Der Kaktus von O. Henry Der Kaktus Das Bemerkenswerteste an der Zeit ist, dass sie so ganz und gar relativ ist. Und wenn jemand sich dem Untergange nahe fühlt, ist es gar nicht undenkbar, dass er die ganze Zeit einer Brautwerbung Revue passieren lässt, während er sich die Handschuhe auszieht. Und das war genau das, was Trysdale tat, als er in seiner Jungesellenwohnung am Tisch stand. Auf dem Tisch stand eine exotisch aussehende grüne Pflanze in einem roten Tontopf. Sie gehörte zur Spezies der Kakteen und war ausgestattet mit langen, tentakelartigen Blättern, die sich in der leichtesten Brise fortwährend mit einer sonderbaren winkenden Bewegung wiegten. Trydales Freund, der Bruder der Braut, stand an einer Anrichte und beklagte sich, dass man ihn alleine trinken ließ. Beide Männer trugen Abendanzüge. Weiße Hochzeitsrosetten an ihren Revers leuchteten wie Sterne im Halbdunkel des Zimmers. Während er seine Handschuhe aufknöpfte, ließ Trydale die vergangenen Stunden rasch Revue passieren. Ihm schien, als habe er noch den Duft der Blumen in der Nase, mit denen die Kirche in reichlich geschmückt gewesen war, und als habe er noch das tiefe Summen von tausend kultivierten Stimmen im Ohr, das Rascheln gestärkter Kleider und immer eindringlich wiederkehrend die affektierten Worte des Pfarrers, mit denen er die beiden unwiderruflich immer miteinander verband. Von diesem letzten hoffnungslosen Punkte ausgehend stellte er geradezu zwanghaft Mutmaßungen darüber an, warum und wie er sie verloren hatte. Heftig von dieser unumstößlichen Tatsache erschüttert, fand er sich plötzlich mit etwas konfrontiert, dem er nie zuvor gegenübergestanden hatte – seinem eigenen innersten, absoluten, dürren, entblößten Selbst. Er sah all seine Verkleidungen der Vortäuschung und des Egoismus, die er getragen hatte, nun zu einem Lumpenkleid der Torheit werden. Er erschauderte bei dem Gedanken, dass anderen, vor dem heutigen Tage, diese Kleider seiner Seele traurig und fadenscheinig vorgekommen sein mussten. Eitelkeit und Dünkel? Das war, was seine Rüstung zusammenhielt. Und wie frei von beidem war sie doch immer gewesen. – Aber warum nur… Als sie langsam den Mittelgang auf den Altar zu geschritten war, hatte er einen unwürdigen grämlichen Triumph verspürt, der ihm Halt gegeben hatte. Er hatte sich gesagt, dass ihre Blässe von den Gedanken an einen anderen herrührte als dem Manne, dem sie sich gleich versprechen würde. Aber selbst dieser schwache Trost war ihm entrissen worden. Denn als er diesen raschen, klaren, aufwärts gerichteten Blick sah, den sie dem Mann schenkte, als er ihre Hand nahm, wusste er, dass er vergessen war. Früher einmal hatte derselbe Blick ihm gegolten, und er hatte seine Bedeutung wohl ermessen. Nun war sein Dünkel tatsächlich zerbröckelt; seine letzte Stütze war weg. Warum nur hatte es so geendet? Es hatte keinen Streit gegeben zwischen ihnen, nichts… Zum tausendsten Male rief er sich die Ereignisse jener letzten Tage zurück, bevor sich das Blatt so jäh gewendet hatte. Seite 1 / 3 Der Kaktus von O. Henry Sie hatte immer darauf bestanden, ihn auf einen Sockel zu stellen, und er hatte ihre Verehrung mit königlicher Erhabenheit hingenommen. Es war ein sehr süßes Weihrauchfeuer, das sie vor ihm entfacht hatte; so bescheiden (sagte er sich); so kindlich, so verehrend, und so (darauf hätte er schwören können) so aufrichtig. Sie hatte ihn ausgestattet mit einer fast übernatürlichen Anzahl von edlen Eigenschaften, Vorzügen und Talenten, und er hatte die Huldigung in sich aufgesogen wie eine Wüste den Regen trinkt, der ihr dafür kein Versprechen von Blüten oder Früchten abschmeicheln kann. Als Trysdale grimmig seinen letzten Handschuh auszog, kam der krönende Moment seines törichten, langsam betrauerten Egoismus lebhaft wieder in sein Gedächtnis zurück. Es war die Szene an jenem Abend, als er sie fragte, ob sie zu ihm auf den Sockel heraufkommen und seine Großartigkeit für immer mit ihm teilen wolle. Jetzt konnte er es der Schmerzen wegen seinem Gedächtnis nicht erlauben, bei ihrer überwältigenden Schönheit an diesem Abend zu verweilen – dem sorglosen Fall ihres Haars, der Zärtlichkeit und dem jungfräulichen Zauber ihrer Blicke und Worte. Aber davon hatte es genug gegeben und sie hatten ihn zum Sprechen gebracht. Während ihrer Unterhaltung hatte sie gesagt: „Und Captain Carruthers hat mir gesagt, dass du Spanisch wie eine Muttersprache sprichst. Warum hast du das vor mir verborgen? Gibt es überhaupt etwas, das du nicht weißt?“ Nun ja, Carruthers war ein Idiot. Kein Zweifel er (Trysdale) war schuldig (manchmal machte er eben solche Dinge), im Klub einige alte, wohlklingende spanische Sprichwörter zu besten zu geben, die er im Sammelsurium hinten in den Wörterbüchern ausgegraben hatte. Carruthers, der einer seiner rückhaltlosen Bewunderer war, war eben der Mann, der diese Zurschaustellung einer zweifelhaften Belesenheit noch vergrößert hatte. Aber leider war der Weihrauch ihrer Bewunderung so süß und so schmeichelhaft. Und so ließ er diese Unterstellung ohne Widerspruch hingehen. Und ohne Widerspruch ließ er sich von ihr diesen unechten Lorbeerkranz spanischer Sprachkenntnisse um die Stirn winden. Er ließ ihn sein erhabenes Haupt schmücken, und unter seinem sanften Druck spürte er nicht den das Stechen des Dorns, der ihn später durchbohren sollte. Wie freudig, wie scheu, wie bebend vor Erregung sie war! Wie sie flatterte wie ein Vogel in der Falle, als er ihr seine Mächtigkeit zu Füßen legte! Er hätte schwören können, und er konnte auch jetzt noch schwören,dass in ihren Augen untrügliches Einverständnis lag, aber schüchtern wie sie war, wollte sie ihm keine direkte Antwort geben. „Morgen werde ich dir meine Antwort geben,“ sagte sie; und er, der nachgiebige, zuversichtliche Sieger, gewährte ihr lächelnd diesen Aufschub. Am nächsten Tag wartete er in seiner Wohnung ungeduldig auf ihre Nachricht. Gegen Mittag kam ihr Laufbursche und brachte diesen merkwürdigen Kaktus in dem roten Tontopf. Ihm war keine Notiz, keine Botschaft beigefügt, nur ein Anhänger an der Pflanze, auf dem ein barbarischer fremdländischer oder botanischer Name stand. Er wartete bis zum Abend, aber ihre Antwort traf nicht ein. Sein großer Stolz und seine verletzte Eitelkeit hielten ihn davon ab, nach ihr zu suchen. Zwei Tage später trafen sie sich bei einem Abendessen. Sie begrüßten sich förmlich, aber sie betrachtete ihn atemlos, fragend, eifrig. Höflich und unnachgiebig wartete er auf ihre Erklärung. Mit weiblicher Raschheit zog sie ihre Schlüsse aus seinem Verhalten Seite 2 / 3 Der Kaktus von O. Henry und wurde kalt und abweisend. So entfernten sie sich immer mehr voneinander. Wo war sein Fehler? Wer hatte Schuld? In seiner Demütigung suchte er die Antwort jetzt in den Trümmern seiner Eingebildetheit. Wenn… Die Stimme des anderen Mannes im Zimmer, die sich larmoyant in seine Gedanken drängte, weckte ihn auf. „Trydale, was zum Teufel ist los mit dir? Du siehst so unglücklich aus, als ob du selbst geheiratet hättest und nicht bloß ein Hochzeitsgast gewesen wärst. Guck mich an, einen anderen Hochzeitsgast, der zweitausend Meilen den langen Weg von Südamerika gereist ist auf einem knoblauchstinkenden, von Küchenschaben verseuchten Bananendampfer, um das Opfer zu dulden – bitte sieh mal, wie leicht meine Schuld auf meinen Schultern ruht. Die einzige kleine Schwester, die ich hatte – jetzt ist sie weg. Komm schon! Nimm was, um dein Gewissen zu erleichtern. „Ich möchte gerade nichts trinken, danke,“ sagte Trysdale. „Dein Brandy,“ fuhr der andere fort und kam zu ihm herüber und stellte sich vor ihn, “ ist auch wirklich scheußlich. Komm mal eine Weile zu mir runter nach Punta Redonda und probier mal was von unserem Stoff, den der alte Garcia einschmuggelt. Der ist die Reise wert. – Hallo! Da haben wir ja einen alten Bekannten. Wo hast du bloß diesen Kaktus aufgestöbert, Trysdale?“ „Ein Geschenk,“ sagte Trysdale, „von einer Freundin. Kennst du die Art?“ „Sehr gut sogar. Ist ein Tropengewächs. In Punta kannst du hunderte davon sehen. Hier auf dem Anhänger steht sein Name. Kannst du ein bisschen Spanisch, Trysdale?“ „Nein,“ sagte Trysdale mit dem bitteren Schatten eines Lächelns – „Ist es Spanisch?“ „Ja. Die Eingeborenen bilden sich ein, dass sich die Blätter ausbreiten und dir zuwinken. Sie nennen es mit Namen – Ventomarme. Das bedeutet ‚Komm und nimm mich.'“ Die Texte auf amphio sind entweder gemeinfrei oder das Copyright liegt bei amphio. Der private Gebrauch ist kostenlos. [email protected] Seite 3 / 3 Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)