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Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
Zum Menschenbild im Zeitalter des „Human-Genom-Projektes“.
Oder: Welche christlichen Ideen über den Menschen sind im Pluralismus
argumentationsfähig?
Innovation von Sinn-Orientierung
in der Gegenwart
Das notwendige Zusammenspiel zwischen Funktionswissen (warum? wie?) und
Orientierungswissen (wozu?) ist angesichts neuester Entwicklungen vor allem in der
anthropologischen Forschung keineswegs überholt. „Wir leben im Zeitalter der vollkommenen
Mittel und der vollständig verwirrten Ziele“, formulierte Einstein. Zweifellos sind Umfang und
Ansehen der Funktionswissenschaften in den letzten Jahrzehnten gewachsen - parallel zum
Schwinden der Sinnvorgaben, die im Orientierungswissen weitergegeben werden. Dazu kommt,
daß das Methodenideal der Naturwissenschaften auf die Geisteswissenschaften seit langem abfärbt:
So hat der analytische Umgang mit Sprache den Zugang zu Symbolen und Metaphern erschwert
und den Verdacht gesät, Sprache sei nur ein „Spiel“ über der (unaussagbaren) Wirklichkeit; eben
dieses Sprachspiel lasse sich aber dekonstruieren und beliebig neukonstruieren, solange man den
Typus der verwendeten Logik angebe. Unter den oben ausgeführten Auspizien und Beispielen wird
die Bedeutung des Orientierungswissens allerdings unabweisbar. Wie kann die Sinn-Ressource von
Religion, genauerhin des Christentums, (wieder) zum fruchtbaren Gegenüber von Technik, und das
meint auch zum fruchtbaren und herausfordernden Gesprächspartner innerhalb der postsäkularen
Gesellschaft werden? Die Möglichkeiten dafür sind durchaus gegeben, greifen wir nur das
gegenwärtig bedeutendste, die Öffentlichkeit aufstörende Beispiel heraus: den Umgang mit
menschlichem Erbgut.
Heutige Gentechnik, zumindest in ihren seit mehreren Jahren angekündigten Fort-Schritten, will die
Gensequenzierung nicht nur theoretisch entschlüsseln, sondern sie auch zur Handhabung oder
„Optimierung“ des Menschen zur Verfügung stellen. An diesem Wunsch muß sich das Nachdenken
entzünden. 1999 tobte in den bedeutenden deutschen Feuilletons ein Streit, ob das Ende des
europäischen Humanismus gekommen sei und die „Anthropotechnik“ die Zügel der Zukunft in die
Hand nehmen solle - gar von „Menschenpark“ in Anlehnung an den Tierpark war positiv (!) die
Rede.1 Zwar wurden solche Vorstellungen von bedeutenden Vordenkern der deutschen Philosophie
wie Jürgen Habermas und Robert Spaemann2 ziemlich gnadenlos kritisiert, doch deuten die Zeichen
der Zeit dennoch in diese Richtung. (Ein Seitenzweig dieser Fragen war der Streit, höflicher gesagt,
der Diskurs im Nationalen Ethikrat in Berlin, der für die Forschung an embryonalen Stammzellen die unter Tötung von Embryonen gewonnen werden - Empfehlungen abgab, allerdings gegen ein
beträchtliches Minderheitenvotum von zwei Fünftel. Forschungsziel, freilich sehr vage, ist hierbei
die bessere Medikation von Kranken, allerdings unter Inkaufnahme des „wissenschaftlichen
Verbrauchs“ von Embryonen. Damit ist u. a. der Grundsatz verletzt, daß Forschung dem
Erforschten zugutekommen müsse.)
Ein empfindliches Gebiet der Sinnverflüchtigung sind nämlich nicht nur die „Erzählungen von
1
Ausgelöst durch die „Elmauer Rede“ von Peter Sloterdijk im Sommer 1999 mit der Überschrift „Regeln für den
Menschenpark“. Dokumentiert sind 20 der wichtigsten, überwiegend kritischen Stellungnahmen aus der ZEIT, der FAZ
und dem Merkur in: ZEIT-dokument 2 vom November 1999, 62 S.
2
Grundlegend zu Personbegriff: Robert Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‘etwas’ und
‘jemand’, Stuttgart (reclam) 1996.
Gott“, sondern ohne Zweifel auch die Anthropologie.3 Ihre drei europäischen Grundmuster sind
markant aufzählbar: die griechisch-römische Antike, die Bibel, welche diese Antike anverwandelt,
und deren „säkulares Kind“, die Aufklärung (die in ihren Grundbegriffen wie Mündigkeit,
Vernünftigkeit, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit etc., trotz ihres unleugbar atheistischen
Einschlags, auf biblische Impulse zurückgeführt werden kann). Antike, Bibel und Aufklärung
können tatsächlich als die Pfeiler der europäischen Anthropologie gelten. Es ist wichtig, auch den
Aufklärungsschub zu betonen, stellt er doch in der Anthropologie weit eher eine Fortsetzung des
biblischen Grundgedankens dar als dessen Bestreitung. Immanuel Kants Formel von der
„Selbstzwecklichkeit“ des Menschen, der keinen fremdbestimmten Zwecken geopfert werden dürfe,
steht in Nachfolge der nicht minder großen Formel des Paulus: „Es ist nicht Jude, nicht Grieche,
nicht Sklave, nicht Freier, nicht Mann, nicht Frau“ - aufgrund der Zugehörigkeit zu Christus
nämlich4. Diese Freiheit von der Macht der sonstigen nationalen, sozialen und anthropologischen
Unterschiede wird in die Moderne weitergegeben, freilich als Säkularat, aber doch in der
rechtsstaatlichen Demokratie unschwer als eine späte Frucht solchen Denkens zu erkennen. Dazu
kommt: Das Christentum hat (fast als einzige Religion) nicht eine Sippenethik oder Gruppenethik
entworfen, die das Verhalten in der Wir-Gruppe regelt und Nichtzugehörige ausschließt vom
ethischen Verhalten, sondern die Bergpredigt stellt eine Universalethik vor unter dem Gedanken
gleicher Menschlichkeit, eine inklusive Ethik also.
Eben dieses Verständnis ist heute im Wanken, ja wird als Bremse eines Fortschreitens empfunden.
Die verbrauchende Embryonenforschung, in Deutschland noch verboten5, aber in der politischen
Durchsetzungsphase und mit Namen aus hohen Forschungsinstitutionen aufgeladen wie dem MaxPlanck-Institut und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, beabsichtigt, Embryonen nur zu dem
Zweck zu erzeugen, um sie wissenschaftlich auszuwerten und dabei zu verbrauchen - eine bislang
ethisch untersagte Zwecklichkeit oder Funktionalisierung für die Interessen anderer. Nun ist es
wichtig, den Einwand dagegen auf die Grundlage von antikem, biblischem und aufklärerischem
Ethos zu stellen, damit er nicht als schlankweg fortschrittsfeindlich, prämodern oder einem falschen
Begriff des Natürlichen aufgesessen denunziert werden kann. Denn es ist ja nicht zu leugnen, daß
das Christentum selbst, auf der Grundlage des Judentums, eine Technisierung und Meliorisierung
der Welt möglich gemacht hat.
Sinn des Leidwesens Mensch?
Trotzdem bleibt offenbar unvermeidliches Leid, das sich einer schnellen oder auch technischen
Antwort versperrt. Worin liegt der Ursprung der Philosophie? Im „Gewahrwerden der eigenen
Schwäche und Ohnmacht“, formulierte der Stoiker Epiktet im Widerspruch zur bekannten und
schöneren platonischen Rede vom thaumazein, dem Staunen. Karl Jaspers, nicht nur Philosoph,
sondern auch Psychiater, erinnert mit Epiktet an die gemeinhin im Alltag überbrückten
verstörenden Tatsachen, die abstrakt beschwichtigt „die menschliche Lage“ heißen, la condition
humaine also, die aber unverblümt betrachtet plötzlich mit solchen Sätzen anspringt: „ich muß
sterben, ich muß leiden, ich muß kämpfen, ich bin dem Zufall unterworfen, ich verstricke mich
3
Einschlägige Literatur: Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief
über den Humanismus, Frankfurt/Main 1999. - Heinrich Rombach, Strukturanthropologie. Der menschliche Mensch,
München 1987. - Eberhard Schockenhoff, Ethik des Lebens. Ein theologischer Grundriß, Mainz 1993. - Ulrike Kostka,
Der Mensch in Krankheit, Heilung und Gesundheit im Spiegel der modernen Medizin. Eine biblische und theologischethische Studie, Münster 2000.
4
Gal 3, 28.
5
Am 30. 1. 2002 hat der Deutsche Bundestag dem Import von embryonalen Stammzellinien (aus vorher getöteten
Embryonen) bis zu einem Stichtag zugestimmt, bisher aber die neue Tötung von Embryonen zu Forschungszwecken
nicht erlaubt.
2
unausweichlich in Schuld.“6 „Unzuverlässigkeit allen Weltseins“7 klingt genauer und härter, als es
der Alltag liebt. Daher: „Auf [solche] Grenzsituationen aber reagieren wir entweder durch
Verschleierung oder, wenn wir sie wirklich erfassen, durch Verzweiflung und durch
Wiederherstellung: wir werden wir selbst in einer Verwandlung unseres Seinsbewußtseins.“8 Daß
Verlorensein in Sinn umgewandelt werden kann, wäre freilich eine große Lösung - wie könnte sie
gelingen?
Legen wir zunächst eine gleichsam anthropologisch-archäologische Schicht frei (Gustav René
Hocke sprach von der Speläologie, der „Höhlenforschung“ des Anthropologen im Höhlenlabyrinth
des menschlichen Geistes9). Bei tieferem Schürfen tritt darin zutage ein menschliches Urleid:
verursacht vom Zwiespalt zwischen der Erfahrung der Endlichkeit und ihren häßlichen,
kleinmachenden Eigenschaften und dem Wunsch nach schönem, gesundem, erfülltem Dasein.
Eduard Seidler10 sprach von der Furcht des Menschen vor seiner eigenen Ungestalt (mit Verweis
auf die ungestalten Wasserspeier an den gotischen Kathedralen, die den Charakter der Abwehr und
Beschwörung hätten); „Mängelwesen Mensch“ hieß es nüchterner bei Arnold Gehlen. Anders: Die
Anthropologie trifft auf das eingewurzelte menschliche Leid am krummen Wuchs, wie Nietzsche
ihn nennen würde, der einer der Verkünder des „prachtvollen Tieres“ als des urwüchsigen
Menschen war. „Adler und Panther“ stehen bei ihm als Vorbild des naiv-vitalen, gelungenen
Menschen, und die Schwächlichen und Verletzten, dem Leben nicht Gewachsenen seien dessen
Beleidigung. Aber: Das Krumme ist die Zukunft des Geraden, das Schwache steht mit Sicherheit
am Ende jeder Stärke.
Die markigen Sätze der Lebensphilosophie Nietzsches rühren freilich einen geradezu
archetypischen Instinkt an und haben ohne Zweifel auch nicht einfach Unrecht: daß es besser wäre,
gesund als krank zu sein, oder um es mit dem gängigen Slogan auszudrücken: besser reich und
schön als arm und häßlich. Aber die Normalität lautet gerade umgekehrt: Gebrochensein ist
konstitutiv für alles Menschliche, und dies nicht willensabhängig, sondern unvermeidlich. Wir
sterben nicht, weil wir zufällig etwas Widrigem zum Opfer fallen, sondern weil wir sterblich sind.
Wenn nicht gleich für den Anfang, so gilt doch für das menschliche Ende das „Hobellied“
Ferdinand Raimunds: „Das Schicksal setzt den Hobel an/Und hobelt’s beide gleich“11 - nämlich den
Gesunden wie den Kranken ins Sterbenmüssen, in die unansehnliche Waagerechte. „Es gibt in der
Welt einen sehr alten Aufrührer und Volksverhetzer, der selbst in die vornehmste Abgeschiedenheit
mit der erhabenen Nachricht einbricht, daß alle Menschen Brüder seien [...] dieser Gleichmacher
auf seinem fahlen Pferde“.12 „Leidwesen Mensch“ nennt der Bochumer Biochemiker Herbert
Schriefers diese Grundbefindlichkeit, unter streng naturwissenschaftlicher Betrachtung der
Endlichkeit. Jeder Stoffwechsel ist ja auf Verzehr und Verbrauch aufgebaut, daher selbst wieder
anderem Verzehr zuzuführen.13 Nur das Unlebendige kann nicht sterben.
Anthropologisch meldet sich daher die ewig wurmende Frage: Warum ist das menschliche Leben so
defizitär angelegt? Und wenn es schon so ist, sollte man ihm nicht entkommen dürfen? Wer würde
6
Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, in: Jaspers, Was ist Philosophie? Ein Lesebuch, München (dtv) 1980, 41.
Ebd.
8
Ebd., 40f.
9
Gustav René Hocke, Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchemie und esoterische Kombinationskunst, Reinbek
1959, 11.
10
Medizinhistoriker aus Freiburg.
11
Ferdinand Raimund, Lied des Valentin aus: Der Verschwender, in: Raimunds Werke in einem Band, Berlin/Weimar
1980, 316.
12
Gilbert Keith Chesterton, Father Browns Einfalt, dt. v. H. W. Haeffs, Zürich 1991, 59f.
13
Herbert Schriefers, Leidwesen Mensch, in: V. Becker/H. Schipperges (Hg.), Krankheitsbegriff, Krankheitsforschung,
Krankheitswesen. Wissenschaftliche Festsitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften zum 80. Geburtstag
von Wilhelm Doerr, Berlin u. a. (Springer) 1995, 77 - 91.
7
3
schon leichter Hand oder auch heuchlerischen Sinnes zum Leiden raten wollen? Bedrängend wird
die Frage aber dann, wenn im Zuge solchen Mitleids, ja unter Berufung auf das Mitleid nicht das
Leiden, sondern der Leidende abgeschafft wird. Und eben dies bahnt sich heute ausgesprochen an,
unter der Frage nämlich: Darf man einem kranken Kind sein eingeschränktes Leben zumuten? Muß
man nicht aus Humanität einem Behinderten seine Behinderung ersparen?14 Übrigens auch einem
Sterbenden sein Sterben? Einem Trauernden seine Tränen, einem Dürstenden seinen Durst, so
könnte man fortfahren... Sind Trauer, Durst, Leiden nicht sinnlos?
Es gibt eine ganze Religion, die sich ausschließlich auf die Frage nach dem Leiden konzentriert und
wie man ihm entrinnen könne: die aus dem Schock des jungen, verwöhnten Prinzen Gautama
Buddha entstandene Technik, sich in der unnachgiebigen Schulung des Gleichmuts dem Leiden zu
entziehen. „Leben ist Leiden“, so die Erkenntnis des Buddha in der großen Lehrrede im Tierpark
von Benares.15 Die langgesuchte Erleuchtung gipfelt in der Vermeidung des Leidens = Lebens kraft
Erlöschen allen Lebensdurstes. Freilich nicht, indem der Durst durch heftiges Austrinken aller
Genüsse gestillt wird, sondern umgekehrt: indem der Durst selber stirbt - lange bevor das Leben
selber stirbt. Das Lebens-Verlangen wird auf achtfachem Pfad ausgelöscht, Liebes und Leides
gelten gleich viel (und wenig) auf dem kunstvoll abgedämpften Resonanzboden des Gemütes. Diese
Kunst der Gleich-Gültigkeit wird für Gautama Buddha und den ihm folgenden Hinayana höchste
Lebenskunst, die das endgültige Zeitverlassen vorbereitet. Die klassische Totenkopf-Meditation des
Zenbuddhismus läßt den eigenen Schädel durch die Scheinhülle des lebendigen Gesichts spürbar
werden.16 Leben oder Sterben ist Kunst der Zeitlöschung, letztes Herausziehen der noch
verbliebenen Wurzeln aus dem Boden des Daseins, glückhafter Übergang ins Nichtmehrsein.
Sterben ist Verwehen in den „Duft“ des Nir-Wana, ohne Wiederkehr zu lastender neuer Geburt,
ohne Eigensein, ja ohne Sein oder Zeit.
Diese Frage, warum denn das Leben der unleugbaren Erfahrung nach mit Leiden zu tun habe, öffnet
den Horizont, der für jede Gesellschaft und für den einzelnen in ihr zu bestehen ist - insbesondere
wenn das Leiden aus einer allgemeinen, ich-fernen, regel-recht abgepufferten Beobachtung zu einer
persönlichen Erfahrung wird. Schwer wird es, darauf die eigentlich gemäße Antwort zu geben, und
sie leitet sich nicht aus der „Herstellung und Selektion gesunden Lebens“ ab. Wo liegt der Sinn des
„Leidwesens Mensch“? Wie weit ist es möglich, eine Kultur zu entwickeln aus dem „halb
zögernden, halb beschwörenden Gedanken, daß wir vielleicht in Zusammenhängen leben, wo die
erlittene Sinnlosigkeit mehr Sinn hat als alle rundum anerkannten Ziele und Zwecke“?17
Melancholie der Erfüllung
Aber gibt es nicht auch das „kleine“ Glück: ein Ankommen und beseligtes Innehalten im
Alltäglichen? Fluchtlinien des Daseins sind zwar der Analyse nach grundlegend und erlauben kein
Entkommen; dennoch entsprächen sie nicht dem Daseinsgefühl im Ganzen. Das Wort „Sinn“
verknüpft ja schon eine Sinnerfahrung mit dem Sinnlichen, mit den wunderbaren Möglichkeiten
auch „endlicher Sättigung“. Es gibt die Augenblicke, wo die „Waage des Daseins“ glückhaft
zwischen den Extremen steht und sich ein zeitloses Erfülltsein ankündigt - Nietzsches „dionysischer
Augenblick“ ist eine Erfahrung davon, Dostojewskijs Moment vor dem epileptischen Anfall des
„Idioten“ Myschkin eine zweite. Guardini analysierte in der Gegensatzlehre die seltene, aber
empirisch wundervolle Ausgewogenheit dieses Zustands zwischen den antagonistischen Kräften der
14
Der Fall des französischen Rollstuhlfahrers ging im Januar 2002 durch die Presse, der seine Mutter verklagte, weil
sie ihn nicht abgetrieben hatte.
15
Bekannt als „Rede von den vier edlen Wahrheiten und dem achtfachen Pfad“, in: Gautama Buddha, Die vier edlen
Wahrheiten. Texte des ursprünglichen Buddhismus, hg. u. übers. v. K. Mylius, München (dtv) 4. Aufl. 1992, 118 124.
16
Keji Nishitani, Was ist Religion?, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1998, Kap. 2.
17
Peter von Matt, FAZ vom 17.5.1997, Tiefdruckbeilage.
4
Existenz.18 Glück im vollen Sinn des Wortes hat damit zu tun: Gelücke meint das Passen des
Deckels auf die offene Lücke des Topfes.19
Gemäß Aristoteles’ Nikomachischer Ethik strebt alles menschliche Leben in natürlicher
Suchbewegung nach Glück. eudaimonia ist offenkundiges Ziel; um es freilich zu erreichen, bedarf
es höchsten Einsatzes: Alle verfügbaren Mittel und Kräfte sind daraufhin zu schulen. Die
Grundkraft heißt arete, virtus, Tugend, Tauglichkeit oder wörtlich Mannhaftigkeit, starkes
Durchhalten. Der Mensch hat dazu Anlagen, aber keine fertigen Eigenschaften; so muß er
gleichsam Fingerübungen der arete, Exercices, durchmachen, das Rohe kultivieren und
kanalisieren, sich selbst zur meisterhaften Menschlichkeit emporbilden. Denn menschliches Glück
ist durchaus nach menschlicher Maßgabe erreichbar, allerdings durch einigermaßen mühsame
Schritte. Doch können die Schritte nicht gelehrt werden ohne das Ziel: Hinter der Vielfalt kleinerer
und greifbarer Vordergrundziele muß der Horizont eines Endzieles aufleuchten, teleion telos: Sinn
aller Sinne.
Das ist freilich ein Lebensziel vor dem Tode, worin „der Mensch als Mensch zur Vollendung
kommt“, und worin sich zwei Dinge objektiv miteinander verbinden: gutes Handeln (eu prattein)
und gutes Leben (eu zen). Beides gelingt und fügt sich in der irdischen Existenz endgültig zur
eudaimonia zusammen, wenn das Menschliche am Leben „spezifisch“ gelebt, zur höchsten
Realisierung entfaltet wird. Dabei ist Aristoteles antiker Pragmatiker genug, um das spezifisch
Menschliche zunächst auf dem Boden einiger Glücksgüter abzusichern: Man solle nicht häßlich und
von niederer Herkunft, nicht einsam, nicht kinderlos sein, vielmehr vermögend, begabt mit
Gesundheit, Freundschaften und guten Anlagen. Solche Bausteine von Sinn sind kaum entbehrlich,
obwohl sie andererseits nur der Absprung zur „tätigen Verwirklichung der Seele gemäß ihrer
Tüchtigkeit“ (energeia tes psyches kat’areton) sind.
Sollte solcherart Erfüllung abgewiesen werden, nur weil sie, was auf der Hand liegt, nicht dauert?
Ein solches Sinnangebot kennt, ja fordert selbstverständlich eine Zustimmung ohne die Bitterkeit
des Besserwissens. Dennoch kommt es, sonderbar, zu einer „Melancholie der Erfüllung“ 20. Die
Scholastik wußte schon grob von einer tristitia post coitum - die man vom Geschlechtlichen weg
auch auf andere Bedürfnisbefriedigungen übertragen könnte. Erfüllung als Bedürfnisbefriedigung
im „Hiesigen“ unterläuft nämlich eine weitergehende Dynamik. Wie Sigmund Freud, Urheber einer
animalisch-vitalen Lustdefinition, selbst erstaunt vermerkt, ist Lustempfindung zwar zweckhaft,
weil lebenssichernd; zugleich aber ist sie widersinnig beschränkt. „Dies [Lust-]Prinzip beherrscht
die Leistung des seelischen Apparates von Anfang an; an seiner Zweckdienlichkeit kann kein
Zweifel sein, und doch ist sein Programm im Hader mit der ganzen Welt [...] die Absicht, daß der
Mensch ‘glücklich’ sei, ist im Plan der ‘Schöpfung’ nicht enthalten. Was man im strengsten Sinne
Glück heißt, entspringt der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse und ist
seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich.“21 Wozu dann freilich, bei solch
minimalem Ergebnis, das Verlangen nach Erfüllung als Anlage im Menschen?
18
Romano Guardini, Der Gegensatz. Versuche zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten, Mainz (Grünewald)
1925, 3. A. 1995.
19
Die Etymologie des deutschen Wortes Glück enthält die indoeuropäische Wurzel leug-, die eine doppelte Bedeutung
umschließt. leug- heißt einerseits biegen, schließen und öffnen, worauf das Wort „Lücke“ verweist; hier liegt im Glück
angelegt, „wie sich etwas biegt, ausläuft, schließt“. So war in der mittelalterlichen Handwerkersprache ein Deckel, der
genau in die Topföffnung paßte, ein „gelükke“. Andererseits entfaltet sich aus der Wurzel *leug die Bedeutung
leuchten, glänzen, sehen. Lücke und Licht gehören demnach etymologisch zum Glück. Vgl. Jakob und Wilhelm
Grimm, Wörterbuch der deutschen Sprache 8, 226f.
20
Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Gesammelte Schriften 5, Frankfurt 1959, 343ff.
21
Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), Frankfurt 1958, 105.
5
Bereits der alttestamentliche Prediger beobachtete Ähnliches, freilich mit dem Unterton, ob
Bedürfnisstillung wohl alles gewesen sei? „Das nun stelle ich fest: Das Glück, das dem Menschen
zukommt, ist dies: zu essen und zu trinken und es sich wohl sein zu lassen bei all der Mühe, die sich
einer macht unter der Sonne, die paar Tage seines Lebens, die Gott ihm gegeben hat; denn dies ist
sein Anteil.“22 Ist subjektives, „laues Behagen“ im Binnenraum leiblichen und seelischen Genusses,
als List der Naturzwecke, alle Erfüllung, die wir ersehnen? Es gibt diese Lauheit nicht nur in der
individuellen, sondern neuerdings auch in der kollektiven Erfahrung, nämlich der neuen deutschen
Bundesländer, wenige Jahre nach der „Bedürfnisstillung“: „Ich kann mich noch deutlich des
Eindrucks meiner ersten Westreise nach der Wende erinnern. Ich fragte mich damals ernsthaft, ob
man hier überhaupt sterben muß, ob es hier noch so etwas gibt wie Not, Schmerz und
Verzweiflung. Angesichts einer solchen wissenschaftlich-technischen Perfektion, eines solchen
sichtbaren Wohlstandes, einer solch funktionierenden Demokratie schienen mir alle Fragen gelöst.
Hier wollten wir unsere drei Hütten bauen, schamhaft den alten Menschen ablegen und wie
Katechumenen ganz neu beginnen, dachten wir.“ So Peter Stasiek, ein Görlitzer Arzt, 1996.23
Gibt es mehr als den augenblicklichen Sinn aus Sättigung der Sinne? Wozu die gelegentlichen
Leuchtfeuer, wenn sie nur Minutenlichter sind? Wenn die kleinen Durste gestillt sind, was hilft
gegen den großen Durst? Ja schärfer: Ist die Befriedigung des unmittelbaren Bedürfnisses nicht
genau das Gegenteil von Glück? Brauchen und haben, wieder begehren und wieder satt sein: die
Bedürfnisspirale steht niemals still, und gerade so hindert sie die große, erfüllende Sättigung. Dieses
unhintergehbare Gesetz beklagt schon Augustinus: „Wozu immer der Mensch gelangt, alsbald wird
ihm wertlos, wozu er gelangte. Man fängt dann an, anderes zu ersehnen, anderes erhofft man als
wertvoll. Wenn das schließlich kommt, was immer es sei, es wird wertlos. Darum werden diese
Dinge wertlos, weil sie nicht Bestand haben können.“24
Melancholie des Endlichen
Eine unhintergehbare Bestimmung des Menschen heißt Sich-Gegeben-Sein. Abstrakter könnte man
es nennen: das Apriori des eigenen Ich in Entsprechung zum Apriori des älteren Du. In diesem
Dasein ist niemand Kopie, Sklave, ersetzbar von Tausenden, sondern selbst in seiner Grenze frei
und einzig, wesentlich sogar sich selber „freigegeben“. Dieses Urgeschenk dazusein verbindet
sofort das Glück des Daseins mit der Grenze des Soseins. In dieser Endlichkeit, in bestimmter und
damit begrenzter Gestalt sich vorzufinden, fordert gute wie selbstzerstörerische Versuche heraus,
sich selber anders und gegen die Grenze zu gestalten. Und in der Tat würde die Philosophie gerade
auch der Neuzeit zustimmen, daß die menschliche Plastizität, die sich in dem Wort „Autonomie“
eine eher täuschende Formel geschaffen hat, einer Selbstschöpfung unterliegt, allerdings nicht
endlos. Wird diese Autonomie als Macht verstanden, Endlichkeit und datum/Gabe überhaupt nicht
anzuerkennen, dann wird die Freiheit des Geschenktseins aufgehoben, in ein Verschlossensein
gegenüber dem Geber und sich selbst umgewandelt.25
Und Verschließung ist möglich - gerade im Blick auf fremde und eigene Grenze, die sich auch nicht
einfach nur leiblich ausdrücken muß, denn auch die Grenze der Begabung, des Temperamentes
gehört hinzu. Alles, was nicht angenommen ist, bleibt unangenehm. Kann das Unangenehme, wozu
22
Kohelet 1, 4, 17.
Zitiert nach Franz Georg Friemel, Nach dem Ende des ostdeutschen Sozialismus: Enttäuschte Hoffnungen?, in: IKZ
Communio 25, 5 (1996), 446f.
24
Aurelius Augustinus, Sermo 125, 11, in: Augustinus, Aufstieg zu Gott, München 1985.
25
Dazu die Studie von Ferdinand Ulrich, Der Mensch als Anfang. Zur philosophischen Anthropologie des Kindes,
Einsiedeln (Johannes) 1970. Vgl. Florian Pischl, „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder...“ Ferdinand Ulrichs
Philosophische Anthropologie der Kindheit im Gespräch mit Wertvorstellungen am Ende der Moderne, in: IKZ
Communio 24 (1995), 50-60.
23
6
in erster Linie Krankheit zählt, trotzdem zum Annehmbaren werden - und wie? Zweifellos hegen
wir den Wunsch, Krankheit höchstens als eine Phase, aber nicht als einen Dauerzustand zu
betrachten, d. h. das Erkranken als einen biographisch ausgelösten Vorgang zu sehen und helfend
beantworten zu lassen. Sofern es aber dafür keine Therapie gibt, stellen sich dem Kranken und
seinen Angehörigen vorletzte und letzte Fragen nach Sinn und Bestehbarkeit seiner Krankheit oder
sogar seines Todes - und sie stellen sich meist antwortlos.
Unsere Gesellschaft hat die Sinnfrage suspendiert, sie nur noch im Endlichen zugelassen. Bei
existentiellen Einschnitten, etwa Krisen, Krankheiten und Sterben kommt es plötzlich zu
Ausbrüchen des ansonsten Totgeschwiegenen: wozu das Ganze diene, wozu das Leiden überhaupt
Sinn habe. Gekoppelt werden diese Ausbrüche nicht selten und ersatzhalber an eine
„Mitleidsmoral“. „Mitleid“ hat aber einen sachlichen Nachteil: Es richtet sich gefühlshaft auf das
sichtbare und gegenwärtige Leid, übersieht dabei aber das geforderte vernünftige Handeln auch für
das unsichtbare und zukünftige Leid, wirkt also parteilich und nicht gerecht (so im Fall der
Abtreibung, die nur einen Beteiligten, die Mutter, sieht, oder im Fall der Euthanasie, die keine
sozialpsychologischen Folgen einbezieht, abgesehen davon, daß sie nicht das Leid, sondern den
Leidenden beseitigt). Mitleid ist wesentlich mit einem augenblicklichen Holismus beschäftigt,
richtet sich auf ein in sich rundes, befriedetes, harmonisches Dasein. Die Harmonie des Daseins
aber gibt es nicht, auch wenn die berühmte und mit Recht berüchtigte Definition der
Weltgesundheits-organisation (WHO) so etwas unterstellt: Gesundheit sei „der Zustand (!) des
vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“. Mit solchen utopischen,
wirklich ortlosen Definitionen von glücklichen Menschen ist das Ungenügen an der zu bestehenden
fragmentarischen Wirklichkeit, dem Ort unhintergehbaren Leidens, besiegelt. Mit allseitigem
Wohlbefinden scheint jenes „laue Behagen“ nahegerückt, von dem Sigmund Freud spöttisch sprach
- spöttisch, weil es die kulturelle Dekadenz begleite.26
Die Utopie beseitigten Leides und durchgängiger wellness ist weder für den Einzelnen noch für die
Gesamtheit sinnvoll. Menschsein enthält nicht als Ausnahme, sondern konstitutiv eine Störung. Wir
können krank werden und sterben nur, weil wir immer schon kränklich und sterblich sind. Die
Annahme dieser Tatsache gehört zur Reife, die Verarbeitung dieser abfallenden Linie gehört zum
Menschsein. Der bloß naturalistische Begriff von Krankheit und Gesundheit mag für das Tier gelten
- auch hier wäre er aber fraglich, wenn man dem Römerbrief traut, wo laut Paulus die gesamte
Schöpfung nach dem Offenbarwerden der Kinder Gottes „seufzt und in Wehen liegt“. 27 Für den
Menschen gilt jedenfalls, daß er „mehr ist als er selbst“. Den bloß natürlichen Menschen gibt es gar
nicht. Um auf Nietzsche zu verweisen, der als - freilich selbst kranker - Vordenker des Vitalismus
gelten kann, aber zur Selbstkorrektur auch in diesem Punkt fähig war: „Nichts ist unnatürlicher als
die Natur.“ Immer transzendiert der Mensch sich selber, mit jeder Frage nach Sinn reicht er über
das Vorfindliche hinaus. Im leiblich Gestillten wie im Ungestillten liegt von außen uneinsehbarer,
nicht wägbarer Gewinn oder Verlust. In nicht aufzulösender Spannung bleibt der Mensch, und zwar
jeder, übrig, seinem hindernd-sterblichen Leib überlassen und dennoch nur in diesem
unvollkommenen Leib daseiend. Die Sinnlinien solchen Daseins können nicht verkürzt werden:
weder auf den bloßen, perfekten Ichbezug des Einzelnen, die reine „Icheinsamkeit“28, noch auf das
Einfügen in den bloßen, zweckdurchsetzten Wirbezug, ins Kollektiv einer irdischen societas
perfecta.
Die Sinnlinie von innen nach oben
26
Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), a.a.O., 105.
Röm 8, 22.
28
Ferdinand Ebner, Das Wort und die geistigen Realitäten. Pneumatologische Fragmente (Innsbruck 1921), Frankfurt
(Suhrkamp) 1980, 14.
27
7
Deswegen ist es unumgänglich, nach einem plus ultra/über sich hinaus des beschränkten Lebens zu
fragen. Es gibt nicht allein die horizontalen Bezüge: vom Wir zum Ich (von Außen nach Innen und
umgekehrt) und vom Ich zum Ich (von Innen nach Innen).29 Die wichtigste Sinnlinie steigt von
Innen nach Oben auf: vom Ich zum vorgängigen Ursprung, zum Freiheitsraum, aus dem es stammt.
Nach den Kahlschlägen des Atheismus, des Existentialismus, des Kollektivismus, des heutigen
Holismus im Innerweltlichen tut sich die Kultur schwer, davon auch nur zu sprechen. Doch weiß
schon die Sprache von dem Zusammenhang des Heiligen mit dem Heilenden. „Oben“ meint jenen
Bereich, der ins Esoterische oder Scharlatanische verwildert, wenn er nicht durch Jahrtausende
großer, erprobter Religiosität und Kultur ins Heilsame vermittelt wird. Von „oben“ stammen
Antworten für mannigfaches inneres und äußeres Leid: gerade weil die nur binnenweltliche und
wissenschaftliche Betrachtung geöffnet wird. Die Krankheit eines einzelnen zeigt das schadhafte
Dasein aller, welches auf Heilung und Sinnantwort angewiesen ist. Zu einer solchen sinnvollen
Antwort gehört beispielsweise das Verschieben der Frage „Warum mir (diese Krankheit)?“ auf die
den Blick umschwenkende Frage „Wozu mir (diese Krankheit)?“ Von der Ursache weg wird die
Aufmerksamkeit auf ein Ziel hingelenkt: Ziel meint eben Sinn, denn vom Ziel her wird auch der
Ausgang erhellt (daher nennt Thomas von Aquin das Ziel die causa finalis, gewissermaßen eine ins
Ziel ziehende Ursache).
Wir sind nicht nur ein „factum“, von irgend jemandem gemacht30 oder wieder abgeschafft, sondern
„genitum“, gezeugt. Gezeugt wovon? Naturhaft und natürlich zweifellos von den Eltern - dennoch,
so Levinas: „Der Sohn ist nicht einfachhin mein Werk, wie ein Gedicht oder wie ein fabrizierter
Gegenstand; er ist auch nicht mein Eigentum. Weder die Kategorien des Könnens noch die des
Habens können das Verhältnis zum Kind anzeigen. Weder der Begriff der Ursache noch der Begriff
des Eigentums erlauben es, die Tatsache der Fruchtbarkeit zu erfassen.“31
Von daher zeigt sich die sachhafte Verbindung der „Kultur des Lebens“ mit dem nun theologisch
gewendeten Gedanken des göttlichen Ursprungs eines jeden. Menschsein zeigt nicht nur
beispielhaft die unleugbare menschliche Bedürftigkeit einer Annahme durch andere, die sich in
Geburt und später wieder bei Krankheit und Sterben meldet. Menschsein zeigt auch die
„theologische, ewige Bedeutung des Geborenwerdens [...], die endgültige Seligkeit des Her-seins
aus einem zeugend-gebärenden Schoß“32, aus dem göttlichen Urwillen, der will, „daß ich sei“. Das
ist das unabänderliche Glück jedes menschlichen Anfangs; von daher verbietet sich seine
Zerstörung. Wir sträuben uns zurecht gegen die lapidar-barocke Feststellung: humus fumus sumus.
Wir sind mehr als „Dreck und Rauch“ - diesem geheimnisvollen Mehr ist die Kultur verpflichtet.
Die „Seligkeit, gewollt zu sein“, und zwar unabhängig vom Wunsch der Eltern, macht den
Menschen aus. Mit dem frühchristlichen Apologeten Justinus (+um 165) gesprochen: „Bei unserer
Geburt sind wir, ohne darum zu wissen und ungefragt, bei der Verbindung der Eltern aus feuchtem
Samen geboren worden [...] Doch wir sollten nicht Kinder der Notwendigkeit und der Unwissenheit
bleiben. Vielmehr sollten wir Kinder der Erwählung und der Erkenntnis werden.“ 33 Das „Voraus“
unserer Geburt ist dadurch einzuholen, daß wir das Geschenk, das wir sind, bestätigen: die eigene
Erwählung ins Leben nachvollziehen. Das ist vorbehaltloser Umgang mit dem Urgeschenk
dazusein. „Freiheit, Gnade und Leben sind tief miteinander verwandt. Sie haben den gemeinsamen
29
Dazu genauer: Hanna-Barbara Gerl, Nach dem Jahrhundert der Wölfe. Werte im Aufbruch, Zürich 3. A. 1998.
„Gemacht“ werden Kinder heute so selbstverständlich, daß die norwegische Stadt Otta Ende März 1999 eine
„erotische Woche“ mit Sonderkonditionen anbot, um ein Kind mit dem Geburtsdatum 1.1.2000 zu zeugen. S. Meldung
der FAZ vom 10.3.1999.
31
Emmanuel Levinas, Die Zeit und der Andere, a.a.O., 62.
32
Hans Urs von Balthasar, Homo creatus est. Skizzen zur Theologie V, Einsiedeln (Johannes) 1986, 173.
33
Justinus Martyr, I. Apologia 61.
30
8
Nenner: ‘zwecklos, unverdient, unentgeltlich geschenkt zu sein’ (Ch. Péguy).“ 34 Wir sind aus
unserem Dasein heraus gerechtfertigt, unbeschadet seiner Versehrtheit. Die unangenehme,
unangenommene Versehrtheit, die wir scheuen, bleibt dennoch durchgängiges Kennzeichen der
jetzigen Existenz. Doch wird gerade der Umgang mit ihr zum Maßstab einer sinnoffenen Kultur.
Romano Guardini hat darauf verwiesen, daß dem Schwermütigen die Welt sich tiefer zeige,
spannungsreicher, aber beglückender, weil im Ernst der Wahrheit35 - denn Welt deutet eine
Verheißung an, die „anders“ erfüllt werden muß. Nochmals Jaspers: „Selbst die Verzweiflung wird
durch ihre Tatsächlichkeit, daß sie in der Welt möglich ist, ein Zeiger über die Welt hinaus.“36
Glück der Erfüllung?
Vor demselben Hintergrund zeichnet das Christentum einen Sinn, an den man denken darf, ja den
man grenzenlos wünschen soll, und der gerade vor dem Nadelöhr des Todes Bestand hat, ja
eigentlich erst nach dessen Passieren seinen Sinn einlöst. So viele Bestimmungen das christliche
Denken auch von seinen griechischen Vordenkern übernahm, eine Tugend konnten diese nicht
entwickeln, da sie doch erst im Angesicht des Todes reift: die Hoffnung. Diese nichtantike, weil in
der Wurzel christliche Haltung ist eine der drei „göttlich“ genannten Tugenden, und möglich wird
sie erst, wo es etwas zu hoffen gibt, wo die Pascalschen Denkverbote und Zerstreuungspflichten 37
auf etwas Unausdenkbares hin durchbrochen sind. Zweifellos beschränkt die conditio humana
naturnotwendig den Blick: „Sollte aber in diesem Leben ein letztes Glück sein, dann ist gewiß, daß
es verlorengeht, spätestens im Tod; und es ist nicht sicher, ob es bis zum Tod dauern wird. [...]
Immer also wird von Natur eine solche Glückseligkeit mit Trauer sich verbinden.“ 38 So bedarf es
einer Haltung, die den Blick über die Natur hinaus hebt, den eigenen Kleinmut entgrenzt. Aber dies
ist evidentermaßen auf natürliche Weise nicht möglich, denn wie könnte der Mensch contra
naturam hoffen? Selbst die Hoffnung ist nur möglich - wieder kommt etwas der Antike
Undenkbares ins Spiel - kraft einer göttlichen Tat. Es ist die Inkarnation, die Fleischwerdung Gottes
im Nichtgöttlichen, die von sich aus den ungeheuerlichen Bruch zwischen endlichem Fleisch und
unendlichem Sinnverlangen schließt. Die Inkarnation zieht folgerichtig den Tod Gottes nach sich
und eröffnet unerwartet, unerwartbar die Verklärung des Fleisches in der Auferstehung. Das heißt,
sie eröffnet die Möglichkeit nicht endender Glückseligkeit jenseits des Todes, weil der Tod durch
Gott getötet ist. Erst unter solchen Denkvorgaben ist beatitudo perfecta zu thematisieren. Geist und
Leib intendieren Glückseligkeit, nicht der Geist allein - das ist das Mehr des Christentums
gegenüber der paganen Beschränkung auf Sinnsättigung im Rahmen natürlichen Endes.
Denn die Verheißung von „umfassendem diesseitigen Wohlbefinden“ geht von einer falschen
Lageeinschätzung aus: „‘[Die Religion der Sonnenanbetung] erhebt natürlich den Anspruch, daß sie
alle körperlichen Leiden heilen kann.’ - ‘Kann sie denn auch das eine geistige Leiden heilen?’
fragte Father Brown mit ernsthafter Neugier. ‘Und was ist das eine geistige Leiden?’ fragte
Flambeau lächelnd. ‘Oh, sich einzubilden, daß man völlig gesund sei’, sagte sein Freund.“39
Oder:
„Neide die Leidensfreien nicht,
die Götzen aus Holz,
die nichts haben, dessen
34
Ulrich, Der Mensch als Anfang, a.a.O., 146.
Romano Guardini, Vom Sinn der Schwermut, Mainz (Grünewald) 1928. Vgl. Joachim Hake (Hg.), Schwermut - eine
andere Form des Glücks, Stuttgart (Kohlhammer) 2002.
36
Jaspers, Einführung in die Philosophie, a.a.O., 43.
37
Blaise Pascal, Pensées, übertr. v. Ewald Wasmuth, Darmstadt (WBG) 1987; Pensée 168 und 169.
38
Thomas von Aquin, Summa contra Gentes III, 48.
39
G. K. Chesterton, Father Browns Einfalt, a.a.O., 212.
35
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ihre Seele bedürfte,
weder Regen noch Sonnenschein.“ Hölderlin
Zwecklos, aber sinnvoll: der Mensch
Biblische Mitsprache soll und kann religiös ausgesagten Sinn ohne Scheu betonen. Das bedeutet
durchaus Eigenerfahrung im Glauben und im sakramentalen Leben. Auch das nicht „zweckhaft“,
wie oben schon abgewiesen, nämlich nicht, um andere zu beeindrucken. Im Religiösen sollte man
nicht lügen, dort noch weniger als anderswo; das Sensorium dafür ist nämlich empfindlich und wird
die Heuchelei unfehlbar herausfinden. Aber die persönliche Bindung, und sei sie eher verhalten als
nach außen gekehrt, wird umgekehrt ebenso untrüglich wahrgenommen. Erloschene Christlichkeit
kann nicht mit Aktivität überspielt werden. Alles wird weiter „funktionieren“, aber die Quelle ist
versiegt, die Erneuerung durch „Adlerflügel“, wie die Psalmen versprechen, fällt aus.
Das ist nicht aus Gründen einer allgemeinen „Frömmigkeit“ mißlich, sondern letztlich aus völlig
sachlichen Gründen. Gerade Sinn-Angebote im biblischen Raum stoßen auf die Endlichkeit des
Menschlichen in vielerlei Hinsicht: auf verstörtes Dasein, auf schuldhaftes, mißgeleitetes,
unheilbares Dasein, auf das Hilfsbedürftige in tausend Variationen. Ein Gutteil davon wird lösbar
sein - was aber, wenn das Unlösbare beginnt? Auch hier besteht die Versuchung, mit Aktivismus
das Leiden zuzudecken, irgendetwas „zu tun“, damit nur etwas getan sei/ut aliquid fieret oder fieri
videtur - wie wir es aus den Erfahrungen letzter Operationen an Sterbenden im Krankenhaus
kennen. Das „Leidwesen Mensch“ kann anders ertragen, ja aus der verzweifelten und nutzlosen
Anstrengung des „Erklärens“ und „Änderns“ entlassen werden, wenn der Mensch in einem tiefen
Sinn seinem Schöpfer überlassen werden kann - nicht aus Trägheit, sondern aus Hoffnung auf ein
Heil, das die uns möglichen Heilungen übertrifft. Es weiß und formuliert, daß der Mensch nicht nur
ein soziales oder technisch reparierbares Konstrukt ist, sondern Geschöpf - dessen Wunden der
Schöpfer selbst in unvorstellbarer, aber zugesagter Weise übernimmt und heilt.
Solcherart „eschatologisches Warten“ auf den noch offenbar werdenden, (ein)leuchtenden Sinn
setzt das hiesige Denken und Tun ins Vorläufige und macht frei von zwanghaftem
Durchbrechenwollen und Lähmung durch Vergeblichkeit. Die Trennung von Handeln und Erfolg
wird möglich: Das jetzt zu Tuende hat seine - relative - Freiheit vom unbedingten Gelingen. Das
Handelnmüssen im Vorläufigen ist nicht gleich das unbedingte Ideal - auch wenn es sich an ihm
messen muß. Handeln von Christen kann Kompromisse eingehen, es muß, ja darf nicht säkulare
Heilsideologie bedeuten. Utopisches oder Perfektes mit Gewalt im Menschlichen durchzusetzen,
verbietet sich aus demselben Grund. Sinnverordnungen, Heilsbeteuerungen sind zur Genüge als
totalitär erlebt worden. Das Wissen vom künftigen Heil erlaubt dagegen Optionen, verhindert aber
Fundamentalismen, im Sinne von Augustinus: „Der Hochmut hat ein Begehren nach Einheitlichkeit
und Allmacht, nämlich in der Führung der natürlichen Dinge, was aber alles vergeht wie ein
Schatten.“40 Eine solche Sicht auf sich letztlich auftuenden Sinn belastet nicht, sie entzerrt die
übertriebene Allzuständigkeit, das Repariersyndrom, die eingebaute Frustration über die Grenzen
des Menschlichen. Vielleicht bedarf Wissenschaft solcher Haltungen sogar mehr als
Vorspiegelungen einer technischen Allzuständigkeit, die doch spätestens in den vorletzten
Existenznöten steckenbleibt. Christentum weiß von der „Ressource Sinn“, die auch im Sinnlosen
wartet, dessen Aufhellung versprochen ist.
40
Augustinus, De vera religione 45, 84: „Habet ergo superbia quendam appetitum unitatis et omnipotentiae, sed in
rerum naturalium principatu, quae omnia transeunt sicut umbra.“
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