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____________________________________________________________COLLASIUS
S. Winkle
Die Ruhr als Kriegsseuche während der Campagne in Frankreich
1792 in den Aufzeichnungen von Goethe und Laukhard
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„Il vaut mieux donner la bataille la plus sanglante que mettre les troupes dans un lieu
malsain.“
Correspondance de Napoléon 1, Tome 22,
Nr. 18041, p. 411., Paris 186'7.
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Dem Andenken des Belgrader Mikrobiologen Prof. Dr. med. Adam Miljkovic (1902-1987), den
ich als junger Arzt im Spätherbst und Winter 1937/38 während einer schweren Ruhr- und
Fleckfieber-Epidemie in Skoplje nicht nur als Arzt und scharfsinnigen Epidemiologen, sondern
auch als Menschen von außergewöhnlicher Güte, Hilfsbereitschaft und Toleranz kennen und
schätzen gelernt habe.
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Die von dem revolutionären Paris ausgehenden Gefahren ließen sogar die verfeindeten
Preußen und Österreicher zusammenrücken. Nach der Festnahme Ludwig XVI.
überschritt im August 1792 eine preußisch-österreichische Armee die französische
Grenze, um „die Pest der Rebellion, ehe sie für die Nachbarstaaten bedrohlich werden
konnte, im Keime zu ersticken". Preußen stellte dabei 42.000, Österreich mit den
Truppen aus Belgien 72.000 Mann. Hinzu kamen noch etwa 3.000 Emigranten. Der
Weimarer Herzog Carl August nahm als Kommandeur eines preußischen Kürassierregiments am Feldzug teil. In seiner Begleitung befand sich auch Goethe. Dem
vortrefflich gedrillten, verbündeten Söldnerheer konnte der französische General
Dumouriez nur eine schlecht bewaffnete, elend ausgerüstete und kläglich verpflegte
Masse von Freiwilligen entgegensetzen. Der Herzog von Braunschweig, der die
feindlichen Heere der Verbündeten führte, hatte bereits am 25. Juli ein Manifest
erlassen, in dem er drohte, „Paris zu zerstören, wenn die Pariser Kanaille es wagen
sollte, die Tuilerien anzugreifen", in denen sich der König, nur von den Schweizer
Garden beschützt, aufhielt. Durch dieses Manifest wurde der Verteidigungswille der
französischen Massen erst recht entfacht. Der unüberlegten Drohung antworteten die
kühnen Klänge der damals entstandenen Marsaillese: „Aux armes, citoyens!" (1) Doch
die Verbündeten waren durch Unkenntnis der Verhältnisse voller Verachtung für den
Gegner, dem sie keinen ernsthaften Widerstand zutrauten. Sie betrachteten hochmütig
den bevorstehenden Feldzug nur als einen „militärischen Spaziergang (2).
„Es geht alles so geschwind, daß ich wahrscheinlich bald wieder bei Dir bin [...] Aus
Paris bringe ich Dir ein Krämchen mit", schrieb Goethe am 2. September, an
Porträt des Schriftstellers Christian Friedrich Laukhard (1758-1822).
Zeitgenössischer Kupferstich
im 3. Band von „Laukhards Leben und Schicksale, von ihm selbst beschrieben"
Leipzig 1796.
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dem Tag als Verdun fiel, an Christiane Vulpius. In seiner später verfaßten autobiographischen Schrift „Campagne in Frankreich 1792" berichtet Goethe, wie er einen Tag
vorher (am 1. September) bei der Belagerung von Verdun mit dem Fürsten Reuß hinter
Weinbergsmauern auf und ab wandelte und sich mit diesem während eines gewaltigen
Bombardements über die Lichtphänomene der Granaten, Brandraketen und Feuersbrände im Sinne seiner Farbenlehre unterhielt.
BILD
Der französische General Kellermann mit seinem Stab auf dem legendären
Feldherrnhügel mit der Windmühle während der Kanonade von Valmy am 20.
September 1792. Stich nach einer Zeichnung von H. Vernet. Aus: Galéries Historiques
de Versailles.
Man war sich des Sieges sicher. Doch das „wohlgedrillte Koalitionsheer" war mit einer
„lahmen Heerführung" gesegnet, die es versäumte, nach der Übergabe der Festungen
Longwy (am 23. August) und Verdun (am 2. September) die Argonnenpässe, die
„Thermopylen Frankreichs", rasch zu besetzen, ehe sich Dumouriez von Sedan und
Kellermann von Metz her bei Valmy vereinten (3). Zu den strategischen
Fehlentscheidungen kam hinzu, daß das Invasionsheer mit einer „verheimlichten
Lagerseuche" behaftet war, der Ruhr. Magister Laukhard, der als gewöhnlicher
preußischer Musketier am Feldzug teilnahm, hat in seiner Autobiographie über diese
Kriegsseuche ausführlich berichtet (4). Die Verbündeten hätten zwar ihre strategischen
Versäumnisse wieder gutmachen können, wenn es ihnen gelungen wäre, am 20.
September durch einen Sturm auf die feindlichen Stellungen bei Valmy die beiden
Revolutionsgeneräle mit ihren Truppen von der Straße nach Chalons und Paris
abzuschneiden. Doch das vom Dauerregen aufgeweichte Terrain war nicht der einzige
Grund dafür, daß der Laufschritt der vorgehenden Infanterie gehemmt wurde und der
Sturmangriff abgeblasen werden mußte; auch die verheimlichte Seuche hatte die
Schlagkraft der Armee geschwächt (5). Als das Ganze mit einer allgemeinen Kanonade
endete, kam der von den Verbündeten nicht genutzte Augenblick einer folgenschweren
Niederlage gleich.
„Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus und Ihr könnt
sagen, Ihr seid dabei gewesen."
Diese visionär klingenden Worte, die Goethe am Abend nach der Kanonade von Valmy
am 20. September am Lagerfeuer zu einer Gruppe von preußischen Offizieren gesagt
haben will, hat er wahrscheinlich erst 1820, als er seine alten Aufzeichnungen
„aufgefrischt' unter dem Titel „Campagne in Frankreich" in Druck gab, hinzuerfunden
(6). Dafür spricht auch Goethes Bekenntnis, das aus seinem zwei Jahre später erfolgten
Gespräch mit Eckermann am 4. Januar 1824 hervorgeht:
„Es ist wahr, ich konnte kein Freund der Französischen Revolution sein, denn ihre
Greuel standen mir zu nahe und empörten mich täglich und stündlich, während ihre
wohltätigen Folgen damals noch nicht zu ersehen waren..."
Bei Valmy hatte sich das Schicksal der Französischen Revolution entschieden (7). Es
war zugleich auf die Zukunft vordeutend, der erste große Interventionskrieg aus
weltanschaulichen Gründen. Man stand nicht nur einer Streitkraft, sondern auch einer
Idee gegenüber. Nach der Kanonade von Valmy war die Betroffenheit beim Interventionsheer ungeheuer.
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„An den Stellen", schreibt Goethe, „wo die Kanonade hingewirkt, erblickte man großen
Jammer: die Menschen lagen unbegraben und die schwer verwundeten Tiere konnten
nicht sterben. Ich sah ein Pferd, das sich in seinen eigenen, aus dem verwundeten
Leibe herausgefallenen Eingeweiden mit den Vorderfüßen verfangen hatte und so
unselig daherhinkte" (Campagne, 22. Sept. 1392).
Laukhards entsprechender Bericht spielt auf die friderizianische Verordnung an, wonach
„Blessirte erst nach beendeter Bataille" eingesammelt werden dürfen (8).
„Die Verwundeten wurden auf ein Vorwerk gebracht, wo sie wegen der elenden Pflege
schon meistens in der ersten Nacht unter den heftigsten Qualen hinstarben (9). Gar
wenige von allen bey Valmy verwundeten Soldaten sind mit dem Leben, kein einziger ist
mit geraden Gliedern davongekommen. Das ist freilich schrecklich, aber daran war auch
meistens unsere medizinische Anstalt Schuld, welche bey keiner Armee elender seyn
kann, als sie damals bey unserer war" (10).
Auch die Ruhr, die man noch nicht beim Namen zu nennen wagt, breitet sich weiter aus.
„Die eingerissene Krankheit", notierte Goethe, „machte den drückenden, hülflosen
Zustand trauriger und fürchterlicher [...]" (Campagne, Valmy 21. September).
Laukhards entsprechende Notiz, die sich allerdings auf den Gesundheitszustand des
Heeres noch vor der Kanonade bei Valmy bezieht, ist viel aufschlußreicher:
„Ich bin versichert, daß nicht drey Achtel der ganzen Armee von dem fürchterlichen Übel
der Ruhr damals frey waren, als wir das Sumpflager beim Dörfchen l'Entrée verließen.
Die Leute sahen alle aus wie Leichen und hatten kaum Kräfte, sich fortzuschleppen;
und doch klagten nur wenige über Krankheit - aus Furcht vor den Lazarethen, jenen
Mördergruben, wohin man die Erkrankten schleppte und worin so viele - viele um ihr
trauriges Leben noch trauriger gekommen sind" (11).
Die unzulängliche Versorgung der Truppe mit Wasser und Lebensmitteln verschlimmerte die Misere.
„Mitten im Regen", klagt Goethe, „ermangelten wir sogar des Wassers. Ich habe es aus
den Fußstapfen der Pferde schöpfen sehen, um einen unerträglichen Durst zu stillen"
(Campagne, 21. September) (12).
Noch bedenklicher war es, daß die gleichen Wagen, mit denen die Ruhrkranken ins
Lazarett transportiert wurden, auf dem Rückweg die Anlieferung von Brot für die noch
gesunden Truppen besorgten (13). Bald waren zwei Drittel des verbündeten Heeres
krank, so daß man es gar nicht mehr wagen durfte, dem Feind entgegenzutreten. Da
die Verbündeten durch die Ruhr an Zahl täglich schwächer wurden, während die
Franzosen unter General Dumouriez dauernd Verstärkung erhielten, entschloß man
sich am 30. September zum Rückzug. Goethe hatte die Gelegenheit eines
Krankentransportes benutzt, um wie er es Herder mitteilt, „aus dem Schlamm"
herauszukommen und „von einem bösen Traum zu erwachen, der mich zwischen Koth
und Noth, Mangel und Sorge, Gefahr und Qual,
BILD
Adolph Menzel
Transport von verwundeten und kranken preußischen Soldaten auf einem
Bauernkarren.
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zwischen Trümmern, Leichen, Äsern und Scheißhaufen gefangen hielt" (14). Der Stil
dieses Briefes, der unter dem unmittelbaren Eindruck des Debakels zu Papier gebracht
wurde, unterscheidet sich kaum von Laukhards vielgeschmähter „Soldatensprache". In
seinen später verfaßten Erinnerungen führt uns Goethe mit wenigen Sätzen das
ergreifende Schicksal der Ruhrkranken vor Augen, die man infolge des überstürzten
Rückzugs nicht mitnehmen konnte und aus Angst vor Ansteckung auch nicht
mitzunehmen wagte:
„Morgens zogen wir über eine Anhöhe nach Grandpré zu und trafen daselbst die Armee
gelagert. Dort gab es neue Sorgen; das Schloß war zum Krankenhaus umgebildet und
schon mit mehreren Unglücklichen belegt, denen man nicht helfen, sie nicht erquicken
konnte. Man zog mit Scheu vorüber und mußte sie der Menschlichkeit des Feindes
überlassen" (Campagne, 3. Oktober).
Und am darauffolgenden Tag: „Grandpré, das nun als ein Ort der Pest und des Todes
geschildert war, ließen wir gern hinter uns" (Campagne, 4. Oktober).
„Unsere traurige Lazarettfahrt", notiert Goethe wenige Tage später, „zog sich nun
langsam dahin und gab zu ernsten Betrachtungen Anlaß, da wir in dieselbe Heerstraße
fielen, auf der wir mit so viel Hoffnung ins Land eingetreten waren. Wie sah das alles
jetzt anders aus! Und wie doppelt unerfreulich erschienen die Folgen eines fruchtlosen
Feldzuges durch den trüben Schleier eines anhaltenden Regenwetters!" (Campagne, 9.
Oktober) (15).
Unter welchen Umständen sich der Rückzug des immer weiter zusammenschmelzenden Heeres in einen wahren Seuchenzug verwandelte, läßt Goethes Eintragung vom
11. Oktober erkennen:
„Ohne die Nacht geschlafen zu haben, waren wir früh um 3 Uhr eben im Begriff,
unseren gegen das Hoftor gerichteten Wagen zu besteigen, als wir ein unüberwindliches Hindernis gewahr wurden. Es zog eine ununterbrochene Kolonne Krankenwagen
durch die zu Sumpf gefahrene Stadt."
Nur mit schwerer Mühe gelang es, sich in die „mit Leichenschritten fortbewegenden
Kolonnen" einzufädeln (16). In Trier angekommen, notierte er am 24. Oktober:
„Ich war von der allgemeinen Krankheit nicht ganz frei geblieben und bedurfte daher
einiger Arznei und Schonung" (17)
Die Verluste der Koalitionsarmee waren ungeheuerlich. Allein von den 42.000 Mann
preußischer Truppen, die im August 1792 die französische Grenze überschritten hatten,
kehrten im Oktober kaum 20.000 zurück. Weniger als 1.000 Mann hatte man vor dem
Feind verloren, aber mehr als 19.000 an der Ruhr (18).
Laukhards Berichte über die permanenten Versorgungskrisen und Strapazen, denen die
Soldaten beim chaotischen Rückzug auf regendurchweichten Straßen voller Toter und
Ruhrkranker ausgesetzt waren, sind von erschütterndem Realismus. Er benutzt dabei,
woran viele Anstoß genommen haben, die grobe Soldatensprache seiner Kameraden,
als deren Anwalt er sich berufen fühlt. Während Goethe im eleganten Gedankenflug nur
ganz leicht die Oberfläche des menschlichen Elends streift, taucht Laukhard tief in den
Sumpf hinein. Hier nur einige Passagen aus drei Kapiteln (16., 13., 18.), die sich auf
den „jämmerlichen Abzug aus Frankreich" beziehen:
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„Auf den Wagen, worauf die Kranken transportirt wurden, fehlte es an aller Bequemlichkeit: die armen Leute wurden drauf geworfen, wenn sie sich nicht selbst noch helfen
konnten, wie man die Kälber auf die Karre wirft, und damit war es dann gut. Niemand
bekümmerte sich, ob so ein Kranker etwas unter dem Leibe oder dem Kopfe hatte, ob
er bedeckt war oder nicht: denn die, welche sich um dergleichen hätten kümmern
sollen, waren meistens selbst krank und hatten kaum Kräfte genug, sich
fortzuschleppen. Starb einer unterwegs, so warf man ihn von dem Wagen auf die Seite
und ließ ihn unbegraben liegen. Oft warf man noch Lebende hinunter, die dann aufs
jämmerlichste im Schlamm verrecken mußten [...] In allen Dörfern blieben Kranke
zurück, die dann meistenteils aus Mangel an Pflege und Nahrung jämmerlich umkamen"
(19).
"Am 10ten Oktober kamen wir bey Lauremont ins Lager, aber man konnte hier kein
Stroh bekommen, uns drauf zu legen: die Dörfer waren schon vorher durch die
Kavallerie von allem Stroh beraubt worden. Wir mußten daher auf der bloßen nassen
Erde in den Zelten herumliegen; und da es noch obendrein die Nacht stark regnete und
das Wasser auch hier wieder in unsere Zelte eindrang, so brachten wir abermals eine
ganz scheußliche Nacht hier zu [...]"
„Am 13ten Oktober war ein noch schrecklicherer Marsch. Wir konnten kaum in einer
Stunde 200 Schritte vorwärts kommen: so ganz abscheulich war der Weg und so sehr
hielt uns die Artillerie und Bagage auf. Als wir bis auf den Abend gegangen oder
vielmehr gekrochen waren, erreichten wir endlich die Stelle, wo wir lagern sollten. Aber
kaum hatten wir abgelegt, als wir sofort Order bekamen, vorwärts zu marschiren. Der
kaiserliche General Hohenlohe hatte seinen Abmarsch von Stenay verfrüht und dadurch
unsre rechte Flanke entblößt [...] " (20).
Nach dem Desaster von Valmy sucht Laukhard die preußischen Lazarette auf, wo
„Tausende krepiren mußten". Doch hören wir ihn selbst, was und wie er es sagt:
„Die zahllosen Krankheiten, besonders die Ruhren, welche unser unglückliches Militär
auf diesem unseligen Feldzuge befielen, machten die Anlegung vieler Lazarethe nöthig.
Zu Grandpré, Verdun, Longwy, Chatillon, Luxemburg befanden sich preußische
Feldlazarethe, welche alle mit Kranken vollgepfropft waren. Ich habe mehrere dieser
Mördergruben selbst besucht und was ich da gesehen habe, will ich dem Leser ehrlich
mittheilen, jedoch mit dem Bedinge, daß der zu delikate Leser diese Kapitel (21 und 22)
überschlage" (S. 244).
Noch in Frankreich hatte Laukhard seinen ersten Krankenhausbesuch unternommen,
bei dessen Lektüre es einem kalt über den Rücken läuft: „Ich hörte, daß mein Freund,
der Unteroffizier Koggel, zu Longwy im Lazareth krank läge; ich wollte ihn also
besuchen und ging hin und hinein, ohne von der Schildwache angehalten oder nur über
etwas befragt zu werden. Dieses ließ mich gleich anfangs nicht viel Ordnung im
Lazarethe selbst erwarten. Aber wie entsetzte ich mich, als ich gleich beim Eingang
alles von Exkrementen blank sah und nicht einmal ein Fleckchen finden konnte, um
unbesudelt hineinzutreten. Der gemeine Abtritt reichte für so viele ruhrhafte Kranke
unmöglich zu, auch fehlte es den meisten an Kräften, ihn zu erreichen, und Nachtstühle
sah ich beinahe gar nicht. Die Unglücklichen schlichen sich also nur bis vor die Stube
und machten dann alles hin, wo und wie sie konnten: Es ist abscheulich, daß ich sagen
muß, daß ich sogar tote Körper in diesem Unflat liegen sah. Ich schlüpfte schnell durch
ins erste beste Zimmer, aber da drängte sich mir auch sogleich ein solch abscheulicher
mephytischer Gestank entgegen, daß ich hätte mögen in Ohnmacht sinken [...] An
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Räuchern dachte man gar nicht, auch wurden die Fenster niemals geöffnet, und wo hie
und da eine Scheibe fehlte, da stopfte man die Öffnung mit Stroh und Lumpen zu. Das
Lager der Kranken war dem vorigen ganz angemessen: die meisten lagen auf bloßem
Stroh, wenige auf Strohsäcken und viele gar auf dem harten Boden. An Decken und
andere zur Reinlichkeit dienende Dinge war vollends nicht zu denken. Die armen Leute
mußten sich mit ihren elenden kurzen Lumpen zudecken, und da diese ganz voll
Ungeziefer waren, so wurden sie beinahe lebendig gefressen."
BILD
Adolph Menzel
Inneres eines Feldlazarettes bei der Belagerung von Prag durch Friedrich den Großen
1757
Die Verwundeten und Kranken liegen am Boden auf Stroh.
„Ich wollte den Unteroffizier Koggel sehen, aber weder Feldscher noch Krankenwärter
konnte mir sagen, in welchem Zimmer ich ihn treffen könnte. So sehr fehlte es an aller
besondern Aufsicht!" (21)
In Trier angelangt, erfuhr man neue katatstrophale Nachrichten: der französische
General Custine, den man unbedenklich im Rücken gelassen hatte, war mit seiner
Armeeabteilung ins Rheinland eingefallen. Er hatte Speyer genommen, das Nachschubzentrum der gesamten Invasionsarmee, und bedrohte nun Mainz und Frankfurt. In
Koblenz erwarteten ihn bereits weite Kreise mit Begeisterung für die Sache der
Revolution. In vier Wochen hatte sich das Klima verändert.
Durch die heimkehrenden Truppen wurde die Ruhr durch die Rheinprovinzen nach den
verschiedensten Teilen Deutschlands verschleppt, so daß bald in Trier, Koblenz, Wesel,
Neuwied, Usingen, Frankfurt a. Main, Höchst, Homburg, Friedberg, Giessen und noch
an anderen Orten preußische Feldlazarette entstanden. Laukhard, der zunächst
überlegte, ob nicht die grauenhaften Zustände im Feldlazarett zu Longwy vielleicht
durch die Not in der Fremde bedingt gewesen sei, beschloß nun, mehrere preußische
Feldlazarette in der Haimat zu untersuchen, „um ein richtiges Urtheil darüber fällen zu
können".
Er tat dies schon in Trier. Was er dort erlebte, sah ganz anders aus, als es später
Goethe beschrieb:
„Die Lazarethe", so Laukhard, „waren ebenso schmutzig, die Pflege ebenso elend und
die Lagerstätten ebenso abscheulich wie in Longwy. Außerdem aber mußten noch vom
30. bis 31. Oktober mehr als 280 Kranke in Trier unter freiem Himmel auf der Gasse
liegen bleiben. In den Hospitälern war für sie kein Platz mehr, und niemand wollte sie in
die Häuser aufnehmen, weil es allgemein hieß, die Preußen hätten die Pest. Es
krepirten - ja es krepirten! - die Nacht mehr als 30 auf der Gasse."
„Die andern Lazarethe, die ich weiter sah, waren alle von dieser Art. Woher kömmt aber
dieses schreckliche Übel, wodurch der Staat so viel Leute verliert? Denn in diesem
Feldzug sind sehr wenig Preußen vor dem Feind geblieben, aber mehrere Tausend in
den Hospitälern verreckt, deren meiste man hätte retten können, wenn man ihnen
gehörige Pflege hätte können oder wollen angedeihen lassen (22).
Nach dieser messerscharfen Feststellung über diese „verlorenen Leute", diese „perdutta
gente", erwägt Laukhard scharfsinnig die Gründe der Desorganisation und Korruption,
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durch die die Feldlazarette trotz der friderizianischen Kabinettsorder zum „Inferno"
geworden waren" (23).
„Der Hauptfehler der preußischen Lazarethe ist, wie mich dünkt, in der Organisation
selbst zu suchen. Die Aufseher sind lauter Leute vom Militär, ohne angemessene
Erfahrung und Kenntnisse, und meist lauter solche, die sich da bereichern wollen. Ihre
Besoldung ist schlecht und doch kommen sie, wenn sie auch nicht lange darin sind und
blutarm hineinkamen, allemal mit vollem Beutel heraus. Es muß also an der Subsistenz
(Lebensunterhalt) der Kranken defraudirt (unterschlagen) und die ganze Einrichtung so
konfus und unordentlich gemacht oder geführt werden, daß man die Defraudation nicht
so leicht entdecken kann" (S. 248-249).
Es ist die bekannte „Tintenfischtaktik", wobei alles trübe und unklar gemacht wird, um
die Spuren zu verwischen.
„Bey dergleichen Einrichtungen", kommentiert Laukhard, „pflegt alles zusammenzuhängen und für den gemeinschaftlichen Vorteil gemeinschaftliche Sache zu machen.
Selten findet sich ein Mann von Rechtschaffenheit, der seinen Einfluß zur Verbesserung
thätig machen mögte; und wenn er sich findet, so wird er bald unterdrückt [...] Ich habe
gesehen, daß Feldscherer und Krankenwärter den Wein fortsoffen, der für die Kranken
bestimmt war und die guten Essenzen selbst verschluckten. Zwei Menschen in Koblenz,
welche den Feldscherern zur Liebschaft dienten, verkauften den Reis aus dem Hospital
und die Kranken mußten hungern. In Frankfurt am Mayn kaufte man im Hospital Reis,
Graupen, gedörrtes Obst u. dergl. sehr wohlfeil. So war es auch in Giessen. Um nun
den Betrug nicht so sehr sichtbar zu machen, geht alles mysteriös und unordentlich in
den Lazarethen zu [...]" (S. 249-250). „Die Krankenwärter sind Soldaten, welche bey
den Kompagnien nicht mehr fortkönnen, alte steife Krüppel, die sich zum Krankenwärter
schicken wie das fünfte Rad am Wagen. Diese, deren theilnehmender Menschensinn
durch den militärischen Korporalsinn abgestumpft ist, lassen den armen Kranken eine
Pflege angedeihen, daß es eine Schande ist. Daß sie sich mit den Feldscherern und
anderen Meistern, die in den Lazarethen etwas anzuordnen haben, allemal
einverstehen, versteht sich von selbst: denn auf die geringste Vorstellung des
Feldschers oder eines anderen Vorgesetzten, würde der Herr Krankenwärter weggejagt.
Ein Oberkrankenwärter, wie ich sie in den französischen Hospitälern zu Dijon und
anderwärts gefunden habe, ist gar nicht da" (S. 250) (24).
Auch das Ansehen der Chirurgen war im französischen Heer ein ganz anderes als im
preußischen. Die despektierliche Bezeichnung „Feldscher" für den Wundarzt hatte
ebenso wie die andere Bezeichnung „Bartscherer" einen sonderbaren Ursprung aus der
Landsknechtszeit. Mußten doch die Chirurgen, die als rohe Empiriker aus Barbierstuben hervorgegangen waren, noch in der friderizianischen Armee Offiziere und
Mannschaften regelmäßig rasieren (25).
„Die Feldscherer", schreibt Laukhard, „oder wie man sie seit einigen Jahren nennen soll,
die Chirurgen, sind meistens Leute, welche gar wenig von ihrem Handwerk inne haben
und daher das Elend in den Spitälern durch ihre Unwissenheit und Unerfahren-heit noch
vergrößern. Für die Besetzung der Regimenter durch Oberchirurgen ist ziemlich gut
gesorgt, ob es gleich auch da Leute giebt, welche nicht viel mehr i wissen als jeder
gemeine Bartkratzer. Die Generalchirurgen sind Männer von Einsicht und Verdienst,
aber die gemeinen oder Kompagniechirurgen sind größtentheils elende Stümpfer, die
bey ihrem Lehrherrn nicht mehr gelernt haben als rasiren und aderlassen. [...)" (26)
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„Die Oberchirurgi, welche die Aufsicht über die Lazarethe führen, können jeden Kranken
nicht selbst untersuchen und behandeln, theils wegen der Menge, theils sind sie dazu
zu kommode [...] Sie schauen daher nur dann und wann, und zwar nur so obenhin, in
die Krankenstuben, lassen sich vom Feldscheer, sehr oft auch von dem Krankenwärter
rasiren, verordnen dann so was hin im Allgemeinen, werfen - um sich respectabel zu
machen - mit einigen fehlerhaften lateinischen Wörtern und Phrasen umher, überlassen
hierauf alles den Unterchirurgen und gehen - in Offiziergesell-schaften, l'Hombre zu
spielen oder sich sonst zu vergnügen. Mir sind ganz schändliche Beyspiele bekannt
geworden, wie selbst Oberchirurgi die medizinische Pflege deswegen vernachläßigten,
weil sie das Geld, das für Arzney, Essig, Wein u. dgl. bestimmt war, an die Offiziere, die
in den Lazarethen als Inspektoren angestellt waren, verspielt hatten und folglich diese
Sachen nicht mehr kaufen konnten. Die Offiziere hätten freilich nach ihrer Pflicht darauf
inquiriren und den Chirurgus zur Herbeyschaffung der Arzney anhalten sollen, aber
eben sie hatten ja das Geld gewonnen, welches sie, im Falle das Ding zur Sprache
gekommen wäre, hätten herausgeben müssen. Sie schwiegen also, und die armen
Leute waren geprellt" (27).
Eine prästabilisierte Harmonie der Korruption. Wie Recht hatte Laukhard mit seiner
Behauptung, hier sei „alles Niederträchtige so fest miteinander verzahnt, daß man
dagegen nicht ankömmt". Denn nur so konnten die „himmelschreyenden Diebereyen in
den Lazarethen" auf die Dauer fortgeführt werden.
„Da man in der Verpflegung der Lazarethkranken", so Laukhard, „schon ohnehin sehr
ökonomisch zu Werke geht, und da noch obendrein jeder von dieser Subsistenz das
Seine ziehen will, so kann man leicht denken, daß die Diät der armen Kranken sehr
schlecht seyn muß. An zweckmäßige Einrichtung der Speisen wird gar nicht gedacht,
noch weniger an deren zweckmäßige Vertheilung. Etwas elende Brühe - die kaum ein
Windspiel fressen möchte - ist die Suppe, worin dann und wann ein bisserl Graupen,
Mehl, Grütze oder Brot gethan wird. Die Krankenwärter wissen alles schon so
einzurichten, daß nicht ein Auge Fett darauf zu sehen ist und daß die Brühe aussieht
und schmeckt wie die elendste Jauche. Das Fleisch in den Lazarethen ist schon das
elendste, das man finden kann, und nicht selten stinkt es schon und hat Maden
gezogen. Dieses elende Luder wird nun auf die elendste Art zurecht gemacht, ganz
unsauber in die Kesel geworfen und oft nur kaum halb gar gekocht."
„‚Wer in den Lazarethen nichts zuzusetzen hat, muß rein krepiren' ist ein bekannter Satz
bey der preußischen Armee [...] So sehen die Feldlazarethe der Preußen aus, aber die
der Österreicher sind um kein Haar besser! Auch da herrscht der nämliche Geist, die
nämliche Unordnung, der nämliche Mangel! - Und hieraus läßt sich nun erklären, warum
so viele Menschen in den Hospitälern elend umkommen und warum die Armeen durch
diese Mördergruben so schrecklich leiden!" (28)
Geradezu entschuldigend bezeichnet Laukhard seine ausführliche Schilderung der
Lazarettmißstände als ein Mittel zum Zweck:
„Meine Leser müssen es zugute halten, daß ich von den preußischen Feldlazarethen
etwas mehr anbringe, als man sonst in dieser Biographie erwartet hätte. Ich bin Soldat
gewesen und habe das Elend mit angesehen, welches meine Brüder in diesen
scheußlichen Mordklüften ertragen mußten. Ich mögte also gerne, so viel als in meinen
Kräften steht, zur Verbesserung dieses abscheulichen und schrecklichen Unwesens
beytragen. Vielleicht liest etwan ein Mann von Gutsinn und Einfluß meine Schrift und
lernt daraus diese Gattung menschlichen Elendes näher kennen und hilft es vielleicht
bey einem künftigen Feldzug lindern" (29).
8
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Leider haben sich Laukhards diesbezügliche Hoffnungen nicht erfüllt: Im Gegensatz
zum gut funktionierenden Heeressanitätswesen der Franzosen, das erst infolge der
Katastrophe in Rußland versagte, blieb das preußische Sanitätswesen während der
napoleonischen Kriege mit der schweren Hypothek aus der Vergangenheit belastet. Es
kam dann auch 1806 zu Jena und Auerstedt so schlimm, daß den ganzen Tag über
kein einziges preußisches Feldlazarett zu sehen war! 1813 betrug bei den Preußen der
ganze Bestand an fliegenden Lazaretten 7 Stück; 1814 erhöhte er sich auf 24, aber den
an sie gestellten Anforderungen gegenüber war das viel zu wenig. Denn infolge ihrer
außerordentlichen Schwerfälligkeit konnten sie nie rechtzeitig an dem Ort ihrer
Bestimmung eintreffen. So kam es, daß in der Schlacht bei Leipzig nur ein einziges,
später bei Belle-Alliance aber gar keines zur Stelle war (30). Die in den verschiedenen
Ortschaften Hals über Kopf eingerichteten Hospitäler erwiesen sich als wahre
Mördergruben. Noch zu Beginn der Freiheitskriege war laut Rust „der Hospitalaufenthalt
für die Soldaten fünf bis sechsmal tödlicher als die Bataille (31). Nach der
Völkerschlacht bei Leipzig (16. bis 19. Oktober 1813) berichtet der Hallenser
Medizinprofessor Johann Christian Reil (1759-1813), der bald danach auch selbst ein
Opfer der Seuche wurde, an den Freiherrn von Stein:
„Leipzig, Oktober 1813. Ew. Exz. haben mich beauftragt, Ihnen einen Bericht über
meinen Befund der Lazarette der verbündeten Armeen am diesseitigen Elbufer
einzureichen [...] Die zügelloseste Phantasie ist nicht im Stande, sich ein Bild des
Jammers in so grellen Farben auszumalen, als ich es hier in Wirklichkeit vor mir fand
[...] Verwundete, die nicht aufstehen können, müssen Koth und Urin unter sich gehen
lassen und faulen in ihrem eigenen Unrat an. Für die Gangbaren sind zwei offene
Bütten angesetzt, die aber nach allen Seiten überströmen, weil sie nicht ausgetragen
werden. In der Petristraße stand eine solche Bütte neben einer anderen ihr gleichen, die
eben mit der Mittagssuppe hereingebracht war. Diese Nachbarschaft der Speisen und
der Ausleerungen muß notwendig einen Ekel erregen, den nur der grimmigste Hunger
zu überwinden imstande ist. Das scheußlichste in dieser Art gab das Gewandhaus. Der
Perron war mit einer Reihe solcher überströmenden Bütten besetzt, deren träger Inhalt
sich langsam über die Treppen hinabwälzte. Es war mir unmöglich, durch die Dünste
dieser Kaskade zu dringen und den Eingang von der Straße her zu erzwingen [...] Ich
schließe meinen Bericht mit dem gräßlichsten Schauspiel, das mir kalt durch die Glieder
fuhr und meine ganze Fassung lähmte. Nämlich auf dem offenen Hof der Bürgerschule
fand ich einen Berg, der aus Kehricht und Leichen meiner Landsleute bestand, die
nackend lagen und von Hunden und Ratten angefressen wurden, als wenn sie
Missethäter und Mordbrenner gewesen wären. Ich appelire an Ew. Exz. Humanität, an
Ihre Liebe zu meinem König und zu seinem Volk: helfen Sie unseren Braven, helfen Sie
bald! An jeder versäumten Minute klebt eine Blutschuld!" (32)
Zu Recht meinte der liberale ostpreußische Arzt Johann Jacoby (1805-1877), der dieses
Memorandum kannte, man müßte „solche Lazarettberichte den verantwortlichen
Staatsmännern zur Pflichtlektüre machen, damit sie wissen, welches Grauen sie mit
jedem Krieg auf die Menschen heraufbeschwören" (33),
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ANMERKUNGEN
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(1)
Das Ende Juli erlassene Manifest des Herzogs von Braunschweig mit seinen unklugen
Drohungen war eine der Hauptursachen des zweiten Sturms auf die Tuilerien, der am
10. August erfolgte: die Schweizergarde, die das Schloß verteidigte, wurde
niedergemacht, der König suspendiert und als Gefangener in den Tempel gebracht. In
den darauffolgenden „Septembermorden" wurden 3.000 internierte „Verdächtige" nach
kurzem Verhör der Menge ausgeliefert und guillotiniert.
(2)
„Meine Herren", rief der Herzog von Braunschweig seinen Offizieren zu, „nicht zuviel
Gepäck und Aufwand. Alles ist nur ein militärischer Spaziergang". Als innerlich eiskalt
schildern ihn alle, die mit ihm zusammenkamen. Im Jahre 1776 hatte er 4.300
Landeskinder an England für den Kampf mit den amerikanischen Kolonien
verschachert. Bis April 1782 waren es 5.723 Mann, von denen 3.015 auf den fernen
Schlachtfeldern geblieben sind. Als die Überlebenden in die Heimat zurückkehren
sollten, befahl er, die Krüppel und Lahmen drüben zurückzulassen, weil er so auch noch
den Invalidensold zu sparen hoffte (F. Mehring, Die Lessing-Legende. 7. Aufl., Stuttgart
1920, S. 360).
(3)
„Wenn es", lautet ein Bericht nach dem Fall von Verdun an den Nationalkonvent,
„Dumouriez nicht gelingt, den Feind in den Engpässen des Argonnenwaldes zum
Stehen zu bringen, so kann dessen Vorrücken auf Paris nichts mehr verhindern". Doch
es gelang - „infolge der zögernden, rein demonstrativen Kriegsführung des Herzogs von
10
11
Braunschweig, der ein purer Theoretiker und nur so lange ein respekteinflößender
Stratege war, bis nicht richtig geschossen und angegriffen wurde" (Von Caemmerer,
Taktische und strategische Grundsätze im 18. und 19. Jahrhundert. Breslau 1906, S.
49).
(4)
Friedrich Christian Laukhards Biographie erschien in fünf Teilen zwischen 1792 und
1802 unter dem Titel „Leben und Schicksale". Der dritte Teil mit dem Untertitel
„Begebenheiten, Erfahrungen und Bemerkungen während des Feldzugs gegen
Frankreich" erschien 1796 in Leipzig.
(5)
Magister Laukhard berichtet im 12. Kapitel des 3. Teils seiner Biographie, wie der
Vormarsch bei kaltem Wetter unter Dauerregen vor sich ging und wie das Biwakieren
auf regendurchfeuchteten Rastplätzen vorhergehender Truppen fieberhafte Erkrankungen zur Folge hatte (S. 110). Er selbst biwakierte nach der Einnahme von Verdun (vor
der Kanonade von Valmy) im Dörfchen L'Entrée und erwähnt hier zum ersten Mal die
Ruhr und den grauenhaften Zustand der als gefährliche Infektionsquelle in Betracht
kommenden Mannschaftslatrinen: „Aber nichts nahm unsere Leute ärger mit als der
Durchfall, der allgemeine Durchfall, und dann die darauf folgende fürchterliche Ruhr [...]
Die Abtritte, wenn sie täglich gleich frisch gemacht wurden, sahen jeden Morgen so
mörderisch aus, daß es jedem übel und elend werden mußte, der nur hineinblickte.
Alles war voll Blut und Eiter. Ebenso lagen viele blutige Exkremente im Lager herum,
von denen, die aus nahem Drange nicht an den entfernten Abtritt hatten kommen
können" (Laukhard, Begebenheiten [wie Anm. 4) S. 148-149).
(6)
Während viele deutsche Intellektuelle die Französische Revolution anfangs emphatisch
begrüßten, lehnte Goethe sie von ihrem Beginn an entschieden ab, was bereits aus den
„Venetianischen Epigrammen" von 1790 deutlich zu ersehen ist: „Alle Freiheitsapostel,
sie waren mir immer zuwider, Willkür suchte doch nur jeder am Ende für sich...`
Goethes ursprüngliche Berichte aus der Campagne, wie z. B. der Brief an Herder,
lassen schwerlich Sympathie für die Sache der französischen Republik erkennen. Aus
dem Jahre 1793 stammt sein kleines Schauspiel „Der Bürgergeneral", worin die
Abneigung gegen die Revolution sogar kleinlich gehässige Formen annimmt und
namentlich alle Versuche, die Losungen des französischen Volkes auch in Deutschland
aufzugreifen, ins Lächerliche gezogen wurden. Dieselbe negierende Tendenz zeigen
das Schauspiel „Die Aufgeregten" und die Anspielungen auf Zeitereignisse im „Reineke
Fuchs". (Über Goethes Verhältnis zur Französischen Revolution vgl, Georg Brandes,
Goethe. Berlin 1922, S. 312 ff, 324 ff). - Als Goethe 1822 - aus einem Abstand von rund
dreißig Jahren - seine Eindrücke und Erlebnisse während der Campagne in Frankreich
(1792) in Form von Tagebuchaufzeichnungen zu Papier brachte, benutzte er dazu
außer eigenen Notizen und seinerzeit geschriebenen Briefen an Christiane, Herder,
Heinrich Meyer, seine Mutter etc. auch fremde Quellen, wie Dumouriez' Lebens- und
Laukhards Feldzugserinnerungen, Massenbachs „Memoiren" sowie das unveröffentlichte Tagebuch, das J. K. Wagner, der Begleiter und Kammerdiener des Herzogs Carl
August während des Feldzuges äußerst sorgfältig und wahrheitsgetreu geführt hatte.
(7)
Rivarol hatte mit seiner sarkastisch-despektierlichen Bemerkung nicht ganz Unrecht:
„Das bei der Kanonade von Valmy vergossene Blut, dem die französische Revolution ihr
eigentliches Überleben verdankt, war überwiegend eine Folge der Ruhr" (Marcel
Hervier, Rivarol. Paris 1928, S. 42).
11
12
(8)
Es ist klar, daß infolge einer solchen Organisation die Spätkomplikationen bei den
Verwundeten meist gefährlicher waren als die Verletzungen an sich. Als der preußische
Generalchirurg Johann Ulrich Bilguer (1720-1796) in Anbetracht der ungeheuren
Verluste, die diese Verordnung zur Folge hatte, in einer Denkschrift darum bat, die
Verwundeten noch während der Bataille einsammeln und das Lazarettwesen
reorganisieren zu dürfen, drohte ihm Friedrich II. mit Festungshaft, wenn er noch einmal
wagen sollte, ihn damit zu behelligen (W. v. Brunn, Aus chirurgischer Vergangenheit.
Berlin 1940, S. 82).
(9)
Laukhard, Begebenheiten [wie Anm. 4] S. 170. - Bei der Belagerung von Prag (1757)
hatte Bilguer beobachten können, wie Hunderte durch leichte Schußwunden verletzter
Grenadiere infolge einer viel zu späten Wundversorgung elend zugrunde gingen (v.
Brunn [wie Anm. 8] S. 81).
(10)
Jean Dominique Larrey (1766-1842), Napoleons ständiger Begleiter auf allen seinen
Feldzügen, hatte zur gleichen Zeit (1792) als Chirurg bei der französischen Rheinarmee
die „Ambulances volantes" (entsprechend den heutigen Hauptverbandplätzen)
geschaffen. Die fliegenden Ambulanzen mußten nunmehr stets mit der Avantgarde
mitziehen und konnten daher solchen Verwundeten schon auf dem Schlachtfelde ihre
Hilfe angedeihen lassen (N. Guleke, Kriegschirurgie und Kriegschirurgen im Wandel der
Zeiten. Jena 1945, S. 26-27).
(11)
Laukhard, Begebenheiten [wie Anm. 4] S. 149. - Im 12. Kapitel mit dem drastischen
Untertitel „Das sogenannte Drecklager" schreibt Laukhard von dem berüchtigten Biwak,
wo sich die Ruhr so beängstigend ausbreitete: "Wir brachen von Verdun mitten im
Regen auf und marschierten den ersten ganzen Tag im Regen fort [...] Endlich
erreichten wir ein Dorf, L'Entrée genannt, worin der König sein Hauptquartier nahm und
wobey wir unser Lager aufschlagen sollten [...] Wir machten freilich Feuer an und holten
dazu aus dem Dorfe L'Entrée heraus, was wir in der finsteren Nacht von Holz finden
konnten Stühle, Bänke, Tische und andere Geräthe. Aber diese Feuer, so höllenmäßig
sie auch aussahen, waren doch nicht hinlänglich, uns gegen den fürchterlichen Wind
und den abscheulichen Regen zu sichern [...] Unsere Munition an Pulver wurde selbige
Nacht größtenteils naß und zum Schießen unbrauchbar [...] Endlich war es Tag und die
Soldaten krochen aus ihren Zelten, wie die Säue aus ihren Ställen, sahen auch aus wie
diese Thiere, wenn sie aus Ställen kommen, welche in sechs Wochen nicht gereinigt
sind. Der Koth, worin man sofort patschen mußte, wenn man aus den Zelten heraustrat,
lief gleich in die Schuhe [...]" (Laukhard, Begebenheiten [wie Anm. 4]) S. 140-143).
(12)
Wie in solchen unruhigen Zeiten das Trinkwasser verseucht werden kann, hat Goethe
im siebten Gesang von,Hermann und Dorothea' eindrucksvoll geschildert: „Es haben die
unvorsichtigen Menschen alles Wasser getrübt im Dorfe, mit Pferden und Ochsen gleich
durchwatend den Quell, der Wasser bringt den Bewohnern. Und so haben sie auch mit
Waschen und Reinigen alle Tröge des Dorfes beschmutzt und alle Brunnen besudelt,
denn ein jeglicher denkt nur, sich selbst und das nächste Bedürfnis zu befried'gen und
rasch, und nicht den Folgenden denkt er" (VII. Gesang 30-36).
(13)
12
13
Victor Fossel, Kriegsseuchen im 17. und 18. Jahrhundert. Leipzig 1905, S. 81. - „Das
Brot", berichtete Goethe, „war angekommen nicht ohne Mühseligkeit und Verlust; auf
den schlimmsten Wegen von Grandpré, wo die Bäckerei (und auch das Ruhrlazarett)
lag, bis zu uns heran, waren mehrere Wagen stecken geblieben [...] In Angst vor Gift
brachte man mir einige Laibe auf Arsenik hindeutend [...] War es aber auch nicht
vergiftet, so erregte doch der Anblick Abscheu und Ekel [...]“ (Campagne, 28.
September).
(14)
Brief an Herder vom 16. Oktober 1792. - Um die gleiche Zeit, als „die Retirade des
ruhrverseuchten Koalitionsheeres eine blutige Fäkalspur hinterläßt" (Rivarol), entsteht in
Frankreich ein anonymes Spottlied: „La grande foire combinée des Prussiens et des
Austrichiens." Die ersten beiden Strophen mit dem (insgesamt siebenmal wiederkehrenden) übermütigen Refrain lauten:
(1) „Ah! quel malheureux destin! /On ne pourrait le croire; /Les invincibles Prussiens
/Ont avec les Austrichiens/La foire, la foire, la foire./
(2) (2) Quand Brunswick dit aux Soldats: / Volons à la victoire; / On répond, culotte en
bas:/ Monseigneur, n'avons nous pas/La foire, la foire, la foire?...`
(15)
Zwei Tage vorher, als man während des Rückzuges bei strömendem Regen an die
Maas kam berichtet Goethe, ritt der Herzog von Braunschweig an ihn heran und
bemerkte, wie er sich freue, daß ein so berühmter Dichter zugegen sei, „der bezeugen
kann, daß wir nicht vom Feinde, sondern von den Elementen überwunden wurden"
(Campagne, den 7. Oktober). Doch Goethe schwieg 30 Jahre lang. „Was er schreiben
durfte, mag er nicht schreiben und was er schreiben möchte, wird er nicht schreiben",
läßt Goethe einen Einsichtigen über die Campagne in Frankreich sagen (Campagne,
Trier den 28. Oktober).
(16)
Das Chaos beim Rückzug nach dem Debakel bei Valmy offenbart sich aus einer Notiz
Goethes: „Die Selbsterhaltung in einem so ungeheuren Drange kannte kein Mitleid,
keine Rücksicht mehr; nicht weit vor uns fiel ein Pferd vor einen Rüstwagen, man schnitt
Stränge entzwei und ließ es liegen. Als nun aber die drei übrigen die Last nicht
weiterschleppen konnten, schnitt man auch sie los, warf das schwer bepackte Fuhrwerk
in den Graben, und mit dem geringsten Aufhalten fuhren wir weiter und zugleich über
das Pferd weg, das sich eben erholen wollte, und ich hörte ganz deutlich, wie dessen
Gebeine unter den Rädern knirschten. Daß man unter solchen Umständen in Gräben,
auf Wiesen, Feldern und Angern genug tote Pferde erblickte, war die natürliche Folge
des Zustands; bald aber fand man sie auch abgedeckt, die fleischigen Teile sogar
ausgeschnitten; ein trauriges Zeichen des allgemeinen Mangels!" (Campagne, den 11.
Oktober).
(17)
Goethe, dem seine Farbenlehre stets wichtiger war als die Kriegsereignisse, berichtet
am nächsten Tag über den endlich wiedergefundenen, schmerzlich vermißten dritten
Teil von Fischers physikalischem Lexikon, den die Küchenmagd seines Herzogs
während der Retirade im großen sechsspännigen Küchenwagen bis Trier mitgeschleppt
und nun, an Ruhr erkrankt, ins Hospital mitgenommen haben soll. Um das Buch
zurückzubekommen, will sich Goethe zu seinem oft angezweifelten, einzigen Hospitalbesuch während der Campagne entschlossen haben: „Auf Erkundigung und Nachforschung fand ich endlich die Küchenmagd im Lazarett, das man mit ziemlicher Sorgfalt in
einem Kloster errichtet hatte. Sie litt an der allgemeinen Krankheit, doch waren die
13
14
Räume luftig und reinlich; sie erkannte mich, konnte aber nicht reden, nahm den Band
unter dem Haupte hervor und übergab ihn mir so reinlich und wohl erhalten, als ich ihn
überliefert hatte." (Campagne, Trier den 25. Oktober). - Allerdings begann Fischers
physikalisches Lexikon erst 6 Jahre später (1798) zu erscheinen! Nicht umsonst
konnten renommierte Historiker wie Heinrich von Sybel, Leopold von Ranke und andere
dem „aufgefrischten" biographischen Alterswerk des großen Dichters nicht viel
abgewinnen.
(18)
Fossel [wie Anm. 13] S. 82.
(19)
Laukhard, Begebenheiten [wie Anm. 4] 16. Kap. S. 199. - „Den fiten Oktober mußte der
Befehl gegeben werden, die Dörfer in der Gegend auszuplündern. Viele unserer Leute
glaubten, das sey die Folge eines geringen Angriffs der Franzosen auf die Österreicher
und meynten, daß man auf diese Art jenes Unrecht (!) durch Plünderung der armen
Bauern rächen wollte. Allein dieser Gedanke war falsch: denn bloß der Mangel an
Nahrung für Menschen und Vieh und besonders für das Hauptquartier nöthigte den
Herzog von Braunschweig, die Ausplünderung von etwa neun Dörfern zu befehlen,
welche auch durch mehrere Bataillons Infanterie und Husaren ausgeführt wurde"
(Laukhard, Begebenheiten [wie Anm. 4] Kap. 17, S. 200).
(20)
Laukhard, Begebenheiten [wie Anm. 4] Kap. 17 S. 204-205. - „Es war schon, ehe wir die
Standquartiere verließen, befohlen worden, daß man besonders für gutes Schuhwerk
der Soldaten sorgen und hinlänglich dazu mitnehmen sollte, um die abgehenden gleich
wieder ersetzen zu können. Aber unsre Herren hatten so für sich auskalkulirt, daß der
ganze Krieg wohl nur ein Viertel Jahr dauern könne und waren eben darum auch in
Befolgung dieses Befehls sehr nachläßig gewesen. Die Folgen der Fahrläßigkeit in
einem so äußerst wichtigen Punkte zeigten sich bald. In der ganzen Armee fingen die
Schuhe bey dem scheußlichen Rückzug aus Champagne auf einmal so an zu reißen,
daß beynahe kein einziger Soldat gutes Schuhwerk noch hatte [...] Es war schändlich
anzusehen, wie die Preußen da ohne Schuhe durch den Koth zerrten und ihre Füße an
den spitzigen Steinen blutrünstig aufrissen" (Laukhard, Begebenheiten [wie Anm. 4] S.
212).
(21)
Laukhard, Begebenheiten [wie Arm. 4] Kap. 21, S. 244-247.
(22)
Laukhard, Begebenheiten [wie Anm. 4] Kap. 21, S. 247-248. - Wie richtig Laukhard die
Bedeutung der Ruhr als Kriegsseuche bei der Campagne in Frankreich eingeschätzt
hat, geht auch daraus hervor, daß es vor allem epidemiologische Erwägungen waren,
die Bismarck nach der siegreichen Schlacht bei Königgrätz aus Angst vor der Cholera
dazu bewogen haben, den von seinem König gewünschten „Vormarsch auf Wien" zu
stoppen. Nach dem „Kriegsrat vom 23. Juli 1866" nahm er folgende Eintragung in sein
Tagebuch vor: „Im Vorzimmer fand ich zwei Obersten mit Berichten über das Umsichgreifen der Cholera unter ihren Leuten, von denen kaum die Hälfte dienstfähig war. Die
erschreckenden Zahlen befestigten meinen Entschluß, aus dem Eingehen auf die
österreichischen Bedingungen die Cabinetsfrage zu machen [...] Mir schwebte als
warnendes Beispiel unser Feldzug von 1792 in der Champagne vor, wo wir nicht durch
die Franzosen, sondern durch die Ruhr zum Rückzug gezwungen wurden" (O. v.
14
15
Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart u. Berlin 1919, S. 50). Diese
Befürchtung, und nicht etwa „das Gefühl der Rücksicht gegenüber dem österreichischen
Brudervolk", war einer der Hauptgründe, weshalb Bismarck der Fortsetzung des Krieges
entgegentrat und zum beschleunigten Friedensschluß drängte. In dem kurzen Feldzug
1866 verlor das preußische Heer 4450 Soldaten durch Verwundungen und 6427 durch
die Cholera. Die Zivilbevölkerung Preußens (ohne Ostpreußen) hatte im selben Jahr
120.000 Choleraopfer zu beklagen.
(23)
Nach dem Bayerischen Erbfolgekrieg (1778-1779) hatte zwar Friedrich II., ohne die
Organisation der Lazarette zu ändern, eine Kabinettsorder bezüglich der Behandlung
von verwundeten und kranken Soldaten erlassen, in der es u. a. heißt: „Ich habe seit
dem letzten Kriege solche Befehle gegeben, die es allen den Schelmen, Schurken und
Spitzbuben bey der Armee künftig schwer machen werden, ihren König zu betrügen und
den armen Soldaten [...] so schändlich und barbarisch zu berauben" (Guleke [wie Anm.
10] S. 32).
(24)
Laukhard, Begebenheiten [wie Anm. 4] Kap. 21, S. 248-250. - Hier ein Streiflicht über
unhygienische Zustände im Lazarett: „Für Reinlichkeit, dieses erste Hauptstück für
Krankenpflege, worauf mehr ankommt als selbst auf die medizinische Verpflegung, wird
so wenig gesorgt, daß ich Kranke weiß, denen die Hemden auf dem Leib verfault und
denen von den Läusen tiefe Löcher in den Leib gefressen waren. Freilich sollen die
Krankenwärter entweder selbst waschen oder waschen lassen, aber das geschieht
nicht. Ferner sehen die Stuben aus wie die Spelunken; und der mephytische Gestank
verpestet die Luft aufs abscheulichste. Wer in eine solche Krankenstube hineintritt,
verliehrt den Appetit zum Essen wenigstens auf einen Tag" (Laukhard, Begebenheiten
[wie Anm. 4] Kap. 21. S. 250-251).
(25)
Kennzeichnend für die damalige Geringschätzung des heute so hoch angesehenen
chirurgischen Fachzweiges ist die Bemerkung des kgl. preußischen Generalchirurgus
Johann Christian Theden (1714-1797) in seinem 1374 erschienenen Büchlein
„Unterricht für Unterwundärzte bey Armeen": „Man hat bey der preußischen Armee die
Compagnie-Wundärzte der elenden Beschäftigung (den Compagnie-Angehörigen) den
Bart zu putzen (d. h. zu rasieren) enthoben." Sogar die großen Generalchirurgen des
friderizianischen Heeres haben einst diesen Dornenweg gehen müssen. - Noch im
Jahre 1774 wollten die Freiburger Studenten Prof. Mederer von Wuthwehr verprügeln,
weil er für die Vereinigung der Chirurgie mit der Medizin eintrat, worin man „eine
Herabwürdigung der Medizin" sah (v. Brunn [wie Anm. 8] S. 84. - R. Nissen, Das
veränderte Bild der Chirurgie. DMW 1955, S. 1213).
(26)
Laukhard, Begebenheiten [wie Anm. 4] Kap. 21, 22, S. 251. - Das Aderlassen gehörte
im Sinne der Säftelehre zu einer von Zeit zu Zeit vorzunehmenden Präventivmaßnahme, wie z. B. heute die GrippeSchutzimpfung. So ließ sich der Soldatenkönig,
wenn seine langen, Kerls zu dieser Prozedur angetreten waren, als erster vom
Chirurgen Blut abzapfen (v. Brunn [wie Anm. 8] S. 41).
(27)
Laukhard, Begebenheiten [wie Arm. 4] Kap. 22, S. 252-253. Friedrichs Mißachtung
gegenüber den „Militär-Chirurgen" ging so weit, daß er in Feldlazaretten selbst in
15
16
medizinischen Fragen den Truppenoffizier als Inspektor das letzte Wort sprechen ließ.
So heißt es z. B. in einem Reglement von 1781 u. a.: „Die Capitains sollen ernstlich
darnach sehen, daß [...] keine Amputation eher vorgenommen wird, bis der Brand da
ist" (v. Brunn [wie Anm. 8] S. 83).
(28)
Laukhard, Begebenheiten [wie Anm. 4] Kap. 22, S. 257-259.
(29)
Laukhard, Begebenheiten [wie Anm. 4] Kap. 22, S. 254-255. - Alle Laukhard-Zitate
stammen aus dem von Engels und Harms unlängst herausgegebenen Faksimiledruck
des seit ihrem Erscheinen zwischen 1796 und 1802 nicht mehr neu aufgelegten Werk:
Friedrich Christian Laukhard, Leben und Schicksale. Fünf Theile in drei Bänden.
Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 1987.
(30)
v. Brunn [wie Anm. 8] S. 90. - „Die Regelung der ersten Hilfe auf dem Schlachtfelde und
des Verwundetentransports war unzulänglicher als in der Landsknechtszeit", sagte
Johann Rust (1375-1840), der 1815 nach Preußen als Generalchirurg berufen wurde
und sogut wie möglich die Verwundetenfürsorge nach der Schlacht von Waterloo zu
organisieren versuchte. In Anspielung auf die ihm oft entgegengebrachte Uneinsichtigkeit prägte er das makabre Bonmot: „Holzbeine sind nicht vererblich, aber Holzköpfe
sind es."
(31)
v. Brunn [wie Anm. 8] S.91. - Ähnlich äußerte sich noch um 1860, vor der antiseptischen
Ära, auch der schottische Arzt James Young Simpson: „Der Mann, der in einem unserer
chirurgischen Krankenhäuser auf dem Operationstisch liegt, läuft mehr Gefahr zu
sterben als der englische Soldat auf dem Schlachtfelde zu Waterloo."
(32)
Pertz, Das Leben des Freiherrn von Stein (zit. n. Sticker). Virchow's Archiv Bd 53, S.
389. - Von der Campagne in Frankreich (1792) bis Waterloo (1815) zählten die
europäischen Armeen 4.500.000 Mann, von denen 1.500.000 fielen, aber 2.500.000
meist von Infektionskrankheiten dahingerafft wurden.
(33)
Th. Bernstein, Johann Jacoby. Königsberg 1903, S. 76. - Der von Bernstein zitierte Satz
stammt aus einem Brief Jacobys vom 20. Mai 1866 kurz vor Ausbruch des
Preußisch-österreichischen Krieges. Der Königsberger Arzt Johann Jacoby (1805-1877)
war auch Mitglied der Deputation, die von König Friedrich Wilhelm IV, von Preußen
(1840-1861) im November 1848 die Bildung eines die Sympathien des Volkes
genießenden Ministeriums forderte. Als der König sich weigerte die Deputation länger
anzuhören, rief ihm Jacoby zu: „Das ist das Unglück der Könige, daß sie die Wahrheit
nicht hören wollen."
______________________________________________________________________
Friedrich Christian Laukhard, Leben und Schicksale. Fünf Theile in drei Bänden.
Faksimile-Nachdruck. Nachwort und Materialien von H. W. E n g e l s und A. H a r m s.
2908 Seiten. Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 1987. Gebunden 75,- DM (Leider seit
Jahren vergriffen).
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Vor kurzem erschien in drei Bänden ein Faksimile-Nachdruck der Biographie des
Friedrich Christian Laukhard. Als Sohn eines protestantischen Pastors studierte er
zunächst Theologie und zog als studentischer Vagant von einer Universität zur anderen.
Da er als Magister wegen seiner Freigeisterei die erstrebte akademische Anstellung
nicht erreichte, ließ er sich schließlich in die preußische Söldnerarmee anwerben. Als
gewöhnlicher Musketier kämpfte er auf seiten Preußens im ersten Koalitionskrieg, geriet
auf höchst abenteuerliche Weise in französische Gefangenschaft und erlebte
Frankreich während der Jakobinerdiktatur. In der Erkenntnis, ein Augenzeuge
bedeutender weltgeschichtlicher Veränderungen zu sein, verfaßte er wie ein rasender
Reporter jener turbulenten Zeiten seine mehrbändige „Biographie", die er zwischen
1792 und 1802 veröffentlichte. Dieses Werk ist nicht nur eine Fundgrube für
Kulturhistoriker, sondern auch für Medizin- und Seuchenhistoriker. Hier haben wir die
Schilderung der zunächst verheimlichten Ruhrepidemie während der Campagne in
Frankreich 1792, die bereits vor Valmy die Schlagkraft des Invasionsheeres lähmte, und
dann das Grauen in den preußischen Militärlazaretten beim Rückzug. Besonders
aufschlußreich für die Geschichte der Geschlechtskrankheiten ist die ungeschminkte
Schilderung des verrotteten Studentenlebens samt den Interieurs „der nur zu
öffentlichen Häuser". Da Laukhard bei seinen Wanderungen durch Deutschland und
Frankreich die unteren Schichten der Bevölkerung besonders gut kennerlernte, fühlte er
sich mehr und mehr als ihr Anwalt. Ebenso wie Louis-Sebastian Mercier in seinen
„Tableau de Paris" läßt Laukhard in seiner autobiographischen Reportage das
Panorama der feudalen „Infrastruktur" an uns vorbeiziehen.
Den Faksimiledruck dieser großartigen Biographie verdanken wir dem LaukhardForscher Hans-Werner Engels, einem Schüler der Historiker F. Fischer und W. Grab,
der im Laufe von zwei Jahrzehnten mit minuziöser Akribie alles recherchiert hat, was
von Laukhard oder über ihn geschrieben wurde. Das von Engels und Harms verfaßte,
über 200 Seiten lange Nachwort ist ein wahres Kabinettstück und zugleich eine brillante
und verdienstvolle Rehabilitation eines zu Unrecht verpönten, totgeschwiegenen und
vergessenen Spätaufklärers, der unerschrocken und weitsichtig gegen die Mißstände
seiner Zeit zu Felde zog und in dessen gesellschaftskritischen Schriften - laut Stefan
Zweig - „etwas von dem großen Zorn Lessings leuchtet". (Stefan Winkle)
Copyright by the author – Alle Rechte beim Autor
Dieser Artikel erschien erstmalig im Hamburger Ärzteblatt (42) Seiten 13-20 Jg: ....
Kontakt über ePost [email protected]
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