Was ist denn das: Philosophie? ϕιλοσοϕια ϕιλος = Freund / Liebhaber / Begehrender σοϕια = Weisheit / Wissen / Sachkunde Jemand, der „philosophiert“ (ein Philosoph) ist also dem Worte nach … … … … jemand, jemand, jemand, jemand, der der der der das Wissen liebt sich um Weisheit bemüht Gefallen an sachkundigen Urteilen hat auf der Suche nach der Wahrheit ist Sind wir alle schon Philosophen? Können wir nach Hause gehen? SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 265 Was ist denn das: Philosophie? ϕιλοσοϕια ϕιλος = Freund / Liebhaber / Begehrender σοϕια = Weisheit / Wissen / Sachkunde Jemand, der „philosophiert“ (ein Philosoph) ist also dem Worte nach … jemand, der das Wissen liebt … jemand, der sich um Weisheit bemüht … jemand, der Gefallen an sachkundigen Urteilen hat … jemand, der auf der Suche nach der Wahrheit ist Sind wir alle schon Philosophen? Können wir nach Hause gehen? SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 266 1 Was ist denn das: Philosophie? ϕιλοσοϕια ϕιλος = Freund / Liebhaber / Begehrender σοϕια = Weisheit / Wissen / Sachkunde Jemand, der „philosophiert“ (ein Philosoph) ist also dem Worte nach … jemand, der das Wissen liebt … jemand, der sich um Weisheit bemüht … jemand, der Gefallen an sachkundigen Urteilen hat … jemand, der auf der Suche nach der Wahrheit ist Sind wir alle schon Philosophen? Können wir nach Hause gehen? SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 267 Erkenntnistheorie Was ist Wahrheit? SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 268 2 Eigenschaften der Wahrheit (a) unstrittig Objektivität: „Wahr-Sein“ vs. „Für-Wahr-Halten“ Zeitlosigkeit: Wahrheit hat keine Geschichte, Glauben und Wissen hingegen schon. Wahrheit ist sprachunabhängig und sprachübergreifend: Übersetzung. (b) strittig Transzendenz (Realismus): Wahrheit ist unabhängig von Erkennbarkeit. Definition der Wahrheit ≠ Kriterium der Wahrheit Immanenz (Anti-Realismus): Wahrheit und Erkenntnis sind untrennbar miteinander verbunden. Definition der Wahrheit = Kriterium der Wahrheit *********************************************************************** Eine Definition der Wahrheit gibt an, was es heißt, „wahr“ zu sein, was Wahrheit ist. Ein Kriterium der Wahrheit dient dazu zu entscheiden, ob etwas wahr ist oder nicht, d.h. dazu, herauszufinden, was die Wahrheit ist. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 269 Wahrheitsträger Was kann überhaupt wahr oder falsch sein? (a) Sprachliche Wahrheitsträger Sätze (abstrakte sprachliche Formen) Äußerungen (konkrete sprachliche Handlungen) Problem: Wahrheit ist sprachübergreifend (b) Psychische Wahrheitsträger Urteile (konkrete psychische Ereignisse) Überzeugungen (konkrete psychische Zustände) Problem: Wahrheit ist objektiv und zeitlos. (c) Abstrakte Wahrheitsträger Propositionen (abstrakte semantische Objekte) Problem: Zugang zu abstrakten Entitäten SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 270 3 Die Korrespondenztheorie Etwas ist wahr, wenn es mit der Welt im Einklang steht. Eine Proposition ist wahr, gdw. es eine Tatsache gibt, mit der sie übereinstimmt. Was heißt „Übereinstimmung mit einer Tatsache“? Lässt sich diese Redeweise noch weiter präzisieren? Bildtheorie (Wittgenstein) SS 2009 semantische Theorie (Tarski) Einführung in die Theoretische Philosophie 271 Korrespondenztheorie Wittgensteins Bild-Theorie These: Der Satz ist ein „Bild“ der Tatsache. Semantische Bedingung: Die Teilelemente eines Satzes stehen für entsprechende Teilelemente der Tatsachen. Bedingung der Strukturgleichheit: Die Teilelemente eines Satzes sind untereinander genauso angeordnet wie die Teilelemente der Tatsache. „Die Katze sitzt auf der Matte.“ die Katze sitzt auf der Matte SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 272 4 Korrespondenztheorie Wittgensteins Bild-Theorie Universalienproblem: Es ist umstritten, dass es neben Einzelgegenständen wie Katzen und Matten auch Universalien wie Eigenschaften oder Relationen (wie der des Auf-etwas-Sitzens) gibt. Das Problem fehlender korrespondierender Tatsachen: Negative, wahre Sätze: „Bello sitzt nicht auf der Matte.“ Existenzsätze: „Es gibt eine Katze, die auf der Matte sitzt.“ Kontrafaktische Sätze: „Bello könnte auf der Matte sitzen.“ Probabilistische Sätze: „Höchstwahrscheinlich sitzt die Katze auf der Matte.“ Mathematische Sätze: „2+2=4.“ SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 273 Korrespondenztheorie Wittgensteins Bild-Theorie Das Slingshot-Argument Alonzo Church (1903-1995) Korrespondenztheorie: Sätze korrespondieren mit Tatsachen. Bildtheorie: Die Teilausdrücke eines Satzes stehen für etwas in der Welt. Extensionalitätsbedingung: Wenn man einen Teilausdruck eines Satzes durch einen anderen ersetzt, der für dasselbe steht, dann korrespondiert der Satz, der sich daraus ergibt, mit derselben Tatsache wie der ursprüngliche Satz. Scott ist der Autor von Waverly. Substitution Scott ist der, der 29 Waverly-Novellen geschrieben hat. Synonymie Die Anzahl von Scotts Waverly-Novellen ist 29. Substitution Die Anzahl der Verwaltungsbezirke in Utah ist 29. Synonymie Jeder dieser Sätze bringt dieselbe Tatsache zum Ausdruck Utah hat 29 Verwaltungsbezirke. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 274 5 Tarskis semantische Theorie der Wahrheit Alfred Tarski (1901-1983) Tarski ist ein polnisch-amerikanischer Logiker, der ab 1942 in Berkeley lehrte. Er gilt als der Begründer der formalen Semantik („Modelltheorie“). Seine Arbeiten zum Problem der Definition der Wahrheit waren bahnbrechend und hatten einen großen Einfluss auf die Philosophie. Wichtigste Werke: „Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen“ (1936) „The Semantic Conception of Truth and the Foundations of Semantics“ (1944) SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 275 Korrespondenztheorie Tarskis semantische Theorie Etwas ist wahr, wenn es mit der Welt im Einklang steht. Ein Satz ist (genau) dann wahr, wenn es sich so verhält, wie der Satz sagt. „x“ ist wahr in L, gdw. p Tarski ist der Auffassung, dass eine Theorie der Wahrheit so beschaffen sein muss, dass sich aus dieser Sätze der obigen Form ableiten lassen müsse (TSätze). • „Grass is green“ ist wahr im Englischen, gdw. Gras grün ist. • „Neapel liegt südlich von Rom“ ist wahr im Deutschen, gdw. Neapel südlich von Rom liegt. • usw. ... SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 276 6 Tarskis semantische Theorie der Wahrheit Paradoxien in natürlichen Sprachen Ist Wahrheit für eine natürliche Sprache überhaupt definierbar? (W) Der Satz W ist nicht wahr. Wenn W wahr ist, dann verhält es sich so, wie W sagt, d.h. W ist nicht wahr. Demzufolge ist W genau dann wahr, wenn W nicht wahr ist, was zu einem Widerspruch in unserer Wahrheitsdefinition führt!! Natürliche Sprachen wie das Deutsche oder Englische enthalten die Möglichkeit solcher Widersprüche. Tarski zieht die Konsequenz, dass der Wahrheitsbegriff für eine natürliche Sprache nicht definiert werden kann, sondern nur für sog. formale Sprachen. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 277 Tarskis semantische Theorie der Wahrheit Objekt- und Metasprache (1) „Grass is green“ ist wahr im Englischen gdw. Gras grün ist. Objektsprache Metasprache Objektsprache: Sprache, zu der der Satz gehört, über dessen Wahrheit wir reden (in unserem Beispiel das Englische) Metasprache bzw. Theoriesprache: Sprache, in der wir die Wahrheitsdefinition geben (in unserem Beispiel das Deutsche) Dies impliziert nicht, dass (1) ein Satz ist, der zwei Sprachen enthält! SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 278 7 Korrespondenztheorie Tarskis semantische Theorie Die Konvention T (T) „x“ ist wahr in LO, gdw. p (T-1) „Gras ist grün“ ist wahr im Deutschen, gdw. Schnee weiß ist. (T-1) ist zwar wahr, weil beide Seiten des Konditionals zwar wahr, aber nicht adäquat sind. Die Konvention T Eine Wahrheitsdefinition für eine Sprache LO impliziert alle korrekten Sätze des Schemas (T) „x“ ist wahr in LO, gdw. p so dass x ein Satz der Objektsprache LO und p eine Übersetzung von x in die Theoriesprache (Metasprache) ist. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 279 Korrespondenztheorie Tarskis semantische Theorie Wie sieht denn nun eine Wahrheitsdefinition aus? (T-2) „Gras ist grün“ ist wahr im Deutschen, gdw. Gras grün ist. Dieser T-Satz stellt zwar eine adäquate Definition der Wahrheit für den deutschen Satz „Gras ist grün“ dar, das ist aber noch nicht das, was wir eigentlich haben wollen: eine allgemeine Definition des Wahrheitsbegriffs für alle Sätze der betreffenden Sprache. Listenförmige Definitionen (T-3) (T-4) (T-5) „Schnee ist weiß“ ist wahr, gdw. Schnee weiß ist. „Im Winter ist es kalt“ ist wahr, gdw. es im Winter kalt ist. „Der Mount Everest ist die höchste Erhebung auf der Erde.“ ist wahr, gdw. der Mount Everest die höchste Erhebung auf der Erde ist. ... SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 280 8 Korrespondenztheorie Tarskis semantische Theorie Wie sieht denn nun eine Wahrheitsdefinition aus? Rekursive Definitionen atomare Sätze: • Falls S ein Satz der Form „F(a)“ in L ist, dann ist S in L wahr, gdw. das Individuum, welches a denotiert, Element der Klasse von Individuen ist, welche F denotieren. komplexe Sätze: • Falls S ein Satz der Form „G und H“ in L ist, dann ist S in L wahr, gdw. G wahr ist und H wahr ist. • Falls S ein Satz der Form „G oder H“ in L ist, dann ist S in L wahr, gdw. G wahr ist oder H wahr ist. • Falls S ein Satz der Form „Für alle x, Fx“ in L ist, dann ist S in L wahr, gdw. F(i) für alle Belegungen i für die Variable x wahr ist. • ... Abschluss: • Nichts sonst ist wahr in L. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 281 Korrespondenztheorie Tarskis semantische Theorie Zusammenfassung (1) Welche Form muss eine Theorie der Wahrheit haben? Sie muss Sätze der Form T liefern. (2) Unter welchen Bedingungen ist eine Definition von „ist wahr in L“ adäquat? Sobald die Konvention T erfüllt ist. (3) Wie kann man praktisch eine solche Definition liefern? Durch eine induktive Definition, in der zuerst die Wahrheitsbedingungen für die Basissätze einer Sprache und danach aufbauend für alle anderen, komplexen Sätze dieser Sprache formuliert werden. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 282 9 Die Redundanztheorie Berechtigt uns der Satz „Gras ist grün“ ist wahr Gras ist grün. jederzeit von „‘Gras ist grün‘ ist wahr.“ auf „Gras ist grün.“ zu schließen? F.P. Ramsey W.V.O. Quine Berechtigt uns das T-Schema dazu, jeden Satz der Form p ist wahr durch einen Satz der Form p zu ersetzen? Und heißt das nicht, dass wir jederzeit, statt zu sagen, ein Satz sei wahr, das Wörtchen wahr streichen und den Satz einfach behaupten können? ¾ Die Redundanztheorie der Wahrheit behauptet, dass das Wort „wahr“ bzw. der Begriff der Wahrheit überflüssig, weil redundant ist. Das ist eine erstaunliche These, die leider nicht unproblematisch ist. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 283 Die Redundanztheorie Verallgemeinerungen: Alles, was der Papst sagt, ist wahr. Wie soll man hier den den Wahrheitsbegriff eliminieren? Erstens wird nicht genau gesagt, was der Papst sagt; zweitens kommt man durch Streichung von „ist wahr“ nicht einmal zu einem vollständigen Satz, mit dem man etwas unter Weglassung des Wahrheitsprädikats behaupten könnte. Negationen: Es ist nicht wahr, dass Gras rot ist. Wenn man diesen Satz ohne Verwendung von „ist wahr“ behaupten wollte, müsste man das so ausdrücken: Gras ist nicht rot. Wie aber erklärt man dann die Funktion von „nicht“? Die Hinzufügung des Wörtchens „nicht“ macht aus einer wahren Behauptung eine falsche und aus einer falschen eine wahre. Falls das so ist, dann ist der Begriff der Wahrheit unabdingbar, um gewisse grundlegende logische Ausdrücke (nicht, oder, und ...) zu erklären. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 284 10 Epistemische Wahrheitstheorien (1) Rationale Akzeptierbarkeit Charles Sanders Peirce (1839-1914) Der Antirealist behauptet gegen die realistische Auffassung der Wahrheit, dass Wahrheit untrennbar mir Erkenntnis verbunden ist. Diese Grundidee hat vielfältige Ausformulierungen gefunden. Eine lautet, dass eine Proposition genau dann wahr ist, wenn sie unter idealen Bedingungen rational akzeptierbar ist: Eine Proposition ist wahr, gdw. sie unter idealen oder optimalen Bedingungen von einer vollständig rationalen Person akzeptiert werden würde. Wahr ist demzufolge das, was vollständig vernünftige Menschen nach ausreichender Nachforschung für wahr halten. Wahrheit übersteigt die Perspektive rationaler Personen grundsätzlich nicht, sie ist m.a.W. eine immanente Eigenschaft unserer sprachlichen Praxis. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 285 Epistemische Wahrheitstheorien Idealisierungen: Da wir keine vollständig rationalen Personen sind und die Bedingungen auch niemals ideal sind, ist es fraglich, ob wir je herausfinden können, was eine vollständig rationale Person unter idealen Bedingungen akzeptieren würde. Da wir dies aber herausfinden müssten, um den epistemisch verstandenen Wahrheitsbegriff überhaupt anwenden zu können, ist auch mehr als fraglich, ob wir den Wahrheitsbegriff überhaupt anwenden können. Nun können wir ihn aber anwenden. Akzeptanz: Was ist mit „Akzeptanz“ gemeint? Man kann etwas aus unterschiedlichen Gründen akzeptieren. Der relevante Begriff von Akzeptanz muss in diesem Zusammenhang lauten: Etwas (eine Proposition, einen Satz usw.) als wahr akzeptieren. Damit wird aber die gegebene Definition zirkulär. Wir müssten Wahrheit schon voraussetzen. Rationalität: Es ist ebenfalls nur schwer zu sehen, wie man den Begriff der Rationalität explizieren könnte, ohne dabei den Begriff der Wahrheit zu verwenden. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 286 11 Epistemische Wahrheitstheorien (2) Konsenstheorie Jürgen Habermas Karl Otto Apel Eine besondere Variante der epistemischen Wahrheitskonzeptionen stellt die sog. Konsenstheorie dar. Ihr zufolge ist wahr das, worauf sich alle einigen können: Eine Proposition ist wahr, gdw. sie unter idealen und optimalen Bedingungen für alle Mitglieder einer Sprechergemeinschaft rational akzeptierbar ist. Die Probleme mit den Idealisierungen sowie der Bestimmung von Akzeptanz und Rationalität stellen sich hier erneut. Zusätzlich fragt sich, warum Wahrheit eine soziale Angelegenheit sein soll. Bestätigt Konsens nicht bestenfalls manchmal (und bestimmt nicht immer) eine Wahrheit, anstatt sie allererst zu begründen? SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 287 Epistemische Wahrheitstheorien (3) Kohärenztheorien B. Blanshard O. Neurath D. Davidson Wenn wir uns fragen, ob ein Satz oder eine Überzeugung wahr ist, haben wir dann nicht immer nur andere Sätze oder Überzeugungen, auf die wir uns dabei stützen können? Ist dann Wahrheit nicht vielleicht ein Merkmal, dass ein Satz oder eine Überzeugung nur in einem ganzen System von Sätzen oder Überzeugungen haben kann? Eine Überzeugung ist wahr, gdw. sie ein Element in einem kohärenten System von Überzeugungen ist. Wir müssen klären, was unter Kohärenz zu verstehen ist. (1) Die Überzeugungen müssen logisch konsistent und dürfen nicht widersprüchlich sein. (2) Die Überzeugungen müssen untereinander in einem Schlussfolgerungs-, Rechtfertigungs- und Erklärungszusammenhang stehen. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 288 12 Epistemische Wahrheitstheorien Probleme für die Kohärenztheorie Alternativsysteme 1: Zu jedem kohärenten System von Überzeugungen gibt es mindestens ein anderes, ebenfalls kohärentes System von Überzeugungen derart, dass beide Systeme sich gegenseitig logisch ausschließen. Alternativsysteme 2: Man kann kohärente Märchen erzählen. Man kann überhaupt irgendein beliebiges kohärentes System von Überzeugungen konstruieren, das nichts mit unserer Wirklichkeit gemein haben muss. Holismus: Eine Überzeugung allein kann gemäß der Kohärenztheorie weder wahr noch falsch sein; sie muss immer in Bezug auf ein System von Überzeugungen auf ihre Wahrheit/Falschheit beurteilt werden. Das ist eine starke, kontraintuitive These. Definitionszirkel: Wie kann man erklären, was mit logischer Konsistenz, Schlussfolgerung oder Erklärung gemeint ist, ohne dabei schon den Begriff der Wahrheit in Anspruch zu nehmen? Das ist zirkulär. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 289 Epistemische Wahrheitstheorien (1) Theorie der rationalen Akzeptierbarkeit Eine Proposition ist wahr, gdw. sie unter idealen oder optimalen Bedingungen von einer vollständig rationalen Person akzeptiert werden würde. (2) Konsenstheorie Eine Proposition ist wahr, gdw. sie unter idealen und optimalen Bedingungen für alle Mitglieder einer Sprechergemeinschaft rational akzeptierbar ist. (3) Kohärenztheorie Eine Überzeugung ist wahr, gdw. sie ein Element in einem kohärenten System von Überzeugungen ist. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 290 13 Erkenntnistheorie Worin besteht Rechtfertigung? SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 291 Worin besteht Rechtfertigung? Die fallibilistische Auffassung von Rechtfertigung Die (epistemische) Rechtfertigung ist ein Mittel, um wahre Überzeugungen zu erzielen. Die epistemische Rechtfertigung ist damit (definiert als): ein gutes (geeignetes) Mittel zur Erzielung wahrer Überzeugungen Gute oder geeignete Mittel müssen nicht erfolgsgarantierend sein. Es genügt, wenn sie den Erfolg wahrscheinlich machen. Die Definition der Rechtfertigung schließt daher deren Fehlbarkeit und Anfechtbarkeit nicht aus! Gerechtfertigte, aber trotzdem falsche Überzeugungen sind möglich! SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 292 14 Worin besteht Rechtfertigung? Eigenschaften der (epistemischen) Rechtfertigung Zeitrelativität: Jede Rechtfertigung für eine Überzeugung kann durch den Erwerb zusätzlicher Informationen zu einem späteren Zeitpunkt aufgehoben werden. Personenrelativität: Zwei Personen können zwar eine Überzeugung teilen, es ist aber nicht (noch nicht einmal meistens) so, dass beider Überzeugung gleichermaßen gerechtfertigt ist! Rechtfertigung ist evaluativ: Gerechtfertigt ist jemand, wenn er gute Gründe für seine Überzeugungen besitzt. Rechtfertigung ist graduell: Jemand kann für seine Meinung schwache oder starke Gründe haben, er kann diese durch zusätzliche Belege verstärken oder abschwächen. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 293 Die Definition der Rechtfertigung Eine Person S ist gerechtfertigt zu glauben, dass p, gdw. (1) S Gründe für seine Meinung, dass p, hat; (2) diese Gründe seine Meinung stützen; und (3) diese Gründe adäquat (gut) sind. William P. Alston (1) Die Rechtfertigung einer Überzeugung setzt voraus, dass es „Rechtfertiger“ für diese Überzeugung, d. h. Gründe für sie gibt. (2) Die Gründe müssen S´s Gründe für die zu rechtfertigende Überzeugung sein. Überzeugungen und Gründe dürfen in keinem beliebigen Verhältnis zueinander stehen, d.h. die Gründe müssen die Überzeugung tatsächlich stützen. (3) Gründe können eine Überzeugung nur dann rechtfertigen, wenn es nicht bloß irgendwelche Gründe für die Meinung, sondern nur wenn es gute Gründe sind. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 294 15 Probleme der Stützungsbeziehung Irene glaubt, dass es draußen regnet. Sie hört den Regen auf das Vordach ihrer Veranda tropfen. Sie hätte damit einen exzellenten (adäquaten) Grund für ihre Meinung. Allerdings ist Irene unaufmerksam. Sie ist abgelenkt. Sie glaubt, dass es regnet, weil sie es in der lokalen Wettervorhersage gehört hat. Die Wettervorhersage aber ist in ihren Breiten normalerweise sehr unzuverlässig und kommt daher nicht als adäquater Grund für ihre Meinung infrage. Ist Irenes Meinung gerechtfertigt? Wettervorhersage Regen auf Vordach Es regnet! Irene hat eine Überzeugung und einen adäquaten Grund für diese: ihre Wahrnehmung der Regentropfen auf dem Verandadach. Der Grund stützt ihre Meinung. Irene hat jedoch ihre Überzeugung nicht, weil sie diesen guten Grund hat, sondern weil sie die Wettervorhersage gehört hat, die ein schlechter Grund für ihre Überzeugung ist. Damit eine Meinung gerechtfertigt ist, muss man für diese Meinung nicht nur gute und stützende Gründe haben. Man muss selbst Grund zu der Annahme haben, dass diese Gründe die Meinung stützen. Man muss beides (richtig) miteinander in Verbindung bringen! SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 295 Probleme der Stützungsbeziehung Die Bedingungen sind nicht hinreichend. Was ist zu tun? Müssen wir die zweite Bedingung weiter einschränken, um Fälle wie den von Irene auszuschließen? Eine Person S ist gerechtfertigt zu glauben, dass p, gdw. (1), (2), (3) und (4) S gerechtfertigt ist zu glauben, dass die Stützungsbeziehung besteht. Diese Definition ist entweder zirkulär („gerechtfertigt“ im Definiens) oder führt in einen infiniten Regress von sich aufstufenden Rechtfertigungen (wann ist S gerechtfertigt, zu glauben, dass p? usw.). SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 296 16 Probleme der Stützungsbeziehung Die kausale Analyse der Stützungsbeziehung A.I.Goldman W.P. Alston Wir bemerken, dass Ernies Auto nicht vor dem Haus steht; dass das Licht in seiner Wohnung aus ist usw.. Wir schließen sofort daraus, dass Ernie nicht zuhause ist, ohne überhaupt daran zu denken, welche Überzeugungen wir haben und ob die eine die andere stützt. Dennoch können wir in unserer Auffassung gerechtfertigt sein. Das Haben gerechtfertigter Überzeugungen setzt keine Metaüberzeugungen sowie deren Beziehungen untereinander voraus. Da aber dennoch eine „Verbindung“ zwischen Rechtfertiger und Gerechtfertigtem bestehen muss, liegt folgende alternative Erklärung nahe: S ist zum Zeitpunkt t gerechtfertigt zu glauben, dass p, gdw. (1), (2), (3) und (4) die Gründe für die Überzeugung die Überzeugung, dass p, in angemessener Weise verursachen. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 297 Probleme der Stützungsbeziehung Externalismus Die Rechtfertigung muss einer Person selbst nicht kognitiv zugänglich sein. Eine Überzeugung kann gerechtfertigt sein, ohne dass die Person die Überzeugung rechtfertigen bzw. begründen kann. Epistemische Rechte ohne epistemische Pflichten sind möglich. SS 2009 Internalismus Rechtfertigung setzt kognitive Zugänglichkeit voraus. Eine Überzeugung ist nur dann gerechtfertigt, wenn man sie tatsächlich rechtfertigen bzw. begründen kann. Keine epistemischen Rechte ohne epistemische Pflichten. Einführung in die Theoretische Philosophie 298 17 Welche Gründe sind adäquat? Ein Kommissar ist mit der Untersuchung eines Mordfalls beschäftigt. Er glaubt, dass der Koch den Grafen umgebracht hat. Die Begründung dieser Annahme liegt für ihn darin, dass es nur drei weitere mögliche Täter gibt, nämlich den Fahrer, den Butler und den Gärtner, dass alle drei, anders als der Koch, handfeste Alibis haben und dass kein Zweifel daran bestehen kann, dass der Graf tatsächlich umgebracht worden ist und nicht Selbstmord beging oder eines natürlichen Todes starb. • Sind diese Gründe gute Gründe für die Überzeugung, dass der Koch den Grafen umgebracht hat? • Ist die Annahme, dass es nur drei weitere mögliche Täter gibt, gerechtfertigt? • Ist die Annahme, dass die Alibis der anderen wasserdicht sind, selbst wasserdicht? • Sind die Annahmen, dass der Koch kein gutes Alibi hat und der Graf tatsächlich umgebracht worden ist, gut begründet? SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 299 Welche Gründe sind adäquat? Das Rechtfertigungstrilemma Allgemein kann man sich die Situation folgendermaßen klar machen: Eine gerechtfertigte Überzeugung setzt voraus, dass es für diese Überzeugung einen adäquaten Grund G1 gibt: Überzeugung Grund1 Ob dieser Grund auch adäquat ist, hängt davon ab, ob er sich selbst wieder rechtfertigen lässt: Grund1 Grund2 Entscheidend ist, dass Ü ⇒ G1 nur dann gilt, wenn G1 ⇒ G2 Überzeugung Grund1 Grund2 Welche Implikationen hat das? SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 300 18 Welche Gründe sind adäquat? Das Rechtfertigungstrilemma Infiniter Regress: Ü G1 G2 G3 ... Ein infiniter Regress von Gründen ist inakzeptabel, weil Menschen endliche Wesen sind und keine unendliche Anzahl von Überzeugungen haben können. Dogmatischer Abbruch: Ü G1 G2 G3 Ein letzter Grund (ein Regress-Stopper) kann nur wieder eine Überzeugung sein und es ist dogmatisch, an einer bestimmten Stelle mit dem Begründen aufzuhören. Circulus Vitiosus: Ü G1 G2 G3 Ü Der Begründungszirkel führt zu einer sich selbst begründenden Meinung und macht das Rechtfertigen überflüssig. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 301 Welche Gründe sind adäquat? Positionen zur Rechtfertigung Fundamentalismus Es gibt ausgezeichnete Typen von Überzeugungen (Regress-Stopper), die keiner weiteren Begründung bedürfen. („Dogmen sind nicht immer schlecht.“) Kohärentismus Ein Rechtfertigungszirkel kann vermieden werden, wenn wir unsere Überzeugungen und ihre Gründe vor dem Hintergrund eines ganzen Systems von Überzeugungen – vor dem Hintergrund einer Theorie – betrachten. („Ein Rechtfertigungszirkel ist nicht immer schlecht.“) Kontextualismus Es gibt keinen wirklichen infiniten Regress des Rechtfertigens. In der Praxis hängt es vom Kontext und unseren Konventionen ab, welche Gründe wir für adäquat halten. („Es gibt zwar theoretisch einen infiniten Regress, aber nicht faktisch.“) SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 302 19 Fundamentalismus Argumente für den Fundamentalismus Gewissheitsargument: Wissen und Rechtfertigung erfordern Unfehlbarkeit. Unfehlbarkeit ist nur möglich, wenn es basale Meinungen gibt. • Für Wissen ist keine starke Infallibilität erforderlich; Rechtfertigung erfordert nur Wahrscheinlichkeit der Wahrheit Regressargument: Da es Rechtfertigung wirklich gibt und diese weder durch einen Zirkel, noch durch einen infiniten Regress möglich wäre, muss es basale Meinungen geben. • Es könnte sein, dass wir im Alltag die Rechtfertigung an irgendeiner Stelle tatsächlich abbrechen und nicht weiterfragen. D.h. müssen wir zu keinen ausgezeichneten basalen Meinungen gelangen. Isolationsargument: Wir besitzen empirisches Wissen. Nur wenn es unmittelbar durch die Erfahrung gerechtfertigte, basale Meinungen gibt, kann man dieses überhaupt erlangen. • Meinungen über empirische Tatsachen sind zwar basal, aber nicht unrevidierbar oder infallibel. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 303 Fundamentalismus Intuitionistischer Fundamentalismus: Die Basis der Rechtfertigung bilden selbstevidente Meinungen, die unmittelbar einleuchtend und nicht sinnvoll anzweifelbar sind. • Die Wissenschaftsgeschichte liefert jede Menge Beispielmaterial dafür, dass auch scheinbar selbstevidente Meinungen widerlegt worden sind. (Beispiel: Bewegung der Sonne um die Erde) Doxastischer Fundamentalismus: Die Basis Meinungen über die eigenen mentalen Zustände. der Rechtfertigung bilden • Lernen wir nicht zuerst, über die Welt zu urteilen, und dann erst über unser Erleben der Welt? Überzeugungen über die eigenen mentalen Zustände allein können keine Überzeugungen über etwas anderes (die Welt) rechtfertigen. Es entsteht ein „AußenweltProblem“. Empiristischer Fundamentalimus: Die Rechtfertigung hat ihr Fundament im „Gegebenen“, d.h. den unmittelbaren Erfahrungen, die wir machen. • Das „Gegebene“ ist keine Überzeugung, sondern eine Art unmittelbares Erlebnis. Ein Erlebnis als solches kann nichts rechtfertigen, denn nur die Überzeugungen, die ich mir aufgrund dieses Erlebnisses bilde, können Gründe für Meinungen sein. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 304 20 Kohärentismus Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können. (Otto Neurath, 1932/33) Die wichtigste Alternative zum Fundamentalismus besteht darin, Rechtfertigungsbeziehungen zwischen allen Überzeugungen eines Überzeugungssystems anzunehmen und die Möglichkeit eines Fundaments der Rechtfertigung zurückzuweisen. Eigenschaften der Kohärenz • logische Konsistenz (Widerspruchsfreiheit) • inferentielle Beziehungen (Prämissen – Konklusionen) • explanatorische Beziehungen (Annahme – Begründung) SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 305 Kohärentismus Der Relativismuseinwand Wer es ernst meint mit der Kohärenz als alleiniges Kriterium der Wahrheit, muss beliebig erdichtete Märchen für ebenso wahr halten wie einen historischen Bericht oder Sätze in einem Lehrbuch der Chemie, wenn nur die Märchen so gut erfunden sind, dass nirgends ein Widerspruch auftritt. (Moritz Schlick, 1934) Der Isolationseinwand Die anderen können ... nicht etwa einwenden, dass dieses Verfahren den Beobachtungen widerstreite, denn nach der Kohärenzlehre kommt es auf irgendwelche ‚Beobachtungen‘ gar nicht an, sondern allein auf die Verträglichkeit der Aussagen. (Moritz Schlick, 1934) SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 306 21 Kohärentismus Konsistenz und Komplexität Konsistenz ist eine zu starke Eigenschaft, da bereits durch eine einzige Inkonsistenz im Meinungssystem die Kohärenz des Gesamtsystems gestört werden kann. In der Regel sind die meisten realen und reichhaltigen Wissenssysteme oder Datenbanken irgendwo inkonsistent. Die Kohärenz eines umfangreichen Meinungssystems ist eine so komplexe Eigenschaft, dass wir sie in der Regel gar nicht erfassen, geschweige denn beweisen können. „negativer“ Kohärentismus: Zwar ist Kohärenz keine Quelle der Rechtfertigung; Inkohärenz aber ist ein Grund zur Revision oder Korrektur von ehemals gerechtfertigten Meinungen. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 307 Kontextualismus Keith DeRose Ob ein Grund eine Überzeugung rechtfertigt und wie stark diese Rechtfertigung ist, hängt Kontextualisten zufolge vom Kontext ab und variiert mit dem Kontext. Was ein Grund ist und wie gut ein Grund ist, variiert mit dem Kontext. Wer von einem Kontext in einen anderen wechselt, kann plötzlich Rechtfertigung erwerben oder verlieren. Gründe sind nicht absolut gut oder schlecht. Wo die Kette der Begründungen aufhören kann, hängt im Wesentlichen vom Kontext ab. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 308 22 Kontextualismus Was ein Grund ist und wie gut ein Grund ist, variiert mit dem Kontext. • Kurt ist Hobby-Archäologe und findet einen alten Krug. Mehrere Anzeichen sprechen dafür, dass es sich um einen spätmittelalterlichen Krug handelt und Kurts Handbuch bestätigt diesen Eindruck. Kurt hat gute Gründe für die Annahme, dass es sich um einen spätmittelalterlichen Krug handelt. In seiner Situation gibt es keine besseren Gründe. • Maria ist professionelle Archäologin. Für sie sind Kurts Gründe allenfalls Indizien, aber um zu einer begründeten Meinung gelangen, muss sie einige raffinierte Methoden anwenden. Kurts Indizien zählen für sie nicht. Sie sind inadäquat. Ihre Standards der Begründung sind in dieser Situation viel höher. Wer von einem Kontext in einen anderen wechselt, kann plötzlich Rechtfertigung erwerben oder verlieren. • Auch für Maria sind Kurts Indizien, wenn sie im Urlaub ist und den Krug findet, sehr gute Gründe für die Annahme, dass er spätmittelalterlich ist. Sobald sie wieder auf Arbeit ist, verliert sie diese Rechtfertigung. Gründe sind nicht absolut gut oder schlecht. • Ein Argument gegen die Kugelform der Erde war, dass die Antipoden auf der jeweils anderen Seite des Globus mit dem Kopf nach unten hängen würden. Dies ist nur solange ein gutes Argument, wie es die von uns heute akzeptierte Gravitationstheorie und Astronomie nicht gibt. Die Güte eines Grundes bemisst sich daher auch nach den jeweils zur Verfügung stehenden Hintergrundwissen. SS 2009 Einführung in die Theoretische Philosophie 309 23