Mary Douglas : Kosmologie von unten - E

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Mary Douglas : Kosmologie von unten
Autor(en):
Pfrunder, Peter
Objekttyp:
Article
Zeitschrift:
Du : die Zeitschrift der Kultur
Band (Jahr): 53 (1993)
Heft 11:
Denkerinnen : endlich diese Wirklichkeit
PDF erstellt am:
28.10.2017
Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-306378
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Mary Douglas
nimmt
sie sich Ethnologinnen wie
Um die Gesellschaft zu verstehen, studiert Mary Douglas Anthropologie. Alsjunge Forscherin
Margaret Mead zum Vorbild. Bei den Lele in Afrika, zum erstenmal im Feld tätig, muss
dass sie als Frau für die Erforschung der
Mary
sie erfahren,
Rituale nicht zugelassen wird. Sie macht aus der Not eine Tugend und wendet sich den Lele-Frauen
Douglas,
geboren
zu. Das Resultat: eine Studie über Reinheitsvorstellungen und Tabus, «Reinheit und Gefährdung», die ihren internationalen
Ruf weit
über
1921, lehrte seit Beginn
Fachkreise hinaus begründet. Peter Ffrunder besuchte die emeritierte Anthropologin, die sich nach wie vor
mit gesellschaftlichen Phänomenen
der fünfziger Jahre an den
wie der Darstellung von Gefahr auseinandersetzt, bei London.
Universitäten Oxford und
London, nach ihrer Emeri¬
tierung 1977 in den Ver-
Kosmologie von unten
1949. Der einigten Staaten. Heute sation Abschied nimmt und per
kleine Raddampfer löst sich
Unilever-Lastwagen in eine völlig
vom Pier, stampft gemächlich in lebt sie in England. Als isolierte Gegend fährt; wie sie mit
den breiten Kongo-River hinaus
den Bewohnern eines Lele-Dorund nimmt Kurs aufs Landes¬ Anthropologin mit dem fes Freundschaft schliesst und
innere. Eine junge weisse Frau an
sich in einer Hütte aus Bam¬
Bord schaut zu, wie die pittoreske Schwerpunkt Afrika ist sie bus und Palmblättern einrichtet;
Szenerie der afrikanischen Stadt
wie sie eines Nachts vor der
allmählich einer üppigen Ufer¬ besondersan der Methode Türöffnung - extragross für den
wildnis Platz macht. Sie ist al¬
Gast aus Europa - das bedroh¬
leine unterwegs, und sie freut logie der Sozialwissen liche Fauchen eines Leoparden
sich auf ihr grosses Abenteuer.
hört, mit einer Trommel Not¬
Zwei Wochen lang wird sie mit schatten interessiert
signale gibt und von den herbei¬
dem Paddlesteamer flussaufwärts
eilenden Männern ausgelacht
fahren, um am Kasai, einem Sei¬
wird, weil der Leopard nur ein
zufrieden grunzendes Schwein
tenarm des Kongo, den Lele zu
ist. Vor Leoparden, beschwich¬
begegnen, jenen Menschen, über
die sie zu Hause so viel gelesen
tigt man sie, brauche sie ohne¬
hat. Endlich, nach langen Vor¬
hin keine Angst zu haben, denn
alle Leoparden seien in Wirklich¬
bereitungen, ist die Feldfor¬
keit Hexer, und die könnten ja
schung in greifbare Nähe gerückt.
«Einmal täglich legte der
doch nur einem Lele Schaden
Dampfer bei einem Dorf an; ich
zufügen.
Heute blickt Mary Douglas
war beeindruckt von der Schön¬
heit der Frauen und Männer, die
auf eine erfolgreiche Karriere zu¬
rück. Sie war Dozentin und Professorin an
unser Boot mit Brennholz und Nahrung
englischen und amerikanischen Universitä¬
versorgten. Als wir im Gebiet der Lele an¬
gekommen waren, holten mich zwei Missio¬
ten, ist noch immer «part-time Visiting Pro¬
fessor» in Princeton, hat unzählige Bücher
nare mit langen Barten ab; ich hatte ihnen
meinen Besuch angekündigt und durfte
und Aufsätze veröffentlicht und sich im Be¬
einen Monat lang bei den Nonnen auf ihrer
reich der Anthropologie weltweit als heraus¬
Station bleiben, um die Sprache zu lernen,
ragende Persönlichkeit profiliert. Der lange
denn es gab weder Grammatik- noch Wör¬
Marsch durch die akademischen Institutio¬
terbücher. Der einzige Lele, der ein wenig
nen hat ihre Kräfte aber keineswegs auf¬
Französisch sprach und mich unterrichten
gezehrt. Die hellen Augen sind noch immer
voll von der forschenden Offenheit, mit der
konnte, hatte eine Hasenscharte...»
sie als 28jährige nach Afrika reiste. Konzen¬
VIERUNDVIERZIG JAHRE SPÄTER er¬ triert hört sie zu und denkt nach, bevor sie
zählt Mary Douglas noch immer lebhaft
spricht. Eine selbstbewusste, kultivierte In¬
und leidenschaftlich von der Feldforschung
tellektuelle.
Was aber suchte sie 1949 bei den Lele?
im ehemaligen Belgisch-Kongo. Wir sitzen
auf der schattigen Veranda ihres Londoner Wonach forscht eine junge weisse Frau in
einer fremden, exotischen Kultur?
Vorstadthauses, ein sonniger Junimorgen,
frisch und klar. Die 72jährige Sozialwissenschaftlerin ist sichtlich bewegt, als sie sich
MARY IST FÜNF JAHRE ALT, als sie von
ihren Eltern nach Hause geschickt wird. Ihr
an die Erlebisse bei «ihrem» Volk erinnert.
Mary im Land der Lele : Es fällt nicht schwer, Vater arbeitet im «Indian Civil Service»,
sich vorzustellen, wie sie nach ihrer Ankunft
einer Verlängerung des British Empire in
Burma. Doch in den zwanziger Jahren gilt
am Kasai-River so bald als möglich vom letz¬
das tropische Klima als ungesund für weisse
ten Aussenposten der europäischen Zivili-
LÉOPOLDVILLE,
'^rt
22
Kinder, ausserdem fehlt es an Schulen, und
so ziemt es sich, Mary bei ihren Grosseltern
in England aufwachsen zu lassen. «Es war
eine ausgesprochen friedliche Zeit, ich war
abgeschirmt vom richtigen Leben. Alte
Leute sind viel gelassener, haben die grossen
Probleme hinter sich. Nie hatten wir Diskus¬
sionen ums Geld, nie hörte ich ein wirklich
grobes oder zorniges Wort.»
In der Geborgenheit sehnt sich die
kleine Mary aber auch nach der exotischen
Welt, in der ihre Eltern leben. Das Gefühl,
nicht dort zu sein, wo sie eigentlich hin¬
gehört, begleitet sie. Es holt sie wieder ein,
als sie 1943 in Philosophie, Politikwissen¬
schaft und Ökonomie abschliesst. Rund¬
herum tobt der Zweite Weltkrieg, und die
frischgebackene Oxford-Absolventin sieht
sich unnütz draussen stehen. Sie meldet sich
beim Colonial Office in London, in der Ab¬
sicht, den Kolonien zu helfen und ihre Un¬
abhängigkeit vorzubereiten. «Ein grosser
Irrtum.» Wenn es einen Ort gibt, wo wäh¬
rend des Krieges absolut nichts los ist, dann
das Colonial Office. Ein weiteres Mal fühlt
sich die junge, tatendurstige Frau vom Le¬
ben abgeschnitten.
Mary ist frustriert, sie langweilt sich.
Immerhin begegnet sie im Colonial Office
einigen Anthropologen, unter ihnen Au¬
drey Richards und Raymond Firth, und be¬
ginnt sich für ihre Arbeit zu interessieren.
Bis jetzt hat sie nicht einmal gewusst, dass
es so etwas wie Anthropologie gibt. Als sie
ihre Bücher liest, ist sie begeistert.
Zielstrebig kehrt Mary nach dem Krieg
nach Oxford zurück, um bei Meyer Fortes,
Max Gluckman und E. E. Evans-Pritchard
Anthropologie zu studieren. Macht sie nun
das Abseitsstehen zum Programm? Dreht
sich die Anthropologie nicht immer wieder
um die Erfahrung des Aussenseiters, der
Aussenseiterin?
«Ja, aber bei der anthropologischen Ar¬
beit ist man zugleich mittendrin. Nehmen
Sie Audrey Richards' Buch (Land, Labour
and Diet in Northern Rhodesia), das ich
damals gelesen hatte. Es geht darin um den
Alltag in einigen Bemba-Dörfern, in denen
sich die Frauen selber organisieren müssen,
während sich die Männer in den Kupfer¬
minen abrackern. Richards' Beschreibun¬
gen lassen den Leser, viel mehr als andere
wissenschaftliche Bücher, durchaus von
innen her am Geschehen teilhaben. Auch
Evans-Pritchards Buch über die Nuer nähert
sich in einem philosophischen Sinn dem In¬
nersten der Kultur. Hinter meinem Interesse
für Anthropologie steckt wohl auch der
Wunsch, eine Gesellschaft aus dem Innern
heraus zu verstehen. Natürlich war ich als
weisse Feldforscherin in Afrika eine Aussenseiterin, es war mir klar, dass ich niemals
ganz akzeptiert würde. Und dennoch hatte
ich nie wirklich das Gefühl, ausgeschlossen
zu sein.»
INNEN UND AUSSEN. Ins Fremde vor¬
dringen und zugleich intensiv mit dem
Eigenen konfrontiert sein: Mary Douglas
weiss um die Projektionen, die aus dieser
Ambivalenz entstehen können. Bei ihrem
Wunsch, die Lele zu besuchen, sind auch
romantische Vorstellungen im Spiel. Ge¬
wiss, 1949 gibt es gute wissenschaftliche
Gründe, nach Afrika zu gehen. Die bestan¬
denen Anthropologen in Oxford sind alle¬
samt Afrikanisten, die grossen Theorien
beruhen durchwegs auf Feldforschungen in
Afrika. Mary interessiert sich vor allem für
die matrilinearen Gesellschaften Zentral¬
afrikas und hofft, durch die Arbeit im Feld
einige theoretische Lücken zu schliessen.
Als sie auf einem Kongress einen belgischen
Kolonialbeamten trifft, der ihr von den Lele
vorschwärmt, ist ihr klar, dass sie an den
Kasai-River will. «Ein abgelegenes Gebiet,
ein unberührtes Volk, Pfeil und Bogen, Viel¬
männerei, exotische Riten und Menschen,
die sich rot bemalen - das tönte alles furcht¬
bar aufregend.» Dank ihrer familiären Bezie¬
hungen zu den Kolonien hat sie keine Angst
davor, als Frau allein ins Innerste Afrikas
zu reisen. Für die junge Anthropologin ist
der Umgang mit fremden Kulturen etwas
Selbstverständliches, sie weiss, dass sie sich
auch ausserhalb Europas zu Hause fühlen
kann. Ermutigt und angespornt fühlt sie sich
überdies durch die starke Tradition von
Frauen, die als Feldforscherinnen berühmt
geworden sind. Ja, Margaret Mead ist auch
ihr ein Vorbild.
Bei den Lele wird sich Mary allerdings
bewusst, dass sie für die vorgesehenen For¬
schungen stark benachteiligt ist. «Die Män¬
ner organisierten alle wichtigen rituellen
Ereignisse. Als Frau hatte ich absolut keine
Chance, in die streng gehüteten Geheim¬
nisse der Männerbünde eingeweiht zu wer¬
den. Keine Frau wäre dazu imstande gewe¬
sen, auch wenn sie die Sprache besser be¬
herrscht hätte. Dabei wären die Kulte unent¬
behrlich gewesen für ein umfassendes Ver¬
ständnis des Lele-Weltbildes. Eigentlich ge¬
hörte ich für die Männer nicht einmal zu
den Frauen, ich war sozusagen ein ge¬
schlechtsloses Wesen.»
Dafür lernt Mary die Lele aus einem an¬
deren, durchaus faszinierenden Blickwinkel
kennen; sie hat Zugang zum Alltag der
Frauen, der einem männlichen Anthropo¬
logen verschlossen geblieben wäre. «Es war
die Perspektive des Underdog. Aber daraus
ergibt sich nur ein unvollständiges Bild der
Lele-Kultur.»
Nach einem Jahr reist die Forscherin mit
dem unbefriedigenden Gefühl wieder ab,
die Hexerei zu wenig verstanden zu haben.
Trotzdem kann sie ihre Aufzeichnungen zu
einer soliden, klassischen Monographie ver¬
arbeiten und in Oxford und London eine
akademische Laufbahn beginnen. Die ent¬
scheidenden Fragen ergeben sich aus dem
Vergleich mit den Arbeiten ihrer Kollegen:
Warum fehlt bei den Lele und anderen Völ¬
kern Zentralafrikas der Ahnenkult, der sonst
so zentral ist? Warum haben Hexerei und
Schuldzuweisungen so grosse Bedeutung?
«Dies ist in erster Linie eine Unter¬
suchung über Autorität - oder vielmehr:
über ihr Versagen», lautet der erste Satz des
Buches «The Lele of the Kasai», in dem sie
1963 die Ergebnisse ihrer Feldforschung
präsentiert. Mary Douglas hat beobachtet,
wie sich die Lele-Gesellschaft durch gegen¬
seitige Schuldzuweisungen ständig aufrieb
und selbst zerstörte, während ein Nachbar¬
volk, die Bushong, sinnvolle Institutionen
geschaffen hatte zur Bewältigung seiner
Konflikte. «Ich begann mich dafür zu inter¬
essieren, unter welchen Bedingungen die
Mitglieder einer Gesellschaft aufhören, sich
in feindliche Parteien zu zersplittern und
sich gegenseitig zu bekämpfen. Wie entsteht
Solidarität? Der Horror vor einer in sich
verfeindeten Gesellschaft prägte meine gan¬
zen späteren Forschungen.»
LANGE ZEIT muss Mary Douglas aller¬
dings ihre wissenschaftlichen Ambitionen
zurückstellen, als Mutter von drei Kindern
bleibt ihr kaum Zeit für regelmässiges Publi¬
zieren. Erst viel später führt sie der Blick¬
winkel des Underdog, die Perspektive der
politisch machtlosen Lele-Frauen, zu origi¬
nellen neuen Erkenntnissen. 1966, siebzehn
Jahre nach dem Aufenthalt bei den Lele, legt
sie das Buch «Purity and Danger» vor und
macht sich damit weit über die Fachgrenzen
hinaus einen Namen. Mary Douglas zeigt,
dass Schmutz relativ ist und auf Grenz¬
linien verweist, mit denen eine Gesellschaft
sich selbst und ihr Weltbild organisiert:
«Schmutz als etwas Absolutes gibt es nicht:
er existiert nur vom Standpunkt des Betrach¬
ters aus. Wenn wir uns davon fernhalten,
so geschieht das nicht aus feiger Furcht und
noch weniger aus Grauen oder heiligem
Schrecken. Ebensowenig lassen sich alle
unsere Massnahmen zur Beseitigung und
Meidung von Schmutz mit unseren Vorstel¬
lungen von Krankheitsverursachungen er¬
klären. Schmutz verstösst gegen Ordnung.
Seine Beseitigung ist keine negative Hand-
lung, sondern eine positive Anstrengung,
die Umwelt zu organisieren.»
Reinigungsrituale aller Art, sagt Mary
Douglas, dienen dazu, eine ihrem Wesen
nach ungeordnete Erfahrung zu systemati¬
sieren. Schmutz ist also das Nebenprodukt
dieses systematischen Ordnens und Klassifizierens von Sachen. Aus den kulturell be¬
dingten Schmutzvorstellungen lässt sich da¬
her ein Reinheitssystem ermitteln, dessen
Symbolgehalt unübersehbar ist - ein Rein¬
heitssystem, in dem sich letztlich auch Vor¬
stellungen über Sein und Nichtsein, Gestal¬
tetes und Ungestaltetes, Leben und Tod
spiegeln.
Aber wie gelangt die Forscherin von ba¬
nalen, alltäglichen Handlungen zu den ge¬
sellschaftlich bedingten Auffassungen über
die Wirklichkeit? Und was hat das alles mit
der Underdog-Perspektive der Lele-Frauen
zu tun?
«Dass ich als Frau bei den Lele von eini¬
gen männlich dominierten Bereichen aus¬
geschlossen blieb, war vielleicht auch eine
Chance. Ich verbrachte die meiste Zeit mit
den Frauen oder mit alten und kranken
Männern, die nicht auf die Jagd durften. Es
war wie im Wartezimmer einer Arztpraxis.
Die Leute berichteten mir von ihren Be¬
schwerden und zählten auf, was sie nicht
essen durften. Allmählich konnte ich auf
die tieferliegenden Vorstellungen über
Schmutz, Abscheu und Verunreinigung
schliessen. Indem ich den Alltag der LeleFrauen teilte, fiel mir auch auf, dass sie
untereinander häufig zerstritten waren. Sie
beschuldigten sich gegenseitig, Tabus ver¬
letzt zu haben und dadurch unrein gewor¬
den zu sein. Ansteckungsängste waren aus¬
serordentlich verbreitet. Wenn eine Frau
krank war, verdächtigte sie eine andere, mit
ihrem Mann geschlafen zu haben. Die Er¬
klärung für die Krankheit lautete dann, die
Angeschuldigte habe auf dem Bett der Frau
gelegen und es durch die Verletzung eines
Tabus verunreinigt. Der Kontakt mit dem
Bett habe die Frau schliesslich krank ge¬
macht. So erfuhr ich von all den physischen
Kontakten, die die Frauen für gefährlich
hielten; sie waren immer sehr besorgt um die
Sicherheit ihrer Kinder, denn überall im Le¬
ben witterten sie schreckliche Ansteckungs¬
gefahren.»
DIE ETHNOGRAPHISCHE BESTANDS¬
AUFNAHME bei einem Eingeborenen¬
stamm ist nutzlos, wenn sie keine Rück¬
schlüsse auf unsere eigene Gesellschaft er¬
laubt: Dieses Postulat steht über dem gesam¬
ten Schaffen von Mary Douglas, und sie
weiss, dass es dazu einer klaren theoreti¬
schen Durchdringung des gesammelten Ma¬
terials bedarf. Konkrete Beobachtungen
müssen in abstrakte Modelle gegossen wer¬
den. Mary Douglas bleibt nicht beim ober¬
flächlichen Vergleich zwischen dem Früh¬
jahrsputz in unseren Städten und dem
S.
23
24: Muda Mathis, Der Dienstag (mit Renatus Zürcher)
Swazi-Ritual zur Feier der Erstlingsfrüchte
stehen: «Natürlich gibt es einen Zusammen¬
hang zwischen diesen Ritualen, mit denen
verschiedene Gesellschaften ihre Umwelt
organisieren. Jedesmal geht es darum, den
unterschiedlichen kognitiven Systemen
Ausdruck zu verleihen, das herrschende
Weltbild in die Tat umzusetzen. Aber das ist
banal und hat mich nie besonders beschäf¬
tigt. Die wirklich interessante Frage lautet
doch: Woher kommen alle diese grund¬
legenden Vorstellungen und Überzeugun¬
gen, wie die Welt beschaffen sei? Wie ist es
möglich, dass sich ein bestimmtes Weltbild
durchsetzt? Wie entstehen die Klassifikations- und Wissenssysteme, die das Denken
und Handeln des Individuums in be¬
stimmte Bahnen lenken?»
Auf
diese Weise
dringt die Anthropo¬
login in immer tiefere und fundamentalere
Schichten der Analyse vor; sie distanziert
sich zunehmend von einer anschaulich be¬
schreibenden Ethnographie. Und doch blei¬
ben ihre Erfahrungen im Feld unterschwel¬
lig präsent. Noch mit ihrem letzten grossen
Werk, «How Institutions Think» (1986), in
dem sie komplexe erkenntnistheoretische
Fragen erörtert, schlägt Mary Douglas eine
Brücke zu den Lele: «Dies ist das erste Buch,
das ich nach meinen Arbeiten über die Feld¬
forschung in Afrika hätte schreiben sollen.»
Jedes ihrer Bücher sei gewissermassen die
nachträgliche Einleitung zum jeweils voran¬
gehenden Buch, eigentlich hätte sie also in
umgekehrter Reihenfolge schreiben müs¬
sen, zum Abschluss dann «The Lele of the
Kasai».
Wie bezeichnend für diese Forscherin.
Weit entfernt vom persönlich gefärbten,
halbliterarischen Stil, mit dem die Anthro¬
pologie heute Aufsehen erregt - und erwar¬
tet man von Frauen etwas anderes als Sub¬
jektivität? -, bleibt Mary Douglas selbst die
grosse Abwesende in ihren Büchern. Sogar
im Gespräch ist sie hinter ihrer distinguier¬
ten, intellektuellen Erscheinung schlecht
in den Vor¬
dergrund zu rücken. Und diskret sind in ih¬
rem Haus die äusseren Zeichen, die auf die
Erforschung exotischer Welten und fremder
Kulturen hindeuten. Keine furchterregen¬
den Masken im Wohnzimmer, kein Speer¬
arsenal an der Wand.
«Ich weiss, eine Reihe von jüngeren An¬
thropologen macht meiner Generation den
Vorwurf, wir wollten bei unserer Arbeit Ob¬
jektivität vortäuschen. Aber die meisten, die
sich selbst in ihre Forschungen einbringen,
tun dies schlecht; ihre Ichbezogenheit finde
ich schlicht langweilig, diesen Leuten fehlt
es an echten Forschungsaufgaben. Nichts
gegen Selbstreflexion, aber das muss be¬
herrscht sein. Victor Turner zum Beispiel
hat sich in faszinierender Weise selbst mit
einbezogen, indem er seine Beziehung zu
den Informanten thematisierte. Ich hätte
fassbar. Sie scheut sich, Privates
das so
nicht geschafft.»
EXPLORATIONS IN COSMOLOGY lau¬
tet bereits 1970 der Untertitel zum Buch
«Natural Symbols» von Mary Douglas. Der
Abstraktionsgrad, auf den sie zustrebt, ver¬
trägt sich schlecht mit subjektiven Erlebnis¬
schilderungen. Ja, es hängt auch mit ihrem
Erkenntnisinteresse zusammen, dass die Au¬
torin Mary Douglas in ihren eigenen Wer¬
ken kaum vorkommt. Wenn sie Rituale und
Tabus, Tischordnungen und Speisegebote,
Menüpläne und Einkaufskörbe, Witze und
Mythen, Körpersprache und Ozonloch¬
debatten unter die Lupe nimmt, so will sie
nicht nur zeigen, dass die Menschen mit
diesen alltäglichen Dingen soziale Struktu¬
ren symbolisch zum Ausdruck bringen; es
geht ihr auch um die zugrunde liegenden
Klassifikationen, auf denen die gesellschaft¬
liche Konstruktion der Wirklichkeit beruht.
Sie interessiert sich für das geistige Ord¬
nungssystem, mit dem sich die Menschen in
der Welt orientieren, und sie fragt nach der
Beziehung zwischen Ordnungssystem und
Gesellschaftsform. Den Schlüssel dazu lie¬
fert ihr eine Theorie der Verantwortlich¬
keiten: «Die grundlegenden Ideen einer Ge¬
sellschaft sind stets gekoppelt mit den For¬
derungen, die die Mitglieder gegenseitig
stellen, Weltbild und Wahrnehmung hän¬
gen davon ab, in welchem Mass die Men¬
schen einander Verantwortung und Schuld
zuschieben. Anhand der Verantwortlich¬
keiten lassen sich Denken und Wirklichkeit
miteinander verbinden. Die Art und Weise,
in der sich Menschen untereinander verant¬
wortlich fühlen, bildet den Angelpunkt
jeder Organisation, sei es ein einzelner
Haushalt oder eine ganze Gesellschaft.»
Wiederum klingt nach, was Mary Dou¬
glas bereits in ihrem Buch über die Lele
präsentiert hat. Schon lange glaubt sie nicht
mehr an einen fundamentalen Unterschied
zwischen sogenannt primitiven und indu¬
striellen Gesellschaften. Ituri-Wald-Pygmäen und moderne Londoner Stadtmen¬
schen haben eine ähnlich lockere Einstel¬
lung zu Ritualen, magische Deutungen von
Unglücksfällen und Gefahren lassen sich
durchaus mit wissenschaftlichen Erklärun¬
gen vergleichen. Traditionelle Gesellschaf¬
ten kennen Tabu und Sünde, um das Verhal¬
ten ihrer Mitglieder zu lenken, die post¬
moderne Gesellschaft verwendet dafür den
Begriff des Risikos; und bei der Wahrneh¬
mung und Beurteilung von Umweltrisiken
zeigt sich, dass auch wir das Universum mo¬
ralisieren, indem wir unser Gesellschafts¬
ideal unausgesprochen auf die Natur über¬
tragen. Warum, fragt Mary Douglas, reden
wir nicht direkt über dieses Gesellschafts¬
ideal, bevor wir uns auf einen unentscheidbaren Streit über Umweltschutzmassnahmen einlassen?
halten meine Ansichten für komplett falsch.
Das Wort Hierarchie löst heute bei den mei¬
sten Leuten so starke Abwehrreaktionen aus,
dass sie kaum mehr nüchtern darüber nach¬
denken können. Aber was bedeutet Hier¬
archie? Nichts anderes als eine Rangfolge.
Wenn man die akzeptiert und gewisse Kon¬
trollen einbaut, nähert man sich einem Mo¬
dell, das in traditionellen afrikanischen Kul¬
turen verbreitet war: überschaubare Hier¬
archien, in denen jeweils eine Gegenmacht
existierte. Neben dem König gab es zum Bei¬
spiel die Königinmutter mit ihren Räten
und Richtern, die die Handlungen des Kö¬
nigs überwachten.
Schauen Sie, alle möglichen Systeme
sind schlecht, jedes hat seine Fehler. Aber
eine Gesellschaft, in der die individuellen
Bedürfhisse Priorität haben, scheint mir
viel gefährlicher als eine Hierarchie mit ein¬
gebauter Machtkontrolle. Individualismus
führt zu einer unerträglichen Zersplitterung
in feindliche Interessengruppen. Egalitäre
Organisationen ohne Autorität sind in der
Regel schwach und zerbrechlich. Ihre ver¬
unsicherten Mitglieder verzehren sich in
sektiererischen Kämpfen. Davor habe ich
Angst. Wohin das führt, habe ich bei den
Lele in Afrika gesehen: Das Fehlen einer
Autorität mussten sie mit abschreckenden
und kräfteraubenden Mitteln kompensie¬
ren, um die innere Stabilität der Gesellschaft
zu erhalten.
Die meisten Mängel, die dem hierarchi¬
schen System angelastet werden, haben mit
Vorurteilen zu tun. Man hat Angst vor der
Macht und verwirft das ganze System, an¬
statt über Möglichkeiten der Machtkon¬
trolle nachzudenken. Der Mensch braucht
einen reichen, komplexen und wohlorgani¬
sierten Kosmos, in dem er sich einrichten,
eine Organisation, in die er Vertrauen haben
kann. Das geht nicht ohne Autorität. Wenn
man bereit ist, Autorität anzuerkennen ich halte das für ein Zeichen der Reife -,
kann die Autorität auch aufdie unterschied¬
lichen Bedürfnissse einer Gesellschaft rea¬
gieren. Ein hierarchisches System ist viel
eher in der Lage, ein Gesetz dem Einzelfall
anzupassen oder Minderheiten zu schützen,
und das ist doch ein kultureller Gewinn.»
«MEIN PERSÖNLICHES IDEAL ist ein
ENTSPANNT lehnt sich Mary Douglas in
ihren Stuhl zurück. Ein zufriedenes, wohl¬
wollend-verschmitztes Lächeln huscht über
ihr Gesicht. Die Anthropologin weiss um
die irritierende Wirkung ihrer Worte. Aus¬
gerechnet sie, die weltoffene, scharf analy¬
sierende, differenziert und liberal denkende
Wissenschaftlerin, ausgerechnet sie plädiert
für eine hierarchische Gesellschaft? Seltsam.
Was voreilig als unreflektiertes reaktionäres
Geschwätz abgetan werden könnte, klingt
bei ihr vernünftig und wohldurchdacht.
«Ja, auch den Frauen ginge es in einem
gutes hierarchisches System. Ich weiss, da¬
mit liege ich nicht im Trend, viele Freunde
guten hierarchischen System besser», ant¬
wortet sie ruhig. Sie verweist auf persönliche
26
Erfahrungen im früheren britischen Univer¬
sitätsbetrieb. Eine funktionierende hierar¬
chische Struktur erlaubte ihr grosse Freihei¬
ten und eine Sonderstellung als Frau, so dass
sie neben der wissenschaftlichen Arbeit ihre
drei Kinder grossziehen konnte. «Zwischen
meiner Feldforschung und dem Buch dar¬
über vergingen ganze fünfzehn Jahre. So
etwas wäre zum Beispiel an einer egalitär
organisierten amerikanischen Universität
undenkbar. Eine Frau, die zehn Jahre nach
ihrer Feldforschung noch keine Publikation
vorweisen kann, weil sie sich eben der Fami¬
lie widmet, fällt aus dem akademischen
System heraus. Auch bei uns haben es die
Frauen heute viel schwerer; sie stehen nicht
nur unter enormem Druck zu publizieren,
es wird ihnen auch viel administrative Ver¬
antwortung aufgebürdet. Im ganzen müssen
sie mehr leisten als die Männer, um sich
zu behaupten. Ich war in meiner Zeit aus¬
serordentlich privilegiert.»
Mechanisch verstandene Gleichheit,
schreibt sie, verstümmelt die Vielfalt der
menschlichen Bedürfnisse.
«Wahrscheinlich geniesse ich ein höhe¬
res Ansehen, als wenn ich ein Mann wäre.
Aber das heisst nicht, dass meine Bücher
wirklich ernst genommen würden. Um Ein¬
fluss aufdie Entwicklung der Anthropologie
zu nehmen, hätte ich eine wichtigere aka¬
demische Position bekleiden müssen. Sol¬
che Verpflichtungen konnte ich aber neben
der Familie nicht auch noch übernehmen.»
Heute hat sie das Gefühl, ausserhalb
ihres Faches zu stehen, weil sie sich mit
Fragen beschäftigt, für die sich andere An¬
thropologen kaum mehr interessieren. «Es
gibt einen generellen Trend gegen theore¬
tische Ansätze. Ein aussenstehender Autor,
der meine Biographie schreibt - eine Ehre,
die mir als Mann kaum widerfahren wäre -,
hat bei der Durchsicht meines Werkes fest¬
gestellt, dass ich mich meist im Mainstream
der klassischen Anthropologie bewegte.
Und doch gilt mein Werk unter den heuti¬
gen Vertretern der Disziplin als exzentrisch.
Das verbindet mich übrigens mit einigen an¬
deren Anthropologinnen. Man kann meine
Ideen leicht übergehen, sie spielen in der
aktuellen anthropologischen Diskussion
eine untergeordnete Rolle.»
Eine Frau, die für hierarchische Struk¬
turen eintritt und mehr Theorie fordert?
Unzeitgemäss, gewiss. Aber aus dem Ab¬
seits, das hat Mary Douglas schon früh er¬
fahren, kommen nicht die schlechtesten
Einsichten. Und im Wartezimmer gesche¬
hen zuweilen bedeutendere Dinge als auf
der Intensivstation.
¦
1¦
Sprachliche Systeme stellen ein Zusammenwirken von Regeln dar, die ihrerseits das
Ergebnis von Geschichte und Gebrauch sind. Dieses Zusammenwirken geschieht in
einer aktiven und einer passiven Weise: Informationen werden ausgesendet (Sprechen und
Schreiben) und empfangen (Hören und Lesen). Weil die Sprache ein abstraktes System von
Zeichen und Symbolen ist und weil der Kontext sich immer ändern kann, ist die Interpretation
subjektiv. Aber es herrscht doch breite und wechselseitige Übereinstimmung über die Bedeu¬
tung und Funktion von solch grundlegenden Elementen der (indoeuropäischen) Sprache und
Grammatik wie Buchstaben und den Abständen zwischen ihnen. Auf der Mikroebene von Worten
und kurzen Sätzen
ist die Funktion dieser Grundelemente für die Entstehung von Sinn ent¬
scheidender als in längeren Abschnitten. Hier liegt das Hauptinteresse meiner Arbeit, da wo
Abwesenheit, Anwesenheit, Wiedereinfügung oder Veränderung von einer dieser kleinen Ein¬
heiten die sprachliche Folge stören und dabei Muster und Systeme freilegen, die über ihre
erwartete Funktion hinausgehen, sie übererfüllen. Lektion
1
erzählt eine knappe und sparsam
ausgestattete Geschichte aus nur drei Wörtern, indem sie deren neun Buchstaben dazu
bringt, eine Handlung aus einem Verb, einer Konjunktion und einem Substantiv herzustellen.
Der Buchstabe A, der von zwei Ds gefolgt wird, ergibt ADD, ein Wort, das die Bedeutung von
«vermehren, hinzufügen» hat. In der Tat nehmen die Ds innerhalb des Wortes zu. Zusätzlich
wird jetzt das mittlere
D
durch ein
N
ersetzt,
um AND
herzustellen, wobei die Anweisung
von ADD befolgt und es durch ein anderes Wort ergänzt wird. Das neue Wort, AND, genügt
ausserdem seiner eigenen Definition als VerbindungsWerknüpfungswort durch seine Posi¬
tion in der Mitte. Indem man nun das
Position.
Eine minimale, fast un¬
bewusste
weise,
Vorgehens¬
bei
Buchstabe
der
in
ein
jedem
Wort verschoben wur¬
de, erlaubte es, dass
das Wort ADD sich auf
systematischem Weg in
eine kurze Geschichte
verwandelte, indem es
eine Mitte und ein Ende
aus seinem einfachen,
unspektakulären
sprung
Ur¬
erschuf.
Die
Lektüre muss aktiv und
scharfsichtig sein,
um
Publikationen: «Purity and Danger», London 1966 (dt.
«Reinheit und Gefährdung', Suhrkamp). «Natural Symbols»,
die
London 1970 (dt. «Ritual, Tabu und KörperSymbolik», Tischer
TB 7365). «Essays in the Sociology of Perception», London
1982. «Risk and Culture», Berkeley 1982. «Risk Acceptability
according to the Social Sciences», New York 1985. «How Insti¬
tutions Think», Syracuse 1986. «Risk and Blame, Essays in
cultural theory», London 1992.
Geschichte in diesem
Rudimente
für ein
E
austauscht, um
END
herzustellen, hat
vervollständigt. Die Bedeutung eines jeden Wortes entspricht seiner
man die Sequenz
zeitlichen
A
einer
sehr gedrängten Text
wahrzunehmen.
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