Martin Truckses, Mai 2002 Faustschlag Bäume gibt es hier, inmitten der verlassenen Gassen, nur vereinzelt und nur selten fällt ein langer, schwarzer Schatten auf die trüben Hausmauern. Der ferne graue Mond bemalt diese mit Hilfe seines hellen Scheins, und die Strahlen schimmern durch die löchrigen Blätterdächer und reißen helle Fetzen in die Schatten der Kronen der einzelnen Bäume. Beinahe jeder Winkel der einsamen Kleinstadt ist erfüllt von einer beängstigenden Stille, und nur das gleichmäßige Schlagen der Kirchturmuhr zerbricht die Herrschaft der Lautlosigkeit für wenige Augenblicke, bevor sie wieder die Macht an sich reißt und die Straßen erneut mit Schweigen straft. Ein wachsamer Falke breitet plötzlich seine Flügel zu majestätischer Spannweite aus und mit einem leisen Flügelschlag, welcher die Ruhe nicht zerstören kann, erhebt er sich von seinem Posten auf einem alten rostigen Straßenpfeiler und verschwindet in der Nacht. Ein kleiner Funkenregen ergießt sich über den gepflasterten Steinboden der Altstadt und ein schmutziger schwarzer Stiefel erdrückt den glimmenden Rest der Zigarette langsam, bevor er ruhigen Schrittes, gefolgt von gut einem Dutzend weiterer Stiefel, eine kleine Treppe am Rande des Marktplatzes hinaufsteigt. Die Schritte kommen vor einem schlichten dunkelgrauen Haus zum Stehen. Einstöckig, drei kleine Fenster, eine modrige Holztür. Ein schwarzer Handschuh fährt langsam über einen kahlrasierten Schädel, die Finger darunter strecken sich und bilden daraufhin eine stählerne Faust, dann gleitet der Handschuh unter einen dunklen Anorak und umfasst den hölzernen Griff eines Baseballschlägers. Das Schlaginstrument wird in der Kühle der Nacht behutsam in den Fingern gewogen, und das plötzliche Weiß der Zähne, welche bei dem schiefen Grinsen zum Vorschein kommen, zerschneidet das Dunkel. Ein Augenzwinkern, ein wütender Schrei und die Stiefel preschen auf das kleine Häuschen zu. Die ersten Schläge mit den Waffen zerbersten das einfache Glas und unzählige Splitter fallen zu Boden. Unter der Last der schweren Stiefel gibt die hölzerne Türe rasch nach und legt das Innere des Hauses verwundbar nach außen. Der Lebensraum der achtköpfigen Familie besteht aus nur einem einzelnen Raum, und das improvisierte Bett, welches sich die sechs Kinder teilen, steht nahe dem zerbrochenen Fensters. Jetzt erfüllen schnell gellende und hilfesuchende Schreie die Nacht. Die Stiefel haben zu rasch die Holzdielen des Zimmers überflutet und das stumpfe Klatschen der Waffen auf die müden kleinen Körper geht unter in den nutzlosen Schreien der Opfer. Doch auch diese Lärmquelle versiegt rasch wieder, und nachdem die letzten Stiefel in den Gassen verschwunden sind, übernimmt der Lautlose wieder seine Herrschaft, bis die Sonne am nächsten Morgen die blutigen Seelen der ausländischen Familie den Stadtbewohnern zur Schau stellen wird. Mit Grauen blicke ich heute auf diese Szenen zurück, die einst mein Leben ausmachten. Wieder und wieder hebe ich meine Feder von dem rauen Papier und verweile, in Gedanken versunken. Ich lehne mich in meinem hölzernen Stuhl zurück und schließe die Augen. Meine Augen. Augen, welche schon so unendlich viel gesehen haben. Augen, welche sich oft, zu oft, am Leiden anderer ergötzten. Augen aus einer Zeit, die ich verdrängen wollte, doch welche ein Teil meines Lebens geworden waren. Augen. Meine Augen. Ich erhebe mich, werfe einen kurzen Blick auf die wenigen Zeilen, welche ich bisher niedergeschrieben habe, und trete an das kleine Fenster. Es ist ein kalter Tag. Der wolkenfreie Himmel bietet keinen Schutz vor dem eisigen Wind. Mit angewinkelten Armen stütze ich mich gegen den Fensterrahmen, meine alten Finger umgreifen das welke Holz beinahe gefühllos. Meine Finger. Zehn Gründe, wofür ich mich heute hasse. Meine Rechte bildet eine Faust und ich umfasse sie mit der anderen Hand. Spüre die zerbrechlichen Knochen, die langsamen Sehnen und die faltige Haut. Und wie meine Augen diesen Teil meines Körpers mustern, erscheinen wieder Bilder in meinen Gedanken, welche das alte Fleisch aufleben lassen. Kräftigen. Widerstandsfähig. Gewaltig. Hasserfüllt. Erbarmungslos... ...schlägt der schwarze Handschuh einer großen Gestalt auf das kalte Gesicht ein. Immer und immer wieder durchdringt das hässliche Geräusch der auftreffenden Faust auf dem widerstandslosen Fleisch die leere Halle. Die wenigen Sonnenstrahlen, denen es gelungen ist durch die schmutzbedeckten Fenster hoch oben im Dach eine freie Stelle zu finden, lassen die metallenen Wände beängstigend wirken. Der Körper des Menschen liegt entkleidet auf dem kalten Betonboden. Blut fließt wie zähflüssige Lava aus tiefen Wunden aus seinem Körper, und sein Arm ist in einem irrealen Winkel zurechtgebogen. Nur das unregulierte Zittern beweist, dass er noch am Leben ist. Doch sein gequälter Gesichtsausdruck verrät, was das für eine grausame Art zu leben ist. Ein letztes Mal zertrümmert die Faust den zerstörten Körper, bevor sie zufrieden von einem weißen Tuch vom frischem Blut gereinigt wird. Angewidert wendet sich die Gestalt von dem Opfer seiner eigenen Tat ab, spuckt mit verzerrtem Gesicht auf den Boden und seine Stiefel tragen ihn hinaus aus dieser Halle, hinaus ins Licht. Zufrieden atmet er die endlich saubere Luft ein. Gesäuberte Luft. Deutsche Luft. Mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen marschiert die Gestalt weiter. Auf zu neuen Taten. Wieder halte ich in meinen Aufzeichnungen inne, meine Hand bleibt regungslos neben dem beschriebenen Entsetzen liegen. Auf meinen Wegen in meinen Gedanken gelange ich an einen Punkt, welcher einst mein Weltbild dargestellt hatte. Zum Glück finde ich hier nur noch Trümmerhaufen, doch in dem Durcheinander erkenne ich meine alten Wertvorstellungen und Ideale. Das Trugbild von Ausländern, die unsere Arbeitsplätze rauben, von Geld, mit welchem der Staat die Flut von unzähligen Asylanten nährt. In meinem Kopf hämmern Parolen, wehen Flaggen verziert mit Triskelen und Hakenkreuzen, dröhnen Worte zu Ehren Hitlers. „Wir müssen für die Existenz unserer Rasse und für eine Zukunft für weiße Kinder kämpfen.“ 14 Worte die meinen jugendlichen Geist und meine Dummheit bestimmten. Meine Augen ruhten auf Deutschland, und für das Wohl und die Reinheit meines Vaterlandes kämpfte ich und glaubte ich zu kämpfen und ich ging, von diesem Ziel geblendet, über Leichen. Im Laufe der Jahre als Rechtsradikaler wuchs der Schmutz an meiner Weste und nur durch Zufall bin ich den Klauen der Polizei und somit den kahlen Gefängniswänden entgangen. Unzählige Ausländer fielen meiner Faust zum Opfer, unzählige Wände säumten meine Parolen, unzählige Augen schauten zu mir auf. In den Kreisen unseres Klans wurde ich zum Leitbild. Doch dieses Ideal verfiel als ich plötzlich über meine Taten und meine Lebensweise nachdachte, als meine Weltanschauung ihre feste Basis verlor; als ein Jude mein Leben kreuzte. Dies geschah, als ich eines Tages von einer Gruppe Linksradikaler in die eiserne Zange genommen wurde und ich mich zwischen den weißen, reinen Laken eines Krankenhausbettes wiederfand. Mein Arm in Gips, die Stirn genäht, die Rippen stabilisiert. Mein Bett neben einem Mann, einem Opfer eines Angriffes meines Klans. Er war Jude. Seine wenigen Haare umkreisten eine Glatze, sein bleiches Gesicht wies unzählige Falten auf und seine dünnen schmalen Lippen verliehen dem Gesicht stets einen schläfrigen, ausgeglichenen und zufriedenen Ausdruck. Auch er war an vielen Stellen gepflegt worden und lag auf seiner Matratze stets regungslos. Das Besondere war, dass ich in den ganzen Tagen, in denen ich neben ihm gelegen habe, kein einziges Mal Hass verspürte. Wenn sich bisher auf den Straßen auch nur der einfachste Geruch von ausländischem Essen in meine Nasengänge verirrt hatte, entflammte dies in mir eine ungeahnte Bestie. Doch die Ruhe des Raumes und das gleichmäßige Atmen meines Nächsten wiegten mich in eine kindliche Ausgeglichenheit. Ich ertappte mich immer öfter, wie mein Blick auf dem Körper zum Stillstand kam, und langsam entwickelte sich eine weitere Persönlichkeit in mir, die diese Blicke als angenehm und richtig erachteten. So verbrachten wir vier Tage ohne ein Wort zu sprechen. Dann, an einem Sonntag morgen, drehte er den Kopf in meine Richtung und blickte mich an. Die Persönlichkeit meiner Jugend wehrte sich gegen den erwidernden Blick, den die neue Seite in mir dem Alten entgegenbrachte. Doch als meine Augen zum ersten Mal das Hellgrün der seinen musterten, erstickten all die Werte und Ideale meines Lebens kraftlos in mir. Aus den Augen des Alten sprach eine selbstverständliche Liebe, ein händereichender Frieden und eine gewonnene Weisheit. Seit diesem Moment begann ich über meine alten Gewalttaten nachzudenken. Dabei stieß ich letztendlich immer auf die selbe Fragen: Hat sich für mich durch meine Taten irgendetwas geändert? Hat sich durch meine Brutalität gegenüber anderen Menschen ein Resultat ergeben, welches diese rechtfertigen ließe? Ich fand auch nicht den kleinsten Teil einer denkbaren Antwort. Ich habe mit diesem Menschen, der mir durch seine unvergesslichen Augen und seine hingebungsvolle Wertschätzung einen neuen Lebensweg zeigte, nie ein Wort geredet. Ich weiß nicht wie viel Zeit vergangen ist während wir uns fortlaufend in die Augen blickten, aber ich spürte, dass wir uns ein Band knüpften, ein geistige Verbindung, und dass wir unser Leben und unsere Gedanken austauschten. Er nahm all meine Wut und meinen Hass und meine Blindheit in sich auf und schenkt mir seine Liebe und seine Weisheit. Ich blickte unentwegt in das leuchtende Grün, forschte nach mehr Wissen, verlor mich in unendlichen Weiten und Welten. Und, nachdem ich erkannt hatte, dass Gott den Menschen nicht als Schwarz und Weiß, als Herrn und Knecht, als Reich und Arm erschaffen hatte, sondern als Mann und Weib; nachdem ich erkannt hatte, dass die Erde eine Kugel ist und die Grenzen darauf nichts weiter als von Menschenhand gezogene Linien aus Blut; nachdem ich erkannte, dass der Alte mir die deutsche Fahne, die vor meine Augen gebunden war, entfernt hatte; nachdem ich ein neues Leben erhalten hatte, starb er an den Wunden und an den Schandtaten, die er für mich in sich aufnahm. Und nun stehe ich hier, blicke durch die metallenen Stäbe in das kalte Wetter und büße für meine Gewalttaten. Ich versuche durch Briefe, Bücher und die Medien, den Menschen ein klares Bild zu vermitteln, dass mein Weg falsch war, in der Zuversicht, kein weiterer Mensch möge in meine dummen und menschenverachtenden Fußspuren treten. In der Zuversicht, die Menschen mögen lernen füreinander dazusein, ihre Probleme und ihren Hass jemandem mitzuteilen, um auf diesem Weg ihre Aggressionen abzubauen. In der Zuversicht, die Welt möge zurückkehren zu ihren Anfängen, zu Mann und Frau. So öffne ich meine Finger, betrachte die Handflächen und wünschte, ich könnte sie nie wieder zu einer Faust schließen.