Warum sich noch heute Sänger und Geschichtenerzähler auf der Brücke von Avignon treffen Vor langer Zeit lebte in Avignon ein Fürst, der hatte eine wunderschöne Tochter. Er liebte sie von ganzem Herzen. So wollte er nur den besten, schönsten und reichsten Mann für sie. Deshalb durfte seine Tochter nicht in die Stadt gehen. Nur durch ein ganz kleines Fenster, hoch oben im Palast, schaute sie jeden Abend voller Sehnsucht auf die Straße. Eines Tages kam ein fahrender Sänger in die Stadt. Als er an dem Haus vorbei kam, in dem das schöne Mädchen wohnte, spürte er eine tiefe Sehnsucht in sich. Er schaute nach oben und entdeckte das wunderschöne Mädchen. Da spürte er ganz große Liebe in seinem Herzen. Er sang sein schönstes Lied. Abend für Abend kam er zu dem Haus und sang unter dem Fenster seiner Liebsten. Aber der Vater verbannte das Mädchen in den Palast. Doch auch durch die dicken Mauern des Hauses drang der sehnsuchtsvolle Gesang des jungen Mannes. Jeden Abend hörte das Mädchen seine Stimme. Sie wurde unendlich traurig und weinte viele Taschentücher nass. Daraus nähte sie für ihren Liebsten einen Mantel der Sehnsucht. Als sie immer trauriger und dünner wurde, als sie merkte, dass sie nicht mehr lange leben würde, warf sie den Mantel durch das Gitter des Fensters ihrem Geliebten zu. Nach ihrem Tod verließ der Vater die Stadt, nur der leere Palast blieb zurück. Der Sänger aber saß weiter Abend für Abend unter dem Fenster, eingehüllt in den Mantel der Sehnsucht, und sang seine Lieder. Eines Tages brach er zusammen und man brachte ihn ins Krankenhaus. Seinen Mantel bewahrte man in der Kleiderkammer auf. Nach seinem Tod kam ein junger Handwerker vorbei, der diesen Mantel erhielt. Wie von unsichtbarer Hand geführt, gelangte er an den leer stehenden Palast. Oben im Fenster meinte er, ein blasses Mädchen zu sehen. Und mit einem Mal konnte er die schönsten Lieder singen. Jeden Abend saß er dort, wie einst der verliebte Jüngling. Auch ihn verließen bald die Kräfte und er wurde ins Krankenhaus gebracht. Der Mantel nahm den gleichen Weg. Ein kräftiger junger Mann erhielt ihn und auch ihn zog es wieder zu dem Hause hin und er sang jeden Abend, bis er zusammenbrach. Schließlich bat man einen Priester um Hilfe. Er riet, den Mantel genau unter dem Fenster zu verbrennen. Es brauchte viele Fackeln, bis der Mantel der Tränen zu brennen begann. Dann jedoch mit einer solchen Kraft, dass das ganze Haus in kürzester Zeit mit in Flammen aufging. Man erzählte sich, dass aus dem brennenden Haus drei junge Männer und eine junge Frau entschwebten. Sie zogen über die große Brücke über die Rhône und wurden nie mehr gesehen. Und noch heute treffen sich Sänger auf der Brücke von Avignon, singen ihre Lieder und erzählen Geschichten.