu schlagen. Die entscheidende Frage, die sie sich, da sie sich in einer Argumentation befinden, vorlegen, lautet: Was ist Voraussetzung eines sinnvollen Redebeitrags? Indes bleibt Aristoteles wegen seiner akommunikativen, gegenstandstheoretischen Sichtweise ein bedeutender unreflektierter Rest vorzuhalten. Er geht einerseits nicht weit genug mit dem reflexiven Ansatz, in dem er sich nicht selbst auf seine Rolle als Argumentierender besinnt: „im Ganzen wird das Argument durchaus aus der distanzierten Position des Theoretikers vorgetragen, der von außen ganz allgemein und unabhängig von seiner faktischen Argumentationssituation hier und jetzt überlegt“88. Andererseits geht er zu weit in der Abwehr sophistischer Rhetorik – dies ist ablesbar u.a. an der Aristoteles-Schule seit Theophrast, der „die pragmatische Dimension der Rede (Kommunikation zwischen Sprecher/Hörer und Hörer/Sprecher) (...) als erkenntnis- und daher philosophisch irrelevant zurückstuft, um die Philosophie von der nicht wahrheitsfähigen Rhetorik etc. zu emanzipieren“89. Der so interpretierte Aristoteles blendet die pragmatischen Bedingungen der Rede, d.h. die Verwendungsweise von Sprache in bestimmten Handlungskontexten, systematisch aus und konzentriert sich allein auf die logischen Voraussetzungen der Rede. Dabei läßt sich sein Modell der Skeptikerwiderlegung – der indirekte Aufweis, in dem die Sinnlosigkeit von Bestreitungsversuchen gezeigt wird –, wie zu sehen sein wird, insbesondere für praktische Kontexte fruchtbar machen. In historischer Perspektive könnte man sagen, daß zur Überwindung dieses gegenstandstheoretischen Rests die völlige Erschütterung der traditionellen Auffassung von Sprache und Welt noch ‚fehlte‘. Als eine der Vorbereitungen dieser Erschütterung kann das Phänomen der Gnosis90 gesehen werden, das sich in den ersten Jahrhunderten nach Beginn unserer Zeitrechnung im Mittelmeerraum in Gestalt zahlreicher Sekten und Glaubensrichtungen zeigte. In ihnen „fand die geistige Krise des Zeitalters ihren verwegensten Ausdruck und gleichsam ihre radikale Antwort“91: eine „jenseitsbezogene, die 85 86 87 88 89 90 91 Ausführlicher vgl. Kuhlmann 1985, S. 273-276. Kuhlmann 1985, S. 275. Kuhlmann 1985, S. 268. A.a.O., S. 275 f. Böhler 2001 c, S. 6. Vgl. den Artikel Carsten Colpes in RGG, Sp. 1648-1652. Jonas 1999, S. 55. 45 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Welt als heillose Entfremdung verneinende Selbstsorge und Selbsterlösungsreligiosität“92. An Stelle der Auffassung von der einen Welt (in der sich die Zeichen göttlicher Vernunft wiederfinden lassen) predigen gnostische Lehrer nun radikalen Dualismus zwischen Gott und Welt: „Die Gottheit ist absolut außerweltlich, ihr Wesen ist dem des Universums fremd, das sie weder geschaffen hat noch regiert und zu dem sie die vollkommene Antithese bildet: dem in sich geschlossenen und fernen göttlichen Reich des Lichts steht der Kosmos als Reich der Finsternis gegenüber.“93 Im Zusammenhang mit der Erlösungslehre der Gnosis wird die Besinnung auf das Innere des Menschen zum entscheidenden Moment, denn Voraussetzung zur Erlösung ist „das ‚Wissen des Weges‘, nämlich des Weges der Seele aus der Welt hinaus (...). Die unmittelbare Erleuchtung macht das Individuum nicht nur souverän in der Sphäre des Wissens (daher die grenzenlose Vielfalt gnostischer Lehren), sondern bestimmt auch sein praktisches Verhalten.“94 In unserem Kontext der Betrachtung philosophischer Paradigmen ist die damit aufkommende individuelle Souveränität oder Autonomie relevant. Mit dem ‚Fluchtimpuls‘ aus der verkommenen Welt geht eine Herausforderung für die Erkenntnisleistung des Einzelnen einher. Im Dualismus der Gnosis liegt somit „praktisch eine Vorstufe zu einem autonomen Selbst- und Weltverhältnis, welches Normen und Sinn letztlich nicht in der Welt vorfinden kann, sondern begründen bzw. prüfen und selbst erkennen muß.“95 II. Paradigma: Selbst [, Selbstbewußtsein bzw. Subjekt] Selbstbesinnung bei Augustinus und Descartes Voll in Besitz genommen wird diese Stufe der Autonomie durch Augustinus, der in seiner Jugend dem Manichäismus, einer der wirkmächtigsten gnostischen Bewegungen, anhing. Seine Aneignung und Weiterentwicklung der Vorstellung eines autonomen Ichs lassen Augustinus zu „einem Urheber des modernen Denkens“ werden96. Seine Suche nach einem sicheren Fundament für die Philosophie läßt ihn fündig werden im „Prinzip der selbstgewissen Innerlichkeit, das Augustin zuerst mit voller Klarheit ausgesprochen und als Ausgangspunkt der Philosophie formuliert und behandelt hat. Unter dem Einfluß der ethisch-religiösen Bedürfnisse hatte sich allmählich und fast unvermerkt das metaphysische Interesse aus der Sphäre der äußeren Wirklichkeit in diejenige des inneren Lebens verschoben. An die Stelle der physischen Begriffe waren die psychischen als Grundfaktoren getreten.“97 Damit wird zugleich eine neue Selbstbehauptung des Individuums in der Welt begründet. Seele bzw. Bewußtsein werden (neben Gott und Geschichte) zu zentralen Themen der Philosophie Augustins. 92 93 94 95 96 97 Böhler 2001 c, S. 9. Jonas 1999, S. 69. Jonas 1999, S. 72 f. Böhler 1999, S. 2. Dieser Impuls bildet den Ansatzpunkt für Hans Jonas’ vergleichende Betrachtung von Gnosis und modernem Existentialismus, die von einer Parallelität von – wie Jonas selbst zugibt – historisch sehr unterschiedlichen Phänomenen ausgeht; aber eben dieser Fluchtimpuls evoziert deren Vergleichbarkeit – s. a. die Attraktivität ‚gnostischer‘ Bewegungen in jüngster Zeit (vgl. Hans Jonas: Epilog – Gnostizismus, Existentialismus und Nihilismus. In: Jonas 1999, S. 377-400). Windelband/Heimsoeth 1957, S. 237. Ebd. 46 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie „Die Wissenschaft von der Außenwelt, von der Natur, vom Kosmos ist dagegen ganz unwichtig. Die Wendung geht jetzt – das zeigt den Beginn eines neuen Paradigmas an – nach ‚innen‘.“98 Die in der Neuzeit aufkommende „Verinnerlichung des Denkens als Suche nach dem Selbst im Denken und Erfahren bzw. nach dem Selbst als Subjekt des Denkens und Erkennens“99 hat hier einen Ursprung. Die Bedeutung Augustins im Zusammenhang der Untersuchung und Einführung philosophischer Paradigmenwechsel wird noch gesteigert dadurch, daß er sein Interesse auch auf die menschliche Sprache richtet100, und durch seine selbst in Anspruch genommene Rolle als Vermittler platonischer Philosophie.101 Mit dem Vorigen ist schon der Übergang zum methodischen Subjektivismus René Descartes’ angedeutet. Als Wegbereiter wäre ergänzend noch die große mittelalterliche Auseinandersetzung um die Universalien, also um die „Frage nach der metaphysischen Bedeutung der Gattungsbegriffe“102 zu erwähnen, was hier – wenngleich die Folgen der Auseinandersetzung weitreichend sind – nur am Rande geschehen kann. Hier wären vor allem Spielarten des Nominalismus zu nennen, bei denen „das augustinische Gefühlsmoment, welches der individuellen Persönlichkeit ihre metaphysische Würde gewahrt sehen will“103, festzustellen ist. Zugleich macht sich aber auch „die antiplatonische Tendenz der erst jetzt bekannt werdenden aristotelischen Erkenntnistheorie geltend, die nur dem empirischen Einzelwesen den Wert der ‚ersten Substanz‘ zuerkennen will“104. Inwiefern der Subjektivismus an den Nominalismus anknüpft, läßt sich an Wilhelm von Occams spätem nominalistischem Modell ablesen (wie es in Windelbands Philosophiegeschichte beschrieben ist): „Die Einzeldinge (...) werden von uns intuitiv (ohne Vermittlung von species intelligibiles) vorgestellt; allein diese Vorstellungen sind nur die ‚natürlichen‘ Zeichen für jene Dinge und haben zu ihnen nur eine notwendige Beziehung, dagegen eine sachliche Ähnlichkeit mit ihnen so wenig, wie dies sonst für ein Zeichen in Hinsicht des bezeichneten Gegenstands nötig ist.“105 Der Zusammenhang mit dem hier schon angedeuteten – und spätestens mit Descartes vollzogenen – Übergang zum zweiten Paradigma, dem der Subjektphilosophie, läßt sich mit Jürgen Habermas so auf den Punkt bringen: „Der Nominalismus hatte die Dinge ihrer inneren Natur oder ihres Wesens beraubt und die Allgemeinbegriffe zu Konstruktionen des endlichen Geistes erklärt. Seitdem fehlte der gedanklichen Erfassung die Fundierung in der begrifflichen Verfassung des Seienden selber. Die Korrespondenz des Geistes mit der Natur konnte nicht mehr als Seinsrelation begriffen werden, die Regeln der Logik spiegelten nicht mehr die Gesetze der Wirklichkeit.“106 Es ist die (wenn auch nicht konsequente, s.u.) Anwendung skeptischer Fragestellungen, die es René Descartes möglich macht, die subjektivistische Wendung zu vollenden. Es gelingt ihm, Skepsis zu „durchdenken und als methodischen Zweifel für begründete Erkenntnis fruchtbar [zu] machen“107. Descartes’ gründlicher und allgemeinverständlich formulierter Neubeginn der ‚ersten‘ Philosophie bewegt Hegel dazu, in seiner ‚Vorlesung über die Geschichte der 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 Kuhlmann 1985, S. 284. Böhler 2001 c, S. 9. Andererseits bietet der Aufweis der augustinischen Defizite auf diesem Gebiet den Vorreitern des dritten Paradigmas Gelegenheit zur Weiterentwicklung eigener Ansätze, s.u. Vgl. Böhler/Gronke 1994, Sp. 775. Windelband/Heimsoeth 1957, S. 232. A.a.O., S. 292. Ebd. A.a.O., S. 293. Habermas 1999, S. 242. Böhler 2001 c, S. 12. Vgl. Gronke 1999, S. 30 ff. 47 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Philosophie‘ über ihn zu sagen, er sei „so ein Heros, der die Sache wieder einmal ganz von vorne angefangen und den Boden der Philosophie erst von neuem konstituiert hat“108. Voraussetzung für diesen Neuanfang ist dabei eine „Umkehrung der Erklärungsrichtung“.109 Da die Vorstellung einer untrüglichen Korrespondenz zwischen äußerer Wirklichkeit und Erkenntnis nicht mehr zur Verfügung stand, suchte Descartes nach einem alternativen Fundament für gesicherte Erkenntnis: „Wenn das erkennende Subjekt einer entqualifizierten Natur die Maßstäbe der Erkenntnis nicht mehr entnehmen kann, muß es diese aus der reflexiv erschlossenen Subjektivität selbst schöpfen.“110 Es ist wichtig festzuhalten, daß nicht gleich auf jegliche Maßstäbe gesicherter Erkenntnis111 verzichtet werden soll. Denn Descartes verfolgt mit seinem ‚De omnibus dubitandum est‘ nicht die Strategie des haltlosen Skeptizismus; „es hat vielmehr den Sinn, man müsse jedem Vorurteil entsagen – d.h. allen Voraussetzungen, die ebenso unmittelbar als wahr angenommen – und vom Denken anfangen, um erst vom Denken auf etwas Festes zu kommen, einen reinen Anfang zu gewinnen. Dies ist bei den Skeptikern nicht der Fall; da ist der Zweifel das Resultat.“112 Das Ergebnis der Cartesischen Suche nach unbezweifelbarem Grund, wenn sich doch an allen äußeren Erscheinungen zweifeln läßt, ist bekanntlich das cogito, mein ich denke: das Bewußtsein als Zweifelnder, das ich nicht sinnvoll bezweifeln kann, ohne mir selbst zu widersprechen. Skeptiker, die wirklich an allem zweifeln wollen, werden von Descartes – durchaus in augustinischer Tradition – auf ihr eigenes zweifelndes Bewußtsein verwiesen und auf die Gewißheit, die sie darin finden können, wenn sie sich bewußt machen: „Indem ich zweifle, weiß ich, daß ich, der Zweifelnde, bin; und so enthält gerade der Zweifel in sich die wertvolle Wahrheit von der Realität des bewußten Wesens: denn wenn ich in allem anderen irren sollte, so kann ich darin nicht irren; denn um zu irren, muß ich sein.“113 Oder, wie es dann bei Wittgenstein heißt: „Wer an allem zweifeln wollte, der würde auch nicht zum Zweifel kommen. Das Spiel des Zweifelns selbst setzt schon die Gewißheit voraus.“114 Die Ähnlichkeit zur aristotelischen Zurückweisung desjenigen Skeptikers, der meint, den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch nicht anerkennen zu müssen, ist unübersehbar: Die Zurückweisung des Skeptikers verwendet eine indirekte Argumentation, die ihm nachweist, mit seinem Bestreitungsversuch zugleich […unhintergehbare, ontologische und dialogische] Voraussetzungen zu machen – und diese Voraussetzungen muß er reflektierend sofort einsehen, und damit ebenso die Sinnlosigkeit seines Bestreitungsversuchs. Die unhintergehbare Gewißheit des cogito erstreckt sich sogar – mindestens mit dieser Erwägung geht Descartes über Augustinus hinaus – auf die ketzerische (in gnostischen Lehren angespielte) Eventualität, wir würden in dieser Welt von einem bösen Dämon mit Absicht verführt, und alle unsere Wahrnehmungen seien von diesem Dämon eingepflanzte Täuschungen; denn selbst dann, so Descartes, sei ja gewiß, daß ich es bin, der da getäuscht wird. Diese so reflexiv aufweisbare Unhintergehbarkeit [scil.: ontologischer Elemente und dialogischer Normen] ist von Vertretern des dritten, kommunikationsbezogenen Paradigmas 108 109 110 111 112 113 114 Hegel 1986, S. 123. Habermas 1999, S. 242. Ebd. Insofern geht die Polemik Rortys, wenn er mit Étienne Gilson davon spricht, daß „Descartes’ Hirngespinste“ deshalb so aufsehenerregend gewesen wären, „weil man Fragen ernst nimmt, die zu stellen die Scholastiker (...) zu vernünftig waren“, ins Leere (Rorty 1981, S. 246 f.). Hegel 1986, S. 127. Windelband/Heimsoeth 1957, S. 238 mit Verweis auf Augustinus, De beata vita 7; Solil., II, 1 ff.; De ver. Rel. 72 f.; sowie De trin. X, 14. Vgl. auch Kuhlmann 1985, S. 287 f. Wittgenstein, Über Gewißheit § 115, zit. n. Habermas 1999, S. 244. 48 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie der Philosophiegeschichte etwas mißverständlich als ‚Letztbegründung‘ bezeichnet worden – mißverständlich, weil Kritiker sie so verstehen konnten, als sei mit der einmaligen Begründung von Gewißheiten dieser Art die Reflexionsarbeit ein für alle Mal ‚erledigt‘ und deren Ergebnisse müßten fortan dogmatisch anerkannt werden (was Vertretern des Paradigmas den Vorwurf latenten Fundamentalismus’115 eingebracht hat); gemeint ist aber Unhintergehbarkeit im Sinne von jeweils in der aktuellen Auseinandersetzung als unbezweifelbar – d.h. nicht mit sinnvollen, widerspruchsfreien Argumenten bezweifelbar – anerkennungswürdiger Grundlagen [der jeweiligen] Argumentation [und der Argumentationssituation als eines ontisch realen und moralisch verpflichtenden Verhältnisses]. In diesem Sinne ist Wolfgang Kuhlmann zu verstehen, wenn er schreibt, daß es sich bei der cartesischen Verwendungsweise der reflexiven Wendung „tatsächlich um ein Letztbegründungsargument handelt, ein Argument, mit dem selbst der äußerste Skeptizismus, derjenige, der sogar mit einer uns absichtlich täuschenden Instanz zu rechnen bereit ist, noch zu bezwingen ist.“116 Descartes erweitert dieses Modell jedoch noch in anderer Hinsicht entscheidend gegenüber Augustinus: Die in reflexiver Denkrichtung zu gewinnende Gewißheit steht im Mittelpunkt seiner Philosophie, ja im Mittelpunkt von Wissenschaft überhaupt. Descartes macht das reflexive Argument „zum Zentrum und zugleich zum Prinzip seiner ganzen Philosophie. Zum Zentrum und Angelpunkt insofern, als alle sachhaltigen Aussagen der cartesischen Philosophie in mehr oder weniger direkter Abhängigkeit stehen zu diesem Argument. Zum Prinzip insofern, als mit diesem reflexiven Argument die cartesische Philosophie im engeren Sinne, die prima philosophia, ausdrücklich zur Philosophie in der intentio obliqua, zur Reflexion wird, und zwar vor allem zur Reflexion auf das erkennende Subjekt. Bei Descartes verliert das Argument vollkommen den Charakter eines sophistisch spielerisch zu verwendenden bloßen Versatzstückes aus dem Arsenal der nur halb ernst gemeinten Skeptikerdiskussionen.“117 Grenzen der Subjektphilosophie – [uneinholbarer] ‚metaphysischer Rest‘ bei Augustinus, Descartes, Kant Es bleibt jedoch – trotz all dieser Würdigungen – eine gewisse Ambivalenz festzuhalten, die aus der mangelnden ‚Sprachbewußtheit‘ von Augustinus und Descartes resultiert. Augustinus hatte zwar noch den Erkenntnisprozeß als ‚Dialog‘ verstanden, allerdings als inneren Dialog der Seele mit Gott, also als „sprachfreie Erleuchtung“118. Der Bewußtseinsphilosoph Descartes übersieht hingegen vollends, „daß Sprache und Kommunikation zu den Bedingungen der Möglichkeit sinnvollen Zweifelns gehören“119. Die Folge sind interne Inkonsequenzen: Denn ohne Inanspruchnahme sprachlicher Zusammenhänge müßte die cartesische Gewißheit strenggenommen beschränkt bleiben auf „das mögliche apriorische Wissen, welches ein Erkenntnissubjekt von sich selbst – als real zweifelndem, also 115 116 117 118 119 Vgl. Karl-Otto Apels Einschätzung in: Primordiale Mitverantwortung. Zur transzendentalpragmatischen Begründung der Diskursethik als Verantwortungsethik. Gespräch von Horst Gronke, Jens Peter Brune und Micha H. Werner mit Karl-Otto Apel. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 97-121, S. 118 mit dem Verweis auf Jürgen Habermas 1996; sowie dessen Abschnitt über den „Sinn von ‚Letztbegründungen‘ in der Moraltheorie“ in Habermas 1991, S. 185-199; vgl. Habermas 1999, S. 256 ff. Kuhlmann 1985, S. 290. A.a.O., S. 291. Böhler/Gronke 1994, S. 775. Böhler 2001 c, S. 13. 49 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie sprachfähigem, also auf Andere bezogenem und leibhaftem, also in der Welt befindlichem Kommunikations-Lebewesen etc. – muß haben und daher auch als sicher müßte voraussetzen können“120. Doch dies genügt Descartes eben nicht, er vermengt diese geltungslogische Funktion mit seinem „psychologischen und ontotheologischen Ziel, den Bestand einer individuellen Seele als eigentümlicher Substanz (res cogitans) zu erweisen.“121 Damit verstößt Descartes gegen seine eigene Programmatik, derzufolge er sich doch verpflichtet hatte, nichts anzuerkennen, was sich mit gutem Grund bezweifeln läßt. Statt sich durchgehend reflexiv auf die Voraussetzungen seiner Argumentation zu besinnen, nimmt er wieder eine theoretische Einstellung ein. Von strikter Reflexion läßt er sich nur bis zum Erweis des cogito leiten – wenn „dies feststeht: ‚sum, existo‘, sofort wechselt Descartes die Einstellung: die strikte Reflexion, die einzige Einstellung, in der der drohende Regreß gestoppt werden kann“, verläßt er und „analysiert in theoretischer Einstellung, was es ist, was er da gewonnen hat, und gelangt so zu der überaus problematischen Bestimmung: ‚sum res cogitans‘ und zu (...) ebenso problematischen Brückenprinzipien, die (...) sich offenbar sämtlich ohne Selbstwiderspruch bestreiten [lassen], und damit ist der Letztbegründungseffekt vertan“122. Die breite Inanspruchnahme dieser – von sinnvollen skeptischen Argumenten eben durchaus erschütterbaren – Brückenprinzipien bei Descartes sorgt dafür, daß er als „unfreiwilliger Kronzeuge für die These von der Unfruchtbarkeit reflexiver Argumente in Anspruch genommen werden“123 kann. Es ist aber eigentlich mangelnde Reflexivität, die für diese Defizite verantwortlich ist. Was als Leistung Descartes’ festzuhalten bleibt, ist der Anspruch, daß philosophische Erkenntnisse den Standards wissenschaftlicher Sicherheit zu genügen haben, womit „Descartes die Grundform des Anfangs aller wahrhaft wissenschaftlichen Philosophie entdeckt“ hat – „wie sehr er den Sinn dieses Anfangs auch mißverstanden und damit den wirklichen Anfang verfehlt hat“.124 Einen wirklichen unbezweifelbaren Anfang in der Philosophie wollte in vergleichbarer Weise Immanuel Kant gewinnen. Er spielt natürlich in einem Seminar, das Paradigmen der Philosophiegeschichte und ihren Zusammenhang untersucht, eine Schlüsselrolle. Auch Kant verfolgte den Anspruch, daß die zu erreichende „Selbsterkenntnis der Vernunft durch Begrenzung ihrer Ansprüche“125 wissenschaftlichen Anforderungen genügen müsse: In seiner Vorrede zur ‚Kritik der reinen Vernunft‘ gibt er zu, daß bei einem Vorhaben wie dem seinen unter anderem „Gewißheit und Deutlichkeit (...) als wesentliche Forderungen anzusehen [sind, T.L.], die man an den Verfasser, der sich eine so schlüpfriche Unternehmung wagt, mit Recht tun kann“126. Diese wissenschaftliche Sicherheit soll durch strikte Verfolgung der transzendentalen Methode erreicht werden, die kritisch nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis fragt. Auch Kant bedient sich dabei einer indirekten Argumentationsstrategie – derjenigen, „daß die ‚objektive Gültigkeit‘ eines x (sei es eines ‚Prinzips der Sinnlichkeit‘, sei es einer Kategorie, sei es eines ‚Grundsatzes des Verstandes‘, sei es auch z.B. eines ‚teleologischen Prinzips der Zweckmäßigkeit der Natur‘) auch dadurch 120 121 122 123 124 125 126 A.a.O., S. 14. Ebd. Kuhlmann 1985, S. 297. A.a.O., S. 291. Edmund Husserl (1956): Erste Philosophie. Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion. Hg. v. Rudolf Boehm. Den Haag (Husserliana Bd. VIII), S. 5. Zit. n. Gronke 1999, S. 37. Böhler 2001 b, S. 16. Kant KrV A, S. XV, zit. n. Kant 1956, S. 9. 50 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie erwiesen werden kann, daß gezeigt wird: Ohne dieses x, ohne die ‚objektive Gültigkeit‘ dieses x, kann es Erfahrung nicht geben.“127 Kant argumentiert dabei „ganz im Sinne des cartesischen Paradigmas“128. Denn er bemüht sich nicht etwa, den Skeptiker auf klassisch-metaphysische Weise zu überzeugen – also dadurch, daß er „neben sich und seine Erkenntnisbeziehungen zur objektiven Welt tritt und (...) nach dem Muster der ontologischen Wahrheitstheorie durch Vergleich des Subjektiven mit dem Objektiven von einer dritten Position aus die bezweifelte Übereinstimmung (adaequatio) in den fraglichen Punkten“129 zu zeigen versuchte – denn er weiß, daß sich eine solche Übereinstimmung niemals unbezweifelbar erweisen ließe. „Er versucht den Nachweis vielmehr aus der Position des neuzeitlichen Erkenntnissubjekts“130: von der Frage ausgehend, was die Sinnbedingungen dafür sind, „daß ein Vernunftsubjekt objektive Erfahrung überhaupt haben kann.“131 Diese Methode ist auch als Antwort auf den empiristisch-objektivistischen Skeptizismus von Hume zu verstehen. Insofern macht die kantische Vernunftkritik im Hinblick auf das erkenntnissichernde Fundament „Schluß mit unkritischer Ontologie / Metaphysik im Sinne der theoria-Tradition“132. Anlage 14a 127 128 129 130 131 132 Kuhlmann 1985, S. 300. A.a.O., S. 303; vgl. KrV B, S. 817 ff. Ebd. Ebd. Gronke 1999, S. 39. Böhler 2001 c, S. 21. 51 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Anlage 14a: Stand 2. Juni 2009 Kants transzendentale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und objektiven (Natur-)Erkenntnis: Aufhebung der theoria-Ontologie (Sein der Dinge*) in eine transzendentale Subjektanalyse (mögliche Erfahrung von Dingen): Zwei-Welten-Schema und Schema der beiden Haupt-„Stämme menschlicher Erkenntnis“ Göttliches Subjekt als absolut anschauender Verstand = Archetyp des Intellekts Unser gegenstandsbezogenes Erkenntnisvermögen aus sinnlicher Anschauung und begrifflichem Verstand mit aktbezogenem Selbstbewußtsein ↓ Intelligible Welt (Noumena einer intellekt. Anschauung („Grenzbegriffe“) Dinge an sich selbst (für uns unerkennbar!) Sinnenwelt als Welt der kausaldeterminierten Erscheinungen bzw. Phaenomena i.S. von Objekten Sinnlichkeit: rezeptiv Dinge als Erscheinungen für uns Formen der sinnlichen Anschauung: Raum, Zeit Verstand: spontan Reine Begriffe des Verstandes: Kategorien der - Quantität: Einheit, Viel-, Allheit „Höchster Punkt“ der transzendentalen Deduktion: „›Ich denke‹, das alle meine Vorstellungen und Begriffe muß begleiten können.“ - Qualität: Realität, Negation, Limitation - Relation: z.B. Kausalität - Modalität: Möglichkeit-Unmöglichkeit Dasein-Nichtsein Notwendigkeit-Zufälligkeit von der Vernunft nur postulierbar (natur-)wissenschaftlich objektivierbar Gegenstandsbewußtsein (GB) Selbstbewußtsein als Bewußtsein des GBs Unser Erkenntnisvermögen 52 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie [Kants transzendentalphilosophisches System, entfaltet in der „Kritik der reinen Vernunft“, vermag die theoria-Metaphysik nicht wirklich aufzuheben. Vor allem das transzendentalphilosophische Zwei-Welten-Schema (siehe die ersten beiden Säulen der Anlage 14a) zeigt, daß die Kantische Erkenntnistheorie einen nicht durch sinnvolle Argumente einholbaren „metaphysischen Rest“133 enthält…] Denn die Erkenntnis richtet sich seinem Modell zufolge letztlich auf das hinter dem Gegenstand der Erfahrung (der Erscheinung) liegende ‚Ding an sich‘ (also quasi außerhalb der Erfahrung) „auf die Dinge, ‚so wie sie an sich selbst sind‘ (reines Wesen)“134. In diesem reinen ‚An-sich-Sein‘ bleiben sie jedoch für uns – „im Unterschied zu dem göttlichen, alles direkt anschauenden Verstand“135 – letzten Endes unerkennbar. Denn wir sind auf Erkenntnis durch Erfahrungsvermittlung [und durch diskursiven Gebrauch von Kategorien, die Kant transzendental als reine Verstandesbegriffe rekonstruiert,] notwendigerweise angewiesen. Der Skeptiker kann Kant nun zeigen, daß diese Vorstellung inkonsistent ist [und daß die Aufhebung der unkritischen Metaphysik in eine kritische, transzendental fragende Philosophie allenfalls halb gelingt. Einmal setzt Kant nämlich das metaphysische Erkenntnisideal der puren, nicht sprachvermittelten, insofern auch nicht kommunikationsbezogenen Anschauung als göttlichen archetypus intellectus voraus, worüber er nicht allein als Transzendentalphilosoph gar nichts wissen kann, sondern worüber sich überhaupt nicht sinnvoll reden und nachdenken läßt, weil auch ein solcher Gedanke (wie jeglicher Gedanke) nur sprachlich möglich ist. Hinzu kommt, daß der damit verbundene Gedanke eines (unerkennbaren) Dings an sich selbstwidersprüchlich ist, eine performativ bzw. pragmatisch widersprüchliche Behauptung. Denn der im performativen Akt („ich behaupte es ist wahr bzw. wahrheitsfähig, daß“) geltend gemachte Wahrheitsanspruch wird in der Aussage direkt bestritten: „daß das Ding an sich unerkennbar ist, so daß keine wahrheitsfähigen Aussagen darüber möglich sind.“ Somit ist das] Argumentieren für ein Modell, das sich auf etwas letzten Endes Unerkennbares stützt, in sich widersprüchlich, „eine sinnlose Rede“136. Dies wird deutlich, wenn wir Kant selbst mit den Voraussetzungen konfrontieren, die er implizit benötigt, um uns gegenüber diese Theorie zu vertreten. Denn Kant führt die Rede vom für uns prinzipiell unerkennbaren ‚Ding-an-sich‘ im Mund und macht zugleich Aussagen über dieses: „daß es sich um ein ‚unerkennbares Reales‘ handele, behauptet man ja schon erkannt zu haben“;137 und dies, während er das Ziel verfolgt, eine Erkenntnistheorie zu begründen, „die nach ihrem eigenen Verständnis Vernunftkritik auf den Bereich des vom Bewußtsein Erfahrbaren beschränkt“138. Für diese „kritische“ Erkenntnistheorie ist eine solche „immanent widersprüchliche Auffassung“ natürlich fatal;139 entgegen Kants Unterstellung läßt sich „der Begriff eines unerkennbaren Dinges an sich nicht einmal denken“140. So läßt sich dem kantischen Projekt entgegenhalten, daß der Skeptiker nicht ‚besiegt‘ sei, und zwar „solange er noch sinnvoll nach 133 134 135 136 137 138 139 140 Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. „Eine Folge davon ist, daß sich der Philosoph unter der Hand Erkenntnismöglichkeiten zubilligt, die er als vernunftkritischer Denker, der nur das reflexiv Ausweisbare in Anspruch nimmt, nicht haben kann. Kant macht sich etwa nicht klar, daß er sich einen quasi-göttlichen Einblick in das Verhältnis von einer erkennbaren Erfahrungswelt und einer vermeintlich unerkennbaren Welt an sich zugesteht. Wenn man solcherart Einträge in den philosophischen Diskurs unausgewiesen einbringt, weil man nicht reflexiv genug philosophiert, tangiert dies auch den Geltungsstatus der möglichen Ergebnisse dieses Diskurses.“ (Gronke 2001, S. 216 f.) Gronke 1999, S. 49 und Anm. 103. Kuhlmann spricht davon, „daß es überhaupt verheerend sei für ein Unternehmen, welches mit dem Dogmatismus endgültig abrechnen wolle, wenn es selbst des Dogmatismus bezichtigt werden könne.“ (Kuhlmann 1985, S. 306). Gronke 1999, S. 49 und Anm. 103. 53 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie einer Rechtfertigung für das kantische Verfahren fragen könne“141. Wie kommt es zu diesem [sinnlos] metaphysischen, unreflektierten Rest? Hauptursache ist, „daß Kant sich im Rahmen der Vernunftkritik statt der an sich für sein Projekt erforderlichen strikten Reflexion ausschließlich der theoretischen Reflexion bedient“142. Kant reflektiert zwar auf die Bedingungen der Erkenntnis, letztlich aber in „theoretisch selbstvergessener distanzierender Reflexion von außen“ 143; und statt von sich selbst – dem Philosophen – als Reflexionssubjekt auszugehen, thematisiert er eigentlich „den Physiker“144 als exemplarisches Reflexionsobjekt. Die skeptische Frage: „Welche Erkenntnisbedingungen kann / muß ich als Transzendentalphilosoph beachten?“145, mithin die quaestio iuris der 146 Transzendentalphilosophie , bleibt ungestellt. Anlage 14b [ Kants inkonsequente Aufhebung der theoria-Ontologie*: * Das, was Kant nicht aufhebt: (a) Die theoretische Einstellung mit ihrer Fixierung auf Sein bzw. Welt als Inbegriff von Dingen/Gegenständen. D.h.: Kant reflektiert nicht auf seine eigenen Voraussetzungen als Philosoph, der Erkenntnis beansprucht und auch über (die vermeintlich unerkennbaren) Dinge an sich Behauptungen aufstellt (!); Kant ‚blickt’ durch das sprachliche Verstehen von Welt (ganz i. S. der theoriaTradition) wie durch Glas hindurch – als sei Erfahrung nichts als sinnliche Wahrnehmung von Dingen und deren Rasterung durch Kategorien. (b) Die Unterstellung eines methodologischen Solipsismus mit den Hauptannahmen, daß das als einsam unterstellte transzendentale Erkenntnissubjekt allein aus sich – unabhängig von Kommunikation mit Anderen – der Welt Sinn abgewinnen (sinnvolle Sätze bilden) und wahre Erkenntnis haben (Geltungsansprüche einlösen) könne. Für die Menschen als Wesen mit sinnlicher Anschauung „erscheinen“ die Dinge als etwas sinnlich Wahrnehmbares in Raum und Zeit. Kant setzt gewissermaßen platonisch voraus, daß die Dinge in zwei Welten anzusiedeln sind: einer „intelligiblen“ Welt der reinen Erkenntnis i.S. einer göttlichen Vernunftschau und einer Sinnenwelt der menschlichen Wahrnehmung bzw. Erfahrung. Genaugenommen, setzt er voraus, daß „die Dinge, so wie sie an sich selbst sind“ (Prol. § 9), (1.) nur von Gott erschaubar seien, (2.) den Menschen unerkennbar blieben, daß sie aber (3.) bei den sinnlichen Menschen Erscheinungen hervorriefen und insofern Gegenstände der Erfahrung würden. Das zeigt in unserer Figur der nächste Pfeil an: Als Erscheinungen affizieren die Dinge die menschliche Sinnlichkeit als „rezeptives“ Vermögen der „Anschauung“. (Diesen „Hauptstamm“ der Erkenntnis behandelt Kants Kr.d.r.V. in der „transzendentalen Ästhetik“.) 141 142 143 144 145 146 Kuhlmann 1985, S. 306. A.a.O., S. 308. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 42 f. Vgl. Böhler 2001 c, S. 18. 54 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Der Verstand denkt, indem er das Mannigfaltige der Anschauung unter Begriffe bringt. Er gilt als selbsttätiges „spontanes“ Vermögen. (Das Verstandesvermögen erörtert Kant im Abschnitt „transzendentale Logik I: Analytik.“)] Trotz dieser Defizite soll hier noch einmal die Weiterentwicklung des Vernunftbegriffes Würdigung finden, die Kant gegenüber dem klassischen Modell vornimmt und die als ‚kopernikanische Wende‘ in die Philosophiegeschichte eingegangen ist; Kant gibt mit seinen „Überlegungen zur Konstitution des Selbstbewußtseins einen überzeugenden Beleg dafür, daß sein transzendentaler Ansatz, in dem der vorneuzeitliche Vernunftbegriff eines vernehmenden Erfassens zugunsten der Vorstellung einer leistenden, geltungskonstitutiven Vernunft zurückgedrängt wird, gegenüber Descartes’ noch von scholastischen Einflüssen durchwirktem Denken einen wesentlichen Denkfortschritt markiert.“147 III. Paradigma: Sprache[, Kommunikation, Dialog] Radikaler Skeptizismus als widersprüchliche Konsequenz aus der Kant-Kritik Die skeptischen Anfragen, gegen die man sich innerhalb der kantischen Vernunftvorstellung schwerlich eine schlagende Argumentation denken kann, sind wohl deutlich geworden. Überblicksartig kann gesagt werden, daß diese Erschütterung erneut einen Paradigmenwechsel einleitet und insofern vergleichbar ist mit dem Paradigmenwechsel zwischen klassischer Ontologie und Subjektphilosophie: „Wie der Universalienstreit im ausgehenden Mittelalter zur Entwertung der objektiven Vernunft, so hat im ausgehenden 19. Jahrhundert die Kritik an Introspektion und Psychologismus zur Erschütterung der subjektiven Vernunft beigetragen.“148 Aus dem nun mehrfach angeführten sprachreflexiven Ansatz ergibt sich, in welcher Richtung die Suche nach unhintergehbaren Fundamenten philosophischer Argumentation – die Suche nach ‚Skepsis-resistenten‘ Ergebnissen also – fruchtbar sein kann: im Bereich der Sprache selbst [als realer Kommunikationsgemeinschaft und als möglicher Argumentationsgemeinschaft.] Ihre Thematisierung als gewißheitsermöglichende Voraussetzung an Stelle der subjektiven Vernunft markiert den Übergang vom zweiten zum dritten Paradigma. „Mit der Verlagerung der Vernunft aus dem Bewußtsein in die Sprache als dem Medium, über das handelnde Subjekte miteinander kommunizieren, ändert sich die Erklärungsrichtung noch einmal. Die epistemische Autorität geht vom erkennenden Subjekt, das die Maßstäbe für die Objektivität der Erfahrung aus sich selber schöpft, auf die Rechtfertigungspraxis einer Sprachgemeinschaft über [scil.: als Argumentationsgemeinschaft]. Bis dahin ergab sich eine intersubjektive Geltung von Meinungen aus einer nachträglichen Konvergenz von Gedanken und Vorstellungen (...). Aber nach der linguistischen Wende gehen alle Erklärungen vom Primat einer gemeinsamen Sprache aus.“149 147 148 149 Gronke 1999, S. 42 f. Habermas 1999, S. 243 f. Ebd. 55 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Dieser ‚linguistic turn‘ macht es möglich, so nun die These, das „Scheitern von Descartes’ und Kants transzendentalphilosophischen Ansätzen“150 zu überwinden. Könnte man nun auch ein anderes Modell vertreten, welches das Scheitern einfach hinnimmt? Also dem radikalen Skeptiker ‚nachgeben‘ und sich dessen Position des „skeptischen Relativisten, der die Möglichkeit einer absoluten Selbstrechtfertigung der Philosophie und einer rationalen Vernunftkritik bestreitet“151, zu eigen machen? Man würde also – von den bisherigen Erfolgen skeptischer Erschütterung ermuntert und im skeptischen Aufspüren ‚metaphysischer Reste‘ geübt – die These vertreten wollen, daß es unhintergehbare Wahrheit im Grunde genommen nicht gibt ebensowenig wie verläßliche Kriterien dafür. Zur Prüfung wollen wir kurz aus dem historischen Durchgang heraustreten und aufzeigen, daß diese Argumentationsweise sich nicht wirklich vertreten läßt, weil sie sich nicht widerspruchsfrei äußern, ja nicht einmal denken läßt. Dietrich Böhler [begründet], warum es nicht möglich ist, diese Position in einem aktuellen Dialog mit sinnvollen Argumenten zu vertreten. Dies kann dem so auftretenden Skeptiker anhand seiner eigenen Praxis, in der er sich – diese Auffassung äußernd oder denkend – befindet, gezeigt werden. In [seinem] Beitrag Anlage 20 152 zum Sammelband ‚Zwischen Universalismus und Relativismus‘ von 1998 heißt es: „Der Rückgang auf die notwendige, alles menschliche Tun und Lassen zumeist unausdrücklich begleitende, mithin für jeden erfahrbare und erkennbare MetaPraxis des Etwas-Behauptens, welche einen argumentativen Dialog eröffnet oder antizipiert, erschließt uns einen universalen ‚Grund der Verbindlichkeit‘ (Kant) und damit zureichende Kriterien für die Suche nach dem Wahren und Richtigen.“153 Denn diese unhintergehbare Meta-Praxis [, dieser Begleitdiskurs einer Stellungnahme zu sich selbst,] begleitet eben auch das Tun und Lassen des Skeptikers – erst recht, wenn er versucht, irgendeine Position (zum Beispiel eine skeptische) zu vertreten. Und dies kann dem Skeptiker gezeigt werden, in dem er „in einen dialogreflexiven Test verwickelt“154 wird[, also in eine sinnkritische Prüfung seines Zweifels als eines jetzt von ihm zu vertretenen Diskursbeitrags.] Darin wird der Skeptiker erstens „auf die aktuelle Dialogsituation hingewiesen (...), in die er – sich selbst und uns gegenüber – bereits eingetreten ist (...)“; dann wird zweitens „diese Dialogsituation mit seiner Meinung, seinen Aussagen, konfrontiert“; und drittens wird „geprüft (...), ob diese Aussagen von uns, in der Rolle argumentativer Dialogpartner, jetzt als Dialogbeitrag ernst genommen und dementsprechend mit einer begründbaren Rede (einem sinnvollen Dialogbeitrag) beantwortet werden könnten.“ Daß Dietrich Böhler im Zusammenhang mit diesem Modell der Skeptikerwiderlegung155 auf Kant verweist, hat trotz der oben vorgebrachten Kritik an Kants theoretischer Einstellung seine Berechtigung – denn sein Ansatz, der für die Frage nach Wahrheit ja Kriterien wie Allgemeinheit und vernunftgemäße Prüfbarkeit heranzieht, läßt sich sprachlich transformieren. Wie dies möglich ist, zeigt in überzeugender Weise schon die Kant-Kritik des Charles Sanders Peirce. Dessen „Konzeption der Konsensbildung in der ‚Gemeinschaft der Wissenschaftler‘“156 ersetzt die kantische theoria-Einstellung und zugleich den Solipsismus der Subjektphilosophie. Die solipsistisch vorgestellte Gewißheit des 150 151 152 153 154 155 156 Gronke 1999, S. 52. A.a.O., S. 70. Böhler 1998. Böhler 1998, S. 136. Dies und die folgenden Zitate: Böhler 2001 a, S. 51. In welcher sprachlichen Gestalt dieser Dialog mit dem Skeptiker im einzelnen ablaufen könnte, dazu Beispiele bei Gronke 1999, S. 93-96 mit dem Verweis auf Wolfgang Kuhlmann (1993): Bemerkungen zum Problem der Letztbegründung. In: Alexander Dorschel u.a. (Hg.): Transzendentalpragmatik. Frankfurt a. M., S. 233-327; und bei Brune 1995, S. 69-73. Apel 1973 Bd. I, S. 12. 56 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Einzelsubjekts wird abgelöst durch die „Experimentier- und Interpretationsgemeinschaft (...) als Konkretisierung des transzendentalen Subjekts bei Kant“157. Wahrheit ist das, worüber in dieser Instanz sich „Konsens in methodisch kontrollierbarer Form herstellen“158 ließe. An die Stelle der von Kant vorgestellten Einheit von Bewußtseinsinhalten tritt „semantische Konsistenz einer intersubjektiv gültigen ‚Repräsentation‘ der Objekte durch Zeichen, die nach Peirce freilich erst in der (...) Dimension der Interpretation der Zeichen entschieden wird.“159 Transformation Kants am Anfang der ‚Transformation der Philosophie‘ [nach Apel] Wenn zunächst nur von einer ‚ersetzenden‘ Vorstellung oder ‚Ablösung‘ der kantischen Vernunftinstanz die Rede ist, dann wird damit der Erkenntnisfortschritt noch nicht deutlich genug. Er liegt darin, daß skeptische Kritik an diesem Modell der ‚indefinite community of investigators‘ keinen Ansatzpunkt mehr findet. [Der Skeptiker muß nämlich], um Kritik an ihm vorzubringen, selbst diese Instanz in Anspruch nehmen – denn genau ihr gegenüber müßte die Kritik des Skeptikers verständlich sein, will er sich überhaupt nur theoretisch die Möglichkeit offen halten, gegebenenfalls bessere Argumente zu haben. Die unbegrenzte Gemeinschaft der Argumentierenden als ‚höchster Punkt‘ der Peirceschen Transformation Kants160 bedarf damit höchstens noch der Explikation, die Karl-Otto Apel so leistet: Darin „konvergiert das semiotische Postulat einer überindividuellen Einheit der Interpretation und das forschungslogische Postulat einer experimentellen Bewährung der Erfahrung in the long run. Das quasi-transzendentale Subjekt dieser postulierten Einheit ist die unbegrenzte Experimentier-Gemeinschaft, die zugleich die unbegrenzte Interpretationsgemeinschaft ist.“161 Im Rahmen dieser Konzeption läßt sich auch die problematische Unterscheidung von ‚Dingan-sich‘ und Erscheinungen verabschieden: An ihre Stelle „tritt in der sinnkritischrealistischen Transzendentalpragmatik die Peircesche Unterscheidung zwischen dem Realen als dem prinzipiell – in the long run – Erkennbaren einerseits und dem hier und jetzt faktisch Erkannten andererseits“162. Für den Übergang zum dritten Paradigma, dem Paradigma der Kommunikation, ist damit etwas Wichtiges geleistet, denn Peirces Auffassung kann ergänzt werden von der „kommunikationsbezogenen Auffassung der Sprache und des Denkens, (...) einer (transzendental-pragmatischen) Rekonstruktion der Bedingungen sinnvoller Rede und wahrheitsfähigen Argumentierens“163. Diese Transformation der Philosophie verändert die Zielrichtung philosophischen Denkens weg „von jedweder Betrachtung (bloße Beobachterperspektive, also subjekt- und dialogvergessen) hin zu einer aktuell dialogbezogen-sinnkritischen Reflexion auf sich und Andere als Partner des jetzigen Dialogs“164. Vollendet werden kann diese Transformation als Reflexion auf die Dialogizität von Sprache überhaupt, wobei sie im Rahmen deutschsprachiger Philosophie anknüpfen kann auch an „Wilhelm von Humboldts kaum rezipierte (mit Kant gegen Kant denkende) Einsicht: 157 158 159 160 161 162 163 164 Ebd. Ebd. Apel 1973 Bd. II, S. 169. Vgl. A.a.O., S. 173. Ebd. Kuhlmann 1985, S. 25. Böhler 2001 c, S. 25. Ebd. 57 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Sprechen als miteinander Sprechen und als Aktualisieren einer dualischen bzw. dialogförmigen Struktur der Sprache“165. Bedingung der Möglichkeit des Sprechens ist Humboldt zufolge „Anrede und Erwiderung“166; und dies „hat zur Folge, daß ein Sprecher die eigene Rede nur verstehen, mithin sie auch nur vorbringen kann, weil er immer schon in Erwartung und Erwartungserwartung des resp. der Anderen redet“167. [Sprache und Kommunikation] als Thema der Philosophie nach dem ‚linguistic turn‘ Insgesamt läßt sich der ‚linguistic turn‘ als „Durchbruch der sprachanalytischen Philosophie zum beherrschenden Paradigma der Philosophie im 20. Jahrhundert“168 beschreiben. Das Verhältnis von Erfahrungssubjekt auf der einen und Welt auf der anderen Seite wird abgelöst: Das von der Gnosis bis Kant als einsames Subjekt gedachte Selbst „stellt sich nun als gar nicht absolut und nicht als autonomer Grenzpunkt der Welt heraus, sondern zeigt sich als realkommunizierender Akteur, der in Welt als einen Sozial- und Sinnzusammenhang von vornherein einbezogen ist“169. Die Beschäftigung mit diesen Kommunikationsprozessen wird zum vorherrschenden Thema der Philosophie. Sprache als Ausdruck dieses Zusammenhanges rückt in den Mittelpunkt philosophischer Analyse, was dazu führt, „daß die Sprache, die lange Zeit nur als ein – freilich stets besonderer – Gegenstand der Erkenntnis figurierte, nun endlich in die ihr eher gemäße Stelle einer entscheidenden subjektiven Erkenntnisvoraussetzung rückt (...). Statt mit zunächst nur privat zugänglich scheinenden ‚Tatsachen des Bewußtseins‘ hat die Analyse es nun mit öffentlich zugänglichen Strukturen von Zeichen und Sprache zu tun, was sowohl die Analyse selbst, wie auch ihre kritische Diskussion, ganz wesentlich erleichtert.“170 Zunächst gilt es, das Phänomen der Sprache zu differenzieren. Neben der semantischen und der syntaktischen Dimension der Sprache entdeckt die Analyse (z.B. bei Carnap und Morris171) die Bedeutung der dritten, der pragmatischen Dimension der Sprache. Hieraus resultiert die Rede von der pragmatischen Wende der (Sprach-)Philosophie; „Sprache ist jetzt etwas, das erst im Gebrauch durch Subjekte Bedeutung erhält; der Gebrauch (das kognitive Verhältnis des Sprechers zur Sprache) wird zentrales Thema unter Titeln wie ‚Was heißt es, einer Regel zu folgen‘ oder ‚How to do Things with Words‘.“172 Das Verständnis von Sprache als ‚Regelfolgen‘ [im Sinnzusammenhang einer jeweiligen Praxis und Lebensform] hat am nachhaltigsten Ludwig Wittgenstein geprüft. Doch seine Bedeutung im Rahmen des ‚linguistic turn‘ ist insgesamt ambivalent. Denn in seinen frühen Schriften beschäftigte er sich zwar bereits mit Sprache, allerdings ganz und gar in theoretischer Einstellung – was ihn gegenüber skeptischer Kritik schwächt: „Der frühe Wittgenstein eröffnet die Bewegung mit der paradoxen Fassung einer Sprachkritik, welche ganz ausdrücklich für den Sprachkritiker selbst und seine kritischen Aktivitäten keinen 165 166 167 168 169 170 171 172 Ebd. Wilhelm von Humboldt (1960): Über den Dualis. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Berlin (Akademie-Ausgabe). Bd. VI., S. 27. Zit. n. Böhler 2001 b, S. 168. Böhler 2001 b, S. 168. Kuhlmann 1985, S. 16. Böhler 1985, S. 65. Kuhlmann 1985, S. 16 f. [Aus diesem, von Kuhlmann genannten Grunde] ist es vielleicht eher zu verschmerzen, wenn das Folgende tendenziell wie eine historische „Nacherzählung“ einiger Stationen des dritten Paradigmas wirkt und zuweilen weniger wie eine gründlich-kritische Würdigung. Vgl. Kuhlmann 1985, S. 17. A.a.O., S. 18. 58 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie legitimen Platz vorsieht.“173 Leitfaden des frühen Wittgenstein ist nämlich sein methodischsolipsistisches Verständnis von Sprache174 – Wittgenstein ist dabei nicht klar geworden, daß er selbst ja als Kritiker und Argumentierender über Sprache als Regelfolgen zu uns, seinen Lesern spricht und somit bereits eine Meta-Ebene von Sprache in Anspruch genommen hat. Doch beim späten Wittgenstein wird dieser ‚logische Atomismus‘ (Apel) überwunden, indem der „neue Schlüsselbegriff des späten Wittgenstein: der Begriff des ‚Sprachspiels‘ oder besser gesagt: der ‚Sprachspiele‘“175aufkommt. Dieses Modell ist leistungsfähig zur Illustration der logischen Verbindung von „Handlungssinn und sozialem Handlungskontext“176. Anlage 17 Der Sinn einer konkreten Handlung läßt sich nur dann verstehen, wenn auch die Lebenspraxis, auf die die Handlung bezogen ist, bereits – mindestens teilweise – mitverstanden wird[, genau genommen: schon mitverstanden worden ist. Das „apriorische Perfekt“ des Weltverstandenhabens und Sich-in-derWelt-Verstandenhabens, das Heidegger I in seiner Daseinsanalytik rekonstruiert hatte, ist auch für Wittgenstein II grundlegend. Zeigt er doch, daß die Gebrauchs-Regeln einer Sprache, welche unsere „Sprachspiele“ charakterisieren, getragen werden von der Lebenspraxis bzw. „Lebensform“, in der Menschen zu handeln pflegen und worin sie sich auskennen – in gemeinsamer Vorverständigung, der geronnenen kommunikativen Erfahrung unserer Lebenswelt.] „Ein Akteur muß immer schon ein wie immer unvollständiges Wissen haben, so daß er sich im Totum eines Handlungszusammenhangs (...) in gewisser Weise auskennt, wenn er eine bestimmte Handlungsweise (...) als Handlungsweise einer sozialen Praxis soll richtig verstehen und anwenden können.“177 [Ein solches Vorwissen ist ein Vorverständigtsein, welches A und B, Subjekt und Kosubjekt, im vorhinein verbindet. Dieses Apriori der Intersubjektivität hat in seiner geschichtlich-pragmatischen Hinsicht – und bloß in dieser – Heidegger I analysiert. Als logische Form dieses Schon-Verstandenhabens gibt er das „Etwas als Etwas-um-zu“ an: Wir haben die Gebrauchsdinge, Institutionen und Techniken unserer Welt immer schon als etwas Bestimmtes „besorgend“ verstanden, in den Sorge- bzw. Nutzenhinsichten unserer Daseinsfristung: X ist ein „Zeug“, das wir nutzen können, um etwas Bestimmtes damit anzufangen. In eben dieser pragmatischen Lebenswelt-Hinsicht haben die Wittgensteinianer und ihm nahe Denker, man denke an Gilbert Ryles Rezension von „Sein und Zeit“ (Mind, N.S., Vol. XXXVIII, No. 151, 1929), Heidegger zustimmend rezipiert und zugleich damit dessen Reflexionsvergessenheit und pauschale Subjekt-Kritik akzeptiert. Erinnern und vertiefen wir daher unsere Heideggerkritik, die zugleich Wittgensteins empirische, bloß empirische Pragmatik betrifft: Anlage 18a 1. Heideggers Daseinsanalytik überspringt das Verwobensein der alltagsweltlichen Etwasals-Etwas-um-zu-Struktur mit Reflexion und Kritik, besser gesagt: mit der Möglichkeit eines Begleitdiskurses. Sie ignoriert, daß auch in dem Etwas-als-Etwas-um-zu, in dieser Einstellung des Etwas-Besorgens, hintergründig Geltungsansprüche stehen, mit denen sich der Verstehende und Handelnde virtuell auf andere bezieht. Solche Geltungsansprüche lassen sich nur durch das Miteinander-Argumentieren/das Teilnehmen 173 174 175 176 177 A.a.O., S. 17. Darin „war die Funktion der intentionalen Ausdrücke wie ‚meinen‘ als etwas aufgefaßt, das man nicht selbst wieder meinen, d. h. als etwas ‚bezeichnen‘ kann; ihre Funktion sollte identisch sein mit dem Meinen, d. h. der Bezeichnungsfunktion überhaupt.“ (Apel 1973 Bd. II, S. 71) Apel 1973 Bd. II, S. 71. Böhler 1985, S. 202. Ebd. 59 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie an einem Diskurs einlösen, das heißt, in Form eines kommunikativen Handelns mit anderen in dem gemeinsamen Rahmen eines dialogischen Anerkennungsverhältnisses und letztlich vor der Geltungsinstanz einer idealen und unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft. Ideal ist diese Instanz, weil sie nichts anderes zuließe als eine argumentierende Kommunikation; nämlich sinnvolle Argumente, deren propositionaler Gehalt sich im Einklang mit den normativen Sinnbedingungen der Rolle eines Argumentationspartners befindet. Unbegrenzt ist diese Instanz, weil sie alle möglichen Argumente zur Sache, mithin auch alle möglichen Anspruchssubjekte als mögliche Argumentationspartner einbezieht. 2. Das interessierte Etwas-Verstehen läßt sich also nicht denken, ohne daß man apriori einen nicht etwa monologischen, sondern kommunikativen und zugleich reflexiven Typ der Kognition und der Praxis ins Spiel bringt: a) b) das kommunikative Sich mit anderen über etwas Verständigen und das kommunikative Handeln als Interagieren mit anderen in dem gemeinsamen Rahmen von Anerkennungsverhältnissen. Anlage 18b Auch dann, wenn wir für die regulierte, institutionalisierte, mehr oder weniger festgelegte Alltagswelt mit Heidegger, übrigens auch mit Wittgenstein, annehmen wollen, daß es darin wenig Verständigungsbedarf gibt, insofern alle Benutzer von Zeug über dessen Gebrauch schon mehr oder weniger verständigt sind, so handelt es sich bei diesem Verständigtsein doch um eine geronnene kommunikative Erfahrung, eine geronnene Kommunikation. Das ist ein Angelpunkt der „Rekonstruktiven Pragmatik“ Böhlers. Vielfach ist aber die moderne, nämlich hoch technisierte Alltagswelt und deren Zeugverständnis, zumal wenn es sich um hochtechnologisches Zeug handelt, keineswegs unproblematisch. Heideggers Blickwinkel einer handwerklichen Alltagswelt des Schwarzwaldes und analog Wittgensteins Konzentration auf einfache institutionalisierte „Sprachspiele“ blenden den Verständigungsbedarf aus. Ihre Unterdrückung einer transzendentalpragmatischen Sprach- und Selbstreflexion aber verdeckt die Diskursoffenheit des Sprechens und Verstehens überhaupt. Infolgedessen werden sie auf desaströse Weise unmodern: unsensibel für das Kritik- und Diskurspotential einer hochmodernen Lebenswelt und unseres Sich-in-dieserWelt-Verstehens.] Wittgenstein überwindet zudem niemals vollständig – dies muß als entscheidendes Defizit festgehalten werden – die Aporie seiner Frühschriften, die er sich einhandelt, weil „die Stelle des Zeicheninterpreten, die Stelle des zeichenverwendenden Subjekts, entweder ganz leer bleibt oder nur – halbherzig – im Sinne der empirischen Pragmatik besetzt wird.“178 Wittgensteins Kritik an der klassischen Sprachauffassung und Aufhebung dieser Kritik: Doppelte Dialogizität Zwar wird diese Leerstelle auch vom späten Wittgenstein nicht ausgefüllt; im Rahmen einer auf den Zusammenhang philosophischer Paradigmen konzentrierten Untersuchung ist Wittgenstein dennoch zu würdigen. Denn in Absetzung zu traditionellen Sprachvorstellungen lassen sich die von (oder zumindest mit) Wittgenstein errungenen Fortschritte erkennen: Mit seinen ‚Philosophischen Untersuchungen‘ vollendet er die Kritik des „seit Aristoteles die Sprachlogik beherrschenden Denkmodells“, welches naiv angenommen hatte, „daß die 178 Kuhlmann 1985, S. 25. 60 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Wörter der Sprache ihre ‚Bedeutung‘ dadurch haben, daß sie ‚etwas bezeichnen‘, und (...) daß die Wörter ‚Namen‘ für ‚vorhandene Dinge‘ oder ‚Gegenstände‘ sind“179. Wittgenstein verabschiedet nun diese Vorstellung ebenso nachhaltig wie das Augustinische Modell des Spracherwerbs, demzufolge Kinder sprechen lernen würden, indem sie die von den Eltern vorgesagten Bezeichnungen für Gegenstände (auf die diese dabei hinweisen) nachahmen. Dieses Modell hatte nämlich übersehen, „daß ein Kind, das zum erstenmal die Sprache erlernt, hinweisende Erklärungen noch gar nicht verstehen kann, da es weder über eine strukturelle Artikulation der Welt schon verfügt, die ihm sagt, was jeweils durch einen Hinweis gemeint ist (ob z.B. die Farbe oder Form oder Art oder Zahl), noch die Funktion des zu erklärenden Wortes in der Sprache, seine Verwendung, schon kennt. Eine hinweisende Erklärung von Namen versteht nach W[ittgenstein] nur der, ‚der schon etwas mit ihr anzufangen weiß‘ (...).“180 Wittgenstein macht also auf bislang nicht berücksichtigte Voraussetzungen des eingeschränkten Sprachspiels Benennung von Gegenständen aufmerksam und weist es aus als „‚defizienten Modus‘ derjenigen Sprachspiele (...), in denen Kinder zugleich mit der Erlernung ihrer Muttersprache auch eine bestimmte Lebensform und ein bestimmtes strukturell artikuliertes Verständnis der Welt als Situation der Lebenspraxis sich aneignen“181. Und da ohne diese fundierenden Bezüge zu [einer kognitiv differenzierten] Lebensform und praxis kein Erlernen von Sprache denkbar ist, kommt so die Kritik an Augustins182 „apragmatischer, nämlich instrumentalistisch gegenstandstheoretischer und methodisch solipsistischer Sprachauffassung“183 zum vorläufigen Abschluß. Die Reichweite [eines solchen pragmatischen] Sprachverständnisses beim späten Wittgenstein erweist sich indessen, wie oben angedeutet, aufgrund der unaufgeklärten Irreflexivität als begrenzt. Dieses Defizit arbeitet Audun Øfsti auf, indem er zeigt, daß das Sprachspielmodell nicht geeignet ist, das Ganze einer Sprache abzubilden [und ihre notwendige Reflexivität zu begreifen. Eine logisch vollständige Sprache – und jede Umgangssprache sei in diesem Sinne komplett – ermögliche stets zugleich den Bezug auf Gemeintes, auf Themen der Rede, wie auf die Rede selbst; sie verbinde immer schon die objektsprachliche und die metasprachliche Ebene. Eben das zeigt sich bereits an der logischen Form einer einfachen Äußerung, wie sie von Jürgen Habermas (im Anschluß an die Sprachpragmatik Austins und Searles) herausgearbeitet worden ist: Jede einfache Äußerung hat die Form einer…] „Doppelstruktur der Rede“184 aus performativem und propositionalem Teil. Aussagen können nur verständlich sein, „weil sich die Sprecher immer schon und unvermeidlich in eine performative Distanz zu ihnen bringen, indem sie für sie Geltung beanspruchen. So hat jeder, der etwas [und damit propositionalen ‚Inhalt‘, T.L.] behauptet, weil seine Behauptungshandlung Geltung (mögliche Wahrheit bzw. Richtigkeit) für die Aussage unterstellt [und zwar den Anderen, den Adressaten seiner Behauptungshandlung gegenüber – hierdurch kommt die Performativität ins Spiel, T.L.], die Ebene des argumentativen Dialogs betreten und dadurch bereits die Rolle eines Dialogpartners auf sich genommen.“185 Øfstis Erweiterung zur doppelten Doppelstruktur weist nun darauf hin, daß mit dieser Doppelstruktur stets auch die Bezugsmöglichkeit auf diese einhergeht: Wir können auf diese Doppelstruktur noch einmal reflektieren und diese Reflexion explizieren. Also sei es doch richtiger, so Øfsti, von einer doppelten Doppelstruktur der Rede zu sprechen, um das Ganze 179 180 181 182 183 184 185 Apel 1973 Bd. I, S. 253. A.a.O., S. 261 mit Verweis auf Wittgenstein, Phil. Unters. § 31. A.a.O., S. 262. Z.B. in Confessiones I, Kap. 8. Böhler 2001 c, S. 26. Böhler 2001 a, S. 29 mit Verweis auf Habermas 1991. Böhler 1998, S. 134 f. 61 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie einer Sprache ausdrücken zu können: „Notwendig für eine vollständige Sprache und Kommunikationskompetenz ist die doppelte Reflexivität der performativ-propositionalen Äußerung und des Stellungnehmenkönnens zu solchen Äußerungen.“186 Nun ist nach dieser Präzisierung noch einmal an die Geltungsansprüche, die wir mit dem Vorbringen einer Äußerung zugrundelegen, zu erinnern. Da „das Vorbringen und das Erläutern einer Äußerung wiederum die Form von Dialogbeiträgen hat, deren Geltungsansprüche mit der Anerkennung anderer als gleichberechtigter Argumentationspartner etc. verwoben sind“, schlägt Böhler vor, „diese doppelte dialogbezogene Doppelstruktur ‚doppelte Dialogizität der Kommunikation‘ oder ‚doppelte Dialogstruktur der Sprache‘ zu nennen“187. [Denn eine einfache vollständige Äußerung ist der Form nach dialogisch, weil sie durch die impliziten Geltungsansprüche des Performativums (z.B.: „Ich behaupte hiermit“ oder „Ich frage euch“ etc.) eine bestimmte Dialogsituation eröffnet oder bekräftigend fortführt. Kommt es aber dazu, daß ein Sprecher mit einer Äußerung Stellung zu eigenen Äußerungen bezieht, dann führt er schon einen Diskurs über seine Rede, und zwar ausdrücklich oder unausdrücklich mit Adressaten als (möglichen) Diskurspartnern. Insofern hat die kommentierende Rede, in der wir zu etwas schon Gesagtem Stellung nehmen, die Form einer zweifachen Dialogizität. Denn sie stellt einen Begleitdiskurs dar: einen Diskurs über Äußerungen, die selbst schon eine (einfach) dialogische Form haben. Folgendes Schema mag die Aufstufung der dialogischen Struktur menschlicher Rede veranschaulichen.] Anlage 19 186 187 Böhler 2001 c, S. 26 a. Böhler 2001 a, S. 33 in Anknüpfung an Audun Øfsti (1994): Abwandlungen. Essays zur Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie. Würzburg, S. 139-147, 166-181. 62 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie „Doppelstruktur“ einer einfachen, logisch vollständigen Äußerung (Habermas), durch die ein Sprecher anderen etwas (pG) zur Geltung bringt (pA). Performativer Akt (pA) (Einfache) Dialogizität: Einbettung des pG durch pA in Äußerung / Rede (R) (Doppelte) Dialogizität der Stellungnahme zu einer R: Die beschriebene bzw. kommentierte / eingeholte Rede hat die dialogische Form eines Begleitdiskurses. Handlungsweise artikulieren und Z.B.: „Ich behaupte und sich an Andere wenden, und zwar euch [allen] gegenüber: propositionaler Gehalt (pG) bzw. „Aussage“ den pG durch Geltungsansprüche einführen; es ist wahr(-heitsfähig), also jetzt prüf- und diskutierbar, dem Akt Inhalt verleihen daß H lebensgefährliche Risiken für N.N. einschließt.“ „Doppelte Doppelstruktur“ der logisch vollständigen, sich einholenden Rede/Sprache (Øfsti): Sprecher nimmt mit logisch vollständiger Äußerung zu seiner Rede (also zu logisch vollständigen Äußerungen) Stellung. Wie? Indem er durch Behauptung mit Wahrheitsanspruch einen „Begleitdiskurs“ über seine Rede führt und damit implizit auf mögliche Erwartungen antwortet: „Ich behaupte euch [allen] gegenüber, es ist wahr, daß meine Rede ein Versprechen mit folgender Verpflichtung / eine These mit folgender Begründung / eine Frage aufgrund folgender wahrer Annahmen … etc. ist“ (Böhler). 63 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie So ist das dritte Paradigma der Philosophiegeschichte vollständig entfaltet, indem die „betrachtende (theoretische bzw. analytische) Einstellung“ verlassen worden ist und statt dessen die Besinnung „auf den jeweiligen Dialog und die Dialogpartnerrolle“188 durchgeführt wird. Die zutage tretenden Bestimmungen der Sprache lassen sich dabei als Differenzierungen der Voraussetzungen verstehen, die mit sinnvollen Äußerungen einhergehen. Um zu prüfen, ob sie skeptischen Anfragen standhalten, können wir sie dem sinnkritischen Test [angemessener: der reflexiv-sinnkritischen Prüfung im Dialog mit dem Skeptiker] unterziehen: Lassen sich sinnvolle Argumente finden – also Argumente, die sich vom Skeptiker vorbringen lassen, ohne daß er damit selbstwidersprüchlich die Vorbedingungen bestreitet, die er als Argumentierender anerkennen muß –, die die vorgebrachten Thesen bestreiten? Dann müssen diese Thesen verworfen werden. Zeigt sich dagegen, daß sich keine Argumente finden lassen, ja daß keine sinnvoll gedacht werden können, die diesem Sinnkriterium standhalten, dann können die Thesen als bestätigt gelten.189 [Als dieser Text Tilman Lückes in einer Böhlerschen Lehrveranstaltung des Wintersemesters 2006 auf 2007 diskutiert wurde, stellte ein Teilnehmer die Frage, wie der sinnkritische Test funktioniere. Daraus ergab sich folgende Erörterung: Anlage 20 Was ist und wie funktioniert der sinnkritische Test? Sinnkritik als Reflexion auf die Sinnbedingungen des Argumentierens im jeweiligen Dialog: „Lassen sich sinnvolle Argumente geltend machen – also Argumente, die sich vom Skeptiker vorbringen lassen, ohne daß er damit selbstwidersprüchlich die Vorbedingungen bestreitet, die er als Argumentierender notwendigerweise vorausgesetzt hat, –die die vorgebrachte PrinzipienThese ‚x ist eine Sinnbedingung eines Beitrags zum/im argumentativen Diskurs’ in Zweifel ziehen bzw. widerlegen?“ A) Kritische Vorbemerkung „Wie genau funktioniert der sinnkritische Test?“ Wird die Frage auf diese Weise gestellt, dann haben Sie als Fragende/r schon zwei heikle Vorentscheidungen getroffen: 1. haben Sie sich für eine theoretische Einstellung entschieden, in der Sie selbst als Denkende/r, als Argumentationsteilnehmer ersichtlich nicht vorkommen. 188 189 Böhler 2001 c, S. 27. Ebd. Micha Werner zeigt beispielhaft, wie fruchtbar mit diesem Kriterium im Hinblick auf bestimmte Probleme gearbeitet werden kann und welche Beschränkungen zu berücksichtigen sind. (Micha Werner 2001: „Who counts“, in: Marcel Niquet u.a. (Hg.), Diskursethik. Grundlegungen und Anwendungen. Würzburg, S. 265-292. 64 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie 2. haben Sie, weil Sie nach dem Funktionieren von etwas fragen, davon abgesehen, daß es Subjekte sind, welche die sinnkritische Prüfung vornehmen müssen, und daß es sich dabei um ein reflexives Verfahren handelt. Beides, Subjekte und Besinnung der Subjekte, wird ausgeblendet, wenn man objektivierend nach dem Funktionieren von etwas fragt, was z.B. bei einem Apparat angemessen ist. Auch der Begriff ‚sinnkritischer Test‘ ist erläuterungsbedürftig, er kann einem objektivistischen Methodenverständnis Vorschub leisten: als handele es sich um ein Verfahren, dessen Anwender bei der Durchführung des Verfahrens außen vor bleiben könne. Hier aber geht es um eine strikt reflexive Methode. Sie besteht in einer aktuellen Besinnung von Teilnehmern (Subjekten) eines Streitgesprächs, 1. auf Sinnvoraussetzungen jedweder auf Gültigkeit zielenden, daher nur Argumente zulassenden Untersuchung, also eines (argumentativen) Diskurses 2. darauf, ob die von einem Teilnehmer vorgebrachte, strittige Behauptung vereinbar ist mit den erkannten Sinnvoraussetzungen eines argumentativen Diskurses. B) Wie lassen sich die Sinnvoraussetzungen des argumentativen Diskurses erkennen? Die Sinnvoraussetzungen des argumentativen Diskurses müssen 1. zunächst (nach Art des hermeneutischen Zirkels aus unserem Vorverständnis vom argumentativen Diskurs) rekonstruiert werden, sodann aber 2. im Dialog mit einem Skeptiker dem Versuch einer sinnvollen Bezweiflung unterzogen werden. Dazu wird ein konkreter Zweifel angemeldet, der sich im Unterschied zu einer globalen Bezweiflung – wie z.B. ‚keine Rekonstruktion von Diskurspräsuppositionen kann Letztgültiges erbringen’ – wirklich diskutieren und prüfen läßt: etwa der Zweifel an der Allgemeingültigkeit eines der vier Geltungsansprüche oder eines der rekonstruierten vorgängigen Dialogversprechen. Erst dann kann 3. der eigentliche sinnkritische Erweis folgen, der in reflektierender Einstellung der Zweifelnden als Teilnehmer an dem argumentativen Diskurs vorgenommen wird. An dieser Stelle ist die aktuelle Besinnung der Teilnehmer fällig, die sich fragen: „Bleiben wir glaubwürdige Diskurspartner, wenn wir an der Gültigkeit von X, einem Ergebnis der Rekonstruktion, zweifeln? Oder widersprechen wir damit einer Voraussetzung unserer Diskurspartnerrolle, die wir selbst durch unseren soeben vorgebrachten Diskursbeitrag implizit als gültig und verbindlich in Anspruch genommen haben?“190 C) Wie haben wir uns demgemäß eine reflexive sinnkritische Prüfung zu denken? Denken wir uns, daß sich Personen in einem Streitgespräch auf die von ihnen in Anspruch genommene Rolle des Argumentationspartners besinnen, indem sie sich fragen: Dazu: D. Böhler, „Glaubwürdigkeit des Diskurspartners.“ In: Th. Bausch, D. Böhler, Th. Rusche (Hg.), Wirtschaft und Ethik. EWD Band 12, Münster (Lit) 2004, bes. S. 105-139. 190 65 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie „Bleibe ich ein glaubwürdiger Argumentationspartner, wenn ich die These T als Beitrag zum argumentativen Dialog vertrete?“ Nicht also ein „Test“, der mich außen vor läßt, sondern eine aktuelle Dialogreflexion wird angestellt: Eine Konfrontation der Sinnbedingungen bzw. Normen der Diskurspartnerrolle mit dem Gehalt einer These, die ‚ich‘ jetzt als Argumentationspartner vertrete.] Diese [sinnkritische Prüfung] kann auch Anwendung beispielsweise für diesen Durchgang durch die Philosophiegeschichte finden – und dabei die Frage klären helfen, welche Erkenntnisse der einzelnen Argumentationsweisen und Konzeptionen jeweils als entscheidende (und zu bewahrende) Denkfortschritte gegenüber vorherigen Modellen Gültigkeit beanspruchen können. So kann eine kritisch-logische Einschätzung dieser paradigmatischen Entwicklungen erreicht werden, die mehr und anderes als ihre historische Rekonstruktion191 zu leisten vermag. Analog lassen sich Fehlentwicklungen – sozusagen Sackgassen im ‚Labyrinth der Ideen‘192 – aufdecken: „Seit Augustin kommt ein philosophischer Individualismus auf, seit Kant ein transzendentaler Solipsismus, der voraussetzt oder behauptet, einer könne für sich allein (solus ipse) Sinn und Gültigkeit haben. Darin sehe ich das, erst dank KarlOtto Apels gemeinschafts- und diskursbezogener ‚Transformation der Philosophie‘ überwundene, próton pseūdos der abendländischen Bildungstradition, ihren elementaren Denkfehler. Er ist der hohe Preis, den die abendländische Philosophie für ihre vielleicht größten Errungenschaften, die Begründung des kritischen, Vorgegebenes distanzierenden Denkens und der freien, selbständig urteilsfähigen Person, hat entrichten müssen.“193 Ob und inwieweit dieser Preis unvermeidlich ist, kann die dialogreflexive Sinnkritik aufweisen, deren kritische Prüfung und Aneignung philosophischer Paradigmen man in Dietrich Böhlers Seminarpraxis erlernen kann. Literatur Apel, Karl-Otto (1973): Transformation der Philosophie. Bd. I: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik; Bd. II: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Frankfurt a. M. Ders.; Böhler, Dietrich; Kadelbach, Gerd (Hg.) (1984): Funk-Kolleg Praktische Philosophie / Ethik: Dialoge. 2 Bde. Frankfurt a. M. Ders.; Böhler, Dietrich; Rebel, Karl-Heinz (Hg.) (1984): Funk-Kolleg Praktische Philosophie / Ethik: Studientexte. 3 Bde. Weinheim. Ders.; Burckhart, Holger (Hg.) (2001): Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik. Würzburg (zit.: Prinzip Mitverantwortung). Die Tatsache, daß hier und im zugrundeliegenden Seminarprogramm Dietrich Böhlers Paradigmen und Philosophen grosso modo entsprechend der historischen Abfolge behandelt werden, hat dementsprechend primär einen pädagogischen Grund – so läßt sich eine (natürlich sehr schematische) Systematisierung wichtiger Strömungen der Philosophiegeschichte vermitteln, die spätere Einordnungen erleichtert. Dieser Erkenntnisfortschritt wurde von den Teilnehmern des Seminars in einer Evaluierung am Ende des Semesters als besonders wertvoll gewürdigt. 192 Vgl. Böhler 2001 c, S. 1. 193 Böhler 2001 b, S. 154. 191 66 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Böhler, Dietrich (1985): Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion. Frankfurt a. M. Ders. (1998): Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik versus kulturalistische (Unternehmens)Strategik. Besteht eine Pflicht zur universalen Dialogverantwortung? In: Horst Steinmann, Andreas Georg Scherer (Hg.): Zwischen Universalismus und Relativismus. Philosophische Grundlagenprobleme des interkulturellen Managements. Frankfurt a. M., S. 126-178. Ders. (1999): Gnosis. Existentialismus und Hermeneutik der Entmythologisierung. Interdisziplinäres Seminar zu Hans Jonas [Seminarprogramm Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin]. Typoskript. Ders. (2001 a): Warum moralisch sein? Die Verbindlichkeit der dialogbezogenen Selbst- und Mitverantwortung. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 15-67. Ders. (2001 b): Bildung zur dialogbezogenen Mitverantwortung. Zweckrationales und dialogethisches ‚Lernen des Lernens‘. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 147-176. Ders. (2001 c): Leitfaden zum Proseminar 16015 ‚Sein, Selbst-Bewußtsein, Kommunikation. Grundkurs klassische Texte und Probleme der Philosophiegeschichte.‘ Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Typoskript. Ders.; Gronke, Horst (1994): Diskurs. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen. Bd. II, Sp. 1256-1298. Brune, Jens Peter (1995): Setzen ökonomische ‚Sachzwänge‘ der Anwendung moralischer Normen legitime Grenzen? In: Ders., Dietrich Böhler, Werner Steden (Hg.): Moral und Sachzwang in der Marktwirtschaft ( = Ethik und Wirtschaft im Dialog VIII). Münster, S. 1-114. Gronke, Horst: (1999): Das Denken des Anderen. Führt die Selbstaufhebung von Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität zur transzendentalen Sprachpragmatik? Würzburg. Ders. (2001): Was können wir im philosophischen Diskurs lernen? Elemente einer sokratischen Pädagogik. In: Prinzip Mitverantwortung. S. 203-226. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986): Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. In: Ders.: Werke in 20 Bänden, Bd. XX. Frankfurt. 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Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie III Grundlagen: Diskurs als argumentativer Dialog – systematisch und philosophiegeschichtlich erörtert. 3.1 Die drei philosophischen Paradigmen und die wiedergängerische Rhetorik. Wir fragen nach den Sinnkriterien des philosophischen Diskurses. Im Blick auf diese Frage können wir die Etappen der Philosophiegeschichte teleologisch, vom Zielpunkt her, darstellen und kritisch prüfen. Als internes Entwicklungsziel nehmen wir eine zustimmungswürdige, argumentativ konsensfähige Selbsteinholung der Philosophie an, der Philosophie als Sachwalterin des einsehbar Allgemeinen, des Logos. Die Philosophie soll das einholen können, was sie beim Philosophieren in Anspruch nehmen muß. In einer solchen Selbsteinholung liegt die Selbstverantwortung der Philosophierenden. Verantwortlich sind sie in erster Linie für die Klärung des Diskursphänomens, zu dem ihre Denkpraxis gehört, und die Sorge für eine Übereinstimmung ihrer Thesen mit den Grundlagen der kommunikativen Praxis des Diskurses. Die Klärung betrifft das Diskursphänomen in seinen verschiedenen Erscheinungen: elementar als Begleitphänomen aller Formen und Ausdrucksweisen menschlichen Lebens, kultiviert und differenziert sowohl als Medium und Geltungsinstanz der gesellschaftlichen bzw. politischen Kultur wie auch als Medium und Geltungsinstanz der Wissenschaften und der Philosophie selbst. Diese Klärung, hier nur im kursorischen Überblick zu leisten, ist zunächst eine Rekonstruktionsaufgabe und dann die Sache einer selbstkritischen Prüfung der Rekonstruktionsergebnisse, eine Geltungsreflexion. Letztere ist erforderlich, wenn die Philosophie diejenigen Voraussetzungen begründen (und dadurch verantworten) soll, die sie selbst in Anspruch nimmt, wofern sie sich – seit Sokrates, Platon und Aristoteles – als Sachwalterin des Logos und damit als die erste Wissenschaft versteht, als die Grundlegungswissenschaft. Kraft einer Reflexion in dem strittigen Diskurs, in dem sich ein Philosoph mit seinen Thesen gerade befindet, auf die Sinnvoraussetzungen bzw. Geltungsbedingungen jedes argumentativen Diskurses, müssen die Philosophierenden erweisen können, daß sie mit dem argumentativen Diskurs ein kommunikatives und moralisch 68 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie bindendes Verhältnis mit allgemeingültigen Regeln und Grundnormen in Anspruch nehmen: das Argumentieren überhaupt, welches immer schon eine Sache des Erkennens und des gesollten Wollens ist, eine logische und moralische Verbindlichkeit. Die logische Verbindlichkeit des Argumentierens hängt an seinem Ziel, Wahrheitsansprüche einzulösen, indem auf konsistente Weise gute Gründe für eine These erarbeitet werden, so daß sich ein einsehbar Allgemeines ergibt. Damit verwoben ist eine mögliche moralische Verbindlichkeit für praktische Urteile und konkrete Normen: eine verallgemeinerbare Gegenseitigkeit, so daß auch alle Betroffenen, sofern sie den Diskurs konsequent als Argumentationspartner mitvollziehen, dem Urteil oder Normenvorschlag zustimmen würden. Insofern es den Philosophen gelingt, die internen normativen Grundlagen des argumentativen Diskurses als dialogischer, mithin logisch und moralisch verbindlicher Praxis zunächst aufzudecken, nämlich zu rekonstruieren, und sie dann reflexiv zu erweisen, haben sie die Basis dessen eingeholt, was wir „Philosophieren“ nennen. Sie haben dann erkannt und demonstriert, worauf sich jeder, der sich und anderen etwas verständlich machen und uno actu zur Geltung bringen will, bereits eingelassen hat: die Rolle eines Partners im argumentativen Dialog, der auf das logisch Allgemeine und auf die verallgemeinerbare Gegenseitigkeit als Ziel verpflichtet ist. So ergibt sich das interne Entwicklungsziel des Diskursbegriffs durch Reflexion auf die Diskurspraxis selbst. Es ist zuvörderst die Erkenntnis der konstitutiven Regeln und Normen des Dialogs der Argumente, sodann deren Berücksichtigung und Befolgung in der je besonderen Philosophie, Theorie oder auch Lebenskunst. Im Blick auf dieses Telos können wir die unterschiedlichen Beiträge zur Entfaltung dieses Grundbegriffs allen Denkens zwanglos interpretieren und kritisch beurteilen: als einen Fortschritt oder eine Regression, oder auch als beides in verschiedener Hinsicht. Darin sehe ich den kriteriologischen Kern einer philosophischen, reflexiv argumentierenden Begriffsgeschichte und einer Theorie des Diskurses, die auch die praktischen Diskurse einschließt, mithin die moralische Urteilsbildung. Eine solche entwicklungslogisch angelegte, kritische Begriffsgeschichte ist ein Spiegel des Geistes. Historisch zunächst ein Geistesspiegel Europas, kann sie logisch und ethisch ein Geistesspiegel aller Denkenden sein. Warum? Der argumentative Diskurs ist für alle möglichen Thesen und Fragen offen, über die sich mit Gründen streiten läßt. Die Idee dieses friedlichen Streits, die Auseinandersetzung, in der allein sinnvolle Argumente zählen, hat im Athen des fünften vorchristlichen Jahrhunderts nicht bloß Schule gemacht, sondern eine neue Kultur des Miteinander-Denkens und Miteinander-Streitens ermöglicht. Deren Urbild ist der 69 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Sokratische Dialog als Institution des Gründe-Gebens, des λόγον διδόναι (logon didonai). Denn Sokrates sucht nach dem geltungslogisch Allgemeinen, nach Wahrheit und richtiger Definition, und führt diese Suche in Form eines dem Gerichtsverfahren entlehnten έλεγχος (elenchos) durch. Daraus entwickelte sich in Europa das Paradigma kritischer Vernunft, in dem die Gerichtshofmetapher – am pointiertesten in Kants „Kritik der reinen Vernunft“194 – eine ausgezeichnete Rolle spielt. Dank seiner Kritik eines Scheinwissens, das unfähig ist, die naiv behaupteten Interessen und Meinungen als Geltungsansprüche einzulösen, und dank seiner Aufnahme juridischer Verfahrenselemente weist die Idee des sokratischen Dialogs über die inkommunikativen Voraussetzungen sowohl des antiken Seinsparadigmas als auch des neuzeitlichen Subjekt- bzw. Bewußtseinsparadigmas hinaus auf ein kommunikatives Verständnis von „Kritik“ und „Vernunft“, von „Geltung“ aus Gründen und „Gewißheit“ durch Rechtfertigung. Die deutlichste klassische Richtungsanzeige gibt Kant, zwar im Bezugsrahmen des Subjektparadigmas, aber an dessen Grenze, weil durchdrungen von zwei Kampfbegriffen der Aufklärung, denen der freien Öffentlichkeit und der öffentlichen Kritik. So führt Kant den Begriff der kritischen Vernunft folgendermaßen ein: Anlage 21 „Die Vernunft muß sich in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen, und kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch tun, ohne sich selbst zu schaden und einen ihr nachteiligen Verdacht auf sich zu ziehen. Da ist nun nichts so wichtig, in Ansehung des Nutzens, nichts so heilig, das sich dieser prüfenden und musternden Durchsuchung, die kein Ansehen der Person kennt, entziehen dürfte. Auf dieser Freiheit beruht sogar die Existenz der Vernunft, die kein diktatorisches Ansehen hat, sondern deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist, deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein veto, ohne Zurückhalten muß äußern können.“195 Bis auf die Gegenwart nur unterschwellig wirksam oder gar, wie bei Descartes, solipsistisch ausgeklammert, blieben freilich der egalitär kommunikative Verständigungsaspekt und die dialogische Ethik des Diskurses, obzwar beide nicht erst von Kant in Anspruch genommen werden, sondern bereits in Platons sokratischen Dialogen angelegt sind – schon und noch. Das „Noch“ verweist auf die ontologische und ideentheoretische Verdeckung, ja Überformung der freien Verständigung unter Gleichberechtigten und ihrer gemeinsamen moralischen Basis als Dialogpartner: Der Seinstheologe Platon verdrängte den argumentativen Dialog zunehmend durch eine kontemplativ spekulative Wesensschau, die theoria. Ineins damit überformte er den, in Dialogen wie „Apologie“, „Kriton“, „Gorgias“ und „Thrasymachos“ spürbaren, Ansatz einer sokratischen Moralbegründung, nämlich eine 194 195 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (zit.: KrV), A XI f; B 697, 767 f, 779f. Ebd., B 766f. 70 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie dialogische Besinnung auf normative Grundlagen des Denkens. Denn er zwängte den Sokratischen Richtungsstoß zu einem Denken aus dem Dialog in den undialogischen Rahmen einer Seinsschau – einer geistigen Schau des Ganzen und seines Urgrundes. Diesen bestimmte er als das ewig in sich ruhende Gute und Eine. Den Dialogansatz des Sokrates, dessen konsequente Durch- und reflexive Weiterführung ein Denken jenseits einer uneinholbaren Metaphysik erlaubt hätte, ersetzte Platon durch eine ungeschichtlich denkende, spekulative Kosmostheologie. Aus seiner Deutung des göttlichen Kosmos leitete er dann die höchsten Werte und deren normative Gehalte ab – naturalistischer Fehlschluß im Rahmen eines spekulativen Intellektualismus? Platon stellt eine erste Weggabelung unter mehreren dar, die uns vor die Alternativfrage stellen: Wie hätte sich das europäische Denken – hier: nach Sokrates – entwickeln können? Und wie würde es sich im Sinne einer Entwicklungslogik entwickelt haben, wenn Platon und auch sein eigenwilliger Schüler Aristoteles schon reflexiv dialogisch gedacht hätten? Das ist keine müßige rückwärtsgewandte Perspektive. Kraft einer Entwicklungslogik kann die Frage fruchtbare Gedankenexperimente eröffnen, die uns über unsere eigenen Traditionsabhängigkeiten aufklären und uns emanzipatorische Anstöße geben mögen. Eine aufregende Sache. Um sie zu betreiben, versuche ich in dieser Einleitung, die Darstellung stets mit der Auseinandersetzung, die Hermeneutik mit der Kritik zu verbinden. So nämlich, daß wir Zeitgenossen unser Denken wirkungsgeschichtlich in dem der Tradition spiegeln und das der Tradition kritisch mit den Geltungsansprüchen des argumentativen Diskurses konfrontieren. Jene Alternativfrage weist uns einerseits auf das Abenteuer der faktischen europäischen Ideengeschichte hin; andererseits eröffnet sie die Perspektive einer Entwicklungslogik, welche die unverzichtbaren Elemente einer Selbstaufklärung des Denkens als Stufen seiner Selbsterkenntnis aufeinander aufbauen würde. Die Alternativfrage provoziert dazu, derart mit und gegen die tatsächliche Philosophiegeschichte zu denken, daß sich die faktische Genese der Diskursidee mit ihrer normativen Rekonstruktion verbindet: die Frage danach, wie es in der Geistesgeschichte wirklich vor sich gegangen ist, mit der Frage, wie sich die Diskursidee konsequenterweise entwickelt hätte. 71 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie 3.2 Die Glaubwürdigkeit des Diskurspartners: Sinnkriterium für Diskursbeiträge und Kern der moralischen Identität. In Platons „Kriton“ gibt Sokrates, von seinen Schülern und Freunden zur Flucht aus der Todeszelle gedrängt, eine Antwort, die ihn als glaubwürdigen Mann des kritischen Diskurses berühmt gemacht und sein Selbstverständnis auf eine eingängige Maxime gebracht hat. Man kann sie den Logos-Grundsatz nennen, formuliert sie doch ein Kriterium sowohl für die Diskurspraxis, das λογίζεσθαι (logízesthai), als auch für den lebenspraktischen Umgang mit Diskursergebnissen. Der Satz heißt: „Denn nicht erst jetzt, sondern immer schon habe ich (I) es so gehalten, daß ich (II) nichts anderem in mir (I) gehorche als dem lógos (Rede, Argument), der sich mir (II) in der Argumentation als der beste gezeigt hat."196 3.2.1 Der Logosgrundsatz oder: verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Sokrates’ Vorwegnahme und Verfehlung der Präzise verständlich ist diese Aussage erst, wenn man klärt, was das „Ich“ des Sprechers jeweils bedeutet. Die erste Person kommt hier offenbar in zwei verschiedenen Hinsichten ins Spiel: einerseits als das biographische Ich (I) des Menschen mit Namen Sokrates, der sein individuelles Leben im Athen des späten 5. Jahrhunderts vor Christus lebt, bestimmte Werte vertritt und seine eigenen Meinungen hat, andererseits als das Stellung nehmende, argumentationsbezogene Ich (II) desselben Sokrates, der sich freilich ausdrücklich auf das Argumentieren im Dialog eingelassen hat, mithin nur nach dem besten Argument sucht. In der Tat, geltungslogisch und diskurspragmatisch betrachtet, nimmt Platons Text bzw. die Selbstaussage des Sokrates für die Form des sokratischen Elenchos zwei Rollen in Anspruch: die alltägliche Rolle dessen, der etwas meint, behauptet und will (Ich I), und die DiskursRolle dessen, der allein sinnvolle Argumente, einsichtige Gründe, gelten lassen will (Ich II). Das Bild, das uns Platon von Sokrates vermittelt, wodurch er im Abendland und in Europa zum Vorbild geworden ist, entsteht aus der Harmonie dieser beiden Rollen. Im „Gorgias“ spielt Sokrates auf deren praktische Einheit in seiner Person an, was sein Gesprächspartner, der Selbstbehaupter Kallikles, als unnatürlich empfindet, als philosophische Verrücktheit. Sokrates sagt dort: „Es wäre besser für mich, daß meine Lyra oder ein Chor, den ich leitete, ganz falsch klänge, und daß noch so viele Menschen mit mir uneins wären, als daß ich, der 196 Platon, Kriton, 46 b. 72 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie ich Einer bin, nicht im Einklang mit mir selbst sein und mir [scil: , der ich der Philosophie obliege,] widersprechen sollte.“197 Es kommt hinzu, daß Sokrates diese Harmonie oder Einheit der Rollen auch im Verhältnis des argumentativen Diskurses zur Lebenspraxis gewahrt sehen will, als Einheit von Argumentieren und Handeln, was ja unsere „Kriton“-Stelle deutlich macht. Zu Recht? Machen wir die Probe, fragen wir uns: Können wir jemanden als glaubwürdigen Diskursteilnehmer (N.N. II) erachten und achten, der sich im Leben (N.N. I) nicht bemüht, dem Diskursergebnis, das er als den besten Logos erkennt (N.N. II), praktisch gerecht zu werden und es in die Tat umzusetzen (N.N. I)? In der Tat steht und fällt die Glaubwürdigkeit eines Diskursteilnehmers damit, daß er beide Rollen, die Lebens- und Meinungs-Rolle (Ich I) und die Diskurspartner-Rolle (Ich II) in Einklang bringt, indem er in der Praxis (Ich I) sich an das zu halten bemüht, was er im Diskurs (Ich II) als richtig erkennt.198 Diese zweite Voraussetzung bzw. implizite Einsicht des Sokrates mag man die sokratische Theorie-Praxis-Vermittlung nennen, postuliert sie doch eine Kohärenz von ‚Theorie’ und Praxis, besser: von Diskurs und praktischem Handeln. Da Sokrates das Streben nach Übereinstimmung von Diskurs und Lebenspraxis geradezu verkörpert, konnte er, wie mir scheint, durch die Jahrtausende als moralisches Vorbild anerkannt werden. Was ist es, das Sokrates, mit Karl Jaspers gesprochen, mit Recht zu einem „maßgebenden Menschen“ gemacht hat,199 wenn nicht die Permanenz dieses Strebens? Für den Diskursbegriff wie für die Diskursethik kommt alles, aber auch alles, darauf an, die ursprünglich sokratische Idee der stets anzustrebenden Einheit von Diskurs und Lebenspraxis einzuholen, sie durchzuhalten und fruchtbar zu machen. Anderenfalls entleert sich der Diskursbegriff, verliert seinen Verpflichtungsgehalt und damit seine ethische Orientierungskraft. Die Diskursethik löst sich dann in eine „Diskurstheorie“ (Habermas) auf, die zu keiner Verbindlichkeit mehr fähig ist, so daß ihr Diskursprinzip ‚D’ nur mehr den bescheidenen Stellenwert eines diskursinternen Geltungskriteriums für Diskursbeiträge bzw. für Normenvorschläge von Diskursteilnehmern haben kann. Das ist die Habermassche Konsequenz.200 Man muß sie ziehen, wenn man nicht sokratisch auf sich selbst als Diskurspartner reflektiert, sondern in bloß theoretischer Einstellung über Diskurse nachdenkt. 197 198 199 200 Platon, Gorgias, 482 b/c. Dazu meine, an Hannah Arendts Sokratesinterpretation angelehnte, diskurspragmatische Rollenanalyse: D. Böhler, Warum moralisch sein? (2001), bes. S. 42-51. K. Jaspers, Die großen Philosophen. Erster Band, München/Zürich 1988, S. 105-127. J. Habermas, Moralbewußts. u. kommunik. Handeln (1983), S. 103ff. 73 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Ethische Substanz und orientierungskräftige Verbindlichkeit gewinnt der Diskursbegriff allein durch eine Erschließung des sokratischen Erbes, die zunächst die Diskursvoraussetzungen rekonstruiert, um dann strikt dialogreflexiv zu fragen: was würde mit der eigenen Diskurspartnerrolle – mit ‚meiner’ Glaubwürdigkeit als Partner im argumentativen Dialog – passieren, wenn ‚ich’ die Gültigkeit und Verbindlichkeit einer solchen Voraussetzung in Zweifel ziehe? Der Begriff der Diskursglaubwürdigkeit und die Frage, was es bedeutet, sie zu gewinnen und zu bewahren, ist der (zugleich geltungslogische und moralische) Angelpunkt der „Diskurspragmatik“. So nenne ich die Selbstbegründung der Philosophie, weil die Philosophie in erster Linie ein Diskurs ist, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Das Philosophieren spielt sich zuallererst als Argumentieren und als Rechenschaftslegung über eine jeweils geleistete Argumentation ab und schließlich als Besinnung auf die unverzichtbaren Grundlagen bzw. notwendigen Bedingungen des Argumentierens überhaupt. Dieser faktisch oder natürlicherweise zuletzt getane Diskursschritt hat den ersten Rang, weil er die Voraussetzungen ans Licht bringt, von denen alles Philosophieren getragen wird: die logischen Regeln des Argumentierens, dessen dialog-ethische Normen. Diese aufzudecken, zu rekonstruieren, und alsdann die einzelnen Resultate der Rekonstruktion, und zwar jedes für sich („X ist eine Sinnbedingung des Argumentierens“), in einem reflexiven Dialog als nicht sinnvoll bezweifelbar zu erweisen – darin besteht das Geschäft der Diskurspragmatik. Sie ist eine zweistufig verfahrende Selbstbegründung der Philosophie: Eine Selbsteinholung ihre und tragenden eine Bedingungen kritische, durch aufdeckende den Zweifel bzw. an explizierende den eigenen Rekonstruktionsannahmen hindurchgehende, Selbstverantwortung. Sie versucht zunächst, die eigenen Sinn- und Geltungsvoraussetzungen durch deren, allerdings fehlbare, Rekonstruktion einzuholen. Sodann verantwortet sie diesen Einholungsversuch in Form eines reflexiven Dialogs mit dem Skeptiker, der an der Gültigkeit eines jeweiligen Rekonstrukts zweifelt: im Dialog der Argumente wird getestet, ob der Zweifel daran sich halten läßt oder aber, hält man ihn aufrecht, den Diskurs zerstört und die Glaubwürdigkeit des Zweiflers als unseres Argumentationspartners zunichte macht. Im Lichte der Diskurspragmatik ergibt sich für uns nun zunächst eine Rekonstruktionsfrage: Welche normativ gehaltvollen Diskursvoraussetzungen sind es, die Platon in der berühmten Sokratischen Selbstaussage zu Recht als unbedingt gültig und moralisch verbindlich beansprucht? Interpretieren wir diese Aussage im stärksten Sinne, den sie haben kann: 74 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Nehmen wir sie so als fehle ihr nichts und als sei sie unmißverständlich – im Sinne von Gadamers „Vorgriff der Vollkommenheit“201. Was tun wir, wenn wir dermaßen zuvorkommend mit einem Geschriebenen oder auch einem Gesagten umgehen? Wir befolgen dann keine pure Höflichkeitskonvention, sondern ziehen die interpretationsmethodische Konsequenz aus einer formalen, und zwar normativ geladenen, „Voraussetzung, die alles Verstehen leitet. Sie besagt, daß nur das verständlich ist, was wirklich eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt.“ Den Blick auf die Auslegung geschichtlich überlieferter Texte richtend, erläutert Gadamer: “So machen wir denn diese Voraussetzung der Vollkommenheit immer, wenn wir einen Text lesen, und erst wenn diese Voraussetzung sich als unzureichend erweist, d.h. der Text nicht verständlich wird, zweifeln wir an der Überlieferung und suchen zu erraten, wie sie zu heilen ist.“202 Eines textkritischen Erratens, der philologischen Kunst der Konjektur, bedarf es nicht, wenn wir den Sokratischen Logos-Satz als Maxime für Diskursteilnehmer würdigen wollen. Nötig ist aber, daß wir über zwei logische Schwächen hinwegsehen. Denn erstens scheint Sokrates seine persönliche Einschätzung, seine subjektive Evidenz, zum Maßstab für „den besten Logos“ zu machen, wenn er ihn mit jenem Logos gleichsetzt, „der sich mir bei der Untersuchung als der beste zeigt“. Denn damit fällt er hinter die Gültigkeitsansprüche der Wahrheit und Richtigkeit zurück, weil diese eben auf Intersubjektivität statt auf Subjektivität zielen. Eine zweite geltungslogische Schwäche ist die fehlende logische Unterscheidung: Das faktische Ergebnis einer Diskursveranstaltung, welches fehlerhaft sein kann, weil diese von allerlei Zufälligkeiten und Dürftigkeiten, etwa von partikularen Interessen, Vorurteilen und Stimmungen, auch von Zeitknappheit etc. beeinträchtigt sein kann, wird in dem Logos-Satz nicht abgehoben von dem Ergebnis eines rein argumentativen Dialogs unter kompetenten Argumentationspartnern, die alle relevanten Argumente zur Situation hinlänglich berücksichtigt hätten. Was hier fehlt, ist die regulative Idee eines rein argumentativen Diskurses in einer idealen Argumentationsgemeinschaft. Das können wir allein sagen, wenn und weil wir ausdrücklich die Rolle eines Argumentationspartners einnehmen, der sich auf deren logische und ethische Voraussetzungen besinnt. Wir stellen das als Diskurspragmatiker fest, indem wir die Sinnund Geltungsbedingungen der Diskurspartnerrolle zu rekonstruieren suchen. Und dabei setzen wir die Begriffs- und Problemerörterung seit der Ideenlehre Platons fort. Nachplatonisch unterscheiden wir zwischen zufälligen empirischen Gegebenheiten (Erscheinungen) und 201 202 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41979 (zit.: Wahrheit und Methode), S. 277 f. Op. cit., S. 278. 75 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie logisch notwendigen Kriterien bzw. Normen (Ideen). Nachkantisch erkennen wir, daß Geltungskriterien nicht das Wesen der Wirklichkeit sind – wohl aber Maßstäbe und Zielbestimmungen, die für unsere Orientierung in der Welt unverzichtbar, höchst fruchtbar und kritisch vorausweisend sind: Sie haben eine „regulative“ Funktion, transzendieren die Faktizitäten unseres Tuns und Lebens, also auch unsere Diskussionsveranstaltungen, unsere Wissenschaftseinrichtungen und sämtlichen Diskurs-Institutionen bzw. realen Argumentationsgemeinschaften. Aber als regulative Ideen tragen sie die Ansprüche auf Geltung, dank derer menschliche Äußerungen überhaupt nur ernstgenommen und begründet, diskutiert und ggfs. (als gültig) anerkannt werden können.203 Kurz und gut; nehmen wir einen idealen Rollentausch mit Sokrates vor,204 indem wir ihm die Rolle eines konsequent verfahrenden (pragmatisch und semantisch konsistenten) Argumentationspartners zuschreiben – wie sie dem ‚vervollkommneten’ Logosgrundsatz entspräche. Das heißt, wir nehmen die Position eines Sokrates ein, der sich nicht allein auf einen faktischen Diskurs (mit all dessen Einschränkungen und Fehlerquellen) bezöge, sondern in diesem kritisch auf den kontrafaktischen Diskurs einer idealen Argumentationsgemeinschaft. Unser Sokrates würde sich demzufolge an einem Logossatz ohne jene beiden geltungslogischen Defizite orientieren – etwa an der Maxime: ‚Ich will es immer so halten, daß ich nichts anderem gehorche, als dem Argument, das sich in einem faktischen Diskurs als das beste zeigt und das auch in einer idealen Argumentationsgemeinschaft (in der alle relevanten Informationen und alle sinnvollen Argumente im Blick auf alle Beteiligten/Betroffenen berücksichtigt würden) Zustimmung fände.’ Haben wir den Logos-Satz in diesem Sinne vervollkommnet, dann gibt er schon auf den ersten Blick zwei zuverlässige Kriterien für die Verbindlichkeit einer Anlage 23 Aufforderung an die Hand: Die für das Sich-Verständigen und für das Etwas-Geltendmachen konstitutiven Bedingungen verpflichten ‚mich’ dazu, im Dialog der Argumente so mitzuarbeiten, daß (1) ‚ich’ letztlich keiner anderen Autorität als der des besten Arguments folge und daß 203 204 Auf den Begriff der regulativen Ideen kommen wir zurück. S. u. ?????? Vgl. G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 305 f. und 358 f. Ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, hrsg. v. H. Joas, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 408 ff. K.-O. Apel, „Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen des moralischen Bewußtseins“, in: Apel u.a. (Hg.), Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 1, S. 61-63. Th. Bausch: Ungleichheit und Gerechtigkeit, Berlin: Duncker & Humblot 1993, S. 186 ff. und 204 f., vgl. 61 f. 76 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie (2) ‚ich’ die Diskurs-Gemeinschaft aller sinnvoll Argumentierenden als die entscheidende Instanz für die Prüfung und Anerkennung von vorgeschlagenen Normen bzw. von behaupteten Sätzen beachte, damit ‚wir’ den Horizont unserer faktischen Gemeinschaft selbstkritisch überschreiten, um möglichst alle Argumente zur Sache sowie alle involvierten Ansprüche Betroffener gleichermaßen aufzusuchen und zu prüfen. Dermaßen expliziert, bringt der Sokratische Dialog Selbstverpflichtungen ins Spiel, die nicht irgendwie von den Diskursteilnehmern gesetzt werden, sondern unhintergehbar sind. Genauer gesagt: Sie sind durch keinen sinnvollen Diskursbeitrag mehr hintergehbar, weil die Prüfbarkeit eines Diskursbeitrags, also seine Diskutierbarkeit, voraussetzt, daß der Diskursteilnehmer nur solche Behauptungen macht bzw. Zweifel vorbringt, die den vorgängigen Verpflichtungen der Diskurspartnerrolle entsprechen. Doch hier werden Sie, meine Leser, mit Recht nachfragen, warum diese Selbstverpflichtungen eigentlich logisch gültig und prinzipiell verbindlich, insofern unhintergehbar also, sein sollen. Sie sind es, weil sie an jener Kommunikationsrolle haften, die man schon übernommen hat, indem man (sich und anderen gegenüber) etwas (einen Gedanken, ein Gefühl, ein Erlebnis oder eine andere Art von Sinn) verständlich macht und indem man diesen Sinngehalt durch eine, als wahr unterstellte bzw. behauptete, Äußerung (sich und anderen gegenüber) zur Geltung bringt. Es ist dies die Rolle eines Diskursteilnehmers, der als solcher die Pflichten eines Partners hat. Inwiefern? Nun, diese Rolle wird getragen von generellen dialogbezogenen Verpflichtungen, die wir alle im Diskurs der Argumente haben. Sie sind allgemeingültig, weil sie zu den Sinnbedingungen jeder wahrheitsbezogenen Überlegung und argumentativen Klärung gehören, mit der wir zu unseren Annahmen wie zu denen Dritter Stellung nehmen können. Es sind diskurstragende normative Voraussetzungen. Ohne deren diskurspraktische Anerkennung, ohne ihre Berücksichtigung in dem, was ‚ich’ mir und anderen sage, würde mein Argument sinnlos; es wäre eine unverständliche Argumentationshandlung, so daß andere Diskursteilnehmer nicht wissen könnten, woran sie mit meinem Diskursbeitrag und mit mir als Argumentationspartner sind. Warum? Die Argumentations- und Dialogerwartungen anderer Argumentationsteilnehmer beruhen genau darauf: sie, die ‚mir’ nicht allein zuhören sondern sich mit ‚mir’ auf die Suche nach Wahrheit und Richtigkeit gemacht haben, erwarten kraft dieser Diskursrolle von ‚mir’, meine Rede werde die konstitutiven Diskursbedingungen erfüllen, so daß sie mit ‚mir’ als 77 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie ihrem Diskurspartner kooperieren können. Aus diesem dialogethischen Wechselverhältnis zieht der sokratische Dialog seine Geltungs- und Orientierungskraft. Dermaßen expliziert, würde Sokrates allein eine solche Rede als wahr gelten lassen und nur eine solche Handlungsaufforderung bzw. Norm als wohlbegründet und daher verbindlich anerkennen, die in rein kommunikativen Diskursen rational verteidigt werden kann, so daß sie die begründete Zustimmung aller verdient.205 Und das beste praktische Argument, sagten wir, ist dasjenige, welches sich sowohl durch Verständigungsgegenseitigkeit als auch durch Geltungsgegenseitigkeit ausweisen kann, so daß es der kommunikativ erweiterten Urteilsstufe 6 gerecht wird. Lassen Sie uns jetzt diese Explikation des Logosgrundsatzes mit den Argumenten vergleichen, die der Platonische Sokrates im Fortgang des „Kriton“ tatsächlich vorbringt, und berücksichtigen wir zudem Ansprüche, die aus der Sicht der abwesenden Betroffenen, zumal seiner Frau und Kinder, geltend gemacht werden können! Fragen wir uns: Wie würden wir, wenn wir konsequent und umsichtig die Rolle von Argumentationspartnern einnehmen, an Sokrates’ Stelle argumentieren? Lassen Sie uns also den idealen Rollentausch vornehmen, ohne den ein Vorgriff der Vollkommenheit zur Würdigung einer philosophischen Aussage nicht gelingen kann. Es ergibt sich dabei freilich – darauf werden wir gestoßen – die kritische Frage: Argumentiert Sokrates eher im Sinne seiner Vorlieben und Meinungen als ‚Ich I’ oder strikt als Partner in einem rein argumentativen Dialog, der nach verallgemeinerbarer Gegenseitigkeit sucht, mithin als Ich II? Für seinen Entschluß, die Hinrichtung auf sich zu nehmen, statt zu entfliehen, bringt Sokrates vor allem sechs Gründe vor. (I) Der erste Grund bezieht sich noch nicht konkret auf die Handlungssituation, sondern ist eine allgemeine moralische Maxime. Sie erhebt den Anspruch, den besten Logos über das Gut-Leben (ευ ζην, eu zen) darzulegen, daß dieses nämlich „mit dem ehrenhaft und gerecht leben“ identisch sei (48 b 6-8). Diesen Logos gelte es zu berücksichtigen: nicht die Meinung „der Vielen, sondern das, was der Einsichtige und Sachverständige hinsichtlich des Gerechten und Ungerechten „sagen wird, und das, was die Wahrheit selber“ sagt (48a 5-7). 205 Vgl. D. Böhler, Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und Praxis, in: Funkkolleg Studientexte (1984), II, S. 313-355, hier 339. Ders., HIER EINEN NEUEREN TEXT D.B.s ZUM LOGOS-SATZ ANFÜHREN! 78 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Das ist eine radikale kriteriologische Differenz zwischen den faktischen Meinungen und der Wahrheit. Ihre immerhin berechtigte Absicht können wir einholen, indem wir uns klarmachen, daß wir als Argumentierende selbst schon in Differenz zu Meinungssubjekten, uns und Anderen, getreten sind, indem wir Wahrheit beanspruchen – also das beste Argument, welches die Argumentationswilligen und Einsichtigen überzeugen würde. Insofern zeigt es sich, daß Sokrates, geltungslogisch analysiert, eben das voraussetzt und ins Spiel bringt, was die Diskurspragmatik als transzendentale Differenzen der möglichen Geltung erläutert: die Differenz zwischen faktischen Vertretern einer Meinung (Ich I) und strikten Argumentationspartnern (Ich als Diskurspartner), wie auch die damit verwobene Differenz zwischen einer realen Meinungs- bzw. Kommunikationsgemeinschaft und einer reinen oder idealen Argumentationsgemeinschaft. Allerdings denkt Sokrates nicht eigentlich das, was er hier in Anspruch nimmt; und noch weniger denkt er es strikt dialog- und argumentationsgemäß. Vielmehr geht er auf ein Expertenmodell zurück, was die Philosophen und viele andere bis heute immer wieder tun, und allzu gerne. Damit übergeht er nicht nur den dialogischen Aspekt einer Kommunikation unter gleichberechtigten Argumentationsteilnehmern, sondern auch eine Sinnbedingung der Rede von „Argumentation“ und „Argumentationsgemeinschaft“, daß diese nämlich den Plural von Argumentationsteilnehmern und Argumenten voraussetzen, mithin auch deren Verschiedenheit – also die „Pluralität“ (im Sinne Hannah Arendts).206 Er nähert sich der Suggestion eines metaphysischen Singulars, als könne die Wahrheit selber sprechen, so wie ein Sachverständiger spricht. Es ist ein methodischer oder transzendentaler Solipsismus, der hier hervorlugt: ein uneinholbarer, daher unhaltbarer Standpunkt – pure Metaphysik, die sinnlos ist, weil im Denken nicht rechtfertigungsfähig. Denn alles Denken ist ein Erheben von Geltungsansprüchen gegenüber möglichen oder realen Anderen… Ganz unschuldig und Plausibilität heischend kommt die metaphysische Suggestion der einsamen Wahrheit daher. Sokrates führt die Instanz des Sachverständigen bzw. des Einsichtigen am Beispiel des Arztes oder des Turnmeisters ein, um dann die Analogie plausibel zu machen, der Leib verhalte sich zur Seele, wie sich die Gesundheit, die man beim Arzt oder Turnmeister zwecks guten Lebens pflegen oder wiederherstellen lasse, zu der Gerechtigkeit verhalte. Ebenso entsprächen Krankheit und Ungerechtigkeit einander (47 b 206 H. Arendt, Vita actica oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960 und München (Piper) o. J., (zit: Vita activa), S. 14 f., 164 ff., und 214 ff. 79 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie 48 a 1). Walter Bröcker faßt das bündig zusammen: Wenn diese Analogie angenommen wird, was Kriton, ohne auch nur nachzufragen, tut, dann „ist die Frage beantwortet: Warum soll ich das Gerechte tun und das Ungerechte meiden? Weil ich andernfalls mich selbst, nämlich meine Seele beschädigen würde. Und da sie edler ist als der Leib, ist der seelische Schaden auch schlimmer. Da sich kein Mensch vorsätzlich Schaden zufügen wird, kommt es nur darauf an, ihn zu der Einsicht zu bringen, was gerecht ist und was ungerecht, und daß er mit dem einen sich selbst nützt und mit dem anderen sich selbst schadet. Wenn er das wirklich eingesehen hat, wird er gar nicht anders können als gerecht handeln. Aus der vorausgesetzten Analogie: Leib verhält sich zu Gesundheit wie Seele zu Gerechtigkeit, folgen logisch die berühmten Sätze […], daß Tugend Wissen ist und daß niemand freiwillig das Schlechte tut.“207 Dieser bekannte intellektualistische, besser: theoria-metaphysische und, wie sich zeigen wird, kosmos-mimetische Fehlschluß dient hier dazu, die von Sokrates geltend gemachte moralische Maxime ins Sakrosankte zu erheben, mithin dialogische Argumentationen darüber, ob ihr unbedingte, alle Situationen einschließende, Gültigkeit zukomme oder nicht, als gegenstandslos erscheinen zu lassen. Die berühmte Maxime lautet: Unrechthandeln ist auf keine Weise weder gut noch schön bzw. ehrenhaft, sodaß auch der, dem Unrecht geschehen ist, nicht wieder Unrecht tun darf (49 a 5 - b 6). (II) Sokrates führt den Logosgrundsatz also durch die Maxime weiter, man solle auf ein erlittenes Unrecht nicht mit einem anderen Unrecht reagieren. Unklar ist jedoch, welchen Geltungssinn diese Maxime beanspruchen kann: Soll sie ein Prinzip sein, welches die Berücksichtigung von besonderen Notsituationen und moralischen Ansprüchen Dritter noch zuläßt, also einem verantwortungsethischen Diskurs und möglichen moralischen Strategien noch Raum gibt? Oder ist sie als eine unbedingte Norm gemeint, die unter allen Umständen gilt; also auch dann, wenn man – in einer Notlage – aus berechtigter Fürsorge gegen andere, etwa Frau und Kinder, eine (im Prinzip auch von einem selbst lösbar ist, kann) anerkannte Rechtsnorm verletzen würde? Ein solches verantwortungsethisches Problem, das allein durch eine moralische Strategie- bzw. Konterstrategiebildung (im Sinne unserer Urteilsstufe 7) kann Sokrates aber nicht stellen und angehen. Warum nicht? (III) Er legt sich darauf fest, alle Rechtsnormen, die er als Polisbürger gleichsam durch den Sozialvertrag anerkannt hat (Urteilsstufe 5), uneingeschränkt einzuhalten, was immer sie auch 207 W. Bröcker, Platos Gespräche, Frankfurt a. M. 21967, S. 32. 80 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie befehlen mögen208. Er pflichtet nämlich den Gesetzen der Polis bei, als diese ihm vorhalten, „daß er durch die Tat uns gegenüber sein Einverständnis erklärt hat, zu tun, was immer [sic!] wir befehlen.“209 Bedeutet das nicht einen Rückfall auf bedingungslosen Rechtsgehorsam im Sinne von „law and order“ (auf der konventionellen Urteilsstufe 4) und damit die Preisgabe des metakonventionellen Urteilsniveaus? Denn dieses schließt die prinzipienbezogene Prüfung der von einem selbst anerkannten Konventionen und der Implikationen bzw. Folgen freiwilliger Übereinkünfte ein. Das aber bedeutet: Auch die Verbindlichkeit eines einmal gegebenen Einverständnisses kann, ja soll bei gravierenden Zweifeln eingeklammert werden – allgemein zugunsten der Suche nach dem besten Logos und moralisch im Lichte des Prinzips der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Denn auch ein im guten Glauben geschlossener Vertrag bzw. anerkannter Verfassungsvertrag kann moralisch bedenkliche, ja illegitime Verbindlichkeiten einschließen. (IV) Außerdem fällt Sokrates hinter seinen Logosgrundsatz zurück, weil er seine faktische Vaterlandsliebe, die ihn als Athener prägt (Ich I), über alles zu stellen scheint, so daß sich aus der Verbindung von meinem Vaterland (Urteilsstufe 3) und unseren Gesetzen (Stufe 4) für ihn de facto eine letzte Geltungsinstanz ergibt.210 Doch als Diskurspartner (Ich II) hat er die Suche nach dem besten Argument und damit die unbegrenzte Argumentationsgemeinschaft, welche dieses anerkennen würde, als letzte Gültigkeitsinstanz vorausgesetzt. Auch ein Vergleich des Arguments (III) mit den biblischen Traditionen fällt übrigens für Sokrates bzw. für den Autor Platon ungünstig aus. Erheben sie doch tendenziell die Nächstenliebe und die Achtung vor dem menschlichen Leben als dem Ebenbild Gottes zum Kriterium dafür, inwieweit man dem Vaterland und seinen Gesetzen Gehorsam schulde. (V) Kaum von der Hand zu weisen ist hingegen die angestellte Erwägung, daß eine Flucht des Sokrates seine Freunde in die Notlage bringen könnte, ihrerseits aus Athen fliehen zu müssen.211 Doch nehmen die Freunde dieses Risiko offenbar im Sinne einer verantwortungsethischen Abwägung (Stufe 7) auf sich, so daß die verallgemeinerbare Gegenseitigkeit hier erreichbar wäre. Dennoch stellte sich u.U. für Sokrates – ebenfalls auf Stufe 7 – die Frage, ob man den Freunden diese Gefahr zumuten dürfe. Diese Frage läßt sich wohl allein in einem realen argumentativen Diskurs mit den Betroffenen klären. Doch wird 208 209 210 211 Platon, Kriton, 51 e 4f. Diese Festlegung wird auch nicht dem Wortlaut gerecht, mit dem er den Vertragsgedanken bzw. die Anerkennung der Gesetze eingeführt hat: 50 a 1 ist von den Gerechtsamen (δίκαια, dikaia) die Rede die von den „Gesetzen“ versprochen worden seien. Schleiermacher übersetzt: „daß er uns [den Gesetzen] durch die Tat angelobt habe“. Ebd., 51 a 2 - c 5. Ebd., 53 a 8 - b 3. 81 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie der moralisch Empfindsame – und Sokrates verkörpert diesen zweifellos – seine Freunde kaum dem Offenbarungseid eines solchen aussetzen mögen. Wie leicht könnte dieser u.U. existentiell peinliche Diskurs in eine Nötigung umschlagen. Da überlegt man lieber allein für seine Freunde. (VI) Ambivalent ist das Argument, er selbst hätte in Theben oder Megara (vielleicht) kein gutes Leben, das die Flucht lohnen würde, zu erwarten. Warum? Zwei Gründe werden angegeben. Einer im „Kriton“-Dialog, der andere schon in der Verteidigungsrede vor Gericht. Im „Kriton“ weist Sokrates darauf hin, daß man ihn auch außerhalb Athens als Rechtsverächter ansehen könnte.212 Doch kommt dieser Grund über die vorkonventionelle Egoperspektive ‚meines’ Glücks (Stufe 1) und die konventionelle Perspektive der Anerkennung durch je meine partikulare Bezugsgruppe (Stufe 3) eigentlich hinaus? In Widerspruch dazu steht außerdem, daß Sokrates solche faktischen Bezugsgruppen zuvor noch selbst, und zwar kraft seines substantialistischen Wahrheitskriteriums, als „die Vielen“ distanziert hatte (47). Hier aber beruft er sich darauf, als handele es sich um eine Gültigkeitsinstanz im Sinne des besten Logos und der Wahrheit… Das Argument gewinnt auch dadurch nicht unbedingt an Überzeugungskraft und Gültigkeit, daß es abschließend mit dem Hinweis auf den Glaubwürdigkeitsverlust des Gerechtigkeitslobredners Sokrates verknüpft wird, der sich selbst der Herrschaft der Gesetze entzogen hätte213 – und daher wohl bloß in die Gegend Kritons, nach Thessalien, gehen könne, weil „dort ja Unordnung und Ungebundenheit am größten“ seien.214 Auf der reinen Geltungs- und Prinzipienebene wäre das Glaubwürdigkeitsargument allein dann durchschlagend, wenn es nicht bloß auf die faktische Glaubwürdigkeit von Sokrates I in der realen Gesellschaft von Megara und Theben Bezug nähme (Stufe 3), sondern auf den Diskurspartner (Sokrates II) zielte, der sich letztlich auf die ideale Gemeinschaft derer bezöge, die nach dem besten Logos suchen. Davon könnte aber nur die Rede sein, wenn für Sokrates’ Entscheidung gültige Argumente, verallgemeinerbare Gründe im Sinne der Urteilsstufen 6 und 7 sprächen. Dann hätte er den besten Logos auf seiner Seite. Zweifellos ist das auf der idealisierenden Ebene eines reinen Geltungsdiskurses (im Sinne der Prinzipienstufe 6) nicht der Fall. Verantwortungsethische Überlegung 212 213 214 Ebd., 53 b 3 - c 8. Ebd., 53 c 5ff. Ebd., 53 d 1ff. 82 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Aber könnten wir Sokrates nicht mit einer verantwortungsethischen Argumentation zu Hilfe kommen, indem wir für ihn eine moralische Strategiebildung versuchen? Die läßt sich an eine dritte, in der „Apologie“ vorgebrachte Begründung anschließen: „Das größte Gut für den Menschen ist, täglich sich über die Tugend zu unterreden“215, „zu philosophieren […] und sich selbst sowie andere zu prüfen“216, um so Rechenschaft über die Lebensführung zu geben.217 Wenn aber schon die Athener, Sokrates’ Mitbürger, nicht imstande gewesen seien, dessen philosophisch kritische Lebensweise zu ertragen, so würden andere sie ebensowenig akzeptieren. Also müßte Sokrates in seinem Alter „immer unhergetrieben eine Stadt mit der anderen vertauschen“.218 Eine solche Existenz wäre dem Philosophen und alten Mann nicht zumutbar. Gewiß. (Wir berücksichtigen jetzt freilich –wie es auch Sokrates selbst tut - ’ eigene Argumentation – bloß das Individuum Sokrates in seiner Rolle als Philosophen, nicht Sokrates als Vater und als Ehemann, der für die Ansprüche seiner Familie mitverantwortlich ist.) Nun hängt die Wirksamkeit der philosophisch-kritischen Lebensform, realistisch betrachtet, offenbar von der durchschnittlichen ethischen Orientierung der Polisbürger ab. Und das ist nun einmal eine ebenso schlichte wie eifersüchtige (und auch kleinliche) Fixierung auf Vorbilder (Stufe 3), also hier auf den Philosophen Sokrates, und auf die ‚bei uns’ etablierten Gesetze (Stufe 4). Letztere sind zwar unzureichend und bedürfen dringend einer strukturellen Verbesserung mit der Perspektive auf Menschenrechte, Menschenwürde, auf Prozeßrecht mit prozeduraler Revidierbarkeit erstinstanzlicher Urteile usw. Doch sind sie der Rechtlosigkeit vorzuziehen. Was die Vorbildorientierung anbelangt, so könnte Sokrates ein politisch-ethisches Vorbild dann und nur dann werden, wenn er sich nach athenischem Recht und Gesetz verhält – also die Hinrichtung auf sich nimmt, nachdem er die Möglichkeit der Verbannung verworfen hatte.219 Daß aber Sokrates als Vorbild anerkannt werde, ist die Voraussetzung für die moralische Langzeitstrategie „Aufhebung der stark gerechtigkeitsdefizitären Gesetze Athens in eine menschenrechtsfundierte und rechtsstaatlich revisionsfähige Rechtsordnung“. Also lohnt es das Lebensopfer des alten Mannes Sokrates, sofern sowohl Sokrates selbst - vor der Hinrichtung öffentlich und in einem Vermächtnis als auch seine Freunde später - die Ziele einer solchen Verbesserung der Rechtsordnung und des Polis-Geistes nicht allein entfalten, sondern öffentlich resp. auch politisch strategisch daraufhin wirken. In diesem Sinne könnten 215 216 217 218 219 Platon, Apologie, 38 a 2. Ebd., 28 e. Ebd., 39 c 7. Ebd., 37 c 7 - d 6. Ebd., 37 c 4 - 38 a 8. 83 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie wir fast den folgenden Passus der „Apologie“ auslegen: „Ich behaupte also, ihr Männer, die ihr mich hinrichtet, es wird sogleich nach meinem Tode eine weit schwerere Strafe über euch kommen als die, mit welcher ihr mich getötet habt. Denn jetzt habt ihr dies getan in der Meinung, nun entledigt zu sein von der Rechenschaft über euer Leben. Es wird aber ganz entgegengesetzt für euch ablaufen, wie ich behaupte. Mehr werden sein, die euch zur Untersuchung ziehen, welche ich nur bisher zurückgehalten, ihr aber gar nicht bemerkt habt. Und um desto beschwerlicher werden sie euch werden, je jünger sie sind.“220 Dann käme Sokrates’ Selbstopfer einer moralischen Situationsstrategie gleich, von der gölte, daß sie erfolgsfähig und moralisch verträglich einbezogen würde in eine moralische Langzeitstrategie zur Verbesserung der Rechts- und Kommunikationsverhältnisse Athens. So ließe sich auf Stufe 7 und im Sinne der moralstrategischen Ebene B der Diskurs- und Verantwortungsethik argumentieren. Verantwortlichkeiten für Sokrates’ Allerdings nur dann, wenn auch die Frau und Kinder angemessen berücksichtigt werden könnten: Kann ihnen die Selbstopferung des Ehemannes und Vaters zugemutet werden? Die Fürsorgepflicht des Sokrates gegenüber seiner Familie (Stufe 3) erscheint nämlich von neuem als Frage der moralischen Zumutbarkeit auf der verantwortungsethischen Prinzipienstufe 7; ist also alles andere als leicht zu nehmen. Als Leser von Platons Texten, der „Apologie“, des „Kriton“ oder auch des „Phaidon“ müssen wir freilich ernüchtert feststellen: es gibt wenig Anhaltspunkte für eine politisch-ethische Moralstrategie, wie wir sie eben skizziert haben. Als eine – wie auch immer stark explikative – Interpretation zumal des „Kriton“ wäre unsere verantwortungsethische Skizze wohl zu schwach belegt. Das gilt es zumal dann festzuhalten, wenn wir Sokrates’ Aussagen und Nichtaussagen über seine Familienverantwortung berücksichtigen. Stellt der platonische Sokrates sich diesem Zumutbarkeitsproblem? Oder sind wir drauf und dran ihn verantwortungsethisch hoch zu interpretieren? Von seiner Frau, der Verantwortung ihr gegenüber, und von seiner Familie – Frau, Kinder und Vater zusammen als Lebens- und Verantwortungsgemeinschaft – redet Sokrates überhaupt nicht. Die zu berücksichtigenden Ansprüche, Tugenden und Gerechtigkeitsbeziehungen werden von ‚seinem Vaterland’ aufgesogen. Zu einer Abwägung ‚Familie versus Vaterland’, die nach Maßgabe der Stufen 6 und 7 vorzunehmen wäre, kommt es nicht einmal. Allein von den Kindern spricht er. Warum will er sie nicht auf eine Flucht mitnehmen, und sei es nach Thessalien? Die Antwort: um sie nicht zu Fremdlingen zu 220 Ebd., 39 c 3 - d 2. 84 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie machen, und weil die Freunde in Athen (nach seiner Hinrichtung) sich ihrer annehmen werden, so daß sie, in Athen, besser aufgezogen und ausgebildet werden dürften...221 Ob die Kinder und die Ehefrau eigene, andere Ansprüche haben können und daher die Flucht auf sich nehmen und diese vorziehen würden, fragt Sokrates nicht. Über eine Verständigungsgegenseitigkeit ist der, tendenziell methodisch solipsistisch argumentierende, jedenfalls monologisierende Sokrates, den uns der spätere Kosmostheoretiker Platon hier präsentiert, gänzlich erhaben. Er weiß im vorhinein, welches die Bedürfnisse, Interessen und Werte der Betroffenen sind. Darüber bedarf es keiner Kommunikation mit ihnen. Die hat allein zwischen ihm und den „Gesetzen“ statt. Denen gibt er denn auch das letzte Wort, damit sie versichern können, was dem Logosgrundsatz zuwiderläuft und die Inhumanität von Platons „Politeia“ und „Nomoi“ einläutet: „Achte weder die Kinder, noch das Leben, noch irgend etwas anderes höher als das Recht.“222 Der Law-and-Order-Standpunkt siegt über die Argumentationsgemeinschaft, der Realathener (Sokrates I) überwältigt den Argumentationspartner, Sokrates II. Kein guter Ausgang, sondern eine konventionalistische Regression. Daß Lawrence Kohlbergs Würdigung des „Kriton“ weitaus günstiger ausfällt – „hier steht der Gesellschaftsvertrag der Stufe 5 im Mittelpunkt“223 – fordert zur Diskussion heraus. Man berücksichtige zunächst Kohlbergs Zitatauswahl aus dem „Kriton“: Auszüge 50 a bis 52 e, doch unter Auslassung der rechtspositivistischen Absolutheitsformel „zu tun, was immer wir [die Gesetze] befehlen“. Eben dieser, von Kohlberg unberücksichtigt gelassene, totale Gesetzesgehorsam ist unvereinbar mit dem metakonventionellen Gedankenexperiment eines Gesellschaftsvertrags. Denn ein solches klammert die Geltung der faktisch gegebenen Gesetze und Verfahren ein, weil es deren Legitimität prüfen soll. Sokrates hingegen führt kein solches Gedankenexperiment durch, sondern schließt von dem Faktum seiner bisherigen rechtsgehorsamen Bürgerexistenz in Athen auf die Sollgeltung bzw. Legitimität der athenischen Gesetze und Verfahren. Das bedeutet die Vermeidung einer Legitimationsprüfung, ja ihre Ersetzung durch einen faktischen bzw. naturalistischen Fehlschluß: Sokrates macht nichts geltend als eine ‚normative Kraft des Faktischen’ – gewissermaßen eine Art Gewohnheitsrecht der Institutionen gegen die Rechtsperson. Das ist Rechtspositivismus, bestärkt durch einen Institutionalismus, der die angestammten 221 222 223 Ebd., 54 a - b 1. Ebd., 54 b 2 - 4. L. Kohlberg, Education for Justice. A modern statement of the Platonic view, in: N.F. Sizer & T.R. Sizer (Hg.), Moral education. Five lectures, Cambridge 1970, S. 57-83. Dazu D. Garz, Kohlberg (1996), S. 119f, vgl. 116ff und 60f. 85 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Rechtsinstitutionen, sofern die Rechtsperson sich ihrem Geltungs- und Sanktionsbereich nicht entzogen und durch diese Unterlassung de facto deren Geltung akzeptiert habe, ins Sakrosankte erhebt. Dem steht der kritische, rechtsprüfende bzw. rechtskonstitutive Impetus der Idee des Sozialvertrags diametral entgegen. Dessen Orientierungsfunktion kann Kohlberg zwar als „legalistische Orientierung“ beschreiben; eine solche hat jedoch – eben das unterscheidet die „postkonventionelle“ Urteilsstufe 5 von der konventionellen Law-and-Order-Stufe 4 – das gelungene Legitimationsexperiment, besser: einen von allen Beteiligten argumentativ geführten praktischen Willensbildungsdiskurs, zur geltungsstiftenden Voraussetzung. Anderenfalls könnte Kohlberg den Sozialvertragsgedanken nicht zu Recht als postkonventionelles (logisch: metakonventionelles prinzipien- und gültigkeitsbezogenes) Urteilsniveau auszeichnen. Schon gar nicht könnte er annehmen, daß bereits auf dieser Urteilsstufe individuelle Rechte als vorpositive, rechtstragende Menschenrechte gefordert werden können. Eben das hat er getan – nicht zuletzt, indem er die US-amerikanische „Declaration of Independence“ als „Dokument der Stufe fünf“ würdigte.224 Dazu war Kohlberg, auch problemgeschichtlich gesehen, durchaus berechtigt, ist doch der Sozialvertragsgedanke ein integraler Bestandteil des „Naturrechts“ bzw. Vernunftrechts, der den Nutzenstandpunkt eines Kollektivs, der Nation als Bürgerschaft, mehr oder weniger verbindet mit dem universalen Rechtsstandpunkt der „frei geborenen“ und (qua Gottesebenbildlichkeit) mit der Würde des Anspruchs auf „unveräußerliche Rechte“ ausgestatteten Menschen. Und es ist dieser rechtsmoralische Anspruch der Menschenwürde, der aus Samuel Pufendorfs „De jure naturae et gentium“ Eingang in die US-amerikanische Unabhängigkeitsbewegung gefunden zu haben scheint.225 Von hier aus können wir zum Hauptargument des Kriton-Dialogs zurückkehren, der Vorhaltung, des Vertragsbruchs, den die ‚Gesetze’ Sokrates machen - und damit die Diskussion mit Frau Kinne fortsetzen. Es fragt sich hier nämlich, ob das Sozialvertragsargument Platons, so wie es im ‚Kriton’ vorgebracht wird, einen 224 225 L. Kohlberg, The quest for justice in 200 years of American history and in contemporary American education, in: Contemporary Education, 48. Jg. (1976), S. 5-16, hier S. 11. Hans Welzel hat gezeigt, daß dignitas humana, von Samuel Pufendorf zum „naturrechtlichen Zentralbegriff“ erhoben worden, durch den „Vater der amerikanischen Demokratie“, Pfarrer John Wise – „I shall principally take Baron Pufendorf for my chief guide“ – dem Geist der US-amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung eingepflanzt worden ist: H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 1962, S. 140ff. 86 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie naturalistischen Fehlschluß darstellt. Was ist ein naturalistischer Fehlschluß im differenzierbaren Sinne? Es handelt sich um Schluß von einer bloßen (sei es einer natürlichen, sei es einer sozialeninstitutionellen oder einer handlungsmäßigen) Tatsache und deren Beschreibung: „Sein“ auf eine moralisch gültige, verbindliche Pflicht: „Sollen“. Im „Kriton“ läßt Platon ‚die Gesetze’ der Polis schließen: Du hast den Sozialvertrag durch dein faktisches Verhalten geschlossen (-> situationsbezogener Diskurs in Athen) d. h. uns als deine geltenden Gesetze anerkannt, also ist es deine moralische Pflicht, unseren normativen Implikationen in allem zu folgen. Prämissen: 1) Fallibilität situationsbezogener Diskurse gibt es nicht / ist nicht zu berücksichtigen [Verstoß gegen vorgängiges Dialogversprechen b5) ] 2) Das bloße Faktum einer Anerkennung verschafft dessen Gegenstand unbedingte moralische Gültigkeit im Sinne von Verbindlichkeit. D. h. Die Anerkennungswürdigkeit des faktisch Anerkannten müsse nicht geprüft werden. Dieser Begriff und Maßstab entfällt. So suggeriert es, wenngleich in kritischer Absicht, die Spruchweisheit „Mitgegangen, mitgefangen, (zu Recht?!) mitgehangen.“ Diese Annahme verstößt freilich gegen normative Sinnvoraussetzungen einer Argumentation, insbesondere gegen zwei Geltungsansprüche und Diskursversprechen. Es sind dies die Geltungsansprüche der Legitimität aus Gründen (a4) sowie der Wahrheit (a3) und die vorgängigen Dialogversprechen, - das Universum der sinnvollen Argumente bzw. der sinnvoll argumentierbaren Lebensansprüche als letzte Sinn- und Gültigkeitsinstanz, (selbst- und ergebniskritisch) zu berücksichtigen (b2) - mitverantwortlich zu sein für den Diskurs (als Möglichkeit der Verantwortung, jetzt und in Zukunft (b4) ] Abschließend können wir unseren philosophischen Diskurs zum „Kriton“, dem es nicht um eine historisch hermeneutische Würdigung der Auffassungen des Platonischen Sokrates, sondern um deren Beurteilung als Argumente im Diskursuniversum zu tun ist, in die Form 87 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 12. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie folgender Tabelle bringen. Horizontal stellt sie Kriterien zusammen, welche Teilnehmer eines argumentativen Diskurses (also auch Platons Sokrates) geltend machen können. In der Vertikalen listet sie Instanzen auf, die wir als Diskurspartner berücksichtigen müßten: die Betroffenen als Anspruchssubjekte im weitesten Sinne – von Sokrates über die Institution „Polis“ bis zur Metainstitution aller geschichtlichen Institutionen, dem philosophischen Diskurs der Argumente. 88 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 9. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Mögliche Beurteilung von Sokrates’ Argumenten I bis IV, Kriton 48 c - 54 e Kriterien, Bezugspunkte Betroffene als moralisch Anspruchsberechtigte und andere moralische Instanzen: Sokrates (S.) Person (Ich I) Anspruch auf Wahrheit, Gültigkeit qua Verständigungsund Geltungsgegenseitigkeit Gerechtigkeit Frau Kinder Freunde Polis Philos. Diskurs (alle sinnvollen Argumente, auch Ansprüche der Nachwelt, zu berücksichtigen) Unberücksichtigt: Situationsanalyse fehlt, keine Verständigung Unzureichend: Kritikfähige Situationsanalyse, keine Verständigung (auch nicht advokatorisch) Unzureichend: Kritikfähige Situationsanalyse, keine Verständigung Ja, in der Verteidigung seiner selbst vor Gericht [Argument V] Keine Situationsanalyse, keine Verständigung, daher keine Berücksichtigung von Gerechtigkeits-ansprüchen Daher bezweifelbare Berücksichtigung von Gerechtigkeits-ansprüchen Keine Situationsanalyse, keine Verständigung, daher bezweifelbare Berücksichtigung von Gerechtigkeitsansprüchen Argument II Argument I Antizipation von Stufe (5) mit Regression auf Stufe (4) Ein moral. Gehalt des LogosGrundsatzes, aber nicht metakonventionell, sondern konventionell (regressiv) gehandhabt Diskurspartner (Ich II) [Argument V] Bedeutet die Flucht den Verlust der Diskursglaubwürdigkeit? - Reale vs. ideale Diskursgemeinschaft (6) - [Märtyrertum als moral. Strategie (7) → Wahrung von Rechtsloyalität u. – sicherheit (4 u. 5)?] Argument I Ein moral. Gehalt des Logos-Grundsatzes (6), aber gesinnungsethisch verabsolutiert, mithin eher als Stufe 4-Norm denn als autonom anzuwendendes, metakonventionelles Moralkriterium angesetzt Siehe Spalte Sokrates Argument III faktizistischer Fehlschluß von Sokrates’ Bürgerverhalten (3) auf Legitimität der Gesetze (4) 89 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Stand 9. Juni 2009 Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Kriterien, Bezugspunkte Leben Betroffene als moralisch Anspruchsberechtigte und andere moralische Instanzen: Sokrates (I + II) Frau Kinder Freunde Polis Philos. Diskurs (alle sinnvollen Argumente, auch Ansprüche der Nachwelt, zu berücksichtigen) Argument V Argument VI Argument VI Argument IV Sokrates scheint sich in der Egoperspektive Stufe (1) auf persönliches Glück zu berufen und auf die faktische Akzeptanz durch eine Gruppe (Stufe 3) S. delegiert seine Fürsorgeverantwortung undialogisch und ohne das moralische Prinzip der Zumutbarkeit zu klären In Übereinstimmung mit seiner lebensweltlichen Rolle (3) übt Sokrates Fürsorgeverantwortung für seine Kinder, aber Ausblendung der Fürsorgeobjekte als Diskurspartner Asymmetrische Fürsorgeverantwortung (Ausblendung der Fürsorgeobjekte als Diskurspartner, solipsistisch verkürzende Antizipation von (7)) Unbe-rücksichtigt bleibt und muß die Frage bleiben, ob ein Staat das Recht auf Todesstrafe beanspruchen darf, da die Idee der Menschenwürde fehlt Es fehlt die Frage: Ist ein Sozialvertrag überhaupt legitim, der einem Staat die Todesstrafe zuspricht (Prinzip der Menschenwürde als Rechtskonstituens) bei Ausblendung von Verantwortungspflichten des Familienoberhaupts (3); aber in „Apologie“ mit verantwortungs-ethischer Perspektive: Wirkungsmöglichkeit für kritische Philosophie wahren (Stufe 7)! Menschen würde __________ __________ __________ __________ _______ Menschenwürdegrundsatz unvereinbar mit Todesstrafe → Legitimation der Flucht 90 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie 3.2.2 Der Sokratische Elenchos und die Diskurs-Tugend. Wissen und Wollen der Dialogverpflichtungen bei (möglichem) Nichtwissen der Sachen. Wie enttäuschend Platons Argumente am Schluß des Kritondialogs und auch dessen monologischer Charakter für uns als Diskurspartner auch sind, wie tief sie auch unter das Urteilsniveau des Logosgrundsatzes, geschweige des der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit, zurückfallen, so bahnbrechend und im Kern allgemeingültig ist die Logosmaxime selbst und der Kontext, in dem sie entdeckt wird, nämlich Sokrates’ Suche nach einer dialogförmigen Prüfung von Geltungsansprüchen, dem Elenchos. Das sind zwei im Diskursuniversum unverlierbare, für die Argumentationsgemeinschaft unverzichtbare sokratische Errungenschaften: Sie gehören zum eisernen Bestand der Diskurspartnerrolle. Jede Person kann sie sich als Ich II aneignen, wie sehr sie auch die geschichtlichen Kontextbedingungen, Konventionen und partikularen Ansichten eines Ich I – hier die des antiken Atheners Sokrates bzw. seines Schülers Platon – überholen und kritisch distanzieren mögen. Das Verfahren und der Begriff des élenchos bzw. der έλεγξις sind oft weich und können teils moralische, teils juridische Nuancen haben. Beim frühen Platon mündet der Elenchos in eine Kritik des vermeintlichen Wissens, in ein Wissen des Nicht-Wissens. Dieses negative Wissen besagt jedenfalls, daß die naiv behaupteten Meinungen und deren naiver Anspruch, sie präsentierten hinreichendes Sachwissen, dann nicht mehr Bestand haben, wenn sich ihre Vertreter auf das dialegesthai als logízesthai einlassen, auf die strenge Suche nach dem zureichenden Argument. Die naiven, vor-argumentativen und vor-dialogischen Wissensansprüche können nicht mehr bestehen, wenn man heraustritt aus der Arena der alltäglichen Selbstbehauptung und eintritt in den dialogisch-logischen Raum des Erhebens und Prüfens der eigenen Ansprüche als Geltungsansprüche; d.h. als dialogischer Angebote, welche mit Gründen zu versehen sind und anhand von Gründen geprüft werden müssen – gemeinsam im Argumentieren. Was bedeutet es, wenn man sich auf jene Suche begibt? Man läßt die unphilosophische Praxis des puren Fürwahrhaltens seiner jeweiligen Meinung und des Durchsetzenwollens seiner Orientierungen bzw. normativen Vorstellungen hinter sich, distanziert sich insofern ein ganzes Stück von sich selbst und eröffnet die philosophierende Praxis von Argumentationspartnern in einer Gemeinschaft strikten Argumentierens. Das ist der kritische Eröffnungszug des Philosophierens als Diskurs: Durch die Distanzierung der Alltagsnaivität und der bloßen Selbstbehauptung setzt man sein bisheriges, vermeintliches Wissen skeptisch in Klammern, man betrachtet es als ein Nicht-Wissen und sucht nunmehr 91 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie nach begründbarem Wissen, das sich nicht bloß auf ein Meinen und Wollen, sondern auf den einsehbaren Logos soll stützen können. Legen wir den sokratischen Ansatz in dieser Weise aus, dann lassen sich auch die Ironie des Sokrates, ja zum Teil sogar Platons rabulistisches Dreinschlagen,226 als strategische Diskursmittel würdigen – eine harte Schule, die es mit der bornierten Selbstbehauptungspraxis des alltäglichen Etwas-Meinens und Etwas-Wollens zu tun hat und dieser eine Erziehung sowohl zur Autonomie als auch zum Miteinanderargumentieren entgegen setzt. Sicher bleibt, wie Gottfried Martin betont, auch die Ironie des Sokrates zum Teil, wie so vieles an ihm, rätselhaft. Doch dürfte sie des öfteren zur Autonomie provoziert haben, als wolle er bzw. der junge Platon zu verstehen geben: ‚Nein, ich gebe dir keine positive Antwort, die du als fertige Münze einstreichen könntest; denke gefälligst selbst. Eher verstelle ich mich oder ziehe dich belustigt auf, als daß ich dir eine fertige Antwort serviere – lieber erscheine ich euch allen als ein Zitterrochen, der anderen gern elektrische Schläge versetzt.227 Will ich euch doch aus dem bloßen Etwas Meinen und Nachreden von Sprichworten herausschlagen, auf daß ihr ernsthaft zu denken euch bemüht.‘ Offenbar verfährt der kritische, teils ironische, teils strikt aporetische Sokrates nach der Maxime: Ohne schmerzhafte Einsicht in das Nichtwissen des alltäglichen Durchsetzenwollens von Meinungen, Praktiken bzw. Normvorstellungen ist der Weg zur Erkenntnis des Wahren und Richtigen im vorhinein verstellt. Anlage 24 Zwar steht die sokratische Negativität nicht nur am Anfang von Dialogen, sondern macht bei dem frühen Platon auch den Beschluß: hier münden die Dialoge in eine Aporie, die Erkenntnis einer Ausweglosigkeit228 oder in die Einsicht, daß das Gesagte nicht mit der Lebensweise übereinstimmt.229 Doch erschließt diese praktische Einsicht eben jene ‚positive‘ Orientierung, die Sokrates im „Kriton“ als seinen Grundsatz formuliert: die Orientierung an der Vereinbarkeit von Verhalten und Sagen, von Handlungsweise und Logos – eben des diskursiv geprüften Logos. Denn als zuhöchst erstrebenswert zeichnet Sokrates die Verträglichkeit von Lebenspraxis und diskursiver Einsicht aus. Selbst Hegels emphatische Kritik der Sokratischen Negativität muß daher zugestehen, daß sich in der Gestalt des 226 227 228 229 Dazu: J. Hirschberger, Die Phronesis in der Lehre Platons vor dem „Staate“, Leipzig 1932 (Philologus Suppl. 25,1), S. 90. Vgl. auch K. Bormann, „Platon: Die Idee“, in: J. Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie des Altertums und des Mittelalters, Göttingen 1978, S. 47 f. Menon 80 a. Zur Ironie: G. Martin, Sokrates in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1967, S. 127 ff. Zur Aporie: Menon 80a-86c; Charmides 169c-d; Theaitetos 149e. Dazu B. Waldenfels, Das sokratische Fragen. Aporie, Elenchos, Anamnesis, Meisenheim a. Glan, 1961. Vgl. G. Picht, Wahrheit, Vernunft, Verantwortung. Philosophische Studien, Stuttgart 1969 (zit.: Wahrheit (1969)), bes. S. 91 ff, vgl. S. 87-107. 92 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Sokrates das Prinzip der Subjektivität mit dem des Logos verbindet – genaugenommen mit dem Prinzip eines in gegenseitiger Achtung zu führenden Dialogs.230 Eben daraus ergibt sich implizit eine positive moralische Orientierung: die zwiefältige Tugend der dialogischen Praxis, die der Diskurspartner als Selbstzweck bzw. Wert an sich hochachtet, und des Strebens nach Übereinstimmung von Leben und Logos, woraus Glaubwürdigkeit und Lebendigkeit erwachsen. Jedenfalls in dem Maße, in welchem der Logos als Resultat eines argumentativen Dialogprozesses verstanden, mithin auf kommunikative Weise nach Erkenntnis gesucht wird, ergibt sich eine neue Tugend der Tugenden: Glaubwürdigkeit in Gestalt der Kohärenz von Lebenspraxis und Diskurs, von Meinungs- bzw. Interessensubjekt und Dialogpartner. So stellt Platon in der Rede des Feldherrn Laches den Sokrates als Menschen vor, der die Tugend verwirkliche, weil er in der Übereinstimmung von Rede und Taten lebe.231 Sein Leben sei harmonisch gestimmt: „zusammenklingend mit den Worten die Werke“.232 Wie aber bringt er es zu diesem Einklang? Nicht anders, als daß er jeweils kritisch danach sucht. Nach dem Vorbild eines Gerichtsprozesses, in dem ein Rechtsanspruch geprüft wird, läßt er sich auf eine Prüfung der üblicherweise mitgebrachten Wissensansprüche ein. Dabei kommt er – klassisch in der „Apologie“ – zu dem Eingeständnis, diese nicht einlösen zu können: „ich bin Mitwisser, des Tatbestands, daß ich nichts weiß“, bekennt er vor Gericht233. Um dieser paradoxen Aussage einen haltbaren Sinn abgewinnen zu können, sind erneut die Explikationsfragen zu stellen, wer denn jene erste Person sei, die ein – wie immer kritisches – Wissen von sich zum Ausdruck bringt, und wer sich hinter dem Ich verbirgt, über das sie das kritische Urteil fällt, es wisse nichts. Letzteres, von dem behauptet wird, es habe kein Wissen von der gerade verhandelten Sache, ist das naive, seine Meinungen und Annahmen schlicht behauptende Alltags-Ich, das Meinungssubjekt (I). Das andere ‚Ich’ hingegen, welches als kritischer Zeuge auftritt, der das Zu-wissen-Meinen des Selbstbehaupters als Nichtwissen entlarvt, ist der Logos-Sucher ‚Ich’ (II). Dieses zweite Ich agiert als Partner eines Diskurses, in dem nicht Meinungen zählen, sondern einzig gute Gründe, die für oder gegen eine Annahme sprechen. 230 231 232 233 „Dem zufälligen partikulären Innern hat Sokrates jenes allgemeine, wahrhafte Innere des Gedankens entgegengesetzt. Und dieses eigene Gewissen erweckte Sokrates, indem er nicht bloß aussprach: Der Mensch ist das Maß aller Dinge, sondern: Der Mensch als denkend ist das Maß aller Dinge.“ So G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in: Werke (1971), Bd. 18, S. 472, vgl. 467, 471, 497 und 514f. Platon, Laches, 188 c - 189 b. Ich folge hier der Auslegung Georg Pichts: ders., Wahrheit (1969), S. 87107, bes. S. 88ff. Platon, Laches, 188 d. Platon, Apologie, 22 c. 93 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie So können wir zusammenfassen: Als Elenktiker lebt Sokrates von einer Zwei-RollenDialektik. Denn der Sokratische Elenchos ist so angelegt, daß die unmittelbare Rolle dessen, der schlicht etwas meint und es naiv zu wissen behauptet (I), konfrontiert wird mit der reflektierten Rolle dessen, der sich in einem argumentativen Diskurs weiß und nun als Diskurspartner (II) zu einer bestimmten Meinung – hier zu einer, die er selbst (als I) vertritt – Stellung bezieht. Die paradox anmutende Selbstaussage in der Apologie entspringt keiner skeptizistischen Attitüde. Sokrates tritt weniger als Skeptiker denn als tendenziell diskursbewußter Dialektiker auf. Auch wenn er z.T. dahinter zurückfällt, so gilt doch: er hat das dialogreflexive Argumentationsniveau markiert. Als Dialektiker kann Sokrates die naiven Ansprüche des Sachwissens einklammern, ja ein Nichtwissen der Sache konzedieren, weil er ein Wissen vom argumentativen Dialog hat. Aufgrund eines, wenngleich nicht näher bestimmten geschweige denn reflexiv ausgewiesenen, sondern unterstellten dialogpragmatischen Vorwissens kann er sich selbst und andere auf das Verfahren des Elenchos, die kritische dialogische Prüfung, verweisen – mithin auf den argumentativen Diskurs als die letzte Geltungsinstanz. Daraus bezieht der Typos Sokrates seine eigentümliche Glaubwürdigkeit, die au fond kritische Tugend der Diskursglaubwürdigkeit. Nun läßt sich Diskursglaubwürdigkeit nicht als eine Tugend verstehen, die man haben kann, wie man einen Besitz oder eine Eigenschaft hat, wohl aber als Bereitschaft zu einer permanenten Aufgabe. Diese Aufgabe hat etwas von einer „regulativen Idee“ (à la Kant, Peirce und Apel) an sich, weil ‚wir‘, auch wenn wir im Diskurs Geltungsansprüche erheben und prüfen, gewiß keine reinen Vernunftsubjekte, sondern leibhafte Menschen sind: endliche und leibliche, affektbeladene und interessengeleitete, auf fallible Informationen und Interpretationen angewiesene Wesen. Doch als reale Diskurspartner wissen wir implizite, in der Weise eines tacit knowledge (Polanyi), zweierlei zugleich: daß wir nach Gültigkeit, nach Wahrem und Richtigem, suchen, und daß wir uns täuschen können. Worin können wir uns prinzipiell täuschen? Vor allem in der Erkenntnis von Sachverhalten und der Einschätzung von Situationen der Welt. In der semantischen Relation der Gegenstandserkenntnis, genauer gesagt, in der Erkenntnis von Dingen der sogenannten Außenwelt, können wir uns so gut wie immer irren. Denn hier sind wir, wenn es um objektivierbare Sachverhalte geht, auf Vermutungen bzw. Hypothesen vor dem Hintergrund einer Theorie angewiesen oder aber, wenn wir Sinnzusammenhänge erschließen wollen, auf Vorverständnisse und Vorgriffe mit dem Hintergrund eines Interpretationsrahmens. 94 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Hypothesen und Theorien sind fallibel, Vorverständnisse und Interpretationsrahmen können unangemessen sein. Vorsicht ist am Platze und kritische Prüfung unverzichtbar. Von einer solchen elementaren Kritikwürdigkeit und Kritikangewiesenheit will freilich die natürliche Selbstbehauptungsperspektive wenig wissen – sie behauptet viel lieber: ‚ich weiß!’. Dagegen setzen der Dialektiker Sokrates und erkenntniskritische Aufklärer wie Lessing und Kant den selbstkritischen, unabschließbaren Erkenntnisprozeß. Das selbstkritisch suchende Denken mit fallibilistischem Vorbehalt bei der Erkenntnis dialogexterner Dinge ist es, welches den Typos Sokrates so lebensvoll macht. Aufgrund dessen erscheint er, im Unterschied zu vielen seiner festgewurzelten und eingefahrenen Gesprächspartner, überaus lebendig – aufgeschlossen und offen für Kritik, für begriffliche Horizonterweiterung und Präzisierung der Rede. Hannah Arendt konnte daher pointieren: „Der Sinn von Sokrates’ Tun lag in diesem selbst. Oder anders gesagt: denken und völlig lebendig sein ist dasselbe, und daraus folgt, daß das Denken immer wieder neu anfangen muß.“234 Doch kann jene kritische Lebendigkeit nicht bedeuten, daß die Tugend des Denkens bzw. des argumentativen Diskurses im puren Offensein bestünde, als ob ihr keine festen, wißbaren logischen Regeln und dialogischen Verpflichtungen innewohnten. Nein, als Wachheit des Geistes speist sich diese kritische Lebendigkeit aus der infalliblen Einsicht in die Verbindlichkeit vorgängiger Dialogversprechen, die Sokrates dadurch abgegeben hat, daß er nach dem besten Logos sucht und die er in dem Logosgrundsatz auf eine Formel gebracht hat. Es sind zunächst die Versprechen, nichts als das beste Argument gelten zu lassen und die Gesprächspartner als Argumentationspartner zu nehmen sowie zu achten. Insofern ist der Sokratische Rückgang auf den kritischen Dialog auch der „erste Versuch einer Sprachethik (besser: Dialogethik)“. Vittorio Hösle belegt diese Interpretationsthese vor allem mit dem Thrasymachos- und dem Gorgias-Dialog.235 Zu Recht. Denn dort finden sich, wie auch im „Kriton“ und der „Apologie“, Vorgriffe auf eine diskurspragmatische Begründung der Ethik durch Rückgang auf die dialogische Praxis. Wird dieser Rückgang reflexiv und konsequent vollzogen, dann erschließt er das dialogische Anerkennungsverhältnis zwischen denen, die ein Problem lösen, eine Erkenntnis erwerben wollen: die moralisch geladene Gegenseitigkeit zwischen Diskurspartnern. Nun wird aber der Sokratische Anstoß zur Besinnung auf die diskurspragmatischen Dimensionen des Gemeinschaftsbezugs und des Wahrheits- bzw. Gültigkeitsbezugs von 234 235 H. Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken, München 1998 (zit.: Vom Leben des Geistes (1998)), S. 178; vgl. 166ff. V. Hösle, Wahrheit und Geschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1984 (zit.: Wahrh. u. Gesch. (1984)), S. 334f, vgl. 314-359. 95 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Platon alsbald ontologisch neutralisiert und kosmostheoretisch konterkariert. Wenn wir die Tragweite dieses Richtungsstoßes würdigen und in die diskurspragmatische Besinnung eintreten wollen, empfiehlt es sich daher, mit Sokrates über Sokrates hinauszudenken und seinen Dialogansatz ebenso aus der Metaphysik Platons wie aus dessen instrumentalistischer Sprachphilosophie herauszulösen. Zuerst wende ich mich seiner Sprachtheorie zu. Erstaunlicherweise scheinen nämlich einige ihrer Elemente selbst heute – nach dem linguistic turn bzw. pragmatic turn der Gegenwartsphilosophie – noch wirksam zu sein, obwohl sie sich sprachpragmatisch nicht halten lassen. So werfe ich zunächst einen Blick auf Platons sprachphilosophischen Dialog „Kratylos“, um vor dieser Folie nach den pragmatischen Dimensionen des Etwas-Denkens zu fragen. 3.2.3 Gemeinschafts- und Geltungsbezug als Basis einer dialogischen Sinnkritik. Die seit Platon verdrängten kommunikativen Dimensionen des Etwas-Denkens Im „Kratylos“ nimmt Platon expressis verbis die Möglichkeit einer sprachfreien Erkenntnis an und stellt das methodologische Postulat auf, man solle die Dinge besser ohne Worte, nämlich durch verwandte Dinge, oder durch sie selbst erkennen (438 e - 439 b). Was in dem, kurze Zeit darauf entstandenen, „Phaidon“ schon als „abgedroschen“ gilt, die Erkennbarkeit der Ideen ohne Worte (100 b), wird im „Kratylos“ entwickelt. Hier sucht Platon nach einem „Paradigma“ für die richtige Benennung und Bedeutungserfassung der Dinge. Diese Suche führt ihn stufenweise aus der Sprachphilosophie hinaus – und in die Ideenlehre als Ontologie hinein. Der Dialog weist einen eidetischen Weg zur „Idee“ der Dinge, welcher vermittels Worten als den „Werkzeugen“ der Benennung zu beschreiten sei. Dieser Weg führe von einem, in verschiedenen Sprachen durchaus unterschiedlichen, Wortausdruck, der aber ein und dieselbe „Idee des Wortes“, also den (idealen) Begriff wiedergeben müsse, auf das Wesen, die Urgestalt der Dinge selbst als dem „bestimmten Sinn“ der Wortidee. Diese reine Dinggestalt sei die sprachunabhängige Idee.236 Das ist die ideentheoretische Ausklammerung des sprachphilosophischen Bedeutungsproblems. Sie trennt die Konstitution der Wortbedeutungen von dem realen geschichtlichen Sprachgebrauch ab und deren Geltung von einem möglichen dialogischen Konsensus. Wie konnte es dazu kommen? 236 Platon, Kratylos, 389 a-390 a; vgl. 422 d-424 e, 428 c-428 d/e und 438 a-439 b. Dazu J. Derbolav, Platons Sprachphilosophie im Kratylos und in den späteren Schriften, Darmstadt 1972, bes. S. 58f, 89 und 95ff. 96 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Platon hat die Tendenz, Sprache als System von Worten, primär von Dingworten, zu betrachten; und er verbindet diese Sprachauffassung mit einer instrumentalistischen Perspektive. So erklärt er die Wortbildung mithilfe eines Werkzeugmodells: Wie ein Werkzeugmacher, etwa der Tischler, beim Verfertigen eines Weberschiffchens auf das Musterbild seines Werkzeugs (είδος, eidos) blicke, so schaue der Wortbildner auf die ίδέα (idea) und gebe sie wieder (389 b 8 - 390 a 7). Doch wer sind die Wortbildner, wenn nicht die realen Sprecher als aktive Teilhaber einer Sprachgemeinschaft und sprachmodifizierende Fortsetzer ihrer Sinn- und Ausdrucksgeschichte? Platons Werkzeugmodell enthebt uns, die geschichtlichen Wortbildner, einer Verständigung über den Sinn eines fraglichen sprachlichen Ausdrucks und seiner Abgrenzung von anderen Ausdrücken. Seine instrumentalistische und verdinglichende Wortsemantik setzt zweierlei voraus: erstens, daß Wortbildung, also Sprachentwicklung, prinzipiell einsam und kommunikationsunabhängig möglich sei, und – zweitens – daß Sprachschöpfung (bzw. Weiterentwicklung der Sprache durch Wortbildung) nach dem akommunikativen Modell des Produzierens von Dingen (hier: eines Instruments) gedacht werden kann – also in einer bloßen Subjekt-Objekt-Relation. Wenn man die urkommunikative Handlung der sprachlichen Sinnverständigung und des Definierens als ein Herstellen begreift – so, als ginge es darum, daß einer, einsam und für sich allein, ein Objekt produziere –, schneidet man sie aus der Welt der Kommunikation heraus. Es ist dieser ganz und gar subjekt-objekttheoretische und herstellungstechnische Zusammenhang, in dem Platon „als erster das Wort ‚Idee’ als ein Schlüsselwort philosophischen Denkens einführte“. Hannah Arendt pointiert, daß er damit einen Begriff zum philosophischen Terminus erhob, der „ursprünglich im Herstellen erfahren war“.237 Ganz konsequent löst Platon im „Phaidon“ und „Phaidros“ auch den anamnetischen Weg des Ideenerwerbs von der kommunikativen Sprachpraxis ab. Denn er bestimmt ihn zum einen wahrnehmungspsychologisch – die Erinnerung werde unmittelbar von der Wahrnehmung eingeleitet238 –, zum anderen entelechetisch ontologisch und erkenntnislogisch: die Erscheinungsmannigfaltigkeiten selbst strebten nach den Ideen239, auf deren Erkenntnis der Mensch wesengemäß aus sei und die er synagogisch erlangen könne240. Daß die Sprache die Sinnbasis auch für Ideen ist und der argumentative Dialog die Geltungsbasis des Denkens, hat Platon, wirkmächtig bis heute, verdrängt. 237 238 239 240 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München o.J. (zit.: Vita activa), S. 220, vgl. S. 129. Platon, Phaidon, 75 a 5 und 75 e 3ff. A.a.O., 74 d 6-75. Platon, Phaidros, 249 b 6-249 c 3 und 265 d 3-265 d 5. 97 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Einwenden mag man hier, diese Kritik stütze sich vorwiegend auf Platons optisch orientierten Rahmen, die theoria, vernachlässige aber die in diesem teils angesiedelten, teils ihm entgegengestellten dialogischen Aspekte, insbesondere die berühmte dialogbezogene Bestimmung des Verhältnisses von Denken und Reden. Nun: Zuallererst gilt natürlich, daß Verträglichkeit herrschen muß zwischen dem Rahmen und den Elementen eines Denkens. Keine zustimmungsfähige Philosophie ohne innere Kohärenz, die eine stimmige Selbstbegründung ermöglicht, eine Selbsteinholung der Einzelthesen bzw. der einzelnen Einsichten. Anderenfalls würde der Philosoph entweder mit seiner Rahmentheorie oder mit einzelnen Gedanken aus dem argumentativen Dialog herausspringen – ins Abseits. Was aber die Platonische Verhältnisbestimmung von Denken und Reden anbelangt, so hat es damit die Bewandtnis eines „Zwar – aber“: Auf der einen Seite steht die Dominanz der kosmos- und ideenschauenden Vernunft, auf der anderen der sokratische Dialogbezug. Nur, was wird aus diesem in jenem emphatisch theoretischen Rahmen? Die entscheidenden Stellen pro Denken als Dialog finden wir im „Sophistes“ und im „Theaitetos“, die beide um 365/366, vor bzw. nach Platons zweiter italienischer Reise, entstanden sein dürften. In dem späteren „Sophistes“ setzt der Fremde aus Elea zunächst Denken und Reden gleich und präzisiert dann, daß es das innere Gespräch der Seele mit sich selbst sei, was man Denken (διάνοια) nenne.241 Freilich setzt er ohne Umschweife, als ergebe sich das von selbst, eine Definition hinzu, welche sich am ehesten im Sinne eines kommunikationsunabhängigen Denkens verstehen läßt – als Erkenntnisweise, die sich der Sprache bloß als eines Mediums von Lauten und Worten bediene: „Der Ausfluß von jenem [dem Denken] aber vermittels des Lautes durch den Mund heißt Rede (λόγος).“242 Ganz ähnlich, doch differenzierter definiert Sokrates das Denken, διανοέισθαι, in dem wohl nach 365 verfaßten „Theaitetos“ als „eine Rede (λόγος), welche die Seele mit sich selbst über dasjenige durchführt, was sie erforschen will“, und zwar indem sie mit sich selbst rede (διαλέγεσθαι): sich selbst fragend und antwortend, bejahend und verneinend.243 An dieser Definition scheint in der Tat nichts auszusetzen zu sein, kann das Denken doch zweifellos als Selbstgespräch eines Denkenden vonstatten gehen. Und führe nicht auch ich in diesem Augenblick, wo ich, Dietrich Böhler, diese Erörterung verfasse, ein Selbstgespräch nach Platons Definition? Ja und nein. Natürlich bin ich in einem Selbstgespräch. Doch reicht Platons Bestimmung des Denkens als Selbstgespräch zu? ‚Ich’ 241 242 243 Platon, Sophistes, 263 c 3. A.a.O., 263 e 8f. Platon, Theaitetos, 189 e 4 und 189 e 6 - 190 a 2. 98 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie frage doch nicht einfach mich selbst, antworte nicht bloß mir selbst. Außerdem treffe ich nicht allein Ja- und Nein-Stellungnahmen. Freilich wird das Etwas-Denken noch heute häufig auf Ja- und Nein-Stellungnahmen reduziert: So spricht Ernst Tugendhat davon, daß die „Grundmodi“ des Sprachhandelns „wesensmäßig Ja/Nein-Stellungnahmen“ seien.244 Habermas und Knut Erik Tranøy lassen hingegen drei Grundmodi gelten. So konstatiert Habermas: „Die zulässigen Reaktionen [auf eine Äußerung mit Geltungsanspruch] sind Ja/Nein-Stellungnahmen oder Enthaltungen.“245 Auch Tranøys Pragmatik der Forschung hebt diese drei konstitutiven Akte hervor: „die Akte des Verwerfens, Annehmens und der Urteilsenthaltung bezüglich einer Aussage“.246 Diese traditionelle Triade übersieht eine vierte Gruppe von zulässigen Reaktionen, die Rückfragen nach Sinn und Geltung des Gesagten. Harmlos stellt sich hier zunächst die semantische Frage nach der Bedeutung des Gemeinten. Kritisch legt sich die Frage nach der Validität der Begründung nahe. Radikal kritisch können Diskursteilnehmer schließlich die Prüfbarkeit und Zulässigkeit einer Meinungsäußerung als Diskursbeitrag in Frage stellen: ist sie überhaupt ernsthaft diskutierbar? Die letztgenannte Frage ist eine diskurspragmatisch sinnkritische Reaktion. Sie drückt den Zweifel aus, ob das Gesagte überhaupt als Einlösung eines Geltungsanspruchs und damit als prüfbarer Diskursbeitrag verständlich ist, so daß es von Anderen geprüft und diskutiert werden kann. Wer so fragt, fährt gleichsam scharfes Geschütz auf. Er eröffnet eine sinnkritische Argumentation, die zu begründen hätte, daß die Rede pragmatisch nicht verstehbar ist. Was müßte eine solche Begründung leisten? Sie muß zeigen, daß die möglichen Adressaten sich zu dieser Rede nicht als Argumentationspartner verhalten können und daß, vice versa, der Sprecher diese seine Rede seinerseits nicht als Argumentationspartner entfalten und in einem Diskurs, worin nur prüfbare Diskursbeiträge statthaft sind, durchhalten kann, sondern durch seine Aussage in Widerspruch zu den Geltungsansprüchen und Anerkennungsverbindlichkeiten seiner Diskurspartnerrolle gerät. Aus der Adressatenperspektive wäre der pragmatische Sinnlosigkeitsverdacht also so zu erhärten, daß man dem Sprecher zeigt: aus seiner Rede könne ein Adressat gar nicht entnehmen, als was das Gesagte eigentlich zu nehmen sei; als Diskurspartner werde man von dieser Rede düpiert statt ernstgenommen, weil sie einem die Möglichkeit verstelle, ihren argumentativen Gehalt zu erfassen, zu prüfen und begründet 244 245 246 E. Tugendhat, Vorlesungen (1976), S. 518, vgl. 76f, 242f, passim. J. Habermas, Theorie d. kommunik. Handelns, I (1981), S.65. K.E. Tranøy, Pragmatik der Forschung, in: D. Böhler u. a. (Hg.), Die pragmatische Wende (1986), S. 3654, hier: S. 40f. 99 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Stellung zu beziehen. Kurz: das Gesagte sei kein Diskursbeitrag; der Sprecher springe damit aus dem Dialog der Argumente heraus – insofern disqualifiziere er sich und mißachte die Diskurspartner-Rechte. Eine derartige Begründung zieht ihre sinnkritischen Argumente aus dem Diskurs, verstanden als Sinnzusammenhang von Geltungsansprüchen und Gründen zu deren Einlösung – mithin zugleich als Anerkennungszusammenhang von Partnern; denn allesamt haben sie die Diskursrolle eingenommen und dadurch die diskurstragenden Verbindlichkeiten auf sich genommen. Die Begründung des pragmatischen Sinnlosigkeitsverdachts ist eine praktische Begründung aus dem Dialog der Argumente. So begründbar, ist das Geltendmachen eines Sinnlosigkeitsverdachts völlig legitim, ja zur Rettung des Diskurses erforderlich. Es wäre geradezu riskant und gefährdete die Dialog- und Denkkultur, wenn man diese u.U. ganz legitime sinnkritische Reaktionsmöglichkeit übergeht, weil man, wie etwa Habermas, nicht nachfragt, ob eine Urteilsenthaltung wirklich immer zulässig ist bzw. wann sie unzulässig wird. Ist letzteres nicht zumindest dann der Fall, wenn sich hinter der Enthaltung die Weigerung verbirgt, auf das Verhältnis von Geltungsanspruch und propositionalem Gehalt eines Diskursbeitrags zu reflektieren? Denn das käme der Verweigerung gleich, Rechenschaft darüber abzulegen, ob sich das inhaltlich Gesagte überhaupt mit der selbst beanspruchten Rolle eines Partners im argumentativen Dialog vereinbaren läßt. Dann läge eine Selbstimmunisierung gegen dialogische Sinnkritik vor: der Diskursteilnehmer zeigte, daß er nicht bereit ist, seine Verpflichtungen als Diskurspartner ins Auge zu fassen und sie zu befolgen. Sowohl Platons Bestimmung des Denkens als Selbstgespräch wie auch Tugendhats satzsemantische Verengung der Grundmodi des Sprachhandelns auf Ja- und Nein-Sätze und Tranøys bzw. Habermas’ Anerkennung von nur drei zulässigen Stellungnahmen verkürzen die zum Teil moralisch geladene, weil mit Diskurspartner-Pflichten verwobene, kommunikative Geltungsdimension der Pragmatik, welche der sachbezogene Sprecher zwar im Rücken läßt, von denen der Sinn des Gesagten aber getragen wird. Im puren Sachbezug konzentriert sich ein Sprecher auf die satzsemantischen und pragmatisch semantischen Aspekte des Sprachgebrauchs; man verengt den Blickwinkel auf den (assertorischen) Satz als Ensemble propositionaler Ausdrücke, die, wie Wittgenstein festhält, „bipolar“ sind.247 Nur im Zuge einer Ausblendung der Pragmatik kann man überhaupt annehmen, daß unser Sprachhandeln wesentlich aus Ja- und Nein-Stellungnahmen bestehe. Fassen wir zusammen: 247 L. Wittgenstein, Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1960, S. 188. 100 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Hinsichtlich des Sachbezugs der Rede ist der Blick auf das (Zu-sich-selber-)Ja-oder-NeinSagen zu erweitern durch eine Berücksichtigung der schon erwähnten beiden anderen Redeweisen. Einmal können Sprecher im Dialog auch mit einer Urteilsenthaltung reagieren. Dann lassen sie die Wahrheit oder normative Richtigkeit einer Rede dahingestellt sein248: als unentschieden oder moratorisch oder gar als unentscheidbar. Weitaus signifikanter für das Denken als argumentativen Dialog sind freilich die Verständigungs- und Begründungsfragen. Deren Spektrum reicht von der einfachen Erläuterungsbitte, wie das Gesagte zu verstehen sei, über die Forderung nach Angabe von Gründen für eine Behauptung bis zum sinnkritischen Zweifel an der Nachvollziehbarkeit der Rede als eines prüfbaren Diskursbeitrags. Es ist der letztgenannte, der pragmatisch kritische Fragetyp, der tief im Sokratischen Elenchos angelegt ist, praktiziert er doch ein sinnkritisches Rückfragen, das den Proponenten bei seiner Rolle als Diskurspartner packt – und letztlich die Vereinbarkeit seiner aktuellen These mit dieser Rolle in Zweifel zieht. Da das Denken nicht als einsames Selbstgespräch vonstatten geht, sondern als trans- und intersubjektives Erheben und Prüfen von Geltungsansprüchen, einen geltungsbezogenen Diskurs eröffnend oder fortsetzend, eignet ihm die eigentümlich reflexive und horizontöffnende Möglichkeit, Sinnkritik zu üben. Davon hat schon Sokrates schon einen gewissen Gebrauch gemacht. Allgemein gilt: wenn ein Elenchos zur Selbstaufhebung einer These führt, indem er zeigt, daß sich eine Position nicht als Diskursbeitrag verstehen und durchhalten läßt, dann handelt es sich um eine dialogpragmatische Sinnkritik. Diese radikal kritische Option steht jedem Diskurspartner offen. Da jeder, der über etwas nachdenkt, den dadurch angestrengten Erkenntnisprozeß nur durchführen kann, indem er sich an den Geltungsansprüchen messen läßt, die seinen Erkenntnisprozeß tragen, hat er auch – für die Anderen und für sich selbst – die Möglichkeit einer diskurspragmatischen Sinnkritik. Weil er mit Ansprüchen auf Geltung seiner Gedanken gegenüber Anderen und sich selbst hinsichtlich seiner Erörterung einer Sache bzw. Situation nachdenkt, provoziert er auch Fragen zweiter Ordnung: sinnkritische Fragen, die sich auf die Verstehbarkeit seiner Rede als einer dialogischen Handlung zur Einlösung der charakteristischen Geltungsansprüche beziehen. Zum Beispiel kann der Geltungsanspruch auf Verständlichkeit die Erläuterungsfrage auslösen, wie das Gesagte denn genau gemeint sei; und ‚mein’ Gegenüber kann ‚mir’ entgegnen: „diese Aussage(n) habe ich nicht verstanden“. Und die eigentlichen Gültigkeitsansprüche auf Wahrheit der Sacherörterung und Richtigkeit bzw. Legitimität der implizierten Normen können die sinnkritische Reaktion hervorrufen: „diese deine Behauptung 248 Vgl. K.E. Tranøy, in: D. Böhler u. a. (Hg.), Die pragmatische Wende (1986). 101 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie kann ich gar nicht als Diskursbeitrag verstehen, weil ihr propositionaler Gehalt Geltungsansprüchen zuwiderläuft, die du als Diskurspartner ins Spiel gebracht hast. Ich kann sie nicht als Diskursbeitrag verstehen, weil sie nicht prüfbar, mithin im argumentativen Dialog sinnlos ist.“ Solche typischen Diskursakte sind eben weder Ja-oder-Nein-Stellungnahmen noch Urteilsenthaltungen, sondern fragende Entgegnungen, die den Sprecher mit tragenden Ansprüchen seiner Rolle als eines Diskurspartners konfrontieren. Sie bringen keine Meinung des Opponenten über die Sache ins Spiel; vielmehr erinnern sie den Proponenten an seine diskurskonstitutiven Verpflichtungen, die er dadurch eingegangen ist, daß er sein Gedachtes/Gesagtes geltend macht und damit die Rolle eines Partners im Diskurs übernommen hat. Fragen dieser Art setzen den sozialen und daher normativ geladenen Anerkennungs- und Handlungszusammenhang gegenüber einem Sprecher und dessen These in sein Recht. Uno actu machen sie – durch den normativen Basisgehalt der gemeinsamen Institution Diskurs legitimiert und mandatiert – ihre Diskursrechte gegen den Sprecher geltend. Platons Definition des Denkens als Selbstgespräch der Seele verdeckt diesen sozialen und normativen Handlungszusammenhang des Diskurses. Sie blendet aus, daß sowohl die Ja-undNein-Stellungnahmen als auch die ausgeklammerten sinnkritischen Entgegnungen immer zugleich logische und normativ soziale, nämlich dialogische Akte sind. Durch sie beziehe ‚ich’ mich sowohl auf mögliche konkrete Andere – jetzt z.B. der Autor dieses Buches auf Platon, Tugendhat und Habermas – als auch auf alle möglichen Anderen. Zu diesen zählen Sie, meine Leserin, mein Leser, ebenso wie jedes andere intelligente Kommunikationswesen, das meine Fragen, meine Thesen verstehen und beurteilen könnte. Inwiefern und warum? ‚Ich’ kann, wenn ‚ich’ etwas denke (oder ‚du’ etwas denkst), mich gar nicht anders verhalten als so, daß ‚ich’ (resp. ‚du’) sowohl die Verstehbarkeit als auch die mögliche Gültigkeit meines Versuchs im ganzen und seiner einzelnen Schritte beanspruche – gegenüber bestimmten realen Anderen, über deren Thesen ‚ich’ rede, aber auch allen möglichen Anderen gegenüber. Wenn wir uns auf einen sinnkritischen sokratischen Dialog mit einem Skeptiker einlassen, der das Gegenteil zu behaupten versucht, erkennen wir leicht, daß eine Bestreitung (oder auch nur eine Bezweiflung) des sozialen Verhältnisses der Geltungsansprüche eine sinnlose Behauptung ist. Sinnlos, weil für Andere und für mich selbst nicht mehr verständlich als Rede, die man aufnehmen bzw. in ihrem Sinn nachvollziehen und hinsichtlich ihrer Wahrheits- oder Richtigkeitsfähigkeit beurteilen kann: ohne Verstehbarkeitsanspruch 102 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie bestünde keine Fragemöglichkeit, wie ein Gesagtes genau gemeint sei; und ohne Gültigkeitsanspruch hätten wir keinen Anhaltspunkt, von dem Sprecher Gründe (oder bessere Gründe) für seine These zu verlangen, und ebenso fehlte uns das Mandat, seine These zu kritisieren und ihn in eine kritische Prüfung zu ziehen. Kurzum, ohne Geltungsansprüche könnten wir keinen Diskurs mit einem Sprecher führen – und ebensowenig er mit sich selbst. Wir wüßten nicht, worüber wir mit wem diskutieren könnten. Eine Diskussion könnte es nicht geben. Nun müßten wir uns noch zweierlei klarmachen: wer zu den realen Anderen gehört, auf die ‚wir’ uns als Diskursteilnehmer mit Geltungsansprüchen von vornherein beziehen; und warum ‚wir’ uns mit unseren Geltungsansprüchen – um Himmels willen – auf alle möglichen Argumentationssubjekte und deren Argumente müssen beziehen sollen. Zum ersten Punkt: Es leuchtet ein, daß der Sprecher seine Geltungsansprüche denen gegenüber erhebt, mit denen er sich auseinandersetzt, hier vor allem gegenüber Platon. Doch damit sei, so mag man annehmen, der Kreis der realen Kommunikationssubjekte, auf die sich ein Diskursteilnehmer beziehen muß, auch erschöpft. – Nein, weit gefehlt. Bedenke doch, daß du, indem du eine bestimmte Sprache sprichst, an der gesamten Gemeinschaft derer teilnimmst, die diese Sprache bis auf den heutigen Tag gesprochen haben und sie dadurch mitgebildet haben; du setzt diese Sprachkultur fort und sprichst auf ihren Wegen weiter. Also beziehst du dich implizit auf eine empirisch kaum begrenzbare reale Kommunikationsgemeinschaft, z.B. auf die Gemeinschaft aller, die bislang deutsch gesprochen haben. Dieser reale Traditions- und Gemeinschaftsbezug bildet die Sinn vermittelnde geschichtlich pragmatische Dimension, die die Rede immer schon im Rücken hat: Etwas als etwas Bestimmtes meinend bzw. sagend, zehren wir von dem lebensweltlichen Hintergrund tradierten und mehr oder weniger institutionalisierten Sinns.249 Als Mitglieder einer umgangsund bildungssprachlichen, real geschichtlichen Kommunikationsgemeinschaft oder mehrerer Sprachgemeinschaften, schöpfen wir mit jedem Satz aus dem Sinnreservoir, das die Sprecher ganzer Generationenketten angesammelt haben. Mit ihnen sind wir unausdrücklich verbunden; sie begleiten uns als unsere impliziten Mitsprecher, wenn wir laut oder leise reden, in Gespräch oder Selbstgespräch, vom Assoziieren bis zum Argumentieren. So ergibt sich schon aus diesem Grund, nämlich aus der geschichtlichen Traditionsvermitteltheit unseres möglichen Redens und Etwas-Denkens, auf die der rhetorische Humanismus und das hermeneutische Sprachdenken (etwa Humboldt, Gadamer, 249 D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), S.360ff. 103 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Apel) aufmerksam machen, daß unser Etwas-Denken nicht einfach ein Selbstgespräch unserer Seele mit sich ist, sondern ein Selbstgespräch in hintergründiger Kommunikation mit Anderen, die aus unseren Traditionszusammenhängen gewissermaßen mitsprechen. Das heißt: Auch wenn unsere Gedanken überhaupt nicht ausdrücklich auf Andere Bezug nehmen, sind sie (und durch sie wir selbst) im vorhinein auf reale Andere aus Geschichte und Gegenwart bezogen. Dieses kommunikative Vermitteltsein unserer Gedanken und unserer selbst läßt sich mit Apel als „das Apriori der realen Kommunikationsgemeinschaft“250 einer intersubjektiven Sinnverständigung durch geschichtliche Sprachen begreifen und mit Hans-Georg Gadamer als „das Prinzip der Wirkungsgeschichte“251. Aus diesem philosophisch- bzw. transzendental-hermeneutischen Grund, nämlich aus dem „apriorischen Perfekt“ (Heidegger) der Sinnvermitteltheit möglicher Rede folgt bereits, daß ein Selbstgespräch bloß als defizienter Modus einer intersubjektiven Sinnverständigung begriffen werden kann – mithin nicht als Paradigma des Etwas-Denkens taugt. Dieses Paradigma ist vielmehr in dem argumentativen Dialog mit dessen geschichtlichem Kontext zu suchen, also im Blick auf die sprachliche Sinn- und Traditionsvermittlung. Darauf weist die nachfolgende Abbildung mit der unteren geschweiften Klammer hin; insgesamt veranschaulicht sie die Dimensionen der Zeichenverwendung (Semiose), indem sie die drei von Charles W. Morris unterschiedenen semiotischen Dimensionen, die semantische, die syntaktische 250 251 und die umgreifende pragmatische, weiter differenziert. Vgl. K.-O. Apel, Transf. d. Philos., II (1973), S. 338ff, 397-435, 178-219 und Transf. d. Philos., I (1973), S. 22-76. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (1965), S. 250-290, 324-395. 104 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Die semiotischen Sinn-Dimensionen des Über-Etwas-Redens bzw. Etwas-Denkens dialogisch-pragmatische Dimension: Primat d. Geltungsansprüche u. Geltungsrechtfertigung – „Apriori d. idealen Kommunikationsgemeinschaft“ S2, 3, ... referentiell-semantische Dimension: Situations- bzw. Sachbezug pragmatisch-semantische Dimension: Wortgebrauch Z Z SxÆ∞ Z Syntaktische Dim.∗ Sit Z S1 Z Sn, n 1, n 2, ... geschichtlich-pragmatische Dimension: Prius der lebensweltlich-kulturellen Vermittlung u. Institutionalisierung von Sinn – „Apriori der realen Kommunikationsgemeinschaft“ Erläuterungen: Sit Z S1 Situation bzw. Sache Sprachzeichen Sprecher als über etwas (Sit) nachdenkendes (oder auch in Bezug darauf handelndes) Subjekt faktische Argumentations- und Kommunikationsgemeinschaft, auf die sich S1 bezieht S1 _____________ Z pragmatisch-semantische Dimension der Sprachverwendung eines Sprechers/Denkenden dialogisch-pragmatische Dimension der Voraussetzung bzw. Erhebung S1 -----Z ------S2 / SxÆ∞ und Prüfung von Geltungsansprüchen im Diskurs S2, 3, ... Z .............................. Sn, Sn1, n2 ... geschichtlich-pragmatische Dimension der Traditionsvermittlung und Institutionalisierung von Sinn Sn, Sn1, n2 ... lebensweltliche Sprach- und Kulturgemeinschaft, von der jeder schon Sinn und Bedeutung übernommen hat ∗ Das Schema gibt der Einfachheit halber die syntaktische Dimension nur einmal wieder; diese wäre überall dort, wo „Z“ (für Sprachzeichen) steht, mitzudenken. Denn ein sprachlicher Ausdruck (Zeichen) verweist immer auf einen sprachlich ausdrückbaren Kontext, aus dem er (es) nur in Bezug auf andere verständlich ist. 105 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie S xÆ ∞ kontrafaktische Argumentationsund Kommunikationsgemeinschaft als Beurteilungsinstanz für Geltungsansprüche von S1, und S2, S3, ... 106 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie Für die Auseinandersetzung mit Platons Definition des Denkens als Selbstgespräch der Seele ist die, in der Abbildung getroffene, Unterscheidung der „geschichtlich-pragmatischen SinnDimension“ von der „dialogisch-pragmatischen Geltungsdimension“ von besonderer Bedeutung. Denn beide Begriffe verweisen auf einen in gewisser Weise eigenständigen Aspekt des Kontextes der möglichen Rede, der sich jedoch auf den anderen Aspekt intern bezieht. Inwiefern? Argumente, für die wir als Denkende bzw. als Diskursteilnehmer Geltung beanspruchen, blieben leer und semantisch unverständlich ohne den Kontext einer realen Sprach- und Traditionsgemeinschaft, aus der sie erst den sprachlichen Sinn und die Wortbedeutung beziehen. Umgekehrt müßte die sprachgemäße Wortverwendung, Sinnübernahme und Sinnschöpfung in Sprechakten blind und rechtfertigungsunfähig, also bloß willkürlich oder gänzlich heteronom bleiben, wären sie nicht verknüpft mit tragenden Geltungsansprüchen, hinsichtlich derer die Behauptungen (und die als sinnvoll etc. behaupteten Fragen), überprüft werden könnten. Den von einer Rede nicht abzuziehenden Geltungssinn, der den Mitdenkenden, darunter dem Sprecher selbst, erst das Mandat der Kritik vermittelt, hat Platon zweifellos gedacht – so im Begriff des richtigen Logos (ορθός λόγος, orthos logos) und im Begriff der Idee. Nicht zuletzt damit hat er dem europäischen Denken einen kritischen Impetus, ja eine kritische Gesinnung übermittelt. Doch siedelt er diese, die Denkenden zur Kritik seines Etwas-Meinens und Sagens anhaltenden Begriffe einfach in der Beziehung des Denksubjekts auf den gedachten, und zwar intelligiblen Gegenstand an – übertragen auf unser semiotisches Schema: in der metaphysisch überhöhten referenzsemantischen Dimension der reinen Strukturen und Muster bzw. „Paradigmen“. Damit verdeckt er „das eigene Wesen der Sprache“ (Gadamer) gründlich.252 Wieso? Er ignoriert den zweifachen Gemeinschaftsbezug der Sprache als Rede, genauer: das zwiefache soziale, dialogische, daher mehrstellige Verhältnis zwischen einem Denk- bzw. Redesubjekt und anderen solchen Subjekten. Es ist eingelagert in den Sachbezug des Denkens/Redens, und es trägt diesen, indem es sowohl Bedeutung als auch Geltung ermöglicht. Sein Modell ist nicht die Teilnahme an einer Gemeinschaft und deren Diskurs, es ist das je einsame Schauen eines Bildes bzw. eines Musters oder der Gestalt eines herzustellenden Dinges, so wie er es im X. Buch der „Politeia“ am Handwerkermodell erläutert.253 Geleitet und verführt vom Schein der theoria-Metapher, die das Etwas-Denken nicht als Verständigung über Sinn und als Kooperation über Geltung (Wahrheit und Richtigkeit), 252 253 So H.-G. Gadamer, a.a.O., S. 385. Platon, Politeia, 595 c 7 - 597. 107 Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie sondern als einsam mögliches Erschauen unterstellt, verharrt Platon in einer Subjekt-ObjektRelation, die als solche bloß zweistellig ist. Infolgedessen überspringt Platon neben der Sinnbeziehung des Gesagten auf eine reale geschichtliche Kommunikationsgemeinschaft auch die Geltungsansprüche eines Gedankens als Diskursbeitrag, also die Geltungsbeziehung einer Rede auf das ideale Diskursuniversum. Dieses ist freilich ein regulatives Prinzip: Inbegriff eines Diskussionsforums, auf dem einzig sinnvolle Diskursbeiträge zählen würden und wo alle, samt und sonders alle, sinnvollen Argumente zur Sache die gehörige Berücksichtigung fänden. Wer an die ewigen Seins-Ideen glaubt und vermeintlich den Zugang zu ihnen besitzt, bedarf einer solchen regulativen, daher zur Selbstkritik auffordernden Geltungsinstanz nicht. Er ist sich des Wahrheitsbesitzes sicher. 108