Zur Dekoration einer sogennanten Hauptstadt Richard von Weizsäcker Gemäß Einigungsvertrag ist Berlin Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland. Bisher ist unklar, was das politisch bedeutet soll. Das Wichtigste ist der Sitz der Verfassungsorgane. Darüber soll der Gesetzgeber entscheiden. Sein Votum wird folgenreich in die ferne Zukunft hineinwirken. Im neuen Bundestag wird auf eine rasche Abstimmung gedrängt. Der Bedarf nach baldiger Planungsklarheit für Berlin und Bonn liegt auf der Hand. Weniger heilig ist die praktische Umsetzung einer verbindliche Entscheidung. Sie kann Schritt für Schritt, muß aber auch nach klarem Plan erfolgen. Erfahrungsgemäß verlaufen Hauptstadtdebatten außerordentlich kontrovers. Politische Führung wird dadurch nicht leichter. Dennoch ist politische Führung gerade auch in diesem Streit von elementarer Bedeutung. Sie kann sich zwar nicht vornehmen, ein ganz bestimmtes Ergebnis durchzusetzen; denn über unverrückbar kontroverse Interessen kann letzten Endes nur durch Abstimmung entscheiden werden. Die Hauptstadtfrage ist aber keine ethische Grundsatzfrage, die deshalb dem Gewissen eines jeden allein überlassen bleiben müßte. Vielmehr erfordert sie eine klare Erkenntnis der weitreichenden politischen Folgen. Sie hängt zentral mit der Politik zusammen, die Deutschland langfristig machen muß und wird. Darüber Auskunft zu geben ist Aufgabe der politischen Führung. Sie muß ihr Zukunft bald entwickeln und vertreten: sie muß auf diese Weise dafür sorgen, daß im Bewusstsein der großen politischen Herausforderungen entscheiden wird, vor denen wir stehen, und nicht mit bloßem Status-quo-Denken. Die Fragen, um die es geht, lauten: wie sieht die politische Landkarte Europas in 20 Jahren aus? Welche verantwortliche Rolle fällt dem vereinigten Deutschland dafür zu? Hat dies Auswirkungen auf die Hauptstadt? In den nächsten zwei Jahrzehnten wird sich die europäische Landkarte entscheidend verändern. Dann werden alle Efta- Länder sowie Polen, die ČSFR und Ungarn durch Mitgliederschaft oder mitgliederschaftsähnliche Assoziierung mit der EG verschmolzen sein. Nicht Deutschland wird durch Vereinigung östlicher; Deutschland war zuvor dasselbe Land, nur geteilt. Europa dagegen rückt in die Mitte des Kontinents, und auch der Norden, wie schon der Süden, wird dazu gehören. Die Homogenisierung des größeren und zentralen werdenden Europas ist das historische Gebot der kommenden Zeit. Sie ist notwendig, um Rückfällen in alte Nationalismen, in tiefe ökonomischsoziale Konflikte und in chaotische Bevölkerungsmigrationen zu entkommen. Es spricht dem vitalen europäischen Interesse und dem tiefen Verlangen der Menschen, daß diese Entwicklung gelingt. Zu ihrem Erfolg beizutragen, das ist die ganz besondere Verantwortung Deutschlands. Deutschland hat nicht die beherrschende Rolle zu spielen, aber die treibende. Die fünf neuen Bundesländer müssen und können einen entscheidenden Beitrag für die europäische Entwicklung leisten. Die Skandinaver werden im europäischen Wirtschaftsraum wie früher wieder direkte Wege nach Süden suchen. Der Kontakt zwischen den Ostsee- und den Mittelmeerländern wird lebendig. Polen und die ČSFR werden sich mit Nachdruck nach Westen orientieren. Interessenten aus Übersee werden sich nach günstigen Standorten in zentral vergrößerten Europa umsehen. Nicht nur Sachsen und Mecklenburg, sondern auch Brüssel braucht Berlin als Drehscheibe. Den Raum Berlin für diese Rolle planmäßig zu qualifizieren und zu stärken liegt im weitsichtigen Interesse Europas nicht weniger als im deutschen. In ihr wird die europäische Zukunftsperspektive für ganz Deutschland in erster Linie finden. Berlin ist für seine weit in die Zukunft weisende Aufgabe durch seine Lage und Größe ausgerüstet. Im übrigen aber fehlt ihm zur Zeit das meiste. West-Berlin weist trotz der bisherigen Zulagen ein geringeres Pro-Kopf- Einkommen auf als fast jede Stadt in den alten Bundesländern. Es hat seine frühere Funktion als Zentrale der Industrie, der Banken und Dienstleistungen eingebüßt. Es hat heute weniger Hauptverwaltungen privater Firmen als alle größeren Städte im Westen. WestBerlin war nur eine verlängerte Werkbank der alten Bundesrepublik; es fehlt an qualifizierten Arbeitskräften, an konkurrenzfähigen Energiepreisen und an guter Infrastruktur. Ost- Berlin teilt die Probleme der fünf Länder und hat zusätzlich besonders hohe Quoten von Arbeitslosen wegen der zahlreichen ehemaligen öffentlich Bediensteten. Das Zusammenwachsen zweier politisch gegeneinander aufgebauter Zentralen bietet einen harten, aber auch notwendigen und lehrreichen Anschauungsunterricht für die Verantwortlichen im sich vereinigenden Deutschland und Europa. Berlin ist also zur Zeit voller wirtschaftlicher Defizite und sozialer Engpässe. Deutschland wird es sich jedoch überhaupt nicht leisten können, Berlin zum Musterbeispiel politischer Sozialhilfe vorkommen zu lassen. Selbstverständlich muß sich Berlin primär mit allen eigenen Kräften selbst helfen. Aber einerseits wird dies um so besser gelingen, je mehr organische Funktionen es hst, denn sie beleben die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leistungsfähigkeit. Anderseits wird Berlin noch für lange Zeit auf massive Hilfe des ganzen Landes angewiesen bleiben. Wer über hohen Kosten für Berlin klagt, muss wissen, daß er diese Kosten auf die Dauer noch am wirksamsten dadurch vermindert, daß er Berlin nicht die vitalen Funktionen vorenthält. Berlin Funktionen zu geben wird teuer. Berlin Funktionen zu verweigern wird letzten Endes noch teurer. Preußen wird es nicht wieder geben. Eine dem früheren Preußen vergleichbare zentralistische Machtstellung droht dem Ganze heute von keinem Bundeslande mehr, und wenn, dann von anderen Ländern weit eher als von Berlin- Brandenburg. Wer sich aus Angst vor preußischdeutschem Mythos und Zentralismus gegen Berlin wendet, dessen Motive sind rückwärts gewandt und nicht vorwärts. Zu einer Aufteilung der Verfassungsorgane auf Bonn und Berlin kann ich nicht viel hinzufügen. Groß sind die Möglichkeiten dafür nicht. Ich glaube freilich, daß man eine Stadt nur Hauptstadt nennen kann, wenn wenigstens zwei Verfassungsorgane dort residieren und arbeiten. Eines sollte klar sein: Zur Dekoration einer so genannten Hauptstadt, der alle andere Verfassungsorgane fernbleiben, kann der Bundespräsident allein nicht dienen. Er hat zwar schon einen Sitz in Berlin, aber er kann nicht mit seiner ganzen Behörde zum Zwecke einer optische Täuschung allein nach Berlin ziehen, um dort einer politisch-optischen Täuschung Vorschub zu leisten. Ähnliche Aufteilungen gibt es in keinem anderen Land der Welt. Bern, Ottawa, Canberra, Washington D.C. sind nicht größten Städte ihrer Länder. Aber sie sind formell und faktisch die Hauptstädte. Die Entscheidung des Gesetzgebers muß langfristig in die Zukunft orientiert und sie muß ehrlich sein. Er darf sich nicht um wahrhaftige Antwort auf die Frage herumdrücken, was denn unter Hauptstadt Berlin zu verstehen ist. Schon im August 1990 hat dazu Johann Georg Reißmüller geschrieben: „Wenn in Berlin nicht der Kanzler mit seinem Kabinett regiert, wenn dort nicht das Parlament die Gesetze beschließt, dann ist Berlin nicht die deutsche Hauptstadt, sondern eine – bedeutende- Nebenstadt. Wer das will, der soll es sagen“. Die politische Führung in Regierung und Parteien muß ihre Aufgabe erfüllen, denn langfristigen politischen Weg in die Zukunft zu weisen. Damit ermöglicht sie es erst dem Gesetzgeber, in der ganzen Freiheit, die ihm zusteht, klar sagen was er will. Berlin als Drehscheibe, Der Spiegel, 5 Marzo 1991