Wiesmann - Evangelische Akademie Tutzing

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Helmut Wiesmann
Heilsbronn 21. Mai 04
Christen und Muslime in Deutschland – Informationen und Klärungen
I.
Was heißt Islam, was ist Islam?
Mir ist heute die Aufgabe gestellt, auf Fragen im Zusammenhang mit der wachsenden Präsenz
von Muslimen in Deutschland einzugehen. Solches ist mir als Christ nur möglich, wenn ich
Rechenschaft über mein Verständnis vom Islam und auch Auskunft über die theologische
Sicht meiner Kirche gebe. Wer den Begriff Islam näher bestimmen will, der muss jeweils
sagen, aus welchem Blickwinkel er dies unternimmt.
1.
Der Begriff Islam nach dem Selbstverständnis der Muslime
Die Worte Islam und Muslim gehen auf die gleiche arabische Wortwurzel s-l-m zurück. Islam
wird sowohl mit „Hinwendung“ als auch mit „Unterwerfung“ übersetzt, wobei beide Begriffe
die für den gläubigen Muslim entscheidende, enge persönliche Beziehung des Menschen zu
dem einen Gott, dem Schöpfer der Welt, umschreiben. Islam bedeutet also sowohl Hinwendung zu Gott als auch Unterwerfung unter Gottes Willen. Muslim ist demzufolge derjenige,
der Islam praktiziert, indem er sich ganz Gott zuwendet und seinen Willen tut, den Gott dem
Menschen immer wieder kundgetan hat. Der erste Mensch, der die Einzigkeit Gottes erkannt
und seinen Willen gewissenhaft erfüllt hat, ist muslimischem Verständnis zufolge Abraham.
Die Wurzel s-l-m ist auch in dem arabischen Wort für Heil, Frieden enthalten: salam. In den
Selbstaussagen muslimischer Vereine in Deutschland wird der soeben gegebenen Erläuterung
daher häufig hinzugefügt, dass der Mensch, indem er Gottes Willen tut, also Muslim ist, Frieden finde, und dass daher Islam Frieden bedeute und als Religion des Friedens verstanden
werden müsse.
2.
Islam aus geschichts- und gesellschaftswissenschaftlicher Sicht
Mohammed war auch im politischen Sinne Oberhaupt der Gemeinschaft der Gläubigen und
schuf ein erstaunlich erfolgreiches Staatswesen, das in wenig mehr als Hundert Jahren fast die
halbe damals bekannte und bereits in weiten Teilen christianisierte Welt eroberte. Dieses
Staatswesen wies eine soziale und gesellschaftliche Ordnung auf, welcher islamische Juristen
und Theologen den Anspruch zuschrieben und zuschreiben, Gottes Willen bestmöglich verwirklicht zu haben. Mehr noch als das Christentum bis zum Ausgang des Mittelalters, als es in
einem theonom bestimmten Ordo lebte, stellt der Islam in seiner Geschichte nicht nur eine
Religion, sondern auch eine sich auf Gott berufende politische und soziale Ordnung dar, deren
Grundlage der Koran, die vorbildliche Lebenspraxis des Propheten (sunna) und das aus beiden Quellen geschaffene islamische Recht (scharia) sind.
Die meisten islamisch geprägten Länder haben heute säkular begründete Staatsordnungen. Es
finden sich in diesen jedoch so viele Bezugnahmen auf Koran und das islamische Recht, dass
2
ihr säkularer Charakter ständig in Frage steht. Bis heute gibt es in der islamischen Welt keine
Trennung von Staat und Religion, die derjenigen in der christlich geprägten Welt vergleichbar
wäre.
3.
Islam und Islamismus
Nachdem zum einen Atatürk das osmanische Kalifat und das Amt des şeyh ül-islam abgeschafft und die Scharia verboten hatte, und als zum andern im Zuge der Überführung von Kolonialgebieten in unabhängige Staaten auch diese sich säkulare Ordnungen gaben, da transformierten sich islamische theologische Reformbewegungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, ausgehend vor allem von Ägypten, in politisch wirksame Kräfte. Schockiert über den
Verlust politischer Macht infolge der Etablierung nichtislamischer Regierungsformen setzten
sie sich zum Ziel, die wahre islamische Ordnung, den islamischen Staat zu errichten, damit
die gerechte Ordnung, die dieser angeblich verbürgt, wieder hergestellt und der Wille Gottes
wieder umfassend erfüllt werden könne. Die 1928 von Hassan el Banna gegründeten Muslimbrüder richteten sich damit zunächst gegen die Regierungen in ihren Heimatstaaten. Mit
Sayyid Qutb und vielen seiner Schüler zielen bis heute Anhänger dieser Auffassung längerfristig aber auf die Etablierung der islamischen Ordnung in der gesamten Welt. Gekennzeichnet ist diese Ordnung ihren Verfechtern zufolge, die meist Islamisten genannt werden,
dadurch, dass sie sich ausschließlich aus dem Koran und dem gleichfalls als göttlich verstandenen islamischen Recht begründet und legitimiert.
Während der Islam eine religiöse Lehre darstellt, bedeutet Islamismus den Versuch, auf der
Grundlage dieser Lehre ein bestimmtes politisches und gesellschaftliches System zu verwirklichen, dessen normatives Vorbild seine Anhänger im Islam der Frühzeit zu finden glauben.
Als für den heutigen, weltweiten und auch in Deutschland präsenten Islamismus von Bedeutung sind neben den Muslimbrüdern Anhänger des türkischen Islamistenführers Necmettin
Erbakan zu nennen. Das für den türkischen Wahlkampf des Jahres 1991 von Erbakan entworfene Parteiprogramm, das in Übersetzung auch in Deutschland vorliegt, trägt den Namen adil
düzen, d.h. „Die gerechte Ordnung“. Diesem Programm zufolge steht die weltweit anzustrebende, „gerechte“ Ordnung in einem absoluten Gegensatz zur „westlichen“, die mit dem türkischen Wort batil als wesensmäßig schlecht gekennzeichnet ist.
Anders als die aus den USA stammende Bezeichnung Fundamentalismus, die sich ursprünglich auf eine bestimmte protestantische Gruppierung bezog, handelt es sich bei der Bezeichnung „Islamisten“ (von: islamiyun) ursprünglich um eine Selbstbezeichnung. Ein Muslim, der
den Islamismus ablehnt, ist nichtsdestoweniger Muslim, auch wenn manche Islamisten dies
möglicherweise anders sehen. Unangemessen wäre es umgekehrt aber auch, wollte man, was
in heutigen Diskussionen vor allem unter Nichtmuslimen vorkommt, manchen Islamisten ob
ihrer Ziele ihr Muslimsein absprechen.
II.
Islam aus christlicher Sicht – Elemente einer katholischen Theologie
der Religionen
3
Die katholische Kirche hat ihr Verhältnis zum Islam im Verlauf der Geschichte durchaus unterschiedlich definiert. Angesichts der einander ausschließenden Wahrheitsansprüche sowohl
des Christentums als auch des Islam und angesichts einer langen gemeinsamen Konfliktgeschichte kann dies keineswegs überraschen. Empirisch gesehen mögen die historischen Rivalitäten vielleicht weiterhin fortdauern; für die katholische Kirche gilt auf normativer Ebene
hingegen heute in dreifacher Hinsicht eine geradezu revolutionäre Neubestimmung ihres Verhältnisses zum Islam: diese gleichfalls monotheistische Religion verdient Wertschätzung,
ihren aufrichtigen Anhängern steht grundsätzlich der Weg zum Heil offen, und der moderne
Rechtsstaat hat nach Auffassung der Kirche Muslimen ebenso wie Christen und Andersgläubigen Religionsfreiheit zu gewähren.
1. Eines der frühesten Zeugnisse christlicher Sicht auf die konkurrierende, dynamisch wachsende Weltreligion Islam ist uns von dem Mönch und Kirchenlehrer Johannes von Damaskus
(geboren nach 650, gestorben ca. 750) überliefert. Der Nachwelt bekannt ist Johannes von
Damaskus durch sein Werk Quelle der Erkenntnis, welches auch das Buch der Häresien enthält. Dieses Buch, das man im Zusammenhang mit den christologischen Auseinandersetzungen im spätantiken Christentum lesen muss, beschreibt den Islam als eine christliche Irrlehre,
nämlich als1
„Glauben der Ismaeliten, der das Volk in die Irre leitet und als Vorläufer des Antichrist anzusehen ist... Sie (die Ismaeliten) waren bis zur Zeit des Herakleios Götzendiener. Dann aber
trat unter ihnen ein falscher Prophet auf, Mamed genannt, der eine eigene Irrlehre ins Leben
rief, nachdem er flüchtig Kenntnis vom Alten und Neuen Testament gewonnen hat und zugleich offenbar mit einem arianischen Mönch zusammengetroffen war. Später ließ er durch
Täuschungen das Volk glauben, er sei ein gottesfürchtiger Mann, und streute Gerüchte aus,
dass ihm eine Schrift vom Himmel herabgesandt sei. Nachdem er einige Lehren in diesem
Buch aufgestellt hatte, über die man nur lachen kann, lehrte er sie auf diese Weise Gott zu
verehren“.
Diese wenigen Sätze enthalten die wesentlichen, für viele Jahrhunderte gültigen christlichen
„Verarbeitungsmuster“, d.h. Deutungen, mit deren Hilfe die Christen sich mit der für sie bestürzenden Realität einer nachchristlichen, konkurrierenden und in weiten Teilen der ehemals
christlichen Welt außerordentlich erfolgreichen Religion auseinander setzten, einer Religion,
die wie das Christentum selbst den Anspruch erhebt, auf der letztgültigen Offenbarung des
einen Schöpfergottes zu beruhen.2
2. Vorbereitet durch katholische Theologen wie Johann Adam Müller (1796-1838) und katholische Islamwissenschaftler wie Louis Massignon (1883-1962) vollzog die katholische Kirche
mit dem II. Vatikanum eine bedeutende Wende in ihrem Verhältnis zum Islam. In der Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen (Nostra aetate) vom
28. Oktober 1965 heißt es:
1
2
Zitiert nach Bobzin, Hartmut: Mohammed, München: Beck, 2000, S. 10.
Vgl. Zirker, Hans: Islam. Theologische und gesellschaftliche Herausforderungen, Düsseldorf 1993, SS.38-47.
4
„Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslim, die den alleinigen Gott anbeten,
den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat. Sie mühen sich, auch seinen verborgenen Ratschlüssen sich mit ganzer Seele zu unterwerfen sowie Abraham sich Gott unterworfen hat, auf den der islamische Glaube sich gerne beruft. Jesus, den sie allerdings nicht
als Gott anerkennen, verehren Sie doch als Propheten, und sie ehren seine jungfräuliche Mutter Maria, die sie bisweilen auch in Frömmigkeit anrufen. Überdies erwarten sie den Tag des
Gerichts, an dem Gott alle Menschen auferweckt und ihnen vergibt. Deshalb legen sie wert
auf sittliche Lebenshaltung und verehren Gott besonders durch Gebet, Almosen und Fasten“.
Gewürdigt und wertgeschätzt werden in diesen Worten wesentliche, dem Christentum verwandte Glaubensinhalte und die Haltung tiefer Frömmigkeit der Muslime. Ebenso wichtig
wie diese Konzilsaussagen ist eine weitere, die wir in der Dogmatischen Konstitution über die
Kirche (Lumen gentium) finden. In Nr. 16 dieser Konstitution heißt es:
„Der Heilswille umfasst aber auch die, welche den Schöpfer anerkennen, unter ihnen besonders die Muslim, die sich zum Glauben Abrahams bekennen und mit uns den einen Gott anbeten, den barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten wird (...). Wer nämlich das
Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluss der Gnade in
der Tat zu erfüllen trachtet, kann das ewige Heil erlangen“.
Mit diesen grundsätzlichen Aussagen weist die Kirche den Muslimen einen Platz im Heilsplan Gottes zu. Die Erkenntnis, dass Muslimen der Weg zum Heil offen steht, hat sich das
Verhältnis der Kirche zu den Muslimen und zum Islam grundlegend gewandelt. Dieses wird
nicht mehr von der Ablehnung einer Irrlehre und vom Druck, möglichst viele Muslime um
deren Seelenheil willen taufen zu müssen, bestimmt. Vielmehr ist der Christ frei für die ehrliche Suche nach Wegen des Zusammenlebens. Dies hat nicht zuletzt auch den Begriff der Mission nachhaltig verändert: sein wesentlicher Bedeutungsinhalt wandelte sich vom Auftrag zur
Bekehrung hin zum Auftrag, Zeugnis des Glaubens zu geben. Indem sich mit dem II. Vatikanum die Auffassung durchsetzte, dass Muslime denselben Gott verehren wie wir Christen,
muss der Auftrag zum Zeugnis des Glaubens auch die Bereitschaft zum Dialog über den
Glauben umfassen. Derselbe Gott ist – wohlgemerkt – nicht der gleiche. Das Bild, das Muslime von dem einen Schöpfergott haben, weist nicht nur Gleiches, sondern auch sehr viel Unterscheidendes zum christlichen Gottesverständnis auf. Die Bereitschaft zum Dialog umfasst
auch das Gespräch über solche Unterschiede. Das Ziel dabei kann nicht sein, sie einzuebnen,
sondern es muss darin liegen, sie besser kennen zu lernen um die Fähigkeit zu entwickeln, sie
in gegenseitigem Respekt auszuhalten.
3.
Das Bekenntnis zur Religionsfreiheit als Menschenrecht
Das nach Auffassung führender Theologen der katholischen Kirche wichtigste aller Dokumente des II. Konzils ist die Erklärung über die Religionsfreiheit vom 7. Dezember 1965. In
diesem Dokument bekennt sich die katholische Weltkirche nach intensiver Diskussion zu der
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Auffassung, „dass die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat“. Noch wichtiger als dieses Bekenntnis selbst ist, wie es begründet wird und welche Konsequenzen sich
daraus für die staatliche Rechtsordnung ergeben:
„Ferner erklärt das Konzil, das Recht auf religiöse Freiheit sei in Wahrheit auf die Würde der
menschlichen Person selbst gegründet, so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und
durch die Vernunft selbst erkannt wird. Dieses Recht der menschlichen Person auf religiöse
Freiheit muss in der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft so anerkannt werden, dass es zum
bürgerlichen Recht wird.“
Mit diesen Aussagen erteilt die katholische Kirche älteren, zuvor von vielen ihrer eigenen
Führer vertretenen Auffassungen eine endgültige Absage, denen zufolge Religionsfreiheit
dem Anspruch auf Wahrheit unterzuordnen, also nur für die Christen zu fordern und vom
Staat nur für Christen zu verwirklichen wäre. Sie stellt sich, indem sie die Religionsfreiheit
menschenrechtlich grundgelegt hat, auf den Boden der modernen Verfassungsentwicklungen,
welche den demokratischen Rechtsstaat hervorgebracht haben, dessen vornehmste Aufgabe in
der Gewährleistung der Menschenrechte einschließlich der Religionsfreiheit liegt. Indem sie
diese menschenrechtliche Grundlegung letztlich in der Würde des Menschen und damit in der
Schöpfung selbst verankert, liefert sie im Hinblick auf den Islam nach den Elementen der
Wertschätzung und der Zubilligung des Heils ein drittes Element, aus dem sich zusammen mit
den beiden anderen die Grundlagen einer katholischen Theologie der Religionen als theologische Grundlage für ein friedliches, von Respekt füreinander und gegenseitiges Vertrauen geprägtes Zusammenleben entwickeln lassen: den Auftrag, nicht nur für die eigene sondern auch
für die religiöse Freiheit der anderen einzutreten.
IV.
Veränderung der religiösen Landkarte in Deutschland
Nicht zuletzt infolge der Tragödie des zweiten Weltkrieges, an dessen Ende 12 Millionen
Kriegsflüchtlinge und Opfer von Vertreibungen in den Westen Deutschlands strömten, haben
sich in unserem Lande die bis dahin stabilen konfessionellen Milieus aufgelöst. Katholiken
und Protestanten haben gelernt, über die konfessionellen Trennungslinien hinweg in gegenseitigem Respekt miteinander zu leben. Die Rahmenbedingungen dafür waren im Grunde schon
lange gegeben und sehr geeignet, seit der Staat als langfristige Folge der Konfessionskriege
des 17. Jahrhunderts darauf verzichtet hat, religiöse Wahrheitsansprüche mit politischen oder
militärischen Mitteln durchzusetzen. Heute sind von rund 82 Mio. Einwohnern in Deutschland ca. 28 Mio. zur katholischen, ca. 26 Mio. zu den protestantischen und ca. 1 Mio. zu den
verschiedenen orthodoxen Kirchen zu zählen.
Von den 60er Jahren an führte die Wirtschaftmigration, zu der auch beträchtliche Zahlen von
Asylsuchenden hinzukamen, durch Anwerbeverträge insbesondere mit der Türkei, ferner aber
auch mit Marokko und anderen islamisch geprägten Staaten, zu einer dynamisch wachsenden
islamischen Präsenz. Mit Abstand größte nichtchristliche Religion in Deutschland ist der Islam mit insgesamt ca. 3,2 Mio. Gläubigen. Außerdem sind noch Buddhisten, Juden und viele
andere zu nennen. Nicht allen Angehörigen der zahlreichen Religionsgemeinschaften in
6
Deutschland fällt es leicht, ihr Zusammenleben über die Religionsgrenzen hinweg mit Respekt und Vertrauen zu gestalten. Nicht erst der 11. September und der 11. März haben die
Augen dafür geöffnet, dass es insbesondere Christen und Muslime sind, deren Gegeneinander,
Nebeneinander oder Miteinander über die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft mitentscheiden
wird.
Die katholische Kirche, ähnlich wie dies auch in anderen europäischen Ländern der Fall ist,
sieht sich vor neuartige Herausforderungen gestellt. Bereits vor fast sechs Jahren hat die
Deutsche Bischofskonferenz eine Unterkommission für den Interreligiösen Dialog gegründet.
Ihre Herbstvollversammlung führte im September 2001 einen Studientag zum Islam in
Deutschland durch. Er fand ein großes öffentliches Interesse, nicht zuletzt, weil er – nach
sorgfältiger und langfristiger Planung – wenige Tage nach dem 11. September stattfand.
Dieses Datum wirkt sich bis heute weltweit und auch in Deutschland auf das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen aus. Nicht alle dieser Auswirkungen indessen sind negativ.
Festzustellen ist im Gegenteil ein deutlich gewachsenes Interesse am Islam und an allen Fragen, die mit dem dauerhaften Aufenthalt von Muslimen in Deutschland verbunden sind. So
fand z.B. die Publikation der Deutschen Bischofskonferenz „Christen und Muslime in
Deutschland“ vom 23. September 2003 weit über den eigentlichen Kreis der Adressaten hinaus – z.B. Erzieherinnen, Krankenhausseelsorger, Religionslehrer, Pfarrgemeinden – einen so
großen Absatz, dass die erste Auflage von immerhin 30.000 Exemplaren nahezu vergriffen
ist.3 In dieser Publikation gibt die Deutsche Bischofskonferenz eine kompakte Darstellung der
islamischen Präsenz in Deutschland, einen vergleichenden Überblick über die wesentlichen
Glaubensinhalte von Christentum und Islam und nimmt zudem auch Stellung zu einer Fülle
von pastoralen, religionspolitischen und gesellschaftlich relevanten Fragen im Zusammenhang mit der Anwesenheit von über 3 Millionen muslimischer Gläubiger.
V.
Muslimische Organisationen in Deutschland
Zu den Veränderungen der muslimischen Präsenz seit 1973, dem Jahr des Anwerbestopps für
ausländische Arbeitnehmer in den Ländern der damaligen Europäischen Gemeinschaft, gehört, dass nach und nach Moscheevereine an die Stelle der zahlreichen Arbeitervereinen getreten sind. In ihnen verknüpfen sich die unterschiedlichen nationalen und politischen Bindungen der Muslime mit ihren religiösen Anliegen. Indem die Moscheevereine sich anhand
nationaler, politischer und religiöser Trennungslinien zu überregionalen Verbänden zusammenschließen, reproduzieren sie die religiösen, politischen und kulturellen Differenzen, Spannungen und Konflikte der Heimatländer. Die vielschichtigen Konflikte z. B. im Nahen Osten
oder in der Türkei wirken sich nicht nur auf den Islam in Deutschland aus, sondern sie werden
auch auf deutschem Boden ausgetragen. Auch wenn sie politische Ursachen haben, werden
sie mit dem Islam in Verbindung gebracht; denn nicht zuletzt bedienen sich die jeweiligen
Parteien einer religiösen Sprache und instrumentalisieren religiöse Differenzen und Gegensätze.
3
Deutsche Bischofskonferenz: Christen und Muslime in Deutschland, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2003.
7
Im Hinblick auf ein friedliches Zusammenleben in unserem Lande zählt es daher zu den wichtigsten Aufgaben, sich mit entsprechenden Ängsten ernsthaft auseinander zu setzen. Unbegründeten Ängsten ist wo immer möglich durch Information und Aufklärung entgegenzuwirken. Christen, die sich dieser Aufgabe verantwortungsvoll annehmen wollen, stehen
zunächst vor der Frage, „ob sie sich über die einzelnen organisierten Gruppen“, die islamisches Leben in Deutschland gestalten, „ausreichend informieren“4. Nachfolgender, chronologischer Überblick kann in dieser Hinsicht nur eine bescheidene, erste Hilfe sein.
Der arabisch geprägte Islam in Deutschland ist größtenteils sunnitisch. Sämtliche vier sunnitischen Rechtsschulen sind vertreten. Seine bis heute führenden Institutionen gehen auf Initiativen arabischer Akademiker zurück. 1960 war zunächst unter Beteiligung der Geistlichen
Verwaltung der Muslimflüchtlinge in München die Moscheebau-Kommission gegründet worden. Aus ihr ging 1967 das Islamische Zentrum München (IZM) hervor. Es entstanden weitere arabisch geprägte Islamische Zentren in Frankfurt, Nürnberg, Marburg und Stuttgart, die
als Zweigstellen zur Islamischen Gemeinschaft in Deutschland gehören. 1964 wurde in
Aachen die Bilal-Moschee gebaut. Sie erhielt 1978 einen Trägerverein mit dem Namen Islamisches Zentrum Aachen – Bilal-Moschee (IZA). Er arbeitet mit der IGD in einem Dachverband zusammen, dem beide Vereine angehören, dem Zentralrat der Muslime in Deutschland. Für die IGD wie für das IZA gilt, dass sie in religiöser und politischer Hinsicht den verschiedenen Nachfolgeorganisationen der Muslimbruderschaft nahe stehen, die in Deutschland
nach Angaben der Bundesregierung auf ca. 1.200 Mitglieder kommen. Nachfolgeorganisationen der Muslimbrüder existieren heute in Ägypten wie in anderen arabischen Staaten in einer Art Schwebezustand zwischen Legalität und Repression. Für die meisten von
ihnen gilt, dass sie der Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele abgeschworen haben.
Den größten Anteil an der Anhängerschaft des schiitischen Islam in Deutschland stellen Muslime aus Iran. Die wichtigste Institution des schiitischen Islam in Deutschland, das Islamische Zentrum Hamburg (IZH), ist 1966 aus der Islamisch-Iranischen Gemeinde entstanden.
Es fungiert bis heute als Träger der Hamburger Imam-Ali-Moschee. Deren Imam, der zugleich Vorsitzender des IZH ist, ist eng mit Iran verbunden. Zum IZH gehören einige Zweigstellen, z. B. in Hannover. Ferner unterhält es enge Kontakte mit der schiitischen Moschee in
Münster. Ihm zugerechnet wird auch der „Islamische Weg e.V.“ in Delmenhorst, der Bildungsseminare anbietet.
Im Zuge der Arbeitsmigration haben sich die Organisationsstrukturen des türkischen Islam nach und nach in Deutschland etabliert. Im Jahre 1973 gründeten Anhänger des türkischen Rechtsgelehrten und Sufipredigers Süleyman Hilmi Tunahan zur Ausrichtung von Korankursen das Islamische Kulturzentrum Köln. Ihm folgten weitere Gründungen, so dass es
1980 in Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) umbenannt wurde. Der VIKZ
stellt de facto den europäischen Auslandszweig der türkischen Föderation der Vereine zur
Förderung der Schüler und Studenten dar. Deren Träger ist die nach ihrem Gründer benannte
Süleymancı-Bruderschaft. Sie unterhält weltweit ein Netz von mehreren tausend religiösen
4
Vgl. Spuler-Stegemann, Ursula: Muslime in Deutschland. Nebeneinander oder Miteinander, Freiburg 1998,
hier S. 313. Zu den islamischen Organisationen in Deutschland siehe ausführlich auch Lemmen, Thomas: Muslime in Deutschland. Eine Herausforderung für Kirche und Gesellschaft, Baden-Baden, 2001, SS. 52-128.
8
Bildungseinrichtungen. In Deutschland betreibt der VIKZ religiöse Schulungszentren und
Internate. Der VIKZ gilt als drittgrößte islamische Organisation in Deutschland. Im Bemühen,
den Islam in Deutschland heimisch zu machen, hat der Verband – als bisher einziger – ein
Gebetslehrbuch in deutscher Sprache herausgegeben.5
Bei der in Köln ansässigen Islamischen Gemeinschaft Jama’at un-Nur handelt es sich um
die Deutschland-Sektion der nach Said Nursi (ca. 1874 bis 1960) benannten türkischen Nurculuk-Bruderschaft. Sie stellt eine vom Sufi-Ideal beeinflusste Erneuerungsbewegung dar und
zeichnet sich durch das Bemühen aus, den als Schock erlebten Einbruch der Moderne geistig
zu verarbeiten. So sucht sie die Naturwissenschaften als bereits im Koran grundgelegt in das
religiöse Weltbild des Islam zu integrieren. Das wichtigste Werk von Said Nursi, das Risale-i
Nur („Abhandlung vom Licht“), beinhaltet die bis heute für alle Nurcus verbindliche Lehre.
Aus der Nurculuk gingen mehrere Neugründungen hervor. Die bekannteste ist die von Fethullah Gülen, der in Deutschland gleichfalls über Anhänger verfügt. Die nach Gülen benannten
Fethullahçi unterhalten zahlreiche, oft sehr moderne und gut ausgestattete Bildungseinrichtungen dort, wo turksprachige Muslime leben.
1976 wurde in Köln die Türkische Union Europa gegründet, die nach mehrfacher Neuorganisation und Umbenennung heute Islamische Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG) heißt. Unmittelbare Vorgängerin der IGMG ist die 1985 gleichfalls in Köln gegründete Avrupa Milli
Görüş Teşkilatlari (AMGT), aus der 1994/95 neben der IGMG auch die Europäische Moscheebau- und Unterstützungsgemeinschaft (EMUG) gebildet wurde, deren Aufgabe in der
Verwaltung des umfangreichen Immobilienbesitzes der IGMG liegt. Die in ganz Westeuropa
aktive Organisation gilt als europäischer Zweig der 1969 von Necmettin Erbakan gegründeten, genuin islamischen Partei in der Türkei, die dort mehrfach verboten und unter neuem Namen wiederbegründet wurde und in Deutschland vor allem unter dem Namen Refah
Partisi (RP; „Wohlfahrtspartei“) bekannt ist. Ihrer Selbstdarstellung zufolge bedeutet der
Namensbestandteil Milli Görüş sinngemäß „monotheistische Ökumene“, wobei auf Abraham
als Stammvater der monotheistischen Religionen Bezug genommen wird, der den Muslimen
als erster Muslim gilt. Dessen ungeachtet besteht kein Zweifel, dass der Begriff der politischen Sprache von Necmettin Erbakan und seiner Partei entnommen ist.6 Die IGMG gilt als
zweitgrößte islamische Organisation in Deutschland.
Wenngleich die Kritik mancher Muslime in Deutschland an den religionspolitischen Verhältnissen in der Türkei berechtigt sein mag, so ist im Hinblick auf die auch in Deutschland diskutierte Verbotsentscheidung des türkischen Verfassungsgerichts gegen Refah wegen ihres
aktiven Eintretens für einen islamischen Staat doch auf folgende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu verweisen: Am 13. Februar 2003 hat seine Große
5
Arikan, Hasan: Der Kurzgefasste Ilmihal. Illustriertes Gebetslehrbuch. Religionsunterricht für muslimische
Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter. Hrsg. vom Verband der Islamischen Kulturzentren, e.V., Vogelsanger Str. 290, 50825 Köln VIKZ, Köln 1998. Es handelt sich um eine Art Kurzkatechismus, wie er in sunnitischen Moscheen türkischer Prägung in Deutschland unterrichtet wird.
6
Vgl. Erbakan, Necmettin: Milli Görüs, Istanbul 1973 und ders.: Ekonomik Adil Düzen, Ankara 1991, S. 96.
9
Kammer die türkische Verbotsentscheidung vom 16. Januar 1998 als zum Schutz der säkularen Staatsordnung erforderlich für rechtmäßig erklärt.
Cemaleddin Kaplan hatte viele Jahre als Bediensteter des türkischen Präsidiums für Religiöse
Angelegenheiten gearbeitet. Als er wegen islamistischer Bestrebungen kurz vor der Pensionierung ausschied und nach Deutschland ging, hatte er dort den Posten des stellvertretenden
Präsidenten bekleidet. In Deutschland engagierte er sich zunächst bei Milli Görüş. Dort sammelte er die radikaleren Kräfte, führte in den Jahren 1983/84 eine Spaltung herbei und gründete den Verband Islamischer Vereinigungen und Gemeinschaften (ICCB). Nach seiner
Selbsternennung zum Kalifen ist er als „Kalif von Köln“ in Deutschland zum Symbol für islamistischen Extremismus geworden. Sein Sohn und Nachfolger Metin Kaplan hat eine mehrjährige Haftstrafe verbüßt, weil er zur Tötung eines internen Rivalen aufgerufen hat und dieser anschließend ermordet wurde. Hatte die Kaplanbewegung nach der Spaltung zunächst eine
echte Gefahr für Milli Görüş bedeutet, so schrumpfte sie infolge ihrer stetigen Radikalisierung
auf zuletzt rund 1.100 Mitglieder, bis sie im Dezember 2001 verboten und aufgelöst wurde.
1984 reagierte die türkische Regierung auf die Entwicklungen in der türkisch-islamischen
Diaspora und sorgte für die Gründung der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für
Religion in Köln. Ihre Kurzbezeichnung DİTİB leitet sich von ihrem türkischen Namen
Diyanet İşleri Türk İslam Birliği ab. Faktisch stellt DİTİB die inzwischen zur Europaabteilung
erweiterte Deutschlandabteilung des türkischen Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten
(DİB) dar. Der Auftrag dieser von Atatürk 1924 gegründeten Behörde besteht heute darin, die
Belange der islamischen Religion innerhalb des säkular begründeten Staates zu verwalten und
zu fördern. Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten sieht sich im Hinblick auf die Türken im Ausland erklärtermaßen vor die Aufgabe gestellt, deren nationale und religiöse Identität zu wahren. Mit dieser Formulierung ist die Zielsetzung des türkischen Staates für DİTİB
umschrieben. Es geht der türkischen Regierung darum, das offizielle Religionsverständnis,
das von einer staatlichen Kontrolle des Islam gekennzeichnet ist, auch unter den Türken in
Deutschland zur Geltung zu bringen.
DİTİB gilt als die größte islamische Organisation in Deutschland. Selbstaussagen zufolge
gehören ihr 776 Moscheevereine in Deutschland und viele weitere in Westeuropa an. Zusammen sollen die Mitgliedsvereine in Deutschland auf rund 150.000 Mitglieder kommen. Dies
wäre fast die Hälfte der schätzungsweise 309.000 Muslime, die sich insgesamt den großen
islamischen Organisationen angeschlossen haben. DİTİB versteht sich als Dachorganisation
von türkisch-islamischen Kulturvereinen, die sie beaufsichtigt und insbesondere in religiösen,
sozialen, kulturellen und gemeinnützigen Fragen unterstützt. Die wichtigste Form der Unterstützung liegt in der Vermittlung von hauptamtlichen Imamen aus der Türkei, deren Bezahlung der türkische Staat übernimmt. Inzwischen unternimmt die türkische Religionsbehörde
Anstrengungen, dass ihre Imame vor ihrer Entsendung nach Deutschland durch Deutschkurse
und Unterrichtung in Landeskunde auf ihre Verwendung vorbereitet werden.
Es hat vergleichsweise lange gedauert, bis die Aleviten in Deutschland begonnen haben, sich
zu organisieren. Ihre traditionellen religiösen und kulturellen Strukturen in der Türkei sind
10
infolge von Assimilationsdruck und Wanderungsbewegungen weitgehend zerstört worden
und konnten nicht einfach nach Deutschland exportiert werden. Der Anstoß für den Aufbau
eigener Strukturen ist von Hamburg ausgegangen, wo 1989 die erste alevitische Vereinigung
modernen Typs gegründet wurde. Inzwischen haben sich rund 100 Vereine der 1990 gegründeten Föderation der Aleviten Gemeinden in Europa (AABF; heute: die Alevitische Gemeinde Deutschland) angeschlossen. Neben der Förderung ihrer kulturellen Identität widmen
sich die Aleviten der Wahrung ihrer religiösen Identität. So beginnen sie die in Deutschland
gegebene Möglichkeit zu nutzen, sich frei von behördlichem Druck auch religiös zu definieren und die Anerkennung als religiöse Gemeinschaft voranzutreiben. Hierzu sehen sie sich
insbesondere im Zusammenhang mit der Debatte um islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen veranlasst.
Bis heute fehlt „die Unterordnung der bestehenden Verbände unter das Prinzip des Islam, (…)
eine übernationale, alle Riten und Richtungen umfassende und in sich einschließende islamische Kultusgemeinde mit berufenen, demokratisch gewählten Gremien und Sprechern“.7 Den
Anspruch, dieses Defizit zu beheben und die Muslime in Deutschland zu vertreten, erheben
heute der 1986 gegründete Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland/Islamischer
Weltkongress und der Ende 1994 gegründete Zentralrat der Muslime in Deutschland. Beide Dachverbände können diesen Anspruch bislang nicht durchsetzen, und zwar schon deshalb
nicht, weil ihnen mit DİTİB die größte der islamischen Organisationen in Deutschland nicht
angehört. Hinzu kommt, dass ihre Organisationsstrukturen alles andere als gefestigt sind. So
hat z. B. der VIKZ zu den Gründern sowohl des Islamrats als auch des Zentralrats gehört,
beide Dachverbände aber wieder verlassen. Aus dem Zentralrat trat der VIKZ im Sommer
2000 überraschend aus, nachdem es in der Süleymancı-Bruderschaft in der Türkei zu einem
Führungswechsel gekommen war.
Der Islamrat gilt als von der IGMG dominiert. Nach dem langjährigen Vorsitzenden Hasan
Özdoğan stellt die IGMG seit Januar 2002 mit Ali Kizilkaya erneut den Vorsitzenden. Der
Islamrat stellt den strukturellen Rahmen dar, in dem Anfang der 90 er Jahre das in der Türkei
abgeschaffte Amt eines Şeyh ül-Islam in Deutschland eingerichtet wurde. Die Wiederbelebung dieses Amtes muss vor dem Hintergrund der innertürkischen Debatte um die säkulare
Staatsordnung und einer in der Türkei verbreiteten Osmanennostalgie gesehen werden. Sie
entspringt aber auch dem Bemühen, eine nach dem deutschen Staatskirchenrecht für eine Religionsgemeinschaft geforderte religiöse Autorität zu etablieren. Zu den in der Satzung des
Islamrats niedergelegten religionspolitischen Zielen gehören die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts und die Einführung von islamischem Religionsunterricht in
deutscher Sprache. Nicht zuletzt an Özdoğans Verbindungen nach Libyen und seiner Mitgliedschaft in World Islamic Peoples Leadership8 entzündete sich innerhalb des Islamrats
eine heftige Führungskrise.
Vgl. Abdullah, Muhammad Salim: „Die Präsenz des Islams in der Bundesrepublik Deutschland“, in: CIBEDO Dokumentation 1, Frankfurt 1978, S. 9.
8
Vgl. Lemmen, Thomas: „Aktuelle Entwicklung innerhalb islamischer Organisationen in Deutschland“, in:
André Stanisavljevic / Ralf Zwengel (Hrsg.): Religion und Gewalt. Der Islam nach dem 11. September, Potsdam
2002, S. 129-156.
7
11
Der Zentralrat ging Ende 1994 aus dem Islamischen Arbeitskreis in Deutschland hervor. Er
hat sich um die zunächst von allen Organisationen gemeinsam vertretenen Anliegen des
Schlachtens gemäß den Vorschriften der Scharia und des islamischen Religionsunterrichts
gebildet. Am 20. Februar 2002 veröffentlichte der Zentralrat eine viel beachtete „Islamische
Charta“. Sie stellt eine gute Grundlage für dringend gebotene Klärungsprozesse dar. Das dort
dargelegte Bekenntnis zum Grundgesetz bleibt an das vorgeordnete islamische Recht gebunden, welches Muslimen im nichtislamischen Ausland – sofern sie dort Religionsfreiheit genießen – die Beachtung des „lokalen Rechts“ vorschreibt.
VI.
Säkularität der Rechtsordnung als Grundlage der Religionsfreiheit in
der pluralen Staats- und Gesellschaftsordnung
Während Deutschland einerseits Teil der vom Christentum einschließlich seiner jüdischen
Wurzeln geprägten Zivilisation ist, trägt anderseits unsere heutige säkulare Staats- und Gesellschaftsordnung, die auf die Klärung der religiösen Wahrheitsfrage verzichtet, Sorge dafür,
dass ein Muslim nicht weniger Rechte hat als ein Christ, dass sich Muslime und Christen frei
und gleichberechtigt begegnen können. Die Säkularität der Rechtsordnung gewährleistet die
prinzipielle rechtliche Gleichheit religionsverschiedener Bürger – im Unterschied zum christlichen ordo des Mittelalters und im Unterschied zu den Lebensverhältnissen in Teilen der
islamischen Welt, wo bis heute die mindere Rechtsstellung von Juden und Christen als
„Schutzbürger“ nachwirkt.
Die fundamentale Wertentscheidung der modernen westlichen Verfassungsordnungen für die
Religionsfreiheit entspricht, wie bereits dargelegt, zutiefst auch christlicher Überzeugung.
Dies ist letztlich der entscheidende Grund, warum sich die katholische Kirche in Deutschland
– entgegen mancher Kritik auch aus den Reihen der eigenen Gläubigen – in der erwähnten
Arbeitshilfe „Christen und Muslime in Deutschland“ und bei anderen Gelegenheiten z.B. für
das Recht der Muslime auf den Bau eigener Gebetsstätten, für die Einführung von islamischem Religionsunterricht an öffentlichen Schulen gemäß Artikel 7 Abs. 3 Grundgesetz, für
religiös begründete Ausnahmen vom Sargzwang oder etwa für die Einrichtung bzw. Stärkung
der religiösen Betreuung muslimischer Strafgefangener ausgesprochen hat.
Wegen der zentralen Bedeutung der Religionsfreiheit ist es verständlich und auch notwendig,
dass Christen in der Begegnung mit Muslimen für den Gedanken eintreten, dass Christen in
islamischen Ländern in gleichem Maße Religionsfreiheit genießen sollten wie Muslime bei
uns. Andererseits würde es unserer Verfassungsordnung und ebenso dem christlichen Verständnis von Religionsfreiheit widersprechen, wollte man Muslimen in Deutschland unter
Verweis auf mangelnde Religionsfreiheit in anderen Teilen der Welt das Recht auf Ausübung
ihrer Religion verwehren.
Historisch gründet unsere heutige wertgebundene, in religiöser Hinsicht aber neutrale Verfassungsordnung auf der Erfahrung von Religionskriegen, in deren Folge der Staat das Wahrheitsmonopol aus der Hand gegeben hat, indem er lernte, auf die Durchsetzung religiöser
Überzeugungen mit staatlicher Gewalt zu verzichten. Muslime in Deutschland erfahren, dass
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aus dem islamischen Recht abgeleitete religiöse Forderungen im Rahmen des säkular begründeten Rechtsstaates auf dem Rechtswege durchgesetzt und in entsprechende religiöse Rechte
umgewandelt werden können. Wenn Muslime auf dem Rechtswege für die Durchsetzung ihrer Forderungen streiten, dann leisten sie einen Beitrag für die Integration des Islam in eine
bislang ihm fremde Rechtsordnung. Als Grundlage der Religionsfreiheit von Christen, Muslimen, Andersgläubigen und Ungläubigen entfaltet das Grundgesetz seine den Religionsfrieden wahrende Funktion dauerhaft aber nur dann, wenn sein normativer Geltungsanspruch
nicht aus Opportunität, sondern aus sich selbst heraus allgemeine Anerkennung findet. Wichtig ist daher, dass Muslime in westlichen Demokratien, so dies noch nicht wirklich geschehen
ist, Säkularität als Grundlage sowohl der eigenen Religionsfreiheit als auch des gleichberechtigten Zusammenlebens verschiedener Religionen anzuerkennen lernen.
VII.
Aufgaben des Dialoges zwischen Christen und Muslimen
Der theologische Dialog über die Wahrheit des Glaubens zwischen Christen und Muslimen
bleibt auch Jahrzehnte nach dem II. Vatikanischen Konzil schwierig. Auf der Ebene der Werte jedoch müssen Christen und Muslime von ihrer jeweiligen Glaubensauffassung her sich zu
gemeinsamem Zeugnis und solidarischem Dienst verpflichtet sehen. Darauf bezieht sich bereits das Zweite Vatikanische Konzil, wenn es Christen und Muslime einlädt: „das Vergangene beiseite zu lassen, sich aufrichtig um gegenseitiges Verstehen zu bemühen und gemeinsam
einzutreten für Schutz und Förderung der sozialen Gerechtigkeit, der sittlichen Güter und
nicht zuletzt des Friedens und der Freiheit aller Menschen.“ (Nostra Aetate, Nr. 3) Christen
und Muslime, zusammen mit Juden und anderen Menschen guten Willens, sind eingeladen,
„die Welt zu vervollkommnen“ durch einen „besseren Dienst am Menschen“.9 In Dialog und
Zusammenarbeit gilt es in dieser Richtung voranzugehen: Aufbau wirklich pluraler Gesellschaften; Achtung der Rechte der Minoritäten sowie der Rechte der Kinder und Minderjährigen; Stützung der Familie; Einsatz für die genuinen Rechte der Frau und für demokratische,
zivilgesellschaftliche Strukturen, Anstrengungen zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit
und einer Kultur des Friedens. Für alle Monotheisten ist das menschliche Leben von seinen
ersten Anfängen an bis zum letzten Augenblick unantastbar: der Islam verbietet ebenso wie
das Christentum Abtreibung, Sterilisation und Euthanasie. Beide Religionen sprechen sich für
verantwortete Elternschaft aus, selbst wenn es unter ihnen unterschiedliche Meinungen zur
Frage der Geburtenkontrolle gibt. Zweifellos führen die Begegnung der Kulturen, die weltweiten zwischenmenschlichen Kontakte Christen und Muslime dazu zu entdecken, dass sie
einander hinsichtlich der gelebten Werte näher stehen als es ihnen zunächst erscheint.
9
vgl.„Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von Heute“ (Gaudium et Spes).
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