Klaus Gietinger - Internationale Rosa-Luxemburg

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Die Organisation der Produktion im Sozialismus
Luxemburg, Lenin, Ossinski und Kollontai
von Klaus Gietinger
Vorlage durch Marx
Bei Karl Marx erfährt man, es stelle sich „in allen Arbeiten, worin viele Individuen
kooperieren, (...) notwendig der Zusammenhang und die Einheit des Prozesses in
einem kommandierenden Willen dar, (...) wie bei einem Direktor eines Orchesters.“
Dies gelte „in jeder kombinierten Produktionsweise.“1 Also nicht nur im Kapitalismus.
Wladimir I. Lenin benutzt genau diese Äußerungen von Marx um kurz nach der
Oktoberrevolution eine verschärfte Version des marxistischen Dirigententums, als
Dauerlösung anzubieten.
Lenin stellt nicht nur fest: „Der russische Mensch ist ein schlechter Arbeiter im
Vergleich mit den fortgeschrittenen Nationen“2 damit meint er hauptsächlich sein
großes Organisationsvorbild, das preußisch geprägte Deutsche Reich. Er konstatiert
auch, dass „jede maschinelle Großindustrie (...) unbedingte und strengste Einheit
des Willens erfordert, und zwar durch die Unterordnung des Willens von Tausenden
unter den Willen eines einzelnen.“3 Ausdrücklich wird hier die Diktatur „auch durch
einzelne Personen“ begrüßt. Und dies ohne Begründung durch die historische
Situation, sondern als Erfordernis der „maschinellen Großindustrie“ und weil die
Russen in Lenins Augen faul sind.
Aus der Not eine Tugend
Hier setzt Rosa Luxemburg bei Lenin (und nicht zu vergessen bei Trotzki) an: „Das
Gefährliche beginnt dort, wo sie aus der Not eine Tugend machen (...) als das Muster
der sozialistischen Taktik“4 „Diktatorische Gewalt der Fabrikaufseher, drakonische
Strafen, Schreckensherrschaft (...) demoralisiert“5
„Grundfehler der Lenin-Trotzkischen Theorie ist eben der, dass sie die Diktatur“
bürgerlich, also als die Herrschaft „einer handvoll Personen“ versteht.6
„Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande (...) als fertiges
Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll
sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich
mit (...) dem Aufbau des Sozialismus.“7
Als spüre er Rosa Luxemburgs Kritik, wettert Lenin kurz darauf gegen die Zeitschrift
„Kommunist“ (und speziell ihren Autor N. Ossinski), weil hier vor der Gefahr des
„Staatskapitalismus“ gewarnt würde. Dagegen ist für Lenin der Staatskapitalismus
„die vollständige materielle Vorbereitung des Sozialismus“8 Und wieder huldigt er
seinem Vorbild. „Deutschland. Hier haben wir das `letzte Wort´ moderner
großkapitalistischer Technik und planmäßiger Organisation, die dem junkerlichbürgerlichen Imperialismus [kursiv im Original] unterstellt sind. Man lasse die
hervorgehobenen Wörter aus, setze“ an die Stelle „den proletarischen Staat, und
man wird die ganze Summe der Bedingungen erhalten, die den Sozialismus ergibt.“ 9
Er ist damit nahe bei den Kriegstreibern in der SPD unter Heinrich Cunow, Paul
Lensch und Konrad Haenisch, die 1915 in Deutschland schon den Sozialismus
verwirklich sahen, der nun qua Weltkrieg und deutsche Militärmacht über Europa
verteilt werde.10 Diese Absurdheit registriert Rosa Luxemburg indem sie anmahnt
man dürfe nicht – wie eben Cunow-Lensch - zum Götzendiener des Sozialismus
bzw. Marxismus werden.11
1
Und jener Form von Staatskapitalismus setzt Rosa Luxemburg unmissverständlich
entgegen: „Diese Diktatur muss das Werk (...) nicht einer kleinen, führenden
Minderheit im Namen der Klasse sein, d.h. sie muss auf Schritt und Tritt aus der
aktiven Teilnahme der Massen hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung
stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen.“ Gleichzeitig kritisiert
sie den Roten Terror, am heftigsten in ihrem von Feliks Tych entdeckten Brief, in
dem sie diesen (Ende September 1918) als „Idiotie summo grado“ bezeichnet.12 Sie
kommt zur Erkenntnis, auch wenn man alle Umstände berücksichtigte: Der große
Fehler Lenins und Trotzkis bestehe darin, dass sie aus der Not eine Tugend
machten.
Lenins Neigung zur „Tugend“ des rücksichtslosen Terrors war jedoch weit vor dem
Attentat der Linken Sozialrevolutionäre auf den deutschen Botschafter Wilhelm Graf
von Mirbach-Harff (6. Juli 1918) und vor dem Attentat auf Lenin selbst durch Fanny
Kaplan (30. August 1918) – der als Auslöser des Roten Terrors diente - längst
ausgemacht. So empfahl er im Februar 1918, „Wer sich widersetzt ist zu erschießen“
genauso wie „feindliche Agenten, Spekulanten, Plünderer, Rowdys,
konterrevolutionäre Agitatoren und deutsche Spione am Tatort“13 Der damalige
Volkskommissar für Justiz, Isaak Steinberg von den Linken Sozialrevolutionären,
kommentierte solcherlei Hang zur Barbarei: "Wozu brauchen wir dann noch ein Kommissariat für Justizwesen? Nennen wir es doch einfach Kommissariat für soziale
Ausrottung!" "Das ist genau das, was es sein sollte", erwiderte Lenin, "aber das
können wir nicht sagen." 14 Und in eben jenem Artikel gegen „linke Kinderei, schreibt
er: "Solange in Deutschland die Revolution noch mit ‚ihrer’ Geburt säumt, solange ist
es unsere Aufgabe, vom Staatskapitalismus der Deutschen zu lernen, ihn mit aller
Kraft zu übernehmen, keine diktatorischen Methoden zu scheuen, um diese
Übernahme noch stärker zu beschleunigen, als Peter [der Große] die Übername
westlicher Kultur durch das barbarische Russland beschleunigte, ohne dabei vor
barbarischen Methoden des Kampfes gegen die Barbarei zurückzuschrecken.“15
Wo diese Barbarei endete, wissen wir heute.
Masse gegen Diktatur - Spontanität gegen Kontrolle
Eine der wesentlichen Ursachen für das Scheitern des sozialistischen Experiments
ist der Mangel an Sozialistischer Demokratie, den Rosa Luxemburg schon früh
anprangerte.
Um dies zu sehen, müssen wir zurück ins Jahr 1904. Schon zu dieser Zeit preist
Lenin die Fabrik als höchste Form kapitalistischer Kooperation, die das Proletariat
vereinigte und disziplinierte. (...) Disziplin und Organisation (...) eignet sich das
Proletariat, dank der ‚Schule’ die es in der Fabrik durchmacht, besonders leicht an.16
Der Prolet müsse lernen, „die Mentalität eines Soldaten der proletarischen Armee“
anzunehmen17 „Bürokratismus gegen Demokratismus, das ist Zentralismus versus
Autonomismus, das ist das organisatorische Prinzip der revolutionären
Sozialdemokratie.“18
Eine Steilvorlage für Rosa Luxemburg: „Es unterliegt kein Zweifel, dass der
Sozialdemokratie im allgemeinen ein starker zentralistischer Zug innewohnt.“
Schwingt hier schon Kritik mit, macht sie klar, dass es auf den Grad des
Zentralismus ankomme.19 Entscheidend sei doch, dass die sozialdemokratische
Bewegung (zum ersten Mal in der Geschichte, wie sie anmerkt) auf die „Organisation
und die selbständige direkte Aktion der Masse berechnet ist.“20 Daraus ergebe sich,
dass die sozialdemokratische Zentralisation nicht auf blindem Gehorsam, nicht auf
der mechanischen Unterordnung (...) unter ihre Zentralgewalt basieren kann.“21
2
Die Disziplin, die Lenin meine, sei nicht bloß die Fabrikdisziplin, sondern die der
Kaserne und des modernen Bürokratismus des zentralisierten bürgerlichen Staates.
Es sei eine missbräuchliche Anwendung des „Schlagwortes, wenn man gleichzeitig
als ‚Disziplin’ zwei so entgegengesetzte Begriffe bezeichnet, wie die Willen- und
Gedankenlosigkeit einer fleischlosen Masse, die nach dem Taktstock mechanische
Bewegungen ausführt, und die freiwillige Koordinierung.“ Sie geißelt ersteren als
Kadavergehorsam.22 Nur mittels „Durchbrechung, Entwurzelung dieses sklavischen
Disziplingeistes, kann der Proletarier erst für die neue Disziplin, die freiwillige
Selbstdisziplin der Sozialdemokratie erzogen werden.“23
Sie geht in Ihrer Polemik gar soweit Lenin zu unterstellen er verlange vom
Proletarierer „ein gewisses Wonnegefühl bei aller Straffheit, Strammheit und
Schneidigkeit seiner obersten Parteibehörde [zu] empfinden.“24 Das hat Lenin so
nicht gesagt, zumindest nicht in diesem Buch, trifft aber seine Ideologie wie den
Nagel auf den Kopf. Für Rosa Luxemburg ist dagegen das einziges Subjekt das
„Massen-Ich der Arbeiterklasse.“25
Der Mangel an Sozialistischer Demokratie, den Rosa Luxemburg hier früh geißelte
ist die eine Seite, der Hang Lenins zu unbedingtem Staatsterror, den Rosa
Luxemburg ebenfalls ablehnte (siehe das Spartakusprogramm) ist die andere Seite
der Medaille.
Der Graben zwischen Lenin und Luxemburg ist der zwischen Bürokratismus und
Demokratismus. Zwischen Parteidiktatur (einer Clique oder eines Einzelnen) und
breitester Demokratie, zwischen Terror und der Schule des öffentlichen Lebens.
Es ist aber auch der Graben zwischen Spontanität und Kontrolle, zwischen
unbewusster Objektivität der Massen und Avantgardeanspruch der Bolschewiki.
Unterschiedliche Massen
Der Soziologe Bak Taeho hat in einem leider wenig beachteten Vortrag vor
17 Jahren auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz in Peking26 auf folgendes
hingewiesen: Lenin und Luxemburg haben völlig verschiedene Begriffe von
Spontanität. Bei Lenin ist es die Bewusstheit in ihrer anfänglichen Gestalt, bei
Luxemburg ist es die unbewusste Kraft der Massen, eine objektive Kraft, die von der
Bewusstheit zu unterscheiden ist. Die unbewusste Kraft der Massen spaltet sich
wiederum in zwei unterschiedliche Ströme. Der eine ist die Zahmheit, die ihr vom
Kapitalismus aufoktroyiert wird und sie allenfalls zum Tradeunionismus fähig macht.
Diese kapitalistisch (durch Fabrik und Militär) deformierte Masse erscheint Lenin als
die, die angeleitet werden muss von einer Avantgarde, einer „Übermacht“. Dies
nennt Michel Foucault die Biomacht, Klaus Theweleit nennt sie die molare Masse.
Und Rosa Luxemburg die „Willen- und Gedankenlosigkeit einer fleischlosen Masse.“
Ihr entsprechen das „Überwachen und Strafen“ (Foucault), das Bethamsche
Inspection-House.27 Bei Lenin „Fabrikdisziplin“ bzw. „Rechnungsführung und
Kontrolle“. Und es ist verblüffend, mit welch manischem Wiederholungszwang Lenin
in Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht von „Rechnungsführung und Kontrolle“
spricht, wo er es auf 20 Druckseiten schafft 13 Mal seine beiden Lieblingsbegriffe zu
benutzen.28 Lenin hat hier den Zentralismus der Sozialdemokratie mit dem
Despotismus des preußischen Staates bzw. des Wilhelminischen Reiches plus
dessen Kriegsmaschinerie verbunden und daraus seinen Kriegskommunismus
gebaut.
3
Mit dem Massen-Ich über Marx und Lenin hinaus
Gänzlich anders Luxemburg. Bei ihr gibt es die unbewusste Macht der Massen, die
ständig kämpfen will, allein diese objektive revolutionäre Kraft entspricht Luxemburgs
Auffassung von Spontanität. Es ist die revolutionäre, molekulare Masse, das
revolutionäre Proletariat im Kampf, „der nach oben hin alle kleinbürgerlichen und
liberalen Berufe: Handelsangestellte, Bankbeamte, Techniker, Schauspieler,
Kunstberufe, ergreift, nach unten hin bis ins Hausgesinde, in das
Subalternbeamtentum der Polizei, ja bis in die Schicht des Lumpenproletariats
hineindringt und gleichzeitig aus der Stadt aufs flache Land hinausströmt und sogar
an die eisernen Tore der Militärkasernen pocht. Es ist dies ein riesenhaftes buntes
Bild.“29
Luxemburg bezeichnet diese Kraft als „gesunden revolutionären Instinkt“30 Mit dieser
Auffassung von Masse als objektiver Kraft31, die ohne Anleitung tut, was getan
werden muss, geht Luxemburg weit über die marxistische Theorie hinaus und
berührt moderne und modernste Theorieren vom „Unbewußten“ (Sigmund Freud32),
vom „antizipierenden Bewusstsein“ (Ernst Bloch33), von der „Puissance“ (Antonio
Negri34), von „molekularer Masse“ (Klaus Theweleit35), von „Production desirante“ zu
deutsch „Wunschproduktion“ (Gilles Deleuze/Félix Guattari36).
Sie ist allein dadurch schon die interessanteste Vertreterin des Marxismus, weil sie
ihn - und zugleich die Moderne! - im Hegelschen Sinn faktisch aufhebt.
Industrie im Sozialismus
Wie soll nun aber die maschinelle Großindustrie im Sozialismus nach Luxemburg,
wie soll das von Marx als notwendig erachtete Dirigententum ohne Diktatur durch
Einzelne, als Ausdruck des unbewussten Massenwillens funktionieren?
„Nur ungehemmt schäumendes Leben verfällt auf tausend neue Formen,
Improvisationen, erhält schöpferische Kraft, korrigiert selbst alle Fehlgriffe.“37 Die
sozialdemokratischen Führer dürften hier nur „das ‚Brennmaterial’ der Revolution
„liefern, das in immer wieder neuen Formen und Fortschritten des Kampfes
explodiert.“38
Und sie spricht von freiwilliger Unterordnung bei breitester Demokratie, sie nennt das
„Selbstzentralismus“. Doch wie wird der organisiert, wenn der erste Massenrausch
der molekularen Masse nach der Revolution verflogen ist, wie sieht die
Selbstzentralisation aus?
Nicht nur in Deutschland
Im Spartakusprogramm fordert Luxemburg konkret für die durch den Krieg
ermüdeten deutschen Arbeiter - und nicht weil sie besonders diszipliniert sind, wie
von Lenin bewundert, oder weniger faul als die russischen Proletarier, wie vor allem
von Trotzki behauptet - den Sechsstundentag39 und die Betriebsrätewahl. Aufgabe
der Betriebsräte sei es, „im Einvernehmen mit Arbeiterräten (...) schließlich die
Produktion zu kontrollieren.“40 Das heißt: Demokratische Kontrolle und nicht die
durch die Partei oder einen einzelnen Diktator. Und genau das fordert sie auch für
Russland: „Unbedingt öffentliche Kontrolle notwendig.“41
Aus all dem wird klar, dass Luxemburg im Gegensatz zu Lenin42 eine Übernahme
des Taylorsystems für den Sozialismus abgelehnt hätte.
4
Demokratische Zentralisten um N. Ossinski
Exakt dieses System lehnt auch N. Ossinski ab. Eben jener damalige Vorsitzende
des Obersten Rates für Volkswirtschaft, den Lenin wegen „linker Kinderei“ angriff.
Ossinski hatte im April 1918 in der Zeitschrift "Kommunist", in der auch Karl Radek
und Nikolai Bucharin schrieben, Lenins an amerikanischen Trusts und dem
deutschen `Staatskapitalismus' orientierten Zentralismus angegriffen:
"In Preußen sind sämtliche Eisenbahnen in die Hände des Staates
übergegangen, aber niemand glaubt deshalb, dass das eine Maßnahme des
Übergangs zum Sozialismus gewesen sei."43
Ossinski war wie Luxemburg davon überzeugt, dass der Sozialismus "erst
dann auf sicheren Füßen stehen" wird, "wenn die Organisation dieser Wirtschaft die Arbeiter selbst organisieren."44 Entlasse man sie aber aus der
Leitung der Produktion, seien analog der kapitalistischen Kommandogewalt,
Akkordlohn, Stechuhr und Taylorismus unausweichlich, was wiederum zu
Konkurrenz und Spaltung unter den Arbeitern führe. Ossinski machte
Gegenvorschläge: Drittelparität in der Betriebsleitung (1/3 gewählte Arbeiter,
1/3 aus dem Gebiets-Volkswirtschaftsrat und den Gewerkschaften, 1/3
technische Intelligenz), regionale von den Arbeitern gewählte Wirtschaftsräte,
Wahl des Obersten Volkswirtschaftsrates aus diesen Gremien, Zentraler
Plan.45 Dieses System nannte er im Gegensatz zum zentralistischen
Bürokratismus Lenins und dem Syndikalismus der Anarchisten
"demokratischen Zentralismus" und "kollegiale Leitung". Ein Versuch, es in die
Praxis umzusetzen, wurde nicht gemacht.
Im März 1921, auf dem dramatischen 10. Parteitag, zeitgleich zur Kronstädter
Revolte, schwiegen die Demokratischen Zentralisten schon. Ja, Ossinski
kämpfte sogar mit zahlreichen anderen Delegierten gegen die Kronstädter.
Arbeiteropposition und Alexandra Kollontai
An ihre Stelle trat die "Arbeiteropposition" unter Führung von Alexander G.
Schlapnikow und seiner damaligen Lebensgefährtin Alexandra Kollontai.
Kollontai beklagte, Hamlet zitierend, "dass etwas faul ist im Staate
Dänemark."46 Nämlich: "Das Wesen des Streits dreht sich darum, ob wir den
Kommunismus mit Hilfe der Arbeiter verwirklichen werden oder über ihre
Köpfe hinweg vermittels der Sowjetbeamten."47
Ihre Forderung: "Die Verwaltung der Volkswirtschaft muss von dem
allrussischen Kongress der Produzierenden, die sich in Verbänden nach
Berufen oder Industriezweigen zusammenschließen, organisiert werden.
Diese wählen einen Zentralrat, der die ganze Wirtschaft der Republik
verwaltet."48 Die Verwaltung der Volkswirtschaft sei "eine Sache der
Gewerkschaften" und nicht der Partei. Die habe allenfalls die Aufgabe, "den
freien Spielraum zu schaffen für die Heranbildung der Arbeiter zu Schöpfern
der neuen Arbeitsmethoden." Zentral war auch hier die Wahl und "Schaffung
eines Organs der Volkswirtschaftsverwaltung aus den produzierenden
Arbeitern selbst."49
Die Ex-Volkskommissarin berichtete, wie Lenin ihre Broschüre aufnahm:
"Schnell, schnell blättert er sie durch und schüttelt missbilligend den Kopf."50
Kurz darauf folgte der Sturm. Lenin wetterte in seiner Rede gegen die
Opposition, ja er verleumdete sie. Ihre Kritik der Parteipolitik habe die
Rebellen von Kronstadt ermutigt, die Waffen gegen die Regierung zu erheben.
Danach griff er sich die Kollontai: "Wissen Sie, was Sie da angerichtet haben?
5
Das ist ein Aufruf zur Spaltung! (...) Und das in diesem Augenblick. Das ist
Syndikalismus!"51
Die Forderung der Arbeiteropposition, die Leitung der Wirtschaft mittels eines
„Gesamtrussischen Kongresses der Produzenten“ zu organisieren, sei nicht nur ein
„Blödsinn“, zu dem es ihm schwer falle, „noch Worte zu finden“52, sondern „ein
kleinbürgerliches, anarchistisches Element“, eine These, die „im Lichte der
Kronstädter Ereignisse (...) um so seltsamer klingt.“53 Lenin hatte die Opposition mit
den Rebellen verglichen. Kollontai schwieg. Die anderen Oppositionellen schwiegen.
Lenin nutzte die Stunde u. a. zur endgültigen Unterdrückung der Opposition. Eine
scharfe Resolution wurde verabschiedet, die Gruppen `Arbeiteropposition' und
`Demokratischer Zentralismus' für aufgelöst erklärt, Nichtausführung mit Parteitagsbeschluss belegt.54 In einem erst 1924 veröffentlichten Zusatzpunkt wurde das ZK
der Partei ermächtigt, auch Mitglieder des obersten Parteigremiums
auszuschließen.55 Opposition wurde im März 1921 zum Verbrechen, auch innerhalb
der Partei. Außerhalb wurden die letzten Reste der anderen sozialistischen Parteien
zerschlagen, ihre Führer verbannt oder verurteilt. Auch die Anarchisten waren davon
betroffen.
Der Point of no Return war gleichzeitig zum Parteitag mit der Niederschlagung
des Kronstädter Aufstands im März 1921 erreicht. Hatten doch die Kronstädter
Rebellen beklagt: "Nachdem sie die Produktion unter der `Arbeiterkontrolle'
hatten verfallen lassen, führten die Bolschewiki die Nationalisierung der
Betriebe und Fabriken durch. Aus einem Sklaven des Kapitalisten wurde der
Arbeiter nun zum Sklaven der Staatsbetriebe." 56
Das vom Kapitalismus übernommene "Antreibersystem, das Taylor-System"
wurde von den Kronstädtern ebenso angegriffen wie von den linken
Kommunisten (z.B. Ossinski) und der Arbeiteropposition
(Schlapnikow/Kollontai) innerhalb der RKP. Doch gleichzeitig gehörte die
Arbeiteropposition wie die linken Kommunisten zu den Kämpfern gegen
Kronstadt. Es wäre interessant gewesen, zu wissen, wie sich Rosa
Luxemburg deren Ideen viele Gemeinsamkeiten mit denen von Ossinski,
Kollontai, ja den Krönstädtern hatten, im März 1921 verhalten hätte.
Schluss
Was sagen uns diese Modelle von sozialistischer Produktion heute. Sind sie
relevant, überholt? Hat der Sozialismus überhaupt noch eine Chance?
Dazu einige wenige Zahlen: Von 3 Milliarden Arbeitenden der Welt leben 700
Millionen von unter 1 Euro am Tag, 1,1, Milliarden von unter 1,35 Euro am Tag. Das
heißt 60 % der arbeitenden Bevölkerung der Erde lebt von weniger als 1,35 Euro am
Tag. 2,4 Milliarden (4/5) sind außerdem prekär oder arbeiten ohne Arbeitsvertrag
bzw. soziale Absicherung. Karl Heinz Roth spricht hier von „neuer Proletarität“. Eine
anderer Frage ist, ob der Kapitalismus „Ewigkeitscharakter“ hat. Hierzu Rosa
Luxemburg:
„Wenn man die Sprünge vergleicht, in denen die englische Industrie (...) wuchs, als
England noch das herrschende kapitalistische Land auf dem Weltmarkt war, mit
ihrem Wachstum in den letzten beiden Jahrzehnten, seit Deutschland und die
Vereinigten Staaten von Amerika auf dem Weltmarkt England bedeutend verdrängt
haben, so ergibt sich, dass das Wachstum im Verhältnis zu früher ein viel
langsameres geworden ist. (...) Das Schicksal der englischen Industrie (...) steht
unvermeidlich auch der deutschen, der nordamerikanischen und schließlich der
6
Gesamtindustrie der Welt bevor.“ 57 Und man könnte hinzufügen, auch den heutigen
kapitalisierten Ländern in Asien, Lateinamerika und in Russland.
Sollte also der Kapitalismus sich eines Tages überlebt haben, stellt sich nicht nur die
Frage, ob es ein Massen-Ich das eine neue Wirtschafts- und Weltordnung entwickelt
gibt, sondern auch, welche Pläne es dafür hat. Hier geben Ossinski, Kollontai und
nicht zuletzt Rosa Luxemburg Anstöße. Lenin tut es nicht. Den sollten wir endlich
begraben.
1
Karl Marx, Das Kapital, Bd. 3. Marx-Engels-Werke, (MEW) 25, Berlin (Ost), 1978, S. 397. Solche
Äußerungen Marx´ sind Wasser auf die Mühlen der zentralistischen Sozialdemokratie, die in Gestalt
z.B. des deutschen Historikers Heinrich August Winkler versucht damit gegen die von Marx im
Kommunismus vorhergesagte Aufhebung von Arbeitsteilung und Entfremdung Sturm zu laufen. Dies
sei, nach eigener Aussage Marxens, so der Historiker, schlicht unmöglich. Wir gehen in diesem
Punkt auf den „Marxkiller“ Winkler aus Zeitgründen nicht weiter ein. Heinrich August Winkler,
Streitfragen der deutschen Geschichte, München 1997, S. 9 - 30.
2 Wladimir I. Lenin, Werke Bd. (Lenin W) 27, Berlin (Ost) 1960, S. 249.
3 Lenin W 27, S. 259f.
4
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke Bd. (Rosa Luxemburg GW) 4, S. 364.
5 Ebd. S. 361f.
6 Ebd. S. 362.
7 Ebd. S. 363.
8 Lenin W 27, S. 334.
9 Ebd. S. 332.
10 Siehe: Robert Sigel, Die Lensch-Cunow-Haenisch-Gruppe, Berlin 1976.
11 Rosa Luxemburg GW 4, S. 363.
12 Feliks Tych: Drei unbekannte Briefe Rosa Luxemburgs über die Oktoberrevolution in: Internationale
wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK),
September 1991, Heft 3 (hier: Brief vom 30.9.1918), S. 364. Siehe auch: Rosa Luxemburg,
gesammelte Briefe (GB), Bd. 6, S. 209.
13 Lenin W 27, S. 16.
14 Isaak Steinberg: In the Workshop of the Revolution, London 1953, S. 145.
15 Ebd. 333.
16 Lenin W 7, Berlin (Ost) 1954, S. 395.
17 Ebd. S. 399.
18 Ebd. S. 400f.
19 Rosa Luxemburg GW 1/2, S. 426.
20 Ebd. S. 427.
21 Ebd. S. 429.
22 Ebd. S. 430.
23 Ebd. S. 431.
24 Ebd. S. 435.
25 Ebd. S. 444.
26 Bak Taeho, Roosa Luxemburgs ex-moderne politische Philosophie, in: Theodor Bergmann, Jürgen
Rojahn, Fritz Weber (Hrsg.), Die Freiheit der Andersdenkenden. Rosa Luxemburg und das Problem
der Demokratie, Hamburg 1995, S. 55-76.
27 Robert Kurz, Schwarzbuch des Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, München
20022, S. 94ff. und Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt 1994, S. 256ff.
28 Lenin W 27, S. 229 – 249.
29 Rosa Luxemburg GW 2, S. 111.
30 Ebd. S. 101.
31 Ebd. S. 101, 111, 113, bzw. Rosa Luxemburg GW 1/2 , S. 432.
32 Sigmund Freud, Studienausgabe, 10 Bde., Frankfurt 1975 ff., Bd. 3, Psychologie des Unbewussten.
33 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde, Frankfurt 1977.
7
34
Antonio Negri, Die wilde Anomalie. Baruch Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft, Berlin 1981.
Klaus Theweleit, Männerphantasien, 2. Bde, Frankfurt 1977/78.
36 Gilles Deleuze, Felix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt 1979 2. z. B.
S. 36, S. 42, S. 372ff.
37 Rosa Luxemburg GW 4, S. 360.
38 Rosa Luxemburg GW 2, S. 35.
39 Rosa Luxemburg GW 4, S. 446.
40 Ebd. S. 447.
41 Ebd. S. 360.
42 Der zwar in ihm die „raffinierte Bestialität der bürgerlichen Ausbeutung“ erkennt aber wie bei der
Fabrikdisziplin empfiehlt, es als Bestes „System der Rechnungsführung und Kontrolle“ zu kopieren,
Lenin W 27, S. 249.
43 N. Ossinski (eigentlich: Walerian Walerianowitsch Obolenski), Über den Aufbau des Sozialismus, in:
Dokumente der Weltrevolution, Band 2 (Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur), Hrsg. von Frits
Kool und Erwin Oberländer, Freiburg 1967, S. 92 - 126 (zuerst in: Kommunist, Wochenzeitung für
Wirtschaft, Politik und Fragen der Gesellschaft, Organ des Moskauer Gebietsbüros der RKP, Nr. 1,
20.4.1918 und Nr. 2, 27.4.1918), hier: S.101.
44 Ebd. S. 96.
45 Ebd., S. 118f.
46 Alexandra Kollontai: Die Arbeiteropposition in Russland, in: Die russische Arbeiteropposition. Die
Gewerkschaften in der Revolution, hrsg. und eingeleitet von Gottfried Mergner, Hamburg 1972, S.
131 – 177, hier: S. 132,
47 Ebd., S. 150.
48 Ebd., S. 153.
49 Ebd., S. 165.
50 Kollontai, zitiert nach Kool/Oberländer (Hrsg.): Dokumente der Weltrevolution, Bd. 2, S. 88.
51 Ebd. S. 88.
52 Lenin W 32, S. 203.
53 Ebd., S. 199
54 Ebd., S. 248.
55 Ebd., Punkt 7
56 Mitteilungen des Provisorischen Revolutionskomitees der Matrosen, Rotarmisten und Arbeiter der
Stadt Kronstadt (Kronstädter Iswestija), in: Dokumente der Weltrevolution, Band 2
(Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur), Hrsg. von Frits Kool und Erwin Oberländer, Freiburg 1967,
S. 341 – 515, hier: Nr. 14, 16. März 1921, S. 501.
57Rosa Luxemburg GW 5, S. 777f.
35
8
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