Der Groschenroman Copyrights by Gerhard Loibelsberger Als ich vor 30 Jahren eine halbe Stunde nach Mitternacht in die alte quietschende Tramway einstieg, hatte ich keine Ahnung, das dies der Beginn einer langen Reise werden würde. Im Gegenteil, ich war hundemüde, nicht mehr ganz nüchtern, und wollte auf den schnellst möglichen Weg Heim in die Federn. Das Innere des TramwayWaggons war gähnend leer. Einzig im vorderen Teil schimmerte im harten Neonlicht das silbern verfilzte Haar einer alten Frau. Aus welchen Gründe auch immer, dieser Anblick zog mich an und so ging ich vor und setzte mich in ihre unmittelbare Nähe. Der Zug fuhr rüttelnd los und die Alte schmökerte in einem Groschenroman. Sie hatte etwas, das mich nicht los lies, mich gleichsam zwang sie zu beobachten. Dann nahm sie - ohne von der Lektüre ihres Groschenromans aufzusehen - ihr Gebiss aus dem Mund und da fiel mir ein Song ein, der im Fahrt-Rhythmus einer alten Tramway durch die Ganglien meines Gehirns rockte. Groschenroman Sie ist alt und liest einen Groschenroman in der Nacht in Wien in der Straßenbahn. Und sie hat einen Finger im Nasenloch, als die Tramway bedächtig durch die Straßen kroch. Und sie nimmt das Gebiss aus ihrem Mund zu viel Kaugummi kauen, das ist ungesund. Sie ist alt und liest einen Groschenroman in der Nacht in Wien in der Straßenbahn. Und sie hat auf Ihren Fingern Nagelpilz, ihre Haare schimmern grau wie ondulierter Filz. Und sie nimmt das Gebiss aus ihrem Mund zu viel Kaugummi kauen, das ist ungesund. Die Straßenbahnfahrt dauert endlos. Als ich schließlich ausstieg – es war die Endstelle – befand ich mich an einem Ort, an dem ich noch nie zuvor gewesen war. Vor mir lag im kalten Mondlicht eine Zitadelle von Plattenbauten. Als ich mich umdreht und zurück in die Straßenbahn einsteigen wollte, erklang ein „Bim“ und sie fuhr ruckelnd davon. Verlassen stand ich da, magisch angezogen von der unglaublichen Masse an verbautem Beton, die vor mir düster in den Himmel ragte. Und so begann ich zaghaften Schrittes diese fremde Welt zu erkunden. Schöner wohnen Sozialer Wohnbau. Schöner wohnen. Stadtrandghettos. Schöner wohnen. Betonspielplätze. Schöner wohnen. Dünne Wände. Schöner wohnen. Kahle Bäume. Schöner wohnen. Hohe Mieten. Schöner wohnen. Lalalalalala schöner wohnen Menschenmassen. Schöner wohnen. Isoliertheit. Schöner wohnen. Keine Geschäfte. Schöner wohnen. Langeweile. Schöner wohnen. Wenig Geld. Schöner wohnen. Grauer Alltag. Schöner wohnen. Lalalalalala schöner wohnen Bitte den Rasen schonen! Bitte den Rasen schonen! Bitte den Rasen schonen! Bitte den Rasen schonen! Schöner wohnen. Ziellos trugen mich meine Füße durch die Weite der Stadtrandsiedlung. Unbarmherzig beleuchtete der Mond Hochhäuser, so dass diese düstere Schatten warfen. Je länger ich durch das Beton Agglomerat wanderte, desto weiter dehnte es sich aus. Ein endloses Areal von Wohnblocks, zwischen denen das Echo meiner Schritte hallte. Die Anstrengungen der Wanderung und wohl auch die Ermüdung aufgrund der fortgeschrittenen Stunde ließen meine Beine schwer und schwerer werden. Zusehends beschlich mich das Gefühl durch Kaugummi zu waten. genau gesagt durch einen Sumpf von speichelwarmen, zähflüssigen Chewing Gum, in dem ich zusehends zu versinken drohte. Meine Beine wurden bleischwer und mit jedem weiteren Schritt sank ich in den Kaugummi weiter ein. Bald reichte sie mir bis zu den Knie und eine Schritte weiter dann schon bis zu den Oberschenkeln. Zu dem bedrückenden Gefühl des Versinkens kam auch noch eine wahnwitzige Angst verfolgt zu werden. Irgendwer oder irgendwas hatte sich in dem Kaugummimorast an meine Fersen geheftet und kam immer näher und näher. Mein Nackenhaar sträubte sich und ich ruderte verzweifelt mit den Armen, um mich rascher in der zähflüssigen Masse fortbewegen zu können. Doch plötzlich sackte ich in ein Schlammloch und steckte plötzlich bis zum Hals in dem gierig schmatzenden Kaugummimasse. Und genau in diesem Moment sprang mich ein großer, schwarzer Schatten an. Jump! Manchmal springt mich etwas an wie ein Tiger einen Mann. Wie ein Schlauchboot eine Schnelle in des Stromes wilder Stelle. Wie ein Blitz den Eichenbaum oder wie ein wüster Traum. Jump! Jump! Jump! Jump! Manchmal springt mich etwas an wie ein Tiger einen Mann. Wie ein fremdes, fernes Lied, wie ein lauter, harter Beat. Wie die Faust, die einen trifft, oder wie ein Nervengift. Jump! Jump! Jump! Jump! Manchmal springt mich etwas an wie ein Tiger einen Mann. Springt mich an und streckt mich nieder, fährt ins Herz und in die Glieder. Springt mich an und sitzt auf mir – und ich streichle dieses Tier ... Jump! Jump! Jump! Jump! Es war ein großer, schwarzer Hund, von dem ich angesprungen worden war. Er schleckte mich ab, und hüpfte vor mir in dem Kaugummibrei auf und nieder. Ich packte ihn links und rechts an seinem Kragen, er riss Kopf und Körper zurück und befreite mich durch diesen gewaltigen Ruck aus meiner misslichen Situation. Herausgezogen aus dem Schlammloch folgte ich dem Hund, der mich mit sicherem Instinkt aus dem Morast heraus führte. Erschöpft setzte ich mich auf den wiedererlangten festen Boden und verschnaufte. Der Hund legte sich zu mir und schleckte Kaugummireste aus den Zwischenräumen seiner Zehen heraus. Ich streichelte über seinen Schädel, er blickte mich mit heraushängender Zunge an und keuchte zufrieden. Sein Atmen roch leicht faulig und er hatte eine ranzig pelzig Körperausdünstungen. Der Hund sprang auf und forderte mich bellend und schwanzwedelnd zum Spielen auf. Also stand ich auf und lief mit ihm ein Stück. Auch warf ich ihm ein Holz, das ich zufällig fand. So verließen wir die Trabantenstadt und näherten uns einer Gegend, in der trotz nächtlicher Stunde jede Menge Betrieb war. Mit meinem vierbeinigem Begleiter mischte ich mich unter die Menschen. Hartes Pflaster Synthetikrock und Plastiklicht Finger drücken Automaten Großstadtsound und Neonfarben Hamburger verbraten Stimmen schreien wie verrückt irgendwer ein Messer zückt Tritte hallen Tritte knallen Hartes Pflaster Cityglanz und Kinocenter Schmale Augen grell geschminkt Pornoshows und Babystrich Die Friteuse im Öl versinkt Stimmen schreien wie verrückt irgendwer ein Messer zückt Tritte hallen Tritte knallen Hartes Pflaster Rausschmeißer und Spielhallen Dünne Lippen trinken Bier Piercingpracht und Lederjacken Heiße Hunde gibt es hier Stimmen schreien wie verrückt irgendwer ein Messer zückt Tritte hallen Tritte knallen Hartes Pflaster Ich wurde von Huren angequatscht und von Betrunkenen angepöbelt. Ein weißhaariger Typ mit wirrem Haar stolperte aus einem Lokal heraus, blieb kurz mit zuckenden Gliedmaßen stehen und stolperte dann an uns vorbei. Der Boden seiner Hose war total nass, ein ekelhafter Geruch begleitete ihn. Der Hund blieb dicht bei mir, einem am Boden sitzenden Sandler schnappte er im Vorbeigehen die Wurst aus dem Hot Dog. Der Mann schaute uns ungläubig aus großen, glasigen Augen an, ich gab ihm Geld für einen neuen Imbiss. Ich hatte Durst, ging in eines der Lokale und bestellte für mich ein großes Bier und für den Hund eine Schüssel Wasser. Nachdem wir unseren Durst gestillt hatten, beobachteten wir die Leute rundum. Die meisten waren ziemlich betrunken, lallten und gestikulierten. einige saßen auch nur still da und stierten in das mehr oder weniger gefüllte Glas vor sich. Eine Nutte, die gerade eine Arbeitspause machte fütterte den Hund mit Resten von ihrem Teller. Verchromte Liebe. Asphalttriebe. Im Zellophan Steckt ein Pornoroman. Fernseher flimmern In nächtlichen Zimmern. Im dunklen Park schwellen Muskeln stark. Leder schimmert, ein Kußmund wimmert. Verchromte Liebe. Asphalttriebe. Ein Gummischutz treibt im Straßenschmutz. Ein Schlüpfer – blau – reißt im Gemeindebau. Gefühle versinken, und Schreie ertrinken. Neonlichtrot macht Sehnsüchte tot. Verchromte Liebe. Asphalttriebe. Am Straßenstrich ist es jämmerlich. Wind kam auf und trieb Sand, Staub und Dreck sowie leere Trinkbecher, Papierln und die Zellophanhüllen von aufgerissenen Zigarettenschachteln vor sich her. Fernes Leuchten am Himmel kündigte ein Gewitter an. Eiligen Schrittes ging ich durch die Straßen und sah schließlich ein einziges freies Taxi stehen. Auf dem Weg zu ihm überlegte ich, wie ich wohl den Taxifahrer motivieren könnte, mich und auch den Hund mitzunehmen. Da mir nichts einfiel, öffnete ich einfach die Beifahrertür des Taxis und fragte höflich, ob ich mit dem Hund gemeinsam einsteigen dürfe. Der Taxifahrer sah mich aus roten übermüdeten Augen an und brummte: „Aber ja ... Hunde sind mir sowieso lieber als Menschen. Ein Hund hat mir noch nie in den Wagen gespieben ...“ Stadtautobahn Die Sicht ist beschissen und das Dach nicht dicht. Scheibenwischer verschmieren die Sicht. Fontänen spritzen, die Scheiben laufen an. Und man rutscht dahin auf der Stadtautobahn. Neongewitter auf der Stadtautobahn Stadtautobahn, Stadtautobahn Neongewitter auf der Stadtautobahn Stadtautobahn, Stadtautobahn Neongewitter auf der Stadtautobahn Strömender Regen, der Asphalt ist glatt. Blaulichter zucken in der ganzen Stadt. Man steht im Stau, die Scheiben laufen an. Und man staut dahin auf der Stadtautobahn. Neongewitter auf der Stadtautobahn Stadtautobahn, Stadtautobahn Neongewitter auf der Stadtautobahn Stadtautobahn, Stadtautobahn Neongewitter auf der Stadtautobahn Genervt vom Stau stieg ich aus dem Taxi aus. Gemeinsam mit dem Hund trotte ich durch den Regen, der nach und nach sein Fell und meine Kleidung durchdrang. Schwer und schwerer wurde meine patschnasse Lederjacke und vom Kopf rannen mehrere Rinnsale über Stirn , Wangen und Nacken hinein in den Kragen und von dort weiter unter das T-Shirt, in die Unterhose, die Arschbacken entlang und dann die Beine hinunter. Das Sammelbecken für diese Rinnsale waren meine Sneaker, die bei jedem Schritt ein feucht schmatzendes Geräusch von sich gaben. Mein vierbeiniger Begleiter grinste unbehaglich in den Regen, blinzelte ununterbrochen mit den Augen, Schüttelte sich alle paar Minuten und sah im übrigen erbärmlich aus - sein sonst wolligwiderspenstiges Fell klebt an seinem Körper wie ein schwarzer Latexanzug. Schwarzer Regen Im Genick und in den Schuhen. Im Gesicht und in den Socken. Auf dem Haar und auf den Schultern. Auf dem Kopf und auf dem Mantel. Schwarzer Regen Im Bezirk und in den Straßen. Im Kanal und in den Lacken. Auf dem Dach und auf den Scheiben. Auf dem Baum und auf dem Rasen. Schwarzer Regen Im Gehirn und in den Därmen. Im Gespräch und in Gedanken. Auf der Haut und auf den Lippen. Auf der Stirn in allen Menschen. Regen enthält Staub, Sauerstoff, Stickstoff, Kohlensäure, schwefelige Säure, Schwefelsäure, Salpetersäure, Pollen, Kleinlebewesen – in mehr oder minder konzentrierter Form. Je länger ich im Regen unterwegs war, desto stärker wurde mein Empfinden, dass mir all dieses Zeug in hoch konzentrierter Form in die Schuhe rann. Es begann mich am gesamten Körper zu jucken, mich ekelte, ich war nass, mir war kalt. Da ich in einer Gegend angelangt war, in der eine Bekannte von mir wohnte, beschloß ich mich mit samt meines Hundes dort zu verkriechen. verschlafen öffnete sie die Tür, nachdem ich Sturm geläutet hatte. Als sie uns total nass sah, konnten wir eintreten. Sie holte Handtücher und schrubbte zuerst mich, dann den Hund ab. Sie half mir beim trockenlegen des Hundes und begann ihn zu streicheln, was mit etlichen Schlabberküssen seinerseits dankbar quittiert wurde. Ich wechselte von meiner nassen Kleidung in einen trockenen Bademantel. Wir zogen uns in eine gemütliche Ecke zurück; leise Musik, Wein und ein auf dem Boden ausgestreckter Hund, der laut schnarchend schlief. Als ich ihre körperlich Nähe suchte, ließ sie dies kommentarlos geschehen. Umarmungen, die mich wärmten, obwohl alles kalt blieb. Extra kalt leuchten die Nylons der Nutten am Gürtel. Extra kalt küssen die Lichter der Großstadt den Himmel. Extra kalt streicheln Saphire beim Abspielen die Platten. Extra kalt glänzt das Blech der Autokolonnen nach Dienstschluß. Extra kalt rinnt der Wodka über den Eiter der Kehle. Extra kalt ritzt der Frost die Haut des Strotters. Extra kalt pulst der Groove durch die Därme der Discos. Extra kalt war der Orgasmus, den wir gemeinsam erlebten. Extra kalt – keine Gefühle keine Wärme nur Kühle extra kalt ist auch der Ton extra kalt – null Emotion. Extra kalt rinnt das Gefühl wenn wir uns endlich küssen. Wenn der Mond über Alterlaa Manhattans Romantik zaubert. Wenn McDonalds Hamburger an Seife und Kunststoff erinnern. Wenn eine Horde Kinder gröhlend die U-Bahn zertrümmert. Wenn um halbdrei Uhr morgens kein freies Taxi mehr leuchtet. Wenn nach durchwachten Stunden der Morgen den Smog durchdämmert. Wenn er den Mond ausdrückt wie einen entzündeten Pickel. Extra kalt – keine Gefühle keine Wärme nur Kühle extra kalt ist auch der Ton extra kalt – null Emotion. Extra kalt lädt das Bett ein, in dem wir uns verkriechen. Extra kalt sind meine Füße unter der schmalen Tuchent. Extra kalt sagst du: ”Paß auf Mann, mit deinen kalten Händen.” Extra kalt schmiegt sich mein Körper An deinen glühenden Hintern. Extra kalt grinst der Abschied am nächsten Morgen. Unterwegs. Durch die Gassen und Straßen der Stadt, in denen der Moloch Verkehr wütete: Dröhnen, hupen, stinken, qualmen, quietschen, schnaufen, zischen, spritzen, bremsen, starten, drängeln, schimpfen, Aggression auf- und aufbauen, Vogel zeigen, Stinkefinger recken und trotzdem nur im Schritttempo weiter kommen. Und während ich mich durch das Chaos zu Fuß fortbewegte, begegneten mir immer wieder die selben Autofahrer, die endlos kreisend, so wie Sysiphus einst seinen Stein wälzend, einen Parkplatz suchten. Obwohl sie doch wussten, dass es in der ganzen Stadt wenige - viel zu wenige Parkplätze gab. Aus hunderttausenden Auspuffrohren stieg Kohlenmonoxid auf und vermischte sich in den höheren Luftschichten mit all den anderen Abgasen und Dämpfen, die aus der Stadt emporquollen. Alles zusammen ergab eine fette Dunstglocke, die sich wie eine brütende Glucke auf die Stadt gesetzt hatte. In ihr waren alle Ausdünste versammelt: Die bereits erwähnten Autoabgase, der Schweiß der Menschen, die Gerüche, die aus Gebäuden strömten – muffiger Moder aus Altbauten, trockener Mief aus klimatisierten Bürogebäuden und Kaufhäusern, ranzige Fettdämpfe aus Gasthäusern und Dunstabzugsanlagen – sowie die Ausdünstungen der Gewerbe- und Industriebetriebe. Und zu all dem, wenn einem das Rot einer Fußgängerampel Einhalt gebat, machte man unfreiwillig eine n Lungenzug vom Zigarettenrauch eines neben einem Stehenden. Kein Wunder, dass abends der blütenweiße Zellstoff meines Papiertaschentuchs durch rußig schwarzem Rotz verunreinigt war; und als ich das Fell meines Hundes, bürstete, sammelte sich dunkelgrauer Staub in den dichten Bürstenhaaren. Dioxid Zigaretten glühen. Auspuffrohre vibrieren. Schornsteine verteilen. Smog über der Stadt. Und es kratzt was im Hals. Kohlenmono. Kohlendio. Dioxid. Zentralheizungen wärmen. Viertaktmotoren blubbern. Fabriken dampfen. Smog über der Stadt. Und man hustet und spuckt. Kohlenmono. Kohlendio. Dioxid. Rauchfänge auf Dächern. Autos im Stau. Industrie im Wohngebiet. Smog über der Stadt. Und man spürt was auf der Lunge. Kohlenmono. Kohlendio. Dioxid. Ich erinnere mich: DER DRITTE MANN spielte in einem Jugendsaal. Er lag in der Gegend am Rande der Stadt, in der wir alle aufgewachsen waren und deren unzählige Heurigenlokale uns allen mehr oder weniger bekannt waren. Wir trafen einander am bereits am Nachmittag und sprachen dem Wein kräftig zu. Es war eine ziemlich große Gruppe von Freunden und es rannte der „Schmäh“. Danach halfen alle zusammen, die Verstärker, das Schlagzeug etc. auf die Bühne des Saals zu schleppen und sie dort aufzubauen und anzustecken. Es gab einen ziemlich lustigen Soundcheck, während dem die Besucher schon vor der Saaltür warteten. Zu dieser Zeit hatte ich null Bock darauf, auf der Bühne zu stehen und meine Texte ins Publikum zu brüllen; deshalb hatte Thommy den Part der Leadstimme übernommen. Gemeinsam mit meiner Freundin mischte ich mich unter die wartende Menge und trank weiter. Nach dem Einlass in den Saal wurde es ziemlich bald dunkel, die Lichter auf der Bühne ging an und die Band startete mit dem Lied, das wir damals immer als erstes spielten: „Willkommen in unserer Bananenrepublik“. Die Jungs des DRITTENS MANNS waren völlig relaxed und spielten mit einem ziemlichen Hammer. Die Kids im Saal nahmen das sehr positiv auf und begannen ziemlich bald wild zu tanzen. Noch heute sehe ich vor meinem geistigen Auge den knackigen Arsch meiner Freundin, wie er sich im Rhythmus von „Ratten in der City“ hin und her bewegte und sich dann und wann an mir rieb. Ratten in der City Ratten auf dem U-Bahnbau, Ratten in dem Schacht Ratten auf der Donauinsel, Ratten in der Nacht Ratten in Gemeindebauten, Ratten auf dem Flur Ratten im Koloniakübel, Ratten seh ich nur Ratten in der City it’s a pity es sind Ratten in der City Ratten in den Supermärkten, Ratten im Büro Ratten auf dem Hauptzollamt, Ratten im Sakko Ratten in den Stadtpalais, Ratten im Verkehr Ratten in der Staatsoper, Ratten werden mehr Ratten in der City it’s a pity es sind Ratten in der City Ratten in der Straßenbahn, Ratten im Gewand Ratten hinter Schreibtischen, Ratten sind im Land Ratten mit Krawatten, Ratten tragen Hut Ratten tragen Anzüge, Ratten steh’n sie gut Ratten in der City it’s a pity es sind Ratten in der City Obwohl das damals einer unserer besten Gigs war, kann sich heute - 30 Jahre später - außer mir keiner mehr daran erinnern. Wobei das nichts zu bedeuten hat, schließlich hatten wir damals alle soviel gesoffen, dass jeder von uns den einen oder anderen Filmriss in seiner Erinnerung hat. Worüber ich allerdings immer wieder nachdenke ist: Gibt es Dinge, die sich unser Hirn zusammenreimt und die so tatsächlich nie statt gefunden haben? Sicher gibt es das. Gibt es aber Erinnerungen, die absolut plastisch und echt auf unserer Festplatte abgespeichert sind und die sich trotzdem so nie zugetragen haben? Wahrscheinlich gibt es auch das. Ein Erinnerungsdetail dieses Abends: Die spitzen Stilettos, die meine damalige Freundin getragen hatte und die wie das spitze Schuhwerk, das Janis Joplin oft trug, aussahen. Oder die Bemerkung von Reinhard - unserem Keyboarder-, dass meine Freundin ein „Wahnsinnshase“ sei. Oder der erste Zug aus der filterlosen Gitanes, die sie sich nach dem Konzert angezündet und die sie mir danach samt den Abdrücken ihres Lippenstifts zwischen die Lippen geschoben hatte. Ich erinnere mich ... oder auch nicht. Ich traf einen alten Freund im Kreis einer großen Runde. Wir setzten uns nicht zu den Erwachsenen, sondern an den Tisch der Kids. Sie akzeptierten uns mit einiger Skepsis und wir mussten versprechen, keine dummen Fragen zu stellen und nicht zu nerven. Mein Freund und ich tranken G’spritzte und tauschten Erinnerungen aus. Er erinnerte mich daran, dass die Französischlehrerin seiner Maturaklasse, meine damalige Freundin gewesen war. Eine junge Austauschlehrerin aus Frankreich, die mir das Herz heraus riss und es dampfend und blutig verschlang – peu à peu – während der eineinhalb Jahre, die wir gemeinsam verbrachten. Nicht dass ich auch nur einen Augenblick mit ihr missen möchte, weder unsere gruftige Wohnhöhle im 5. Wiener Gemeindebezirk, noch das gemeinsame Autostoppen quer durch die Bretagne oder die Wochen in der Wohnung ihrer Schwester im damaligen Pariser Araberviertel Belleville. All das zog wie ein kurzes heftiges Gewitter durch mein Hirn, als wir da saßen und über vergangene Zeiten plauderten. Es gab dann auch ein reales Gewitter und so heftigen Regen, dass die Markisen, die es bei diesem Heurigen als Regenschutz gab, wie schwere, überreife Titten herunter hangen. Als schließlich die Wassermassen zu Boden spritzten, wurde das bisschen Kies dort – so wie New Orleans nach dem Dammbruch – total überflutet. Wir flüchteten zu den überdachten Teil des Gastgartens und sprachen über Dinge wie z.B. die mehrfachen Bedeutungen des Wortes „Weißer Spritzer“. Mir wurde bewusst, dass diese Bezeichnung politisch nicht korrekt sei, da sich alle Schwarzen dadurch diskriminiert fühlen mussten. Politisch unkorrekt ist auch der sexuelle Doppelsinn, der empfindsame Gemüter durchaus abhalten könnte sich dieses Getränke an die Lippen zu führen. Die Kids erzählten, dass sie eine eigene Band namens Tinnitus gegründet hätten. Groß war die Enttäuschung, als ich sie darauf aufmerksam machte, dass es bereits eine Band gleichen Namens gäbe. Darauf folgte ein Brainstorming, bei dem Bandnamen wie Ohrenschmalz, Hörgerät, Dementia, Children of Rodaun oder Einlauf kreiert wurden. Wir hatten einen Höllenspaß, lachten viel und fachsimpelten über Rockheroen wie Jimi Hendrix, Led Zeppelin, Green Day oder Good Charlotte. The kids are all right. Nächtens daheim überkam mich eine schräge nostalgische Sehnsucht nach Frankreich und ich kramte einen vor Jahren von mir übersetzten Baudelaire Text hervor, der mich ins Reich der Träume begleitete ... La mortalité / Die Tödin (nach Charles Baudelaire) Als ich eines Tages ohne Plan und ohne Ziel von Langeweile getrieben über die sturmgepeitschten Ebenen meiner Imagination streifte, begegnete mir erstmals Ihre schlanke, hochgewachsene Gestalt gekleidet in einen nachtschwarzen Mantel - von einer Kapuze behütet. Ein eisiger Windstoß teilte diese bis zum Staub der Erde reichende Verhüllung und zeigte ihren nackten, knochigen Körper, über den sich wie ein Leichentuch ihre von zahllosen Adern bläulich marmorierte Haut spannte auf der sich in ihrem Schritt ein animalisch wilder Pelz sträubte. Düsternis umfloß, an eine Mähne erinnernd, ihren kantigen Schädel, in dem sich die Krater der Augenhöhlen öffneten, in deren schattigsten Tiefen ein dunkles Feuer brannte. Zwischen ihren eingefallenen Wangen spross wie eine überreife Frucht im feuchten Rot frisch vergossenen Blutes das Geschwisterpaar ihrer Lippen, nach deren kaltem Kuß der Verlöschung ich mich seit Ewigkeiten sehnte. Eisige Windstöße trieben Scharen von dichten Schneeflocken vor sich her. Düsternis umfloß das Gebäude mit dem großen, hell erleuchteten Neonzeichen, das eine E-Gitarre darstellte. Reinhard hatte mich abgeholt und wir fuhren zu dem Gig vor den Toren der Stadt; zu dem besagten Gebäude an der Autobahnabfahrt Wiener Neudorf, in dessen Anbau sich eine der interessantesten Auftrittsmöglichkeiten im Raum Wien für mehr oder minder bekannte Bands befindet. Die Location heißt Backstage Musiccafé (www.backstage-cafe.com) und ist ein Pub, bei dem die Bühne Teil des Gastraumes ist. Publikum hautnah! Reinhard und ich luden die „Oma“ (sein Yamaha Keyboard, das in einer sargähnlichen ca. 160 cm langen Transportverpackung steckt) aus und schleppten sie ins Backstage Café. Tommy, Wolfgang, Joe und Andy waren bereits da und tranken gerade ihr erstes Bier. Angespannte Atmosphäre, ein Kribbeln wie es Andy formulierte. Wir bestellten ebenfalls Bier, tratschten und besprachen mit dem Tontechniker, der irgendwann auftauchte, die Details unseres Auftritts. Auch die Mädels von F.A.ST. – eine Poptheater Truppe (www.fastpoptheater.at) –, die nach unserem Auftritt noch einen 20minütigen „Drüberstreuer“ als Krönung des Abends performen würde, trudelten ein. Unsere eine Sängerin Andrea kam mit einem der ersten echten Gäste, einem Bekannten von ihr. Mit dem Soundcheck und gemütlichen Plaudereien verflog die Zeit. Plötzlich war es 20.30 Uhr und das Lokal lag halbleer vor uns. Ich bekam ein mulmiges Gefühl im Bauch – ein komisches Gefühl vor leeren Tischen und Stühlen auftreten zu müssen. Wenige Minuten später ging es aber dann los. Freunde, Bekannte und zum Teil auch Fremde kamen in einem stetigen Strom. Die größte Gruppe bestand aus circa 20 Laaber und Breitenfurter Fans, die DEN DRITTEN MANN bereits vor 25 Jahren bei einigen Konzerten erlebt hatten. Große Freude, verrtaute Gesichter, das Backstage Café bummvoll. Sabine unsere andere Sängerin war mittlerweile ebenfalls eingetroffen. Sie kam direkt von einem Konzert mit dem Wiener Zither Orchester, das im Schubertsaal des Wiener Konzerthauses stattgefunden hatte. Ein Tag – zwei Gigs. 1x Wiener Lied, 1x Rock – was für ein Abend! Ich tratschte mit Joe Remick und lieben Freunden, als Andy, unser Schlagzeuger, mir auf die Schulter klopfte und sagte: „Komm, gemmas an!“. Ich ging mit ihm zur Bühne, krallte mir ein Funkmikro und stellt mich an die Bar. Es wurde dunkel im Lokal und die Band legte los: Willkommen in uns’rer Bananenrepublik, willkommen in der Weltstadt Wien. Willkommen genießen Sie Stück für Stück vom picksüßen Wien Gelatin. Manche Dinge ändern sich nie: Dass Österreich seit Jahrzehnten die Züge einer Bananenrepublik anhaften (damals z.B.: der Bauringskandal, heute z.B.: die Visa-Affäre, bei der österreichische Visa von Beamten des Außenministeriums (!) zwischen Budapest und Nigeria verschachert wurden ...). Oder dass sich unsere Hauptstadt Wien, nach wie vor wohlig in einem Bodensatz von gelatinartiger, klebrig-bräunlicher Gemütlichkeit suhlt. Nach der „Bananenrepublik“ als Einstiegsnummer, bei der ich gemütlich an der Bar lehnt und die Band von „außen“ betrachtete, sprang ich bei „Jump“ auf die Bühne und ab ging die Post. Wir spielten einen dichten, soundmäßig perfekt abgemischten Gig, über den mir ein Freund nachher sagte: „Wie Ihr aufgehört habt, habe ich mir gedacht: Das war kurz. Dann hab’ ich auf die Uhr geschaut und gesehen, dass ihr über 80 Minuten wie im Flug vergangen sind....“. Eine andere Stimme nach dem Konzert: „Bei „Bagdad“ ist mir richtig kalt geworden.“ Eine Reaktion, die uns freute. Joe Remick (der übrigens einen genialen Newsflash bei „Bagdad“ sprach!) leitete dieses Lied mit folgender Ansage ein: „Der nächste Song ist über eine Stadt, die leider viel zu oft in den letzten Jahren in den Nachrichten ist ... Bagdad.” Schüsse hallen, ein Baby schreit die Nacht ist einsam, die Straße breit. Soldaten patrouillieren, Körper fallen, von ferne hört man Schreie hallen. Bagdad war eine schöne Stadt, bevor der Krieg begonnen hat. Baghdad was a quiet pleasant place Before the war started to rage. Sprengstoff an den Körper geklebt, Ohnmacht und Wut in der Seele bebt. Die Bombe zündet, Explosion, Chaos vor der Polizeistation. Bagdad war eine schöne Stadt, bevor der Krieg begonnen hat. Baghdad was a quiet pleasant place Before the war started to rage. Blut versickert braun im Sand, ein Fuß liegt da und dort eine Hand. Gedärme quellen, Splitter überall, ein ganz alltäglicher Zwischenfall. Bagdad war eine schöne Stadt, bevor der Krieg begonnen hat. Baghdad was a quiet pleasant place Before the war started to rage. / Newsflash / Bagdad war eine schöne Stadt, bevor der Krieg begonnen hat. Baghdad was a quiet pleasant place Before the war started to rage. Fortsetzung folgt