Giesinger, Judith (2004) Auf den Spuren freier Sexualität in der

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Giesinger, Judith (2004)
Auf den Spuren freier Sexualität in der Mühlkommune. Ein Forschungsbericht
Die vorliegende Arbeit ist der Bericht über eine kulturpsychologische Spurensuche.
Mittels Feldforschung, teilnehmender Beobachtung, biographisch-narrativen Interviews
und Ansätzen der dokumentarischen Methode versucht die Autorin den konjunktiven
Erfahrungsraum von sog. strukturoberen Kommunardinnen der aktionsanalytischen
Organisation (AAO), d.h. der ehemaligen Mühlkommune, zu rekonstruieren. Im
Mittelpunkt ihres Erkenntnisinteresses steht dabei im beson­deren die freie Sexualität.
Frau Giesinger konnte dazu im April 2001 sowie im Februar 2002 die noch bestehende
Gruppe um Otto Mühl in Spanien besuchen und an ihrem Alltag teilnehmen. Diese
Aufenthalte protokollierte sie in einem Forschungstagebuch, mit dessen Hilfe sich ihre
Interviews* auf den jeweiligen Handlungskontext beziehen lassen und auch die in diesem
Forschungszusammenhang besonders brisanten Übertragungs- und
Gegenübertragungsreaktionen dokumentiert werden. Sechs Interviews wurden im
Rahmen der dokumentarischen Methode (Bohnsack) einer formulierenden und
reflektierenden Interpretation unterzogen. Die daraus resultierenden Ergebnisse bildeten
die Basis einer Typenbildung. Für die Darstellung der Typen wurden Passagen aus allen
biographischen Interviews sowie entsprechende Textpassagen aus Büchern und
Zeitschriften der Kommune herangezogen. Dies erschien insofern sinnvoll, als die
einstige Kommuneideologie gerade im Bereich der freien Sexualität nach wie vor präsent
und bestimmend ist:
Freier Sexualität war bzw. ist sehr eng mit der kommunespezifischen Therapie und
Theorie der Aktionsanalyse verknüpft, die ihrerseits auf Reichs Arbeiten zur
Charakteranalyse und Vegetotherapie basiert. Durch bestimmte Körperübungen und das
Evozieren intensiver Emo­tionen soll sich das Individuum von einengenden Blockaden
und Moralvorstellungen befreien. Ziel und Zweck der Aktionsanalyse war es, den
KommunardInnen zu einer befreiten Sexualität zu verhelfen. Diese Befreiung
kondensierte in Vorstellungen zur ‚genitalen Identität’ und stand für die Fähigkeit, dem
Begehren nachzugeben. Allerdings wurde das Begehren des Individuums in der
Kommune von verschiedenen Regeln und Normen eingeschränkt. Dem Begehren wurde
nur innerhalb der Gruppe nachgegangen und es war durchwegs ein heterosexuelles.
Liebesbeziehungen (Zweierbeziehungen) standen hingegen für jene Moralvorstellungen,
von welchen sich die Kommune befreien wollte. Sie wollte eine Alternative zur
bürgerlichen Gesellschaft sein, eine Gemeinschaft ohne moralische Schranken, in der
man niemanden „betrügen“ konnte, weil niemand in einer Ehe oder Zweierbeziehung
gebunden war.
Jenseits der Selbstbeschreibungen der Kommune lässt sich die freie Sexualität auch als
Ritual verstehen, das den Zusammenhalt der Gruppe garantiert und dokumentiert. In den
Interviews kommt ebenfalls zum Ausdruck, daß der symbolische Gehalt der freien
Sexualität relevanter war als das tatsächliche Begehren. Im Verlauf der Entwicklung der
Kommune und schließlich nach der Kommuneauflösung veränderte sich zudem die freie
Sexualität. Das Ideal der Bindungslosigkeit war schwierig aufrechtzuerhalten. Um das
Sexualleben frei von Liebesansprüchen zu gestalten, wurde Sexualität vereinheitlicht und
auf den Akt an sich reduziert. Liebe wurde als fehlinterpretierte sexuelle Erregung
entzaubert. In Folge kam es – parallel zu Entwicklungen außerhalb der AAO (wo trotz
sexueller Revolution die Mehrheit der Menschen mit ihrer Sexualität wenig zufrieden
waren) – zu einer Ernüchterung des Sexuellen. Hier wie dort spielte dabei die
Orientierung an einer normativen Sexualität, die mit den individuellen Bedürfnissen nur
mehr wenig gemeinsam hatte, eine Rolle. Im Fall der Mühlkommune wurde das
Lustverbot gegen ein Lustgebot ausgetauscht (Diktat der Lust).
Auch in den Interviews dokumentierte sich Unzufriedenheit mit der freien Sexualität.
Verglichen die Befragten die durchaus positiv beschriebene freie Sexualität mit ihren
nach der Auflösung gesammelten sexuellen Erfahrungen, dann wurde die freie Sexualität
als defizitäre Sexualität beschrieben, bei der es „keinen Ort für Liebe“ gab. Wiewohl die
freie Sexualität zunächst die Überlegenheit der Kommunen-Avantgarde gegenüber den
Normalmenschen ausdrücken sollte, gab es auch in der Kommune selbst hinsichtlich der
freien Sexualität zunehmend „Überlegene“ und „Unterlegene“ – meist festgemacht an der
internen Klassengesellschaft der „Oberen“ und „Unteren“, wobei letzteren eine
Sehnsucht nach Zweierbeziehung nachgesagt und vorgehalten wurde. Dies war Verrat
an der Ideologie der Gemeinschaft, eine „Fehlleistung“, die mit Scham und dem Gefühl
des Versagens behaftet war. Anfangs wurden die ProtagonistInnen solcher
Fehlleistungen eher lächerlich gemacht. Mit der Zeit entwickelte sich jedoch ein stark
reglementierendes und repressives System, das von der Überzeugung getragen wurde,
die Fähigkeit zur freien Sexualität – d.h. jede Beziehung übergangslos in eine sexuelle
überführen zu können – sei nur „Auserwählten“ mit besonderem Bewusstsein
vorbehalten. Mühl behielt sich jedoch die Bewertung vor, wer mit diesem höheren
Bewusstsein ausgestattet waren, konnte dieses nach Belieben zuordnen und entziehen.
Das Fehlen klar nachvollziehbarer Kriterien führte zu einer Leistungsorientierung an der
„genitalen Identität“ und einem erfolgreich absolvierten Orgasmus.
Zudem vollzog sich im Rahmen des Grundanliegens der AAO, eine Alternative zur
repressiven Gesellschaft zu entwickeln und patriarchale Strukturen zu unterwandern, in
der Kommune eine Neubewertung traditioneller geschlechtsspezifischer Rollenbilder.
Mutterschaft, Weiblichkeit und Emotionalität, sowie künstlerische und reproduktive
schöpferische Tätigkeiten wurden durchwegs positiv bewertet. Rationalität, Logik oder
„Wirklichkeitsarbeit“ entwertet. Auch im sexuellen Werben, Begehren, Agieren - und
vielleicht auch Empfinden - waren die Frauen „aktiver“, „potenter“ und „mächtiger“. Die
freie Sexualität der Frau war von aktionistisch und dominierend, es war eine „männliche
Sexualität“, eine Aneignung des Phallus, ja sogar der weibliche Orgasmus wurde als
„abspritzen“ bezeichnet – eine Ausdrucksweise, die üblicherweise Männern vorbehalten
ist. Die in der Gesellschaft unterdrückte Position der Frau – ihr Objektstatus – war den
KommunardInnen vertraut wie verhasst und sie bemühten sich, genau das Gegenteil zu
schaffen. Die Kommunardin war omnipotent, omniaktiv, idealiter auch frei von
rührseligen, romantischen Sehnsüchten, aber sie war – so die Deutung der Autorin –
nach wie vor leistungsorientiert.
Diese von der Autorin vorgetragene Deutung einer die Sexualität vereinnahmenden
Leistungs­orientierung als Angst vor bzw. Abwehr der Passivität erweist sich als eine
sehr tragfähige Leitinterpretation. Mit dieser dem Selbstbild der Beforschten fremden und
inkompatiblen Deutung gerät sie als Forscherin allerdings in eine schwierige Situation;
denn nicht zuletzt als Folge ihrer hochengagierten Felderschließung hatten sich zu
manchen der befragten Frauen und auch anderen ehemaligen KommunardInnen
Freundschaften entwickelt. Diese Schwierigkeit bzw. Befangenheit ist der Präsentation
der Ergebnisse bei genauer Lektüre anzumerken: Anstatt Ihre Inter­pretationen direkt am
Text, d.h. an den Interviewpassagen festzumachen und somit deren intersubjektive
Überprüfbarkeit zu gewährleisten, verwendet die Autorin ihre über die dokumentarische
Methode gewonnene Interpretation nur als grobe Orientierung, innerhalb derer ihre
Darstellung über große Strecken auf einer deskriptiv-paraphrasierenden Ebene verbleibt.
Diese Vorgehensweise (die rekonstruierten Typen anhand formulierter subjektiver
Theorien und Konzepte zu beschreiben) führt also dazu, entgegen der Intention der
dokumentarischen Methode die individuellen Vorstellungen der Befragten zur freien
Sexualität wiederzugeben, als den kollektiven konjunktiven Erfahrungsraum zu
präzisieren (z.T. mag diese methodische Verschiebung auch damit zu tun haben, daß
sich die Orientierung an der dokumentarischen Methode erst im Verlauf des
Forschungsprozesses als bestimmend herauskristallisiert hat).
An dieser Stelle ist besonders positiv anzumerken, dass Frau Giesinger am Ende ihrer
Arbeit, gerade was diesen Punkt betrifft, eine beherzte Manöverkritik nachliefert, in der
sie konzidiert, dass die "Verschleierungs- und Beschönigungs-Praxis" der Kommune ihre
Darstellung in der eben beschriebene Weise eingeholt haben mag. Auch andere
Übertragungs- und Gegenübertragungs-reaktionen werden reflektiert: rückblickend hatte
sie wohl v.a. mit dem z.T. ganz offen ausgesprochenen Auftrag der Gruppe zu kämpfen,
diese und insbesondere Otto Mühl vor Kritik zu bewahren und „herauszufinden, wie
glücklich wir hier sind“ – einen Auftrag, den zu enttäuschen ihr bis zuletzt schwergefallen
ist.
Trotz der geschilderten methodischen bzw. methodologischen und auch einiger formaler
Schwierigkeiten war Frau Giesinger insgesamt in der Lage, eine herausfordernde
Fragestellung flexibel, unter höchstem persönlichen Einsatz und auf beachtlichem
sozialwissenschaftlichen Reflexionsniveau zu verfolgen.
* Im April 2001 führte Frau Giesinger sieben biographische Interviews, im Februar 2002
interviewte sie vier der befragten Frauen nochmals und führte zwei weitere biographische
Interviews.
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