“Schön – Helenas größter Wunsch” – Textauszug

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Jana Frey
SCHÖN
HELENAS GRÖSSTER WUNSCH
Fischer Taschenbuch Verlag
Jana Frey wurde 1969 in Düsseldorf geboren, studierte Literatur, Geschichte und Kunst in Frankfurt,
den USA und in Neuseeland. Sie hat bereits zahlreiche Kinderund Jugendbücher veröffentlicht und
arbeitet auch fürs Fernsehen. Jana Frey lebt mit ihrer Familie in Süddeutschland. In der Reihe
generation erschienen von ihr auch ) Der verlorene Blick< (Bd. 80558), >Rückwärts ist kein Weg<
(Bd. 80560), >Das eiskalte Paradies< (Bd. 80420) und >Verrückt vor Angst< (Bd. 80559). Weitere
Titel sind in Vorbereitung.
Schön, Schön, Schön, Schön, Schön, Schön, Schön, Schön
Ein Sommer am Meer ist schön. Schönes Wetter ist schön. Sonnenblumen sind schön. Die GoldenGateBridge in San Francisco ist schön. Und Venedig im letzten Herbst, als ich da war. Mette-Marit,
die Prinzessin von Norwegen, ist auch schön. Und der Atlantik. Und Magnolien. Und der Film Pretty
woman.
Paris im April ist ebenfalls schön, wunderschön. Flamingos sind schön, wenn sie sich gegenseitig
anschauen und ihre rosa Köpfe und Hälse dabei zusammen wie ein Herz aussehen. Meine Schwester
ist schön. Der Rosenteich in Monets Garten ist schön. Und meine Mutter.
Und Miriam ist schön. Sie ist meine beste Freundin. Miss Marple, unsere rotgetigerte Katze, ist auch
schön. Gewitter im August sind schön. Und buntes Laub im Oktober. Und Spinnennetze, wenn sie
nach dem Regen in der Sonne glitzern. Wind in hohen Bäumen ist schön. Dahinwirbelnde Wolken.
Und herumflatternde Schmetterlinge. Und Lagerfeuer. Und Schnee ist schön. Und glitzernde Seen.
Und Segelschiffe. Volle Regentonnen, in die Wassertropfen tropfen. Und frisch angeschnittene
Wassermelonen. Und Honigwaben. Und ein blühendes Rapsfeld. Und schwimmende Fische. Und die
glitzernden Eiszapfen, die im Winter vor meinem Fenster hängen.
Nur ich bin nicht schön.
1
»Was ist los mit dir in letzter Zeit?«, fragt meine Mutter.
Nichts, antworte ich.
»Was hast du nur die ganze Zeit?", fragt meine Schwester.
Nichts, habe ich geantwortet.
»Helena, ist irgendwas?«, fragt Miriam und streichelt
Miss Marple. Nichts, sage ich.
Nichts. Nichts. Nichts.
Ich heiße Helena. Wie die schöne Helena aus der griechischen Mythologie. Die schönste Frau der
Welt. Ihretwegen gab es den Trojanischen Krieg. Nur weil sie so schön war.
Aber ich bin nicht schön. Ich bin nicht die schöne Helena. Ich bin ich, und ich hasse mich dafür. Ich
ersticke daran.
Meine Mutter ist schön. Meine Schwester Hannah ist schön.
Und ich?
Ich sehe aus wie mein Vater, mein fortgegangener, aus stammender Vater. Das haben schon immer
alle. Hannah sieht unserer Mutter ähnlich und ich Dylan, unserem Vater.
Ich bin groß, einen ganzen Kopf größer als Hannah. Meine Haar sind blond und immer wirr. CockerSpaniel-Haare. Und meine Augen sind graugrünbraun gesprenkelt.
„Wie Pfützenwasser“, hat Stefano, mein bester Freund, einmalgesagt, als wir noch Kinder waren.
Haut ist so hell, dass ich schnell einen Sonnenbekomme. Und nur schwer braun werde.
Einmal waren wir mit der Klasse in einem Freizeitpark. Das war in der siebenten Klasse, vor zwei
Jahren. Dort gab es ein Gruselkabinett. Es quoll fast über vor Besuchern, ich quetschte mich zwischen
Miriam und Stefano durch den engen Gang,
Frankenstein, Godzilla, eine kopflose Mumie, ein Werwolf und noch eine Menge anderer
Gruselwesen. Und dann, ganz zum Schluss, diese drei Zerrspiegel ...
Das war ich, im ersten Spiegel: riesig, bleich, mit wirren Haaren, schlackernden, grotesk langen
Armen, die fast auf dem Boden zu schlenkern schienen. Mit weitaufgerissenen Augen stand ich da und
starrte mich an. Ich starrte auf meine Nase, auf die Nase meines Vaters. Und auf unser Kinn. Sein
Kinn und mein Kinn.
Ich war schrecklich erschrocken.
„Mann, wie wir aussehen, gruselig!“ rief Stefano im zweiten Spiegel und lachte. »Los, ein Foto! Das
dürfen wir uns nicht entgehen lassen ... "
Er langte blitzschnell an einen roten Knopf an der Wand neben uns und drückte ihn. Es blitzte, aber da
war ich schon geflohen.
»Mensch, Helena, du verwackelst ja alles!", rief Stefano mir hinterher. Aber das war mir egal. Ich
spürte, dass ich fast weinte, und ich beeilte mich, nach draußen zu kommen. Und als ich endlich
draußen war, floh ich noch weiter und suchte mir eine Toilette, in die ich mich einschloss.
Mich und diese Nase und dieses Kinn.
Bestimmt eine halbe Stunde blieb ich in meinem Versteck. Wie erstarrt. Unfähig, mich zu rühren.
Das Foto hängt noch heute an Stefanos vollgestopfter Pinnwand über seinem Schreibtisch. Er und
Miriam und ein fliehender, grauer, verwackelter Schatten, der ich bin.
Miriam im ersten Spiegel mit schlackernden Armen und einem grotesk langgezogenen Körper. Und
Stefano, der nicht besser aussieht, einen schmalen, hohen Zerrspiegel weiter.
Sein grinsender Mund ist breit wie das Maul eines Breitmaulfrosches. Und seine vergnügt winkenden
Arme dick und kurz und klumpig, wie kleine, fette Säcke, die an seinem wanstartig
zusammengestauchten Oberkörper baumeln.
dann noch ich vor dem dritten Spiegel: nur eine Ahnung, ein verschwommener, flüchtender Schatten
ohne Konturen.
Ohne meine Nase. Ohne mein Kinn.
Zum Glück, zum Glück, zum Glück.
Mein Vater hat uns verlassen, als ich gerade in die erste Klasse gekommen war. Er ist
Theaterdramaturg und hatte sich damals in eine junge Schauspielerin verliebt. Eine schöne, junge
Schauspielerin. Mit ihr ist er nach England gezogen, in einen Vorort von London, und mit ihr hat er
zwei neue Kinder.
Bei Männern ist es wohl nicht so wichtig, wie sie aussehen. Und keines seiner neuen Kinder hat seine
Nase geerbt. Oder sein Kinn.
Nein, ich bin Alleinerbin.
Als ich klein war, war ich einfach ich.
»Meine schönen Töchter, sagte meine Mutter manchmal.
»Das sagen alle Mütter", antwortete Hannah dann achselzuckend.
»Aber bei mir stimmt es", entgegnete meine Mutter und drückte uns an sich.
Eigentlich waren es nur zwei Sätze, die alles für mich veränderten. Aber ich bin mir sicher, ich werde
sie nie, nie, nie vergessen.
Der erste Satz fiel letztes Jahr im Kunstunterricht. Wir hatten eine neue Lehrerin, und sie ließ uns
Kohleskizzen machen. Einmal einen Stein, einmal einen zufälligen Schatten ... und dann ... unseren
Sitznachbarn. Nur sein Profil, eine schnelle Skizze in wenigen Strichen.
Es war Juni, ich war gerade vierzehn geworden, und es regnete an dem Tag in Strömen, Regentropfen
prasselten laut gegen die hohen Fensterscheiben.
Miriam und ich hatten Streit. Der Grund unseres Streites ist das Einzige, das ich nicht mehr weiß von
diesem Vormittag. Jedenfalls saß Miriam seinetwegen in dieser Stunde nicht neben mir. Sie saß neben
Konstantin. Und ich saß neben Henry.
Wie benommen saß ich da. Ich wollte nicht gemalt werden. Um keinen Preis. Und schon gar nicht von
Henry Mein Kopf fühlte sich an wie mit Watte gefüllt. Ich wünschte mich weit weg, aber ich durfte
nicht weg. Nein, ich musste hier sitzen und konnte es nicht glauben. Warum, warum, warum mussten
wir so einen Blödsinn machen?
Mathe war nötig, Fremdsprachen auch. Vielleicht war es auch notwendig, im Leben etwas von Goethe
und Schiller und Peter Handke und Max Frisch gelesen zu haben.
Und Hamlet.
Aber es war nicht nötig, sich gegenseitig mit dünnen, bröckeligen Kohlestiften zu malen. Nein, das
war ganz nicht nötig.
„Mann, deine komische Rüsselnase ist echt kompliziert zu malen«, murmelte Henry in diesem
Moment.
Mit gerunzelter Stirn saß er da, mit einem schwarzen Kohlefleck auf der Wange und zerstrubbelten
Haaren, den Zeichenblock auf den Knien.
Er schaute mich an.
Ich fühlte nichts, gar nichts. Absolut gar nichts.
»Ich ... komme gleich wieder«, murmelte ich schließlich benommen, als ich mich endlich wieder
rühren konnte, und schob mich vom Stuhl. Ich schwitzte und fror zur gleichen Zeit. Ich fühlte mich
wie krank, wie erschlagen, wie in Trance.
»Okay, bis gleich«, nickte Henry, der nichts bemerkte, und strichelte weiter auf seinem Block, an
seiner Zeichnung, herum. Ich vermied es, sie auch nur mit einem Blick zu streifen. Stattdessen
stolperte ich mit kleinen, leisen, unauffälligen Schritten mitten durch den lauten Kunstraum und floh,
wie damals im Gruselkabinett, auf die Toilette.
»Wo warst du denn so lange 7«, fragte Henry in der nächsten Stunde.
»Ich war ... mir war ... ist doch egal sagte ich und schaute ihn nicht an.
Mein Gesicht war wie eine Wunde.
Mein Gesicht war eine Wunde nach dieser Stunde im Kunstraum.
Ich war nicht mehr ganz. Ich war verletzt.
»Hab die Skizze trotzdem abgegeben«, sagte Henry achselzuckend. »War ja sowieso schon fast fertig.
Deinen Block mit meinem Profil habe ich übrigens auch mit abgegeben."
»Danke, nett von dir, sagte ich mit dünner Stimme und setzte mich schnell auf meinen Platz.
Henry war nett. Er ist es auch heute noch. Aber er hatte mich verletzt. Er hatte diesen Satz gesagt.
Vielleicht ohne sich etwas dabei zu denken. Aber nie mehr auszulöschen in mir drin.
Der zweite Satz fiel auf Miriams fünfzehntem Geburtstag im letzten Winter. Stefano war auch da. Er
hatte Miriam überraschend seinen alten PC geschenkt, weil er sich einen neuen zugelegt hatte. Stefano
hat reiche Eltern, er ist immer sehr spendabel.
Wir spielten ein Computerspiel, bei dem man Menschen kreierte und ihnen Haare und Augenfarben
und Brillen verpasste, sie anzog, ihnen Häuser baute, ihnen Freunde erfand, die man auch wieder
zusammenpuzzelte aus Haarfarben, Hautfarben, Sternzeichen, verschiedenen Charakteren und
Vorlieben.
Eine schöne, neue Welt.
Mit ein paar schnellen Mausklicks konnte man sie sich dann als Babys, Kleinkinder, als Jugendliche,
als Erwachsene und als graue Greise anschauen.
Ein schnelles Leben.
Man konnte machen, dass sie sich küssten, dass sie miteinander schliefen, sie wurden schwanger,
arbeitslos, machten Karriere, stritten sich, aßen, betrogen sich, wurden dick, und zum Schluss starben
sie.
Stefano lachte, tippte sich an die Stirn, und klickte sich durch Haarfrisuren, Augen- und Nasen- und
Kopfformen.
»Mann, da gibt es nichts, was es nicht gibt«, sagte er kopfschüttelnd. »Eierköpfe, Punkfrisuren,
Megatitten, Spitznasen, Schwabbelbäuche ... «
Mit einem Mausklick verließ er die Münder, die er sich gerade angeschaut hatte, und kam zu den
Kinnen.
»Da, ein markantes Räuber-Hotzenplotz-Kinn und ein Idiotenkinn und ein Kleopatra-Kinn, alles da«,
lachte er. »Nur so ein Po-Kinn wie Helenas haben sie nicht im Sortiment. - Pech für dich, Helena ... «
Ich starrte auf meine Hände, der Tag versank in einem Strudel aus Schreck und Scham und Entsetzen.
Musik, Chips, Kuchen, Cola, sogar Sekt gab es. Konstantin war ebenfalls da. Und Hülya und Karlotta
und noch ein paar andere aus unserer Klasse. Luftschlangen hingen über Regalen, und Miriams Mutter
machte vegetarische Pizza, weil Miriam Vegetarierin ist. Aber ich nahm nichts mehr wahr. Ich war ein
Lufthauch inmitten eines Sturms, weiter nichts.
Die Nase meines Vaters. Und sein Kinn. Alles andere war auszuhalten: meine Haare, meine blasse
Haut, meine regenpfützengrauen Augen.
Aber nicht meine Nase. Nicht mein Kinn.
Ich war hässlich.
Henry und Stefano hatten nur ausgesprochen, was jeder sehen konnte. Was die Wahrheit war.
2
Ich habe zwei Großmütter. Eine gestorbene und eine verschwundene.
Die gestorbene Großmutter ist die Mutter meiner Mutter. Sie hatte Krebs und starb, als Hannah und
ich noch ganz klein waren. Ich kann mich überhaupt nicht mehr an sie erinnern. Es gibt ein Foto in
unserem Familienalbum, da sitzt sie in unserem alten Wohnzimmer und hat Hannah und mich auf dem
Schoß. Ich bin ungefähr ein Jahr alt und Hannah ist, wie immer, ein Jahr älter. Unsere Großmutter
lacht auf diesem Bild und drückt uns fest an sich. Sie hatte dieselben braunen Locken wie meine
Mutter und meine Schwester. Und dieselben großen, dunklen, schönen Augen. Und sogar dieselben
lächelnden Mundwinkel.
Meine andere Großmutter ist seit vielen, vielen Jahren verschwunden. Ihre Spur verlor sich ganz
allmählich.
Hannah und ich haben sie noch nie gesehen, und sie weiß wahrscheinlich nicht einmal, dass es uns
überhaupt gibt. Uns, und die neuen Kinder meines Vaters.
„Sie hatte wohl einfach genug vom englischen Kleinstadtmief“ hat mein Vater früher einmal erzählt.
»Sie ging fort, von einem Tag auf den anderen, als ich zehn Jahre alt war. - Vorher hatte sie sich sehr
mit eurem Großvater gestritten. Und am nächsten Tag war sie weg, einfach so, und ließ mich bei ihm
zurück. Bald darauf gingen wir nach Deutschland.“
Mein Vater hat mich angesehen. »Ich habe es jahrelang nicht begriffen, dass sie wirklich fort war ...
Dass sie uns verlassen hatte ... Dass sie nicht wiederkommen würde. Ich habe immer auf sie gewartet jahrelang ... "
Er schüttelte den Kopf, und dann erzählte er uns, dass sie zuerst noch ab und zu geschrieben hatte,
einmal aus New York und dann aus Melbourne, und einmal war sie auch ganz nah gewesen, und hatte
eine Postkarte aus Paris geschickt.
Aber sie kam nie wieder. Und irgendwann waren keine Briefe mehr gekommen.
„Jetzt hat es sie wohl erwischt, die alte Kruke!«, hatte mein Großvater, der Vater meines Vaters,
geknurrt. »Jetzt wird sie wohl tot sein ... «
In unserem Familienalbum gibt es auch von ihr ein Bild.
Ein scheußliches, schreckliches Bild. Eine große, voluminöse Frau ist darauf zu sehen, eine Frau mit
hellen, wirren Haaren, heller Haut, einer Rüsselnase und einem Po-Kinn.
Manchmal möchte ich mich einfach nur in Luft auflösen.
Michelle Pfeiffer ist schön. Und Ingrid Bergman.
Aber nicht nur junge Leute sind schön. Audrey Hepburn war auch, als sie schon alt war, noch
wunderschön.
Naomi Campbell ist eine schöne Schwarze. Marilyn Monroe war schön, obwohl sie pummelig war.
Und Kate Moss ist schrecklich mager und trotzdem wunderschön
Miriams Mutter hat das ganze Gesicht voller Sommersprossen. Sogar auf ihren Lippen sind welche.
Aber sie ist trotzdem schön. Sie selbst sagt, sie ist gerade deswegen schön.
Und Hülya aus meiner Klasse ist nur etwas über einen Meter fünfzig groß. Aber sie hat ein schönes,
ebenmäßiges Gesicht, eine zarte Nase, ein unauffälliges Kinn, große, schwarze, tiefe Augen und die
schönsten und längsten Wimpern, die ich je gesehen habe.
Henry ist schon seit zwei Jahren in Hülya verliebt. Jeder weiß das. Und in Miriam ist Ben verliebt, ein
Junge aus der Elften.
In mich war noch nie jemand verliebt.
Weil ich hässlich bin. Weil ich ich bin. Weil ich diese Nase und dieses Kinn habe.
Manchmal habe ich Angst, dass ich anfange, mich wirklich zu hassen. Mich und mein Gesicht.
Wir wohnen am Stadtrand. Wenn man unsere Straße hinuntergeht, stößt man auf einen unbefestigten
Feldweg, und dieser Feldweg führt zum Kastanienwäldchen.
Unser Wald haben Hannah, ich und Stefano früher immer gesagt.
Das Kastanienwäldchen ist auch schön, wunderschön.
Abends, im Sommer, kommen immer die Stare. Abend für Abend verdunkeln sie dort für einen
Moment den Himmel, wenn sie sich wie ein Regenschauer in die Kastanien hineinstürzen, um dort zu
übernachten. Früher sind wir oft in unseren Wald gegangen am Abend, nur um uns dieses Schauspiel
anzuschauen. Es sieht so schön aus, dass man die Luft anhalten muss.
3
Schön.
Man kann die Welt einteilen in schön und hässlich. Ich fürchte mich vor beiden Wörtern. Weil sie sich
aufeinander beziehen.
Schön ist ein Nachname. Otto Schön.
Hässlich ist kein Nachname. Otto Hässlich gibt es nicht.
Zum Glück heiße ich nicht Schön mit Nachnamen.
Libellen sind schön, wenn sie glitzernd durch die Sommerluft trudeln.
Immer, wenn nicht Sommer ist, wünsche ich mir den Sommer herbei.
Unser Deutschlehrer war krank, die ganze Woche schon. Jeden Tag hatten wir eine Freistunde gehabt.
Aber am Freitag war es anders – zwei Sachen waren anders.
Es goss in Strömen an diesem Vormittag, als ich zur Schule ging.
The rain beat hard one me and there was a fast rack riding the sky.
Der Regen schlug hart auf mich nieder, und am Himmel flogen die Wolken in Fetzen dahin.
Manchmal denke ich englisch, wenn ich alleine bin, dabei spricht mein Vater fast immer deutsch mit
uns – wenn er mal mit uns spricht, meine ich.
Wie gesagt, zwei Dinge waren anders an diesem Regentag.
Zuerst kam Jadis.
„Jadis wird ab heute in eure Klasse gehen“, sagte Frau Nagel, unsere Klassenlehrerin, und schaute sich
prüfend um. „Einen Tisch. Wir brauchen einen zusätzlichen Tisch“, murmelte sie. Und dann schickte
sie Henry und Stefano zum Hausmeister.
Ich schaute Jadis an. Die anderen schauten Jadis an. Alle Neuen werden immer angeschaut, egal ob sie
hübsch, hässlich, dick, dünn, groß, klein, gewöhnlich, besonders sind.
Neue sind Neue, und das alleine macht sie interessant. „Jadis kommt aus Amerika“, sagte Frau Nagel,
während wir auf Henry, Stefano und den Tisch warteten. „Von wo genau kommst du, Jadis?“
„Connectitut“, sagte das fremde Mädchen und stellte ihre türkise Tasche ab. „Northfield, in
Connecticut. Eine kleine, verschlafene Stadt, in der nicht viel los ist.“
Ich hielt die Luft an.
Das Mädchen aus Connecticut war groß und hatte wunderschöne, helle Augen und ein wunderschönes
Gesicht. Dazu war sie schlank, und ihre Hände und ihre Figur, ihr Busen, ihr Bauch, ihr Blick, alles
war perfekt.
In dem Moment stolperten Stefano und Henry mit dem zusätzlichen Tisch herein.
„Stellt ihn dort an die Wand“, sagte Frau Nagel und wies auf das Stück Wand neben dem
Klassenschrank.
Jadis würde also neben mir sitzen. Ich saß auf meinem Platz neben Miriam, aber am äußersten Rand
der Reihe. Stumm schaute ich zu, wie Stefano und Henry den neuen Tisch in die Lücke zwischen
meinen Platz und der Wand schoben.
Gleich darauf setzte sich Jadis.
„Hallo“, sagte sie zu mir.
„Hallo“, sagte ich.
Jadis war schön. Sonnenaufgänge waren schön. Fliegende Kraniche waren schön. Schwedische Seen
waren schön. Die Insel La Gomera war schön. Rosen waren schön.
Frau Nagel schrieb eine Gleichung an die Tafel, die wir nach x auflösen sollten.
„Schreib einfach mal mit, Jadis“, sagte Frau Nagel. „Du wirst dich schon reinfinden.“
Jadis nickte und zog ein Heft und einen Kuli aus ihrer türkisen Tasche.
Ich schaute verstohlen zu ihr rüber. Wie man sich wohl fühlte, wenn man so aussah?
So wie Jadis wollte ich sein. Genau so. Und das nicht, weil sie die richtigen Klamotten trug, oder weil
sie richtig geschminkt war, sondern einfach, weil sie war, wie sie war. Weil sie schön war.
Das Leben war schön – wenn man so aussah wie Jadis.
Kurz darauf klingelte es, und statt einer Freistunde hatten wir heute eine Vertretung für unseren
kranken Deutschlehrer, einen jungen Referendar.
„Wie findest du sie?“. Flüsterte Miriam und deutete auf das Mädchen aus Amerika an meiner linken
Seite. Ich zuckte mit den Achseln.
„Karlotta findet, sie sieht aus wie eine typische amerikanische Barbie“, fügte Miriam leise hinzu.
Ich schwieg, dafür redete der Vertretungsrefrendar.
„He, ihr seid ja eine große Klasse“, sagte er und blätterte in unserem Klassenbuch. “Sechsunddreißig
Schüler – nein, sogar siebenunddreißig…“
Die Siebenunddreißigste war Jadis.
„Na, wie dem auch sei“, fuhr er fort. „Wir machen ein kleines Spiel: Buchstabiert eure Namen mit
Wörtern, die zu euch passen. Ihr könnt Eigenschaften aufschreiben, die ihr habt oder gerne hättet,
Dinge, die euch beschäftigen, die euch durch den Kopf gehen. Alles ist erlaubt.“
„Wie heißt du?“, fragte Jadis mich, während sie nach Papier und Stift griff.
Ich sagte meinen Namen und schrieb auf.
H wie Hässlich
E wie Einsam
L wie Leise
E wie Elend
N wie Niedergeschlagen
A wie Alles Mist!
Nein, nein, nein! So ging es nicht! Eilig zerknüllte ich das Blatt und steckte es ein.
Miriam schrieb. Hülya schrieb. Karlotta, Henry und Konstantin schrieben. Stefano schrieb. Alle
anderen schrieben ebenfalls, wenigstens mehr oder weniger. Es herrschte ein ziemlicher Krach im
Raum.
Ich schaute auf Jadis´ Blatt und sah aus dem Augenwinkel, dass auch Miriam sich durchlas, was Jadis
geschrieben hatte.
JADIS stand da.
J wie Joy
A wie A happy day!
D wie Dancing in the sunshine
I wie Intrepid
S wie Sexappeal
„Was heißt intrepid?“, erkundigte sich Miriam.
„Unerschrocken“, übersetzte ich, wie aus der Pistole geschossen, anstelle von Jadis.
„Exakt“, sagte Jadis und lächelte mir zu.
Freude. Ein glücklicher Tag. Tanzen im Sonnenschein. Unerschrockenheit. Sexappeal…
Widerwillig begann ich neu:
H wie Harfe (die spielte ich seit Jahren), E wie Elefant (mein Lieblingstier), L wie Lustig, E wie Eis
am Stiel, N wie Natürlich Blond, A wie Alles Super!
So konnte ich es abgeben. Oder vorlesen. Oder riskieren, dass Miriam oder Jadis oder Stefano, der in
der Reihe vor uns saß, einen Blick auf meinen Zettel warfen.
„Harfe? Warum hast du Harfe geschrieben? Spielst du Harfe?“, fragte Jadis.
Ich nickte.
„He, toll“, sagte sie. „Spielst du mir mal was vor? Hast du Zeit heute Nachmittag? Ich hätte Zeit. Ich
kenne keinen, der Harfe spielen kann.“
Sie lächelte mir zum zweiten Mal zu.
Und so kam es, dass ]adis mich besuchte.
Als wir nach Hause gingen, hingen unsere Namenszettel an der langen Wand unseres Klassenraums.
Der junge, verrückte Referendar hatte sie in einer langen Reihe dort aufgehängt. »Vielleicht geben sie
euch Impulse im Umgang miteinander. Man kennt sich nie gut genug, als dass man sich nicht noch
besser kennenlernen könnte«, hatte er gesagt und uns zum Abschied zugenickt.
Bei Miriam stand unter anderem A wie Abenteuer.
Bei Stefano F wie FUN!
Bei Hülya wie Hürriyet (Freiheit!)
Bei Karlotta TT wie Total Toll! Mit einem zwinkernden Smiley daneben.
Bei Henry N wie Nichtsistunmöglich ...
Und bei Konstantin S wie SOMMERSONNESONNENSCHEIN
Überall lachen Leute. Im Bus. Auf der Straße. In der Schlange vor der Kinokasse. Im Schwimmbad.
Auf dem Eiffelturm. In der Eisdiele. Im Flugzeug auf dem Weg in die Sommerferien. Auf dem
Schulhof. Im Wartezimmer des Kieferorthopäden.
Und immer denke ich, vielleicht lachen sie ja über mich.
»Du hast ein verrücktes Zimmer«, sagte Jadis am Nachmittag und sah sich um. »Ehrlich, meine Mutter
würde der Schlag treffen, wenn mein Zimmer so aussähe wie deins ... «
Ich schaute mich ebenfalls in meinem Zimmer um, ließ meinen Blick über meine Herzlichterkette,
meine Sonnenlichterkette, meine Dschungellichterkette und meine Elefantenlichterkette schweifen.
Neben meinem ungemachten Bett lehnte mein wackelarmiges Skelett, das ich mal auf einem
Flohmarkt entdeckt, billig erstanden und in spontaner Lilalaune knalllila angepinselt hatte.
Außerdem besaß ich einen halben Marmormann, den Miriam mir zum fünfzehnten Geburtstag
geschenkt hatte' ebenfalls vom Flohmarkt. (Da, ein Mann für dich!, hatte sie lachend gesagt.) Der
Marmormann trug einen alten Strohhut, den ich mal auf dem Dachboden meines Großvaters gefunden
hatte, und drängelte sich neben meinem vollgestopften Schreibtisch Seite an Seite mit meiner alten,
staubigen Yuccapalme. Mitten im Zimmer stand meine Harfe.
»Meine Mom ist nämlich definitiv der ordentlichste
Mensch der Welt«, sagte]adis und versuchte dabei, Miss Marple vom Bücherregal zu locken, wo sie in
der obersten Reihe auf meinen Ally-Mc-Beal-DVDs kauerte. Aber Miss Marple funkelte sie bloß an.
»Dann würde ihr Hannahs Zimmer bestimmt besser gefallen als dieses«, sagte ich. Und weil meine
Schwester noch beim Basketball-Training war, ließ ich Jadis einen Blick in Hannahs ordentliches,
aufgeräumtes Zimmer werfen. An der Wand über dem Bett hing ein Familienbild der besonderen Art.
Es war an ihrem vorletzten Geburtstag aufgenommen. Unser Vater war darauf zu sehen mit seiner
neuen Frau und seinen beiden kleinen, neuen Kindern, dazu Hannah und ich und unsere Mutter.
Dieses Bild war einzigartig, unser Vater besuchte uns nämlich kaum noch in den letzten Jahren.
Schuld daran war sein Dauerstreit mit unserer Mutter.
Ich erklärte Jadis, wer wer war.
„Deine Schwester und du, ihr seht euch überhaupt nicht ähnlich“, sagte Jadis da, und jetzt konnte sie
Miss Marple, die uns neugierig gefolgt war, doch für einen Moment streicheln.
Jadis lachte. "Deine Schwester sieht jedenfalls aus wie potenzielle Kandidatin für Germanys next
Topmodel….“
Wumm. Wumm. Wumm.
Jedes Wort ein Stein, der mich niederschlug.
Aber ich lasse es mir nicht anmerken. Nur Harfe spielen könnte ich heute nicht mehr. Meine Finger
zittern wie Espenlaub.
„Hat sie mal bei einem Schönheitswettbewerb mitgemacht?“, erkundigte sich Jadis beim Hinausgehen.
„Nein", anwortete ich und schloss sorgfältig Hannahs Tür.
„Ach ja, so was ist ja in Deutschland nicht so verbreitet.“
Jadis tippte dem lila Skelett in meinem Zimmer gegen die lila Rippen und lächelte mir zu. »In den
USA gibt es haufenweise Schönheitswettbewerbe. Auf der Highschool, in den Städten, im District,
überall«
Damit nahm Jadis in meinem Thron, einem alten Korbsessel, den ich mal vor vielen Jahren mit viel
Goldspray eingesprüht hatte, Platz, und schaute mich so an, dass ich mich fremd in meinem eigenen
Zimmer fühlte .
»Du hast schöne Augen, Helena«, sagte sie mit meinem Herzkissen in den Armen. »Grün. Wie eine
Hexe. Du solltest mehr aus dir machen. Du bist nämlich auch nicht hässlich.«
Wumm. Wumm. Wumm.
Jetzt sind es andere Steinschläge als vorhin, drüben in Hannahs Zimmer. Ich zittere von Kopf bis Fuß,
aber ich beiße die Zähne zusammen, so fest, dass mein Kiefer schmerzt.
Ich will nichts, nichts, nichts mehr hören.
The day went to twilight. The rain got cold.
Der Tag ging in Zwielicht über Der Regen wurde kalt.
4
Am Abend, im Badezimmer, schaue ich mich an. Schaue mir Auge in Auge in die Augen. Mein Blick
ist ernst. Meine Spiegelaugen auch. Grüngraubraun. Grüngraubraun und nichtssagend und ernst.
Meine Augenbrauen sind viel heller als Hannahs. Und meine Wimpern sind auch nichts Besonderes.
Besonders ist nur meine Nase. Besonders ist nur mein
Kinn. Alles, alles, alles an meiner Nase und meinem Kinn ist falsch.
»Du solltest mehr aus dir machen«, hatte Jadis gesagt.
Was soll ich machen? Was? Was? Was?
Meine Nasenspitze berührt den kalten Spiegel.
Nasenspitze. Nase.
Schon das Wort allein ist mir unangenehm.
Rüsselnase und Po-Kinn.
Wie ein wilder Stier drehe ich heißes Wasser auf, bis zum Anschlag. Der Spiegel beschlägt und ich
bin verschwunden, in Dunst und Nebel verschwunden. Gott sei Dank.
Nur meine Atemzüge schweben stoßweise durch den Raum und sind blinde Zeugen dafür, dass ich
noch da bin.
In der Nacht träume ich. Von mir und meinem Gesicht.
Es ist ein verschwommener, wirrer Traum, der mir noch vor dem Aufwachen wieder entgleitet. Aber
als ich wach bin, ist mein Gesicht voller Tränen. Und ich bin nass geschwitzt.
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