Artikel lang

Werbung
Zehn Bild-Meditationen zum Beginn der Zehner Jahre:
Das Jahrzehnt des Bewusstseinswandels
1. Am Übergang
Gut, so beinahe schon hysterisch spektakulär wie der letzte Jahrzehntwechsel kann dieser gar nicht
werden – schliesslich galt es damals, einen Jahrhundert- ja gar Jahrtausend-Wechsel zu feiern.
Nichtsdestotrotz ist es schon erstaunlich, dass nur wenige bemerkt haben, dass die Nuller Jahre
vorbei sind und die Zehner beginnen.
Zum Glück gibt es den SPIEGEL, der diese Lücke füllt und als Titelgeschichte einen Rückblick auf die
zu Ende gehende Dekade wagt, der zu einem vernichtenden Gesamturteil kommt: Das verlorene
Jahrzehnt.
Vier Krisen werden zur Stützung dieser These angeführt: Die 9/11-Krise samt aller Kriegs- und
Sicherheitsfolgen, die Finanzkrise, die Klimakrise und die Demokratiekrise. Nur das, was er die
Internet-Euphorie nennt, gibt dem SPIEGEL Anlass zu gewissen Hoffnungen.
*******
2. Es geht um Bewusstseinswandel
Vor vierzig Jahren bewirkten die ersten von den Mond-Astronauten aufgenommenen Bilder des
verletzlichen blauen Planeten das starke Gefühl, auf einem zusammengehörigen Globus zu leben,
und liessen damit durch den Blick von aussen erstmals so etwas wie ein globales Bewusstsein
aufblühen. Im letzten Jahrzehnt erlebten die meisten Menschen wegen der genannten Krisen, die alle
globale Auswirkungen hatten, aber auch dank des Internets aus der Innenschau, was es heisst,
vernetzter Teil der einen Erde zu sein.
Und dabei entwickelte sich eine Ahnung davon, was die neuen Möglichkeiten des Austauschs von
Informationen, Erfahrungen und Wissen sowie der Organisation gemeinsamen Handelns für unser
Bewusstsein dessen bedeutet, wer wir sind und wohin wir wollen. Und davon, dass es nicht ohne
einen fundamentalen Wandel eben dieses unseres Bewusstseins abgehen wird.
*******
3. Materialismus ist am Ende
Natürlich war die Finanzkrise auch eine Folge davon, dass es für Anlagen zu wenig Vorschriften gab –
oder die falschen oder zu wenig kontrollierte. Und zugleich war sie auch eine Krise der Werte. Was
die sich gegen die schon wieder unanständig hohen Banken-Boni empörende Volksseele durchaus
richtig wahrnimmt: Wenn so genannte Spitzenkräfte sich erst ab etlichen Millionen dazu herablassen,
überhaupt etwas zu tun, dann stimmt mit deren Werten definitiv etwas nicht.
Nachdenklicheren Zeitgenossen ist schon im Laufe der nuller Jahre aufgefallen, dass es sich bei
dieser Gier ganz oben nur um die Spitze des berüchtigten Eisbergs handeln könnte, der wiederum
Symbol für eine tatsächlich eiskalte und erstarrte Welt ist, in der nur was läuft, wo Kohle lockt. Was
wiederum nur funktionieren kann, weil materielle Werte zur wichtigsten Richtschnur unseres Tuns und
Lassens geworden sind.
*******
4. Defensive führt in die Irre
Wie auch immer sie dahin gekommen sind: Tief in unseren Knochen steckt die Erfahrung unserer
fernen Vorfahren, die im Dschungel überleben mussten. Dort herrscht ein gegenseitiges Hauen und
Stechen, und am meisten Angst hat man vor dem, der am lautesten brüllt. Und so gehorchen wir
ängstlich zunächst der Stimme, die uns zubrüllt: »Schufte! Sonst musst du deinen Lebensstandard
abbauen!« Und dann der nächsten: »Kaufe! Sonst könnte man meinen, du müsstest deinen
Lebensstandard abbauen!«
Und so füttern wir aus Angst oder blosser Gewohnheit den Materieumwälzenden Löwen weiter und
weiter und merken nicht, dass er längst versteinert ist. Einst bis in gar nicht ferne Zeiten war die
Energie dieses Löwens ein wunderbarer Antrieb, um auf der materiellen Ebene zu überleben und es
etwas bequemer zu haben. Doch im ängstlichen Festklammern an dem, was wir besitzen, erstarrt
diese Energie heute zur Defensive und wird unfruchtbar und destruktiv. Einfach da wieder weiter zu
machen, wo wir vor der Finanzkrise waren (da war übrigens nicht lange davor schon mal eine...), kann
kein Attraktor für die zehner Jahre sein.
*******
5. Auf der Suche nach neuen Werten
Und dieser Blick voraus auf das nächste Jahrzehnt ist es, der sich, bei aller berechtigten Trauer über
das verlorene letzte, für den Zukunfts-Philosophen ziemt. Und nicht nur für den. Schliesslich können
wir nicht zurück, um noch etwas zu ändern. Also abschreiben. Und neugierig voraus schauen. Wobei
gerade beim Übergang zwischen zwei Jahrzehnten der Blick auf das kommende unvermeidlich von
wallenden Nebeln etwas verhüllt ist. Echte Prognosen kann es schon deshalb nicht geben, weil wir die
Zukunft laufend verändern.
Was wir uns auch dringend verordnen sollten. Allzu offensichtlich läuft der Karren mehrgleisig in eine
falsche Richtung. Weniger offensichtlich ist, wohin die Reise stattdessen gehen soll. Wonach und
woran sollen wir uns in dieser nächsten Dekade orientieren? Gibt es verbindende und verbindliche
Werte jenseits des schnöden und öden Mammons?
*******
6. Ordnung aus dem Chaos
Verloren und einsam fühlen wir uns in den unendlichen Weiten der Werte-Meere. Zurück zu den
Zeiten, in denen den Menschen die herrschenden Werte glasklar vermittelt und notfalls auch handfest
eingebläut wurden, wollen und können wir nicht. So bleibt es wohl oder übel an uns selbst hängen,
welche Werte uns wie viel wert sind. Wohl, weil es kaum einen zentraleren Raum für unsere
individuelle Freiheit gibt als Selbstbestimmung über unsere eigenen Werte, und übel, weil auch im
Angebot an Werten, aus denen wir auswählen können und müssen, die neue Unübersichtlichkeit
ausgebrochen ist.
Doch Raben sind bekanntlich kluge Knaben, und auch dem Menschen ist eine gewisse Intelligenz
nicht gänzlich abzusprechen. So könnten wir aus Erfahrung durchaus dergestalt klug geworden sein,
dass wir um die Unvermeidbarkeit solcher Empfindungen von Verwirrung und Chaos in Phasen des
Übergangs wissen. Und darauf vertrauen können, dass aus dem Chaos eine neue Ordnung wachsen
wird. Zum Beispiel so etwas wie ein neuer Leit-Wert, der an die Stelle von Lebensstandard rücken
wird.
*******
7. Die das Gras wachsen hören
Sechs Gänse wühlen unverdrossen nach immer noch mehr zum Futtern. Die siebte hat ihr Haupt
erhoben und blickt in eine andere Richtung. Weil sie sich im Bild-Hintergrund aufhält und erst noch
leicht angeschnitten wurde, wird sie kaum wahrgenommen. So ungefähr präsentiert sich aufgrund
vieler Befragungen und Studien das Verhältnis zwischen jenen, in deren Bewusstsein noch immer
jene Werte dominieren, die um Lebensstandard kreisen, und jener Minderheit in der Bevölkerung,
deren Werte sich um den Leit-Wert Lebensqualität drehen. Eine oft übersehene, aber sehr wohl
existierende Minderheit mit grossem Wachstums-Potenzial.
Diese kleine, aber feine Minderheit ist gerade dabei, das Potenzial des Leit-Werts Lebensqualität zu
entdecken. Sie erkundet die einzelnen Sphären von Lebensqualität, als da sind: Materie (ja, die auch).
Gesundheit. Tun. Beziehungen. Raum. Zeit. Sinn. Stabilität. Eigenes. Lebensfreude. Reifung.
Echtheit. Offenheit. Respekt. Nachhaltigkeit. Lebens-Kunst. Und findet dabei heraus, um wie viel
vielschichtiger und facettenreicher der Leit-Wert Lebensqualität sein kann als der eindimensionale und
damit langweilige alte Leit-Wert Lebensstandard.
*******
8. Neues Denken ist gefragt
Die gute alte Tonbandkassette hat nur als Fossil überlebt. Das zu ihrem Funktionieren notwendige
Betriebssystem ist veraltet und steht kaum noch zur Verfügung. Ein Problem, das wir vom Computer
her umgekehrt kennen: Neue Programme laufen auf einem veralteten Betriebsystem nicht. Es wäre
also schon einen schüchternen Gedanken wert, zeitgleich mit der Installation des neuen Programms
in Form des Leit-Werts Lebensqualität auch das alte Betriebssystem durch ein zukunftsgerichteteres
zu ersetzen.
Was im Klartext eine Generalrevision unseres Denkens bedeutet. Wenn wir im nächsten Jahrzehnt
die Krisen meistern wollen, die sich ja nicht in Luft auflösen werden, bloss weil das letzte vorbei ist,
dann muss unser Denken offener werden, flexibler, komplexer, langfristiger, nachhaltiger, vernetzter,
aber auch widerspruchstoleranter, eigenständiger, ja eigensinniger. Und, um uns nicht übermütig
werden zu lassen, gilt es auch noch, unsere Wahrnehmungen, Gefühle und schöpferischen Antriebe
in dieses neue Denken zu integrieren. Das ist die wahre Herausforderung des vor uns liegenden
Bewusstseinswandels. Diesem unserem neuen Denken wird die Erkenntnis, es gehe im Leben nicht
um Lebensstandard, sondern um Lebensqualität, von selbst als reife Frucht in den Schoss fallen.
*******
9. Vertrauensvorschuss
Kinder sind nicht zuletzt deshalb so lernfähig, weil sie nicht an ihrer eigenen Lernfähigkeit zweifeln –
und weil sie nicht alles gar so ernst nehmen. Beides können wir mehr oder weniger Erwachsenen und
Reifenden von ihnen beim Blick auf das nächste Jahrzehnt lernen. Wir sind lern- und damit
wandlungsfähig, als einzelnes individuelles Bewusstsein ebenso wie als kollektives. Das mag sich
nach kindlichem Vertrauen in die Zukunft anhören und ist es das vermutlich auch. Doch ohne diesen
nur durch einige Zeichen der Hoffnung gedeckten Vertrauensvorschuss in die Zukunft wäre diese
ärmer.
Überhaupt wird Vertrauen ein Schlüsselbegriff dieser nächsten Dekade werden. Wir werden viel
Vertrauen brauchen, um mit der zunehmenden Komplexität unseres Lebens und der Welt umgehen
zu können. Wenn wir zum Beispiel anfangen, ernsthaft darüber nachzudenken, welcher Lebensstil
uns wirklich nachhaltige Lebensqualität bescheren könnte, dann stossen wir schnell an unsere
Grenzen: Zu unübersichtlich ist die Zahl der dabei wirksamen Faktoren, zu komplex deren
Zusammenspiel, zu gross die Widersprüchlichkeit unserer Werte und Ziele. Wenn wir dabei den
richtigen Weg finden wollen, der legitime eigene Ansprüche und die Interessen der anderen und der
Zukunft vereint, hilft nur Vertrauen. Vertrauen in unsere eigene intuitive Entscheidungsfähigkeit, und
Vertrauen in andere Menschen und Netzwerke.
*******
10. Ansteckungspotenzial
Zu Hoffnung für das neue Jahrzehnt Anlass geben all die Menschen, bei denen der
Bewusstseinswandel längst begonnen hat. Sie entdecken und pflegen die reichhaltigen Facetten von
Lebensqualität – ihrer eigenen ebenso wie der der anderen. Und sie bauen still und leise ihr Denken
um, wohl wissend, dass dies wesentlich länger dauern wird als jeder noch so nervender Wechsel
eines PC-Betriebssystems. Sie vertrauen dabei auf sich selbst, auf ihre Beziehungen und Netzwerke,
und nicht zuletzt auf so etwas wie eine höhere Macht oder einen tieferen Sinn. Was es ihnen auch
erlaubt, manchmal mit einem Lächeln oder gar Lachen darüber hinweg zu sehen, dass nicht alles so
läuft, und schon gar nicht so schnell, wie sie sich das erträumen.
Noch sind sie nicht allzu viele und leicht zu übersehen. Doch ihr Ansteckungspotenzial ist beträchtlich,
auch wegen der dank Internet sich ausbreitenden Bildung von Gruppen und Grüppchen und
Netzwerken. Zudem geht es beim Bewusstseinswandel nicht um Masse, sondern um Klasse.
Vernunft, Augenmass, Intelligenz, die Kraft der besseren Argumente und so etwas wie die
evolutionäre Logik setzen sich auf Dauer immer durch. Qualität ist letztlich überzeugender als
Quantität. Na ja, wirklich nur auf Dauer und letztlich. Und manchmal auf die ziemlich harte Tour. Und
nie bei allen, siehe die NINGHB (noch immer nix gelernt habenden banker). Doch ein ganzes
Jahrzehnt gibt dem Bewusstseinswandel viel Raum sich zu entfalten. Das wird er auch tun – wenn wir
ihn dabei nach Kräften unterstützen...
*******
© für Texte und Bilder: www.spirit.ch/Dr. Andreas Giger/2009
Herunterladen