geben. Außerdem wollen sich die Völker nicht überall den Lebenszwängen der technisch-industriellen Zivilisation unterwerfen, sondern ihre kulturelle Identität und Lebensformen bewahren (Sachs, 2002). Darum haben sich die Kirchen einmütig gegen den neuen Irakkrieg ausgesprochen und ihn als „illegal, unmoralisch und unklug“ abgelehnt (Erklärung des Ökumenischen Rates am 15.10.2002). 1.1.2 Mythos In dieser Arbeit soll nicht das Thema Mythos im allgemeinen behandelt werden. Der Begriff liegt hinreichend geklärt vor, und auch die klassische Katalogisierung von Mythen ist den Interessenten in jedem seriösen Lexikon leicht zugänglich. Statt dessen sollen hier die Unterschiede zwischen Mythos, Legende, Märchen und Sage ins Gedächtnis gerufen und das Wort Mythos im heutigen Sprachgebrauch kurz beschrieben werden. Mythos, ein griechisches Wort, meint ursprünglich eine religiöse Erzählung oder eine deutende Erklärung. Anders als die Fabel, die eine kurze Dichtung oder Erzählung ist, in der Tiere oder Pflanzen z.B. Kritik an Zuständen oder Personen üben. Ein klassischer Mythos möchte die letztgültige Erklärung über Herkunft, Existenz und Geschichte der Menschheit anbieten. Letztgültig meint hier, dass es nicht möglich scheint, noch hintergründiger oder präziser zu forschen und zu begründen. Spezifisch für den Mythos ist, dass er die Ereignisse und Erklärungen auf göttliche Wesen, auf ein überirdisches Numinoses (Rudolf Otto) zurückführt. Was auf Erden geschieht und nicht logisch, historisch oder wissenschaftlich erklärt werden können, verbinden die Mythen wirkursächlich mit dem Jenseits. Ferner werden vielfältige Verbindungswege zu der Welt der Toten, zu der „Unterwelt“ oder auch zum Himmel, vorausgesetzt. Darum haben Mythen einen engen Bezug mit Kulthandlungen, die sich mit Leben und Tod, Hoffnung, Frust und Angst, Mut oder Schwäche beschäftigen. Insofern lassen sich Mythen auch klar unterscheiden von Märchen, Legenden, Sagen und besonders von der Magie. Das gilt auch für die neueren mitos latinos. Zwar werden in Lateinamerika wie anderswo Mythen, Legenden und Magie vielfach vermischt, genau so häufig, wie auch Glaube und Aberglaube vermengt werden. Ein Märchen aber dient fast immer einem Lehrzweck („die Moral von der Geschichte ist...“) Eine Sage hingegen bezieht sich auf bestimmte Ereignisse oder Vorgänge, die nicht alltäglich sind, dafür aber fiktiv und gern auch in die Natur- oder in die Tierwelt verlagert werden, Deutungen von Höhlen, Felsblöcken oder Grabmälern. Eine Legende wiederum berichtet von einer Person, die in einer bestimmten Zeit von vielen Menschen gekannt und als Held anerkannt oder sogar verehrt wurde. Auch ein Vorgang kann zur Legende 13 werden, z.B. der Bau von Mexikocity auf den Trümmern der von Hernán Cortez zerstörten alter Stadt der Azteken, Tenochtitlán. Insofern sind Evita Perón und Che Guevara auch Legenden, nicht nur Mythen. Oder besser umgekehrt gesagt: Sie sind nicht nur Legenden, sondern sie wurden auf die Altäre der Volksmythen erhoben. Manuel Fangio hingegen, der berühmte argentinische Rennfahrer, der dem Stuttgarter Stern von Mercedes Benz weltweit einen zusätzlichen Glanz verlieh, ist eine Legende. Wie Diego Maradona auch, jener Argentinier, der „mit der Hand Gottes“ ein unvergessliches Siegertor schoss. Aber sie gelangten nicht in den Rang der Volksmythen in der Weise wie die „Heilige“ Evita Perón oder Che Guevara, der „Erlöser“ der ausgebeuteten Armen in Lateinamerika. Che Guevara wurde zudem zum „Apostel“ der rebellischen Jugend. Nach der klassischen Kategorisierung von Mythen könnten Eva Perón und Che Guevara in die Reihe der soteriologischen (heilsbringenden) Mythen eingeordnet werden, denn ihre Anhänger erhoffen und ersehnen von beiden tatsächlich Hilfe, Heil oder Wunder, besonders von Evita. Für alle, die sich nicht endgültig von den Träumen einer sozialen Revolution verabschiedet haben, gewinnt Che Guevara angesichts der gegenwärtigen Krise neue Bedeutung (O’Donnell, 2003). Die Erinnerung erhebt sich gegen das Vergessen. Ein Rest von Rebellion scheint Einzelne weiter zu tragen als die Resignation der Mehrheit, die in eine apokalyptische Stimmung zu fallen droht. Der Ansatz zur sozialen Revolution wurde zwar vernichtet, aber viele finden sich nicht mit der Niederlage der sozialen Gerechtigkeit ab. 1.1.3 Latino(s) Auch das Wort latino, Latinos, bedarf einer kurzen Erklärung, um Missverständnisse zu vermeiden. Spanien bezeichnet den Subkontinent gern als Iberoamérica. Das hat gute Gründe, die hier nicht zur Diskussion stehen. Doch die Bezeichnung América Latina, Lateinamerika, hat ebenfalls gute Gründe für sich. Sie berücksichtigt vor allem den starken Einfluss der italienischen Einwanderer, besonders am Rio de La Plata und in Brasilien. Das Wort latinos wird hier in einem sehr weiten Sinn verwendet. Es meint gelegentlich sogar alle Bewohner Lateinamerikas, auch Indios und Afrobrasilianer etwa, die ganz andere kulturelle und ethnische Merkmale als die Italoargentinier oder die Iberokreolen aufweisen. So umfasst die hier verwendete Bezeichnung latino aus praktischen Gründen eine auffallende Breite. Anders gesagt: Das Wort Latinos meint oft alle, die gegenwärtig nicht ausschließlich als Bürger der anderen Erdteile gelten, also Europäer, Asiaten, Afrikaner und Australier. Engländer gelten als Europäer. Nordamerikaner sind keine Latinos, es sei denn, dass sie 14 oder ihre Eltern von Lateinamerika nach den USA ausgewandert sind, also alle, die dort hispanos genannt werden. 1.1.4 Das Politische Diese Studie ist kein spezifischer Beitrag zur Politikwissenschaft, obwohl sie die Politik eminent berührt. Der Begriff Politik, la política, oder die Wendung das Politische, lo político, wird hier in einem sehr weiten und vielschichtigen Sinne verwendet, ausgehend vom griechischen Stammwort politiké, wörtlich „die Kunst der Stadtverwaltung.“ „Das Politische“ meint die Gesamtheit der Verfahren, Entscheidungen und Handlungen, die öffentliche Belange der Gesellschaft regeln. Politik umfasst dann die dreifache Unterscheidung des englischen Begriffs: 1) die Form, polity, 2) den Prozess, politics und 3) auch den Inhalt, policy. Die Politik wird meist von auseinanderstrebenden Zielsetzungen bestimmt, besonders zwischen einer verbindlichen Regelung des (den Politikern ja eigenen) Strebens nach Macht und dem Versuch, die Spielregeln der Machtverteilung von vornherein zu beeinflussen. Die klassische Sicht der Politik (Aristoteles) bemühte sich, die Spannung zwischen Wertrationalem und Zweckrationalem im Gleichgewicht zu halten. Wertrational wäre die (optimale) Ausrichtung auf das, was für das allgemeine Wohl gut und dienstlich sein sollte, zweckrational „die Kunst des Möglichen“, des Machbaren. Die Neuzeit fasst die Politik als die „kluge“ Ausübung von Herrschaft im Sinne einer „schlauen“ Planung auf, die meist darauf abzielt, die Macht zu erlangen und zu erhalten. Letzteres geschieht oft genug um jeden Preis, bei Missachtung des allgemeinen Wohls. Die Sicht des Machiavellismus (in der Politik keine Rücksicht auf moralische Bedenken zu nehmen!) wird zwar rhetorisch abgelehnt, jedoch nicht selten praktiziert. 1.1.5 Das Religiöse Mit Religion ist hier jenes spezifische Phänomen gemeint, das nur dem Menschen eigen ist. Dieser Sicht der Religionsphilosophie folgt auch die Religionswissenschaft. Demnach ist für Religion der Bezug zum Transzendenten wesenhaft, im Hinblick auf Sinngebung für das Leben und Wertgewinnung für das ethische Verhalten. In dieser Studie wird Religion weit gehend, wenn auch nicht ausschließlich, formal aufgefasst, als ein je bestimmtes Glaubenssystem, das Lehre, Praxis und Rituale umfasst. Die mitos latinos beweisen, dass die Religionen als existenzbezogenes Phänomen ein uneinheitliches und mehrdeutiges Erscheinungsbild zeigen. Die Brüchigkeit und 15