und seine Güte währet ewiglich. - 29. Deutscher Evangelischer

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Dokument:
0/124 PF
Sperrfrist:
Donnerstag, 14. Juni 2001; 9:00 Uhr
Programmbereich:
Bibelarbeiten
Veranstaltung:
Forum Frauen
Referent/in:
Dr. Elisabeth Raiser, Versoix/Schweiz
Dr. Peter Bukowski, Pfarrer, Moderator des Reformierten Bundes,
Wuppertal
Ort:
Gesellschaftshaus im Palmengarten, Großer Saal
„... und seine Güte währet ewiglich.“
Dialogbibelarbeit über Psalm 118
Peter Bukowski (P. B.) und Elisabeth Raiser (E. R.)
E. R.: Der jüdische Theologe und Politiker André Chouraqui, dem wir eine großartige
Übertragung der Bibel ins französische verdanken, leitet seine Übersetzung der Psalmen so
ein: „Dies Buch und seine Lieder ist von Mutterleib an Teil unserer selbst. 150 Gedichte, 150
Stufen vom Tod zum Leben; 150 Spiegel unserer inneren Aufstände und unserer Treue. Ein
lebendiges Wesen, das zu uns spricht, das mit uns leidet, stöhnt und stirbt, das mit uns
aufersteht und singt und uns an die Schwellen der Ewigkeit führt. Gedichte, die den
Rhythmus des Lebens in sich tragen.“
P. B.: Martin Luther schreibt in der Vorrede seiner Auslegung des 118. Psalms: „Denn es ist
mein Psalm, den ich lieb habe. Wiewohl der ganze Psalter und die heilige Schrift im ganzen
mir auch lieb ist, als die mein einiger Trost und Leben ist, so bin ich doch sonderlich an
diesen Psalmen geraten, dass er muß mein heißen und sein. Denn er sich auch redlich um
mich gar oft verdienet und mir aus manchen großen Nöten geholfen ist, da mir sonst weder
Kaiser, Könige, Weise, Kluge, Heilige hätten mögen helfen. Und ist mir lieber denn des
Papsts, Türken, Kaiser und aller Welt Ehre, Gut und Gewalt, wollt auch gar ungern um
diesen Psalmen mit ihnen allesamt beuten.“
E. R.: . Der Psalm 118 ist ein Gebet voller Poesie. Er ist gesungenes Gotteslob. Luthers
poetische Übertragung trifft den Ton des Psalms besonders gut; manche unter uns kennen
Teile daraus auswendig. Das hat uns bewogen, Luther für die Lesung den Vorzug zu geben,
obwohl uns die Kirchentagsübersetzung, zu mancher Einsicht verholfen hat. Luther
übernimmt den Titel „Herr“ für Gott. Die Diskussion um diesen Titel ist uns wohl vertraut und
wir haben uns verschiedentlich selbst daran beteiligt. Wenn Luther oder wenn wir Gott „Herr“
nennen, so ist das nicht als eine Übertragung von menschlichen Herrschaftsvorstellungen
auf Gott gemeint. Sondern es geht dabei gerade umgekehrt darum, die menschlichen
„Herren“ in ihrem Machtanspruch durch die Autorität Gottes in Frage zu stellen. Wir möchten
den Titel jedenfalls so verstehen und Luthers Text nicht verändern.
Wir wollen nun zunächst den ersten Teil, also die Verse 1–18 mit Ihnen hier im Saal im
Wechsel lesen. Ich beginne mit dem ersten Vers und der linken Saalhälfte, Peter Bukowski
liest dann den zweiten mit der rechten Hälfte, und so fort...
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Danket dem Herrn; denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich.
Es sage nun Israel: Seine Güte währet ewiglich.
Es sage nun das Haus Aaron: Seine Güte währet ewiglich.
Es sagen nun, die den Herrn fürchten: Seine Güte währet ewiglich.
In der Angst rief ich den Herrn an; und der Herr erhörte mich und tröstete mich.
Der Herr ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht; was können mir Menschen tun?
Der Herr ist mit mir, mir zu helfen; und ich werde herabsehen auf meine Feinde.
Es ist gut, auf den Herrn vertrauen und nicht sich verlassen auf Menschen.
Es ist gut, auf den Herrn vertrauen und nicht sich verlassen auf Fürsten.
Alle Heiden umgeben mich; aber im Namen des Herrn will ich sie abwehren.
Sie umgeben mich von allen Seiten; aber im Namen des Herrn will ich sie abwehren.
Sie umgeben mich wie Bienen, sie entbrennen wie ein Feuer in Dornen; aber im Namen des
Herrn will ich sie abwehren.
Man stößt mich, dass ich fallen soll; aber der Herr hilft mir.
Der Herr ist meine Macht und mein Psalm und ist mein Heil.
Man singt mit Freuden vom Sieg in den Hütten der Gerechten: Die Rechte des Herrn behält
den Sieg!
Die Rechte des Herrn ist erhöht; die Rechte des Herrn behält den Sieg!
Ich werde nicht sterben, sondern leben und des Herrn Werke verkündigen.
Der Herr züchtigt mich schwer; aber er gibt mich dem Tode nicht preis.
P. B.: Je länger wir über den 118. Psalm nachgedacht haben, verstanden wir ihn als die
Beschreibung eines geistlichen Weges. Sein Ziel ist der „weite Raum“, von dem die Losung
dieses Kirchentages redet. Der Weg beginnt mit der Aufforderung zum Gotteslob (I), führt
über erinnerte Befreiung zu neuem Vertrauen (II) und mündet ein in den Gottesdienst (III), in
eben den Raum, wo unser Herz fest, unser Blick klar und weit und unser Gang gewiß wird,
wo alles gut werden kann, weil Gott gut ist.
I.
E.R.: Ich finde es sehr eindrücklich, wie umfassend diese Einladung zum Gotteslob ist, von
der Du sprichst: Es sage nun Israel: Seine Güte währet ewiglich. Es sage nun das Haus
Aaron: Seine Güte währet ewiglich. Es sagen nun, die den Herrn fürchten: Seine Güte
währet ewiglich (V. 2–4). Angesprochen ist also das ganze Volk: das sind die Laien; dann
das Haus Aaron, das sind die Priester Israels und schließlich alle Menschen auf dieser Erde,
die Gott fürchten und nach seiner Gerechtigkeit streben. Das Lied wurde am Tor zum
inneren Hof des Tempels gesungen, und an diesem Tor waren alle zugelassen: Männer,
Frauen, Kinder – wogegen der innere Tempel nur den Männern und der innerste Teil, das
Allerheiligste, nur dem Hohenpriester offenstand. Aber alle stimmen in den Dank ein und alle
loben Gott aus der Fülle ihres dankbaren Herzens. Insofern weisen ihr Gesang und ihre
Worte über die damals bestehenden Schranken zwischen den Menschen hinaus.
Das Lob wird gesungen. Gerade was das gesungene Gotteslob angeht, gibt es in der Bibel
eine bedeutende Frauentradition. Miriam, Moses Schwester, nimmt nach dem Durchzug
durch das Rote Meer, in dem das ägyptische Heer des Pharao umgekommen ist, die Pauke,
tanzt und singt das Lob Gottes, des Erretters aus der ägyptischen Sklaverei. Alle Frauen
folgen ihr im Reigen mit Pauken. Nur von den Frauen wird erzählt, dass sie tanzen, während
„die Israeliten“ – sind das vielleicht nur die Männer? – singen. Das Lied ihres Bruders Moses
ist zwar viel länger, aber immerhin, Miriams und all der Frauen Loblied wird ausdrücklich
erwähnt. Sie besingen den Sieg der Kleinen und Schwachen, die sich unter Gottes Obhut
befinden, gegenüber den Starken, die gottlos sind. Das ist ein Motiv, das auch in andern
Frauenliedern wiederkommt: Deborah, die als Richterin das Volk Israel im Kampf gegen die
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Kanaanäer anführte und die als Mutter Israels bezeichnet wurde, singt ein langes Dankeslied
nach ihrem Sieg über die überlegenen Feinde, ebenso Judith, nachdem sie den
Unterdrücker des Volkes, Holophernes, umgebracht hatte. Wir mögen heute die
Gewalttätigkeit beklagen, die hinter diesen drei Geschichten und Gesängen liegt. Ich glaube,
wesentlich ist hier das Lob Gottes, der die Befreiung aus übermächtiger Gewalt und
Unterdrückung herbeigeführt hat. Es sind typische Lieder der „Kleinen“.
Dann singt Hanna, die Mutter des Propheten Samuel, als sie endlich nach langem Warten
schwanger wird, ein Lob- und Danklied: "Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn, mein Haupt ist
erhöht in dem Herrn. Mein Mund hat sich weit aufgetan wider meine Feinde, denn ich freue
mich deines Heils…." (1. Samuel 2). Auch ihr Lied besingt Gottes Hilfe für die Schwachen,
seine Parteinahme für die Armen, seine Sorge für die ganze Erde. Darin erinnert das Lied
stark an Marias Lobgesang, als sie über die Berge zu ihrer Cousine Elisabeth ging und in der
Begegnung mit der Freundin sang: "Meine Seele erhebt den Herrn… Er stößt die Gewaltigen
vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen
leer ausgehen. Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf…." Es ist
auffällig: Frauenlieder in der Bibel besingen immer die Befreiung und Erhebung der sozial,
politisch und religiös Unterdrückten, sie nehmen Partei. Unser Psalm tut das auch. Befreiung
ist das Motto der Glaubensgeschichte des Volkes Israel, und die Frauenlieder bringen dieses
Motto auf den Punkt. Sie fügen sich ein in eine im Wortsinn umwerfende Glaubens-Tradition.
P. B: Das, was du als Grundmotto des Glaubens Israels in Erinnerung gerufen hast, möchte
ich aufgreifen und meinerseits unterstreichen: Dass Gott den Benachteiligten ihr Recht
verschafft muß sich in der Weise unseres Gotteslobes widerspiegeln. Gott loben, ihm
danken und im Dank seiner Güte neu gewahr werden, das kann man nur gemeinsam.
Nebeneinander, geschweige denn gegeneinander gesungenes Gotteslob – das ist ein
Widerspruch in sich selbst. Und auf solchem Tun ruht, wie auch der Apostel Paulus nicht
müde wurde, seinen Gemeinden einzuschärfen, kein Segen. Es hat lange gebraucht, bis die
Kirchen das begriffen haben. Erst vor gut 25 Jahren, genau: auf der Vollversammlung des
Ökumenischen Rates der Kirchen 1975 in Nairobi, ist die Forderung nach einer inclusive
language erhoben worden. Das bedeutete: Eine Sprache, die niemanden ausschließt; nicht
die vergessenen und/oder marginalisierten Gruppen der Gesellschaft und erst recht nicht
die, welche die Mehrzahl unserer Gottesdienstbesucher ausmachen: die Frauen. Und ich
erinnere mich noch genau, wie schwer es diese Forderung hatte sich durchzusetzen, auch
und gerade bei sich selbst für emanzipiert haltenden Christenmenschen; hier müßte ich
ehrlicher weise besser sagen: Christenmännern. Denn es war zweifellos das Verdienst von
Frauen in der Kirche, dieser Forderung gegen männlichen Widerstand Nachdruck verliehen
zu haben und mit viel Energie und Kreativität an einer Erneuerung der Sprache – gerade
auch der gottesdienstlichen Sprache – gearbeitet zu haben. In jüngster Zeit sind drei große
Agendenwerke zum Abschluß gekommen, die als, wenn ich es einmal so sagen darf:
kirchenamtliche Frucht dieser Erneuerungsbewegung angesehen werden können: Die
Agende der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, das Evangelische
Gottesdienstbuch von EKU und VELKD sowie die Reformierte Liturgie. Als einer, der an
dieser Arbeit beteiligt war, möchte ich öffentlich all den Frauen danken, die ihrer Kirche
geholfen haben, im Bereich der Sprache die unseligen Auf- und Abspaltungen und
Ungerechtigkeiten zu überwinden. Laßt uns diesen Weg weitergehen!
Apropos: Gemeinsames Gotteslob. Die Christenheit ist ja auch in einer anderen, noch
schmerzhafter, weil unüberwindbar erscheinenden Hinsicht gespalten. Deshalb nutze ich die
Chance und frage die Präsidentin des ersten evangelisch-katholischen Kirchentages, der
2003 in Berlin stattfinden wird: Wie steht es da mit dem gemeinsamen Gotteslob; vor allem:
können wir auf Gemeinschaft am Tisch des Herrn hoffen? Was wünschst Du Dir? Was ist
realistisch? Wie wirst Du es selbst halten?
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E. R.: Ich wollte, wir könnten realistisch auf die Abendmahlsgemeinschaft hoffen. Wenn du
mich fragst, ob ich sie mir wünsche: ja, von ganzem Herzen! In Genf, wo ich jetzt lebe, feiern
wir im Rahmen einer ökumenischen Werkstatt regelmäßig mit unsern katholischen
Geschwistern Abendmahl in der Form der eucharistischen Gastfreundschaft, und das sind
für uns alle immer besonders bewegende und dichte Erfahrungen. Der lokale katholische
Bischof weiß davon und hat nie Einspruch erhoben. Wir sind natürlich nicht die einzigen, die
das praktizieren, sondern an der Basis geschieht das überall, und überall entspricht dies
gemeinsame Abendmahl einer tiefen Sehnsucht der Menschen nach voller Gemeinschaft.
Aber wir müssen auch sehen, dass diese Feiern keinen offiziellen Charakter haben, sondern
sich unterhalb der offiziellen Erlaubnis ereignen. Der Ökumenische Kirchentag wird einen
weit sichtbaren, öffentlichen Charakter haben; das wollen wir ja! Unser Partner beim
Ökumenischen Kirchentag ist das Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Die
Verantwortlichen in dieser großen katholischen Laienorganisation wünschen ihrerseits das
gemeinsame Abendmahl dringend, aber sie wollen es nicht feiern, bevor nicht die Einheit der
Kirche erreicht ist. Sie werden sich in dieser kirchenrechtlichen und seelsorgerlichen Frage
nie gegen ihre Bischöfe stellen. Wir vom Evangelischen Kirchentag möchten und müssen
ihre Haltung respektieren, sonst können wir keinen gemeinsamen Kirchentag veranstalten.
Wir müssen also mit dem Paradox leben, dass wir die Katholiken zwar zum Abendmahl
einladen und dies auch die offizielle Haltung unserer evangelischen Kirchen ist, aber dass
umgekehrt eine Einladung wahrscheinlich nicht ausgesprochen wird. Die Spannung müssen
wir aushalten. Das Abendmahl ist ein Sakrament, ein Geschenk Jesu an seine Kirche, und
darf daher nicht ökumenepolitisch funktionalisiert werden. Wir wollen uns an dieser Stelle
deshalb nicht gegenseitig unter Druck setzen. Allerdings dürfen wir dann auch diejenigen
nicht unter Druck setzen, die die Abendmahlsgemeinschaft praktizieren. Ich bin froh, dass
uns viele darin vorangehen, denn die Erneuerung der Kirche wird meiner Überzeugung nach
von der Basis her passieren – die Theologen sind dabei durchaus eingeschlossen! Du hast
mich gefragt, wie ich mich selbst verhalte und verhalten werde: Ich verhalte mich paradox, so
wie die Situation paradox ist.: D.h. ich nehme in Genf an der katholischen Eucharistie teil, da
ich dort eingeladen werde, aber ich werde es in Berlin nicht tun, wenn ich nicht eingeladen
werde. Aber vielleicht werde ich ja eingeladen! Diese Hoffnung will ich jetzt noch nicht
aufgeben. Ein Bischof oder Kardinal oder der Papst kann, wie es schon verschiedentlich
geschehen ist, uns Protestanten zur Eucharistie einladen. Das ist dann jeweils ein einmaliger
Akt. Vielleicht kann es einen solchen einmaligen Akt in Berlin ja geben?
P. B.: Ich möchte noch auf einen anderen Aspekt des Gotteslobes zu sprechen kommen:
Obwohl es in der ganzen Heiligen Schrift und erst recht natürlich in den Psalmen eine
zentrale Rolle spielt, ist es doch bemerkenswert, dass zum Danken und Loben wieder und
wieder ausdrücklich aufgefordert werden muss. „Danket dem Herrn“ – „Lobet den Herrn“ so
heißt es ein ums andere mal und ich glaube, das ist mehr als nur ein liturgisches Stilmittel.
Ich glaube, darin ist die Erfahrung aufbewahrt, dass uns Lob und Dank gar nicht so
selbstverständlich über die Lippen gehen. Ich bin auf diesen Sachverhalt durch eine
spezielle Form der Psychotherapie neu aufmerksam gemacht worden. Es handelt sich um
die Naikan-Therapie, eine japanische Form der Selbsterforschung. Das Wort „Naikan“
bedeutet soviel wie „konzentrierte Innenschau“ und im Grunde besteht die ganze Therapie
aus nicht viel mehr als einem bestimmten setting: Wer sich auf Naikan einläßt, meditiert
unter der Anleitung eines Lehrers mehrere Tage lang 12 bis 15 Stunden die verschiedenen
Etappen seines Lebens unter folgenden drei Leitfragen:
Was hat meine Mutter gutes für mich getan?
Was habe ich ihr gutes zurückgegeben?
Welche Schwierigkeiten habe ich ihr bereitet?
Dabei bildet die Frage nach der Mutter bzw. der ersten Bezugsperson nur den Anfang; es
folgen andere wichtige Personen aber auch andere Bereiche, wichtig ist nur, dass die
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Abfolge der drei Leitfragen streng eingehalten wird. Also etwa: „Was hat mein Körper mir
gutes getan?“ – „Was habe ich ihm zurückgegeben?“ – „Womit habe ich ihn geärgert?“ Oder
auch: „Was hat Gott mir gutes getan?“ – „Was habe ich ihm an gutem zurückgegeben?“ –
„Welche Schwierigkeiten habe ich ihm bereitet?“ Der Therapeut hat die Aufgabe, sich von
Zeit zu Zeit erzählen zu lassen, welchen Bereich der Meditierende erforscht und was er
erlebt hat. Er kann Rückfragen stellen, auch Hinweise darauf geben, welcher Frage als
nächste nachgegangen werden sollte, mehr nicht. Das ist die ganze Therapie! Und sie ist
ausgesprochen wirkungsvoll!
Als ich mit Naikan – zunächst theoretisch – in Berührung kam, erhob ich natürlich sofort den
Einwand, der sich jedem aufdrängt, der dieser Therapie zum ersten Mal begegnet: „Wo
bleibt denn Frage Nr. 4?“ Also die Frage, die in den meisten anderen Formen von
Psychotherapie einen großen Teil der Aufmerksamkeit auf sich zieht? Im Schema von
Naikan: Wo bleibt die Frage nach dem, was meine Mutter – und dann auch all die Anderen –
mir an Schwierigkeiten bereitet haben. Mit einem Wort: Wo bleibt die Frage nach meinen
Traumata? Nun ist es nicht so, als würden die Vertreter von Naikan leugnen, dass es
Verletzungen gibt, die oftmals ein ganzes Leben negativ prägen können. Dennoch klammern
sie Frage Nr. 4 bewußt aus. Ihr Argument: In der Beschäftigung mit dieser Frage sind die
meisten Menschen ziemlich gut. Das ist auch gar nicht falsch, nur reicht es eben nicht aus,
um psychisch zu gesunden. Denn das andere ist eben auch wahr: Wir machen uns unser
Leben dadurch schwer, dass wir verdrängen und vergessen, wieviel wir anderen verdanken,
wie sehr wir in einem Netzwerk von Fürsorge gehalten sind, wie sehr wir willentlich oder
unwillentlich anderen zur Last fallen, die uns dennoch nicht fallen lassen. Mir selbst wurde,
um nur ein Detail zu nennen, bewusst, dass meine Mutter mir - ganz gleich, wie sie gelaunt
war und ob es ihr nun gut ging oder schlecht – bis zum Abitur 18.000 Mahlzeiten auf den
Tisch gebracht hat. In Worten: achtzehntausend!
Der Ansatz der Naikan-Therapie hat mir geholfen, die Weisheit, die in der Aufforderung zum
Gotteslob liegt, neu zu entdecken. Denn in der Tat: es ist sinnlose Anstrengung, vergeudete
Energie, die Güte Gottes zu vergessen. Was bürde ich mir nicht alles auf, was muß ich nicht
notgedrungen mir und anderen aufbürden, wenn ich absehe von dem, was Gott für mich
getan hat und immer noch tut!? Das Gotteslob ist die Hilfe, um der Güte Gottes neu gewahr
zu werden.
[Gemeinsames Lied]
II.
E.R.: Den Dank spricht ein Einzelner oder eine Einzelne aus, ein „Ich.“ Darüber, wer dieses
„Ich“ ist, ist viel gerätselt worden –ist es ein Kranker, der geheilt wurde, ein aus dem Kerker
Entlassener oder ist es der König Israels? Ich neige am meisten der Interpretation zu, dass
hier das Volk Israel in der Ich-Form redet, und ich möchte daher zunächst bei diesem Volk
bleiben und mir die Lage anschauen, in der es dieses Loblied zuerst gesungen hat. Es ist die
Zeit nach dem Babylonischen Exil. Die Elite der Israeliten, das waren die Beamten des
Hofes, die Handwerker, die Priester und Schriftgelehrten, kurz die Führungsschicht waren
nach 70 Jahren Exil wieder nach Jerusalem zurückgekehrt. Die Heimkehr war nicht einfach,
denn die Zurückgebliebenen hatten das Land besetzt, es gab Streit um den früheren Besitz
der Exilierten – genau wie bei uns nach dem Fall der Mauer in den neuen Bundesländern!
Der Tempel musste wieder aufgebaut werden – ein langer, schwieriger Prozess, der immer
wieder ins Stocken kam. Aber am Ende wurde der Tempel wie früher der Ort der Sammlung
des Volkes Israel. Für die Wiederfindung seiner gebrochenen Identität war er von großer
Bedeutung. Hier wurden Dank und Lob gesungen, hier war der Ort der Erinnerung an die
großen Heilstaten Gottes.
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Dabei bekommt die Erinnerung an die Befreiung aus Ägypten eine neue Aktualität. Im Lichte
dieser Grunderfahrung erlebt das Volk die Rückführung aus Babylon als erneute Befreiung
durch Gott. Gott ist für Israel nicht der „unbewegte Beweger“, sondern der Bundesgott, der
mitgeht, der handelt, der sein Volk wieder und wieder aus der Übermacht seiner Feinde
befreit. So führt die Erinnerung an die befreienden Taten Gottes zu Vertrauen in die Zukunft.
„Ja, ewig währet seine Güte.“
Und wie nötig hatte das Volk dieses Vertrauen auch auf seinem weiteren Weg! Wie oft wurde
es in die Enge getrieben, von der der Psalm spricht. Und wie oft waren gerade Christen die
schlimmsten Feinde und Verfolger des Volkes Gottes. Dazu gehört auch, dass
beispielsweise dieser Psalm 118 durch 20 Jahrhunderte hindurch christlich vereinnahmt und
für die Juden geradezu in sein Gegenteil verkehrt wurde: Jutta Schröten, eine katholische
Theologin, hat die Wirkungsgeschichte des Psalms untersucht. Sie hat gezeigt, wie schon
bei den Kirchenvätern die Kirche als das „wahre Israel“ verstanden wurde, die das Israel des
„Alten Bundes“ abgelöst habe; das Danklied für die Befreiung seien Worte der verfolgten und
leidenden Kirche. Der Eckstein, der hier in dem Psalm das Volk Israel meint, wurde
ausschließlich auf Jesus gedeutet, da das Neue Testament den Vers auf ihn bezieht. Die
unverständigen Bauleute, die ihn verworfen haben dagegen seien die Juden, die
Schriftgelehrten und Pharisäer. Eine solche innere Haltung gegenüber den Juden war der
Boden, auf dem der Antijudaismus und schließlich Antisemitismus der christlichen und
abendländischen Geschichte gedeihen konnte. Da ist es wirklich ein Wunder, dass das
kleine Volk aus all den Katastrophen, die es durchlitten hat, immer wieder gerettet wurde: Ja,
seine Güte währet ewiglich.
P. B.: Ich finde den Israelbezug unverzichtbar. Nicht zuletzt auch deshalb, weil das Gotteslob
hier so etwas wie seine ursprüngliche Konkretion und Kontur erhält: Gedankt wird nicht für
alles und jedes sondern auf jeden Fall: für Befreiung. Dabei halte ich es gerade für eine
Stärke des Psalms, dass seine Sprachbilder, auch wenn sie deutliche Anklänge an das
Exodusgeschehen haben, gewissermaßen „weiträumig“ sind. Dass immer wieder gerätselt
werden konnte, wer hier in welcher Situation redet, mag den Schulexegeten Stress bereiten,
seelsorgerlich ist es ein Segen. Hier kann und darf sich eine marginalisierte oder eine
politisch verfolgte Gruppe ebenso angesprochen fühlen wie eine einzelne Notleidende. Und
so ist es nicht von ungefähr, dass Luther 1530, als für ihn persönlich und für die Reformation
alles auf dem Spiel stand und er auf der Feste Coburg nur eben abwarten konnte, wie sich
die Dinge entwickelten, in den Worten des 118. Psalms – seinen „Schönen Confitemini“ –
Trost gefunden hat. Hier werden betend Bilder gefunden, die auszudrücken vermögen, was
die verängstigte Seele plagt: Enge – nicht vor und nicht zurück können – eine Umgebung,
die zum Feind geworden ist, so dass ich niemandem mehr trauen kann, vielmehr jede und
jeder nur noch als Bedrohung erscheint – der Bienenschwarm: was für ein Alptraum, wenn
mich da etwas nicht greifbares unerbittlich verfolgt und bedroht, und jeder Versuch zu
fliehen, mich zu wehren, zuzuschlagen alles nur schlimmer macht – und alle, die mich nicht
direkt angreifen stehen dabei, sehen zu und warten darauf, dass ich endlich am Ende bin.
E. R.: Ja, diese Bilder sind sehr stark und erinnern mich spontan an Zeugnisse von Frauen
über Gewalterfahrungen und Ängste, die sie verfolgen. Vergewaltigung durch den Vater oder
ein anderes männliches Familienmitglied, Schläge, Demütigungen im häuslichen Bereich,
Aggressionen und Gewalt auf der Strasse, aber auch bittere Erfahrung psychischer Gewalt
in der Kirche, das sind Erfahrungen von Frauen, die diesen Bildern entsprechen. In meiner
Arbeit mit Frauen wenden wir oft die von Frigga Haug entwickelte Erinnerungsarbeit an.
Dabei kommt in der Angsterinnerung sehr häufig ein überstrenger Vater vor, der die Tochter
ängstigte und klein hielt; es kommen Männer vor, die die Schreiberin verfolgen; ein dunkler
Gang, durch den sie durch muss, eine Situation, in der die Frau sich allein gelassen und der
Übermacht des Stärkeren ungeschützt ausgeliefert sieht. „Man stößt mich, dass ich fallen
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soll...“ Die Verse des Psalms drücken genau dies aus. Seine Bilder beschreiben auch die
existentielle Bedrohung, die viele Frauen erleben.
P. B.: Ich möchte nicht versuchen, dem, was Du genannt hast, jetzt spezifische Bedrohungsund Gewalterfahrungen von Männer an die Seite zu stellen. Das könnte zu leicht
mißverstanden werden im Sinne von: „Wir Männer haben auch unser Päckchen zu tragen
und unter dem Strich gleicht sich das ganze dann irgendwie aus.“ Das wäre geradezu infam
- wie vermeintliche Ausgewogenheit übrigens des öfteren infam sein kann. Nein, es bleibt
festzuhalten: Wenn Gewalt gegen Frauen angesprochen ist, dann stehe ich als Mann (auch
wenn ich mir subjektiv nichts habe zuschulden kommen lassen) auf der Seite der Täter. Und
ich kann mich von diesem Platz nicht leichthin davonmachen – erst recht nicht mit Hinweis
auf eigene Gewalterfahrungen. Eine ganz andere Frage ist es, ob nicht das, was Männer für
Frauen so gefährlich macht, bis hin zur direkten Anwendung von Gewalt, mit spezifischen
Männerängsten zu tun hat, die man (Mann!) kennen und verstehen muss; nicht um Gewalt
gegen Frauen zu erklären oder gar zu entschuldigen, sondern um sie radikal, und das heißt:
an der Wurzel zu bekämpfen.
Ich kann die Frage jetzt nur an das Männerforum weitergeben, verbunden mit einem Hinweis
aus unserem Psalm: Mir gibt zu denken, dass die hier verwendeten Bilder fast durchweg
asymmetrisch sind. Ganz gleich ob sie Angst oder Siegesgewißheit ausdrücken: es geht
darum, wer oben ist und wer unten, wer auf wen herabsieht, wer die Oberhand behält und
wer stürzt. Ich glaube es ist die tief verwurzelte Angst, in der Konkurrenz zu unterliegen,
nicht zu genügen, den Kürzeren zu ziehen (und womöglich den Kürzeren zu haben), der uns
Männer so gefährlich macht, gefährlich für einander, gefährlich aber erst recht für die, die wir
für die ausgemacht Schwächeren halten. Was bedeutet dann aber der zweifache Ruf: „Die
Rechte des Herrn behält den Sieg“? Ist er eine theologische Sünde, weil hier sogar Gott in
das männliche Kriegsspiel mit hineingezogen wird, oder ist er – wenn die Männer es nur
begreifen würden! – ein Segen, weil vom Sieg Gottes her das blutige Männerspiel um
Konkurrenz und Überlegenheit prinzipiell in Frage gestellt wird? Immerhin: Jesus hat im Blick
auf die Konkurrenzrangeleien seiner Jünger einmal gesagt: „Wer unter euch groß sein will,
der sei euer Diener“ (Mt 20,26). Und auch unser Psalm mündet in einem neuen Spiel (s.
unten), in dem die Frage nach Gewinner und Verlierer keine Rolle mehr spielt: In dem
Gottesdienst, der seinen Namen verdient, gibt es nur Gewinner.
E. R.: Das geht mir jetzt zu schnell... Gerade angesichts dessen, was ich genannt habe und
auch angesichts der Abgründigkeiten, die Du angesprochen hast, müssen wir doch ernst
nehmen, dass sehr oft Hilfe ausbleibt, dass Menschen aus der Enge nicht heraus geführt
werden, sondern in ihr umkommen! Die Vergewaltigungen sind eine Wirklichkeit, und die
Verletzungen bleiben ein Leben lang; die Afrikaner, Araber oder die Türken, die
zusammengeschlagen oder gar umgebracht werden, erfahren oft keine Hilfe; was ist mit den
Kindern, die der Gewalt zuhause ausgesetzt sind, oder den Alten, den Behinderten, die
verachtet und zynisch behandelt werden. Es geht doch nicht immer gut – da ist so oft kein
Gott, der hilft, und auch kein Mensch!
P. B.: Bitte versteh es nicht als Abwiegeln, wenn ich zunächst noch einmal unterstreiche,
wovon du selbst eben schon gesprochen hast, dass es nämlich Erfahrungen von Befreiung
so, wie es unser Psalm bezeugt, im Leben des Volkes Israel tatsächlich gegeben hat. Sie
wurden und werden in der Erinnerung wach gehalten, gerade um den angefochtenen, den
zweifelnden Glauben zu stärken. In karger Zeit ist solche Erinnerung wie eine Notration. Die
Botschaft lautet: Der Gott, der das getan hat, ist unser Gott. Der Gott, dessen Beistand
damals offensichtlich war, wird auch uns nicht verlassen. Deshalb heißt es an anderer Stelle:
„Vergiss nicht, was er Dir Gutes getan hat“ (Psalm 103,2). Erinnerung schenkt neues
Vertrauen und oft verändert schon das eine Situation.
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Als zweites möchte ich darauf hinweisen, dass die im Psalm sich aussprechende
Frömmigkeit realistisch ist, weil nicht der Eindruck erweckt wird, Gnade und Glück seien ein
und dasselbe. Die Enge, die Bedrängnis, die Gefahr – vor nichts blieb das Volk Gottes
verschont. „Auch für Israel gibt es keinen Weg am Leid vorbei, aber für Israel gibt es einen
Weg durch das Leid hindurch – im Festhalten am Namen JHWH.“ (Erich Zenger).
Dazu kann – ich sage betont: kann – die Erkenntnis gehören, dass Gott bisweilen in Gestalt
einer Krise an mir arbeitet. In Vers 18 heißt es :“Der Herr züchtigt mich schwer.“
Entsprechend betet der Profet Jona im Bauch des Fisches: „Du warfest mich in die Tiefe,
mitten ins Meer, dass die Fluten mich umgaben“ (Jona 2,4) und auch Paulus versteht seine
unheilbare Krankheit als eine Weise, in der Gott an ihm wirkt (vgl. 2.Kor. 12,1–10). Klar ist,
dass eine solche Einsicht dem je eigenen Glauben erwachsen muß. Man darf sie keinem
Dritten zumuten oder gar überstülpen; die Nöte anderer, gerade die, die du angesprochen
hast, muß ich nach Kräften zu beheben suchen, mit fremder Not darf ich mich nie abfinden.
Aber im Blick auf eigenes Leid und als Frucht des Glaubens bleibt die Einsicht wertvoll und
unverzichtbar: Gott kann im Argen, er kann sogar durch Arges seinen guten Willen mit mir
verfolgen.
Dennoch bleibt ein Rest – was sage ich, ein unendliches Meer – von Tränen, die nicht
getrocknet wurden, weil sie über nicht gelindertes, schlechthin unverständlich gebliebenes,
über absurdes Leid vergossen wurden. Eine Predigt von Helmut Gollwitzer hat mich
verstehen gelehrt, warum unser Psalm auch angesichts dieser letzten Frage nicht
verstummen muss. Gollwitzer erinnert an den Beginn des Berichtes von der Gefangennahme
Jesu, wo es heißt: „Nachdem sie den Lobgesang gesungen hatten, gingen sie hinaus auf
den Ölberg“ (Mt 26,30). Das große Hallel, das zum Passahfest gesungen wurde, besteht aus
den Psalmen 113 bis 118. Also mit den Worten unseres Psalms auf den Lippen bricht Jesus
auf zu seinem Weg nach Gethsemane und Golgatha. Dazu nun Gollwitzer: „Jesus sagt damit
auf dem Weg zum Kreuz: Das wird sich herausstellen, darauf geht es zu. Alles, was dir jetzt
angetan wird und was dir den Schrei der Verlassenheit auspressen wird, wird dies nicht
widerlegen, wird nicht verhindern können, dass dies herauskommt: „Deine Güte ist ewig!“
Das nennen die Theologen ein eschatologisches Bekenntnis, d.h. ein Bekenntnis gegen das
Jetzige im Namen einer noch verborgenen Zukunft, der Zukunft der Verheißung, die jetzt und
hier ergriffen wird. Die Nacht wird nicht ewig dauern. Es wird nicht finster bleiben; die Tage,
von denen wir sagen, sie gefallen uns nicht, werden nicht die letzten Tage sein. Wir schauen
durch sie hindurch vorwärts auf ein Licht, zu dem wir jetzt schon gehören und das uns nicht
loslassen wird... So widersprüchlich das zu sein scheint, der Lobgesang und der Todesweg,
so ist das doch das Geheimnis des Evangeliums. Das ganze Evangelium will uns rüsten mit
Lobgesängen für unseren Todesweg... damit aus dem Todesweg ein Lebensweg wird.“
E. R.: Ja, so unglaublich das klingen mag, das ist eine paradoxe und tiefe Erfahrung. „Mitten
wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“, heißt es in einem Lied (EG 518). Aber es gilt
eben auch genau das Umgekehrte: „Mitten im Tode sind wir vom Leben umfangen.“ Ich habe
mich immer sehr berühren lassen von Frauen, die die vorhin benannten schrecklichen
Erfahrungen verwandeln konnten in eine neue lebenspendende Kraft. Das eigene Erlebnis
hat sie sensibel gemacht für das Leid, das andern geschieht, und sie können mit einer
ungleich größeren Authentizität dagegen angehen als wir, denen nie etwas derartiges
passiert ist. Hat hier nicht auch Gott seine Hand im Spiel? Jesus, unser Bruder, der das Leid
selbst bis zum bitteren Ende erlebt hat, war und ist sicher an ihrer Seite.
[Gemeinsames Lied]
III.
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E. R.: Vertrauen öffnet, es führt in „weiten Raum“. Der primäre Ort, an dem dies erfahren,
eingeübt und gelebt wird ist der Gottesdienst. Darum ist dem Dank, den ein Einzelner
vorgetragen hat, eine Liturgie beigefügt. Es handelt sich um eine Torliturgie. Die um Einlaß in
den Tempelbezirk bittende Festgemeinde singt im Wechsel mit der Priesterschaft. Um uns
den Ablauf vorstellen zu können, werden wir diesen Teil des Psalms wieder im Wechsel
lesen, ich lese mit der linken Saalhälfte die Stücke der Gemeinde (V. 18–19. 21–25. 28),
Peter Bukowski mit der rechten die Teile der Priesterschaft (V. 20. 26–27), den letzten Vers
lesen alle gemeinsam.
E. R.: 18. Der Herr züchtigt mich schwer; aber er gibt mich dem Tode nicht preis.
19. Tut mir auf die Tore der Gerechtigkeit, dass ich durch sie einziehe und dem Herrn danke.
P. B.: 20. Das ist das Tor des Herrn; die Gerechten werden dort einziehen.
E. R.: 21. Ich danke dir, dass du mich erhört hast und hast mir geholfen.
22. Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden.
23. Das ist vom Herrn geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen.
24. Dies ist der Tag, den der Herr macht; laßt uns freuen und fröhlich an ihm sein.
25. O Herr, hilf! O Herr, laß wohlgelingen!
P. B.: 26. Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn! Wir segnen euch, die ihr vom
Hause des Herrn seid.
27. Der Herr ist Gott, der uns erleuchtet. Schmückt das Fest mit Maien bis an die Hörner des
Altars!
E. R.: 28. Du bist mein Gott, und ich danke dir; mein Gott, ich will dich preisen.
P. B. und E. R.: 29. Danket dem Herrn; denn er ist freundlich, und seine Güte währet
ewiglich.
P. B.: Wir haben uns gefragt, welche Merkmale für unsere Gottesdienste wir dieser
„Torliturgie“ entnehmen können. Sechs wollen wir nennen:
1. Gottesdienst ist eine gemeinschaftliche Aktion. Die Form der Liturgie als Wechselgesang
ist von grundsätzlicher und programmatischer Bedeutung: Priester (sprich: Ordinierte) und
Festgemeinde (sprich: Laien) bedürfen einander, sind mit ihrem Tun aufeinander bezogen,
loben Gott gleichsam Hand in Hand. Wobei die Gemeinde wiederum in einem vielstimmigen
„Wir“ zusammengeschlossen ist. Da gibt´s keine, die nur agieren, und keine, die nur
konsumieren. Die in Abkündigungen übliche Formulierung: den Gottesdienst am
kommenden Sonntag hält Pfarrer XY wäre für dieses bunte, fröhliche und wechselseitige
Treiben völlig unangemessen! Wenn wir unsere Gottesdienste anschauen: können wir dann
sagen, wir sind ein „Wir“?
E. R.: 2. Das gemeinschaftliche Gotteslob geschieht öffentlich, an der Schwelle zum heiligen
Bereich, also dort, wo möglichst viele etwas mitkriegen von dem, was die Gemeinde feiert.
Und sie sollen es doch mitkriegen, sie sollen angesteckt werden und mitkommen. Die
Gemeinde am Tor, der wir hier zuhören, gestaltet ihren Gottesdienst schön, wohlgeordnet
und feierlich, dabei in verständlicher Sprache. Das scheint mir wichtig. Auch die schönste
aller Liturgien kann erstarren, wenn sie nicht immer wieder erneuert wird. Die Gemeinde
entfaltet ihr Thema: Das Lob Gottes (28 mal wird im Psalm sein Name genannt), aber sie
entfaltet es so, dass Außenstehende von Neugier, vielleicht sogar von Sehnsucht gepackt
werden.
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P. B.: 3. Der Gottesdienst bindet Glaube und Leben zusammen. Ich könnte auch sagen Wort
und Tat, oder Sonntag und Alltag, oder Evangelisation und Diakonie. Jedesmal geht es um
das gleiche: dass das ganze Leben vor Gott gebracht gehört, weil Gott dem ganzen Leben
guttut. Deshalb heißt es an der Schwelle: „Tut mir auf die Tore der Gerechtigkeit...“ Und
„Gerechte werden hier einziehen...“ Martin Buber übersetzt: „Bewährte werden hier
einziehen...“ Die also, die Gottes guten Willen tun. Gerade rabbinische Auslegungen versteht
Gerechtigkeit hier im umfassenden Sinne als soziales, gemeinschaftsförderndes Verhalten.
Den Plural „Tore der Gerechtigkeit“ verstehen sie als Hinweis darauf, dass es viele Weisen
gibt, Gemeinschaftsgerechtes zu tun, und jeder möge die ihm eigenen Möglichkeiten nutzen.
Bezeichnend übrigens, dass denen ein Ort im Heiligtum zugestanden wird, die sich sozial
bewähren, als wäre dies wichtiger, als der feste Glauben oder gar das richtige Bekenntnis.
Wer hier Werkgerechtigkeit wittert, lasse sich von Jesus daran erinnern, dass auch dereinst
gefragt wird, wer sich gerecht, man könnte auch sagen: solidarisch verhalten hat (vgl. Mt 25).
Auch wenn wir wissen, dass wir an Gottes Geboten immer auch scheitern: Das Gotteslob
und das Gott wohlgefällige Tun dürfen nicht auseinandergerissen werden. Dies ist zur
Orientierung gesagt, nicht um zu ängstigen. Wem der Mut sinken will, ob er unter diesen
Umständen überhaupt durch das Tor hindurch kommt, der sei an ein schönes Bild aus
Gollwitzers Auslegung erinnert: Christus schmuggelt uns Sünder unter dem Mantel seiner
Gerechtigkeit mit hinein.
E.R.: 4. Gottesdienst geschieht ganzheitlich. Im Vers 27 heißt es "Schmückt das Fest mit
Maien bis an die Hörner des Altars": Man sieht die Zweige in ihrem Grün, der Duft der Blüten
erfüllt den Raum, das Jauchzen und Singen ertönt. Wir sehen, hören, riechen; unsere Sinne
sind angesprochen. Und eigentlich kann man sich ein mit Maien geschmücktes Fest doch
nicht ohne Tanz vorstellen! Miriam hatte bei ihrem Lobgesang schon getanzt und die Pauke
dazu geschlagen. Als die Bundeslade mit den Gesetzestafeln nach Jerusalem gebracht
wurde, war David um sie herumgetanzt. Gotteslob ergreift nicht nur den Geist, sondern den
ganzen Körper. Das war damals beim Tempelgottedienst so und ist auch heute noch so:
Heute, wo die Erinnerung an die Befreiung aus Ägypten am Sederabend vor dem
Pessachfest in den jüdischen Familien gefeiert wird, kommen die Kräuter und Speisen auf
den Tisch, die diese Erinnerung sinnlich spürbar machen. Kennen Sie die Erfahrung, dass
ein Duft, ein Geruch plötzlich ein ganzes Panorama von Erinnerungen hervorruft? Genau
das soll bei jedem Sedermahl passieren: Die bitteren Kräuter erinnern daran, dass der
Aufbruch und der lange Gang durch die Wüste bitter war und Opfer verlangte; die
ungesäuerten Brote erinnern daran, dass man schnell aufbrechen musste – das Brot durfte
nicht mit Hefe durchsetzt sein, da das Aufgehen des Teigs zu viel Zeit gebraucht hätte; ein
Lammknochen erinnert an das Lamm, das am Vorabend des Aufbruchs geschlachtet und
verzehrt wurde und mit dessen Blut die Türrahmen bestrichen worden waren, um die
israelitischen Häuser zu kennzeichnen und sie vor Gottes Strafgericht an den Ägyptern zu
schützen. Die Erinnerung ist nicht nur in den Gebeten gegenwärtig, sondern sie ist zugleich
sinnlich. Und da Gottesdienste im Kern immer Erinnerung der großen Taten Gottes sind,
sind sie, um die Erinnerung in ihrer ganzen Kraft wirken zu lassen und Energien
freizusetzen, ganzheitlich. Wir Christen haben diese Tradition in unsern Liedern, aber
natürlich auch im Zentrum des Gottesdienstes, im Abendmahl übernommen. Wir können sie,
meine ich, noch sehr viel weiter entwickeln, was ja auch schon an vielen Orten geschieht. Ich
denke z.B. an Frauengottesdienste mit ihren symbolträchtigen Liturgien, an
Jugendgottesdienste, an Familiengottesdienste. Aber mehr und mehr geschieht es ja auch in
Sonntagmorgengottesdiensten. Für manche mag das noch befremdlich sein – ich glaube, es
ist ein Gewinn. Da bekommt ein anderer Psalmvers eine sehr konkrete Füllung: „Schmecket
und sehet, wie freundlich der Herr ist“ (Ps 34,9a).
P. B.: 5. Gottesdienst ist nachhaltig. Was ich damit meine, möchte ich in einer
Nachbemerkung zu V. 27 verdeutlichen. Seine Übersetzung ist schwierig und umstritten. Bei
meiner Vorbereitung erlebte ich nun folgendes: Ich brütete über die verschiedenen
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Übersetzungsmöglichkeiten, auf einer langen Zugfahrt. Bei einem Gang durch den
Waggonflur wurde ich gewahr, dass einige Abteile weiter jemand in der hebräischen Bibel
las, nach der Kleidung zu urteilen ein orthodoxer Jude. Ich faßte mir ein Herz und fragte ihn,
ob er mir einiges zu Psalm 118 erklären könne. Er war nicht unbedingt begeistert, erklärte
sich aber bereit und als ich ihn auf den Hebräischen Text ansprach, taute er sichtlich auf.
Später stellte sich heraus, dass es sich um Herrn Schlesinger, den Rabbiner der Jüdischen
Gemeinde von Straßburg, handelte. Auf V. 27 angesprochen verwies er mich auf die
talmudische Auslegung im Traktat Sukka; sie lautet: „Bindet euch mit Seilen an das Fest“ –
das heißt: Laßt das Fest am Tag danach in Euch nachklingen, nehmt das, was ihr an
Stärkung und Orientierung beim Fest erfahren habt, mit hinüber in den Alltag. Das bringt
euch bis zu den Hörnern des Altars, d.h.: das erhebt euch zum Heiligtum. Die gleichsam
deftigere Variante von R. Jirmeja sagt: „Wer an das Fest [den folgenden Tag] durch Essen
und Trinken bindet, dem rechnet es die Schrift an, als hätte er einen Altar gebaut. Deshalb
bindet das Fest mit [wörtl. Fettem] bis an die Hörner des Altars.“ Wie auch immer – den
Gottesdienst nachklingen lassen, das, was wir jetzt erfahren und erleben mitnehmen in die
Zeit danach, das ist auf jeden Fall ein wichtiger Gedanke. Und mir ist die Begegnung mit
dem Juden, der dem Christen die Schrift aufschließt, ein wunderbares Gleichnis für unsere
bleibende Angewiesenheit auf unsere älteren Geschwister im Glauben geworden.
E. R.: 6. Der Gottesdienst weist über sich hinaus in Gottes Zukunft. Ich möchte am Ende auf
die zeitliche Bewegung aufmerksam machen, in die die Liturgie uns mitnimmt. Das rettende
Handeln Gottes wurde erinnert. – „Solches tut zu meinem Gedächtnis“, heißt es auch bei
uns. Im Erinnern wird Vergangenes gegenwärtig. Damit ist das gegenwärtige Handeln
Gottes im Blick. Darum lautet der mittlere Vers 14: „Der Herr ist meine Macht und mein
Psalm und ist mein Heil.“ Mit dem Ruf: "Oh Herr hilf, oh Herr, lass wohlgelingen" (V. 25)
kommt dann drittens die Zukunft, die Hoffnung auf Gottes heilbringendes Kommen zu den
Menschen zum Ausdruck. Für die Juden ist dies die Hoffnung auf die Ankunft des Messias.
Für uns Christen ist es die Gewissheit, dass in Christus das Reich Gottes schon begonnen
hat, aber auf seine Vollendung wartet. Wir glauben, dass die Verwandlung, die in dieser
Hoffnung begründet liegt, sich ständig vollzieht, so wie es Jesus in seinen Gleichnissen
ausgedrückt hat: Das Reich Gottes ist wie ein Sauerteig, den eine Frau mit einem halben
Zentner Mehl vermengte, bis alles durchsäuert war und er aufgegangen war auf das
Mehrfache, oder das Reich Gottes ist wie ein Senfkorn, das ein Mann in die Erde legt und
aus dem ein großer Baum wird, in dem die Vögel nisten. Die Hoffnung auf die heilbringende
Zukunft verbindet Juden und Christen.
P.B.: Deshalb haben die ersten christlichen Gemeinden ihre Geschichte schon in diesem
Psalm mit verhandelt gesehen. Sie verstanden Christus als den von den Menschen
verworfenen, aber von Gott ins Recht gesetzten Eckstein. Als er in Jerusalem einzieht, wird
er begrüßt mit dem Vers aus unserm Psalm: „Gelobt sei, der da kommt im Namen des
Herrn“ (Mk. 14,9), und bis heute besingen wir ihn mit diesen Worten in der Liturgie des
heiligen Abendmahls. Der in den Befreiungstaten Gottes gründende hoffnungsvolle Ausblick
überhebt uns nicht über Israel, sondern rückt uns an seine Seite. Nur mit Israel finden wir
weiten Raum und offene Zukunft. Und deshalb stimmen wir in sein Gebet:
P. B. und E. R.: Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich.
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