Einer flog über das Spatzennest

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Erster Tag
Mein Hotelzimmer besteht aus einem Bett, einem geräumigen Nachtschränkchen und einem
Kleiderschrank. Direkt ist eine Toilette mit Dusche angeschlossen.
Das Bad ist für zwei Zimmer mit je zwei Betten ausgelegt.
Da ich alleine bin, kann ich hier wallten und schalten wie mir lieb ist.
Mein Fenster ermöglicht die Sicht auf einem Hof, einem von zwei. Im Hintergrund ein, mir nicht
näher bekanntes, Ziegelgebäude.
Der Hof selber ist nicht gerade der Lustgarten von Königin Victoria, aber immerhin begrünt.
Beim Versuch die Dusche auszuprobieren, packte mich auch schon der erste Schreck: mir war
nicht begreiflich, wie man die Wasserbrause abstellen konnte.
Nach Konsultierung einer technischen Hilfe in Gestalt eines Stationspflegers wurde mir das
Geheimnis offenbart, dass die örtlichen, sanitären Anlagen automatisch funktionierten.
Unruhig verbrachte ich die ersten Stunden in meinem Zimmer. Beruhigen konnte ich mich mit
dem Studieren der Klauseln meines Patientenvertrages.
Dann kurz vor 18:00 Uhr wurde ich zur Abendrunde eingeladen. Ich verstand fälschlicherweise
„Abendbrot“ und bekam meinen zweiten Schreck, als ich statt einer speisenden Gesellschaft,
eine Gesprächsgruppe vorfand. Der leitende Pfleger erklärte, dass dies eine freiwillige Runde
sei, jeder der will, dort seine Eindrücke vom heutigen Tag schildern kann. Tatsächlich hatte er
Notizblätter, weshalb ich annehme, dass dies auch in der Station dokumentiert wurde. Etwa
wenn ein Patient stets positiv oder aber immer bedrückt von seinem Aufenthalt berichtet.
Eine ältere, gutgelaunte Frau rief gleich“ Oh, wir haben einen Mann im Haus! Der Hahn im
Korb.“ Ich schaute mich zwei oder drei male rum und tatsächlich war ich neben dem Personal
das einzige männliche Wesen im Essraum. In einer Ecke neben der alten Frau wurde noch kurz
geschnattert, dann begann die Abendrunde.
Sie dauerte sehr kurz. Weniger als fünf Minuten, was vor allen daran lag, dass die meisten nur
ein“ Es geht mir gut“ oder „Heute ging es“ oder gar nichts hervorbrachten.
Ich stelle mich knapp vor, nur mit meinem Vornamen und sagte, dass es mir gut ginge. Das
neue Umfeld sei interessant, so dass ich gar nicht an Depressionen leide, welche ich manchmal
habe.
Im Wesentlichen war dies eine ehrliche Antwort.
Die Alte machte wieder erheiternde Bemerkungen - Ob ich eine Frau im Zimmer hätte. „Leider
nein“ - sagte ich. Der Pfleger sprach darauf „… und damit das auch so bleibt, werde ich das
zweite Bett raus bringen“( Das hatte er tatsächlich getan.) Wieder Gelächter .
Offensichtlich war die gute Laune einiger der Insassen für ihn eine willkommene Abwechslung.
Nach der Abendrunde wies mich der Pfleger extra daraufhin, dass dies eigentlich keine
Frauenabteilung sei und dass es Zufall wäre, der einzige männliche Patient zu sein.
Ich bekam offensichtlich bisher nicht viel von den anderen Bewohner mit wegen einer weiteren
Eigenschaft, außer meinem Geschlecht, welche mir von den anderen unterschied: fast alle
waren Kettenraucherinnen!
Folglich verbrauchten sie die meiste Zeit in einem gläsernen Aufenthaltsraum, in dem das
Rauchen gestattet war. Er bildete das Vorzimmer zum Hof, welcher in meinem Fenster zu sehen
ist.
Mehrere gepolsterte Bänke. Ein Schränkchen, ein Tisch mit Blumen und eine Musikanlage.
Beim Essen gesellte sich die Alte zu mir und stellte sich nicht mit Namen vor, aber durch hören
und beobachten weiß ich, dass sie Helga S. heißt, kurz „Stecki“ genannt. Ihre offene Art machte
mir Mut und nahm mir die Unsicherheit, die allerdings, wie ich verwundert feststellte, nicht sehr
groß war.
Ich vertraute ihr sogar meine Geschichte an.
Sie wiederum erzählte mir, dass sie eigentlich manisch-depressiv ist. In ihrer manischen Phase
verschleuderte sie ihr Geld. Ob sie dann gerne nach Las Vegas verreise? - fragte ich.
Sie lachte. „Ach, soviel Rente kriege ich auch nicht“.
Sie nahm ein Medikament, welches zeitweise verboten war. Ich fragte nicht nach Details, aber
so wie ich das verstand, führte es bei ihr zu einer Art Kollaps, am Tag des verlorenen
Halbfinales, welcher sehr heiß war.
Ihr Pfleger konnte sie rechtzeitig zur Notaufnahme bringen, wo sie sechs ganze Tage
verbrachte. Da sie nicht ansprechbar war, wurde sie per Entschluss für zwei Monate hierher
verlegt.
Eine andere, weinerliche, ältere Patientin hatte wohl mitgehört; sie kam schüchtern zum Tisch.
„Entschuldigen Sie bitte, ich soll diese Mittel auch bekommen...“ Stecki wurde auf einmal nervös
und ihre Stimmer verbitterten sich. „Nein, ich habe es hinter mir. Ich sage nichts dazu..., dass
darf ich auch nicht.“ Die traurige Frau war den Tränen nähe, langsam trottelte sie daran. „Na
gut... Entschuldigung“ - schlutzte sie.
Es begann eine Lästerrunde über Medikamente „ Von den Zeug werde ich fett, toller Schuh“.
Wie sich herausstellte hatte ich in dieser Gemeinschaft noch eine dritte Besonderheit an mir.
„ ICH WAR ALS EINZIGER CLEAN“, nahm keine Medikamente. Man hielt mir zwar Tavor und
ein Schlafmittel bereit, aber ich nahm es nicht. Zu etwas zwingen, wollten mich die Ärzte noch
nicht, zum Glück.
Die Medikamente sind wohl auch Ursachen für manche merkwürdige Eigenschaften der einigen
Patienten. Bei anderen wiederum lässt sich dank ihnen nicht sagen, an was der betroffene
überhaupt leidet. Eine Mutter, traurig oder depressiv, gibt hier einen netten Gesprächspartner
ab.
Am selben Abend setzte sie sich im Hof zu uns. Sie leidet an das, was man unter Multiple
Persönlichkeitsstörung verstand.
Stecki hat an diesem Wochenende ihre Zeit abgesessen. Immer wieder betont sie „wie sie ihren
Paragraphen abgesessen hat“ und „in die goldene Freiheit mit ihrem Taxi fährt“. Auch wenn sie
grinsend erzählt, dass sie die gute Unterhaltung hier vermissen würde. Jeden Tag passierte hier
etwas Neues. Ich fragte, ob hier öfters neue Patienten kommen. „Ja, aber die meistens waren
schon hier. Verdammter Drehtüreneffekt!.“ Ich war nicht die einzige Neuerscheinung an diesem
Tag. Eine Patientin, die ebenfalls Helga hieß und der Mundart noch irgendwo aus dem südlichen
Rheinland kam, hatte eine bipolare Störung samt Psychose. Während sie nachmittags, den Kopf
zum Himmel gestreckt, die Augen verschlossen, draußen im Hof die Zeit verbrachte. Mal
vollführte sie Drehungen, dann wieder machte sie seitwärts Schritte. Nachdem sie wohl abends
gegessen hatte, stolzierte sie den Flur entlang. Abermals die Augen verschlossen; die Hände an
den Schläfen gekrallt. Erst verfiel sie wieder in einen englischsprachigen Singsang, - wie zuvor
schon im Hof, dann stöhnte sie, so dass ich besorgt von meinem Zimmer aus meinen Kopf in
den Flur hineinlugte. Als ich den Eindruck bekam, sie würde sich doch nicht wie eine Furie
schreiend gegen die verschlossene Eingangstür zum Treppenhaus stürmen, beschloss ich, in
den Aufenthaltsraum zu gehen.
Obwohl die Tür zu war, stank es bereits aus 2 m Entfernung nach würzigem, beißendem
Tabakgeruch. Drinnen saß Stecki, welche sich einen Apfel klein schnitt. Neben ihr die
gramgebeugte Mutter. Ich setzte mich gegenüber am Tisch. Am Kopfende des Tisches thronte
auf einem Holzstuhl eine dicke Frau. Ihre Augen von einer Sonnenbrille verdeckt und die
Mundwinkel zu einer bitter-skeptischen Miene verzogen.
Sie hat mich zuvor im Hof angesprochen, als ich mit Stecki und der Mutter eine Konversation
geführt hatte. Sie sprach mich mit Jesus an! Fragte mich, wo denn die Maria Magdalena sei.
Selbst an diesem Ort war ich von Jesus-Sprüchen nicht gefeilt. Auch jetzt sprach sie mich mit
den Namen des Gottessohnes an; wo sei denn die Maria Magdalena jetzt, fragte sie im selben
sarkastischen Tonfall. Weiter fragte sie mich nach der Farbe meiner Unterwäsche. Sie sei
schon auf Weiß umgestiegen; weiß wie die Unschuld. Sie sei nämlich Jungfrau. Männer
würden keine Unschuld mögen, aber die Frauen. Die Mutter sagte, ich solle mir daraus nichts
machen, immer wäre sie so. „ Ich muss Angst haben, dass ich HIV habe, soviel wie ich mit
Schwarzen arbeiten musste. Ich muss noch die Negerbabys abtreiben lassen“. Solche Sprüche
waren, wie sich herausstellte, heute das Abendprogramm bei ihr. Sie hatte wohl beschlossen,
abwechselnd bissige oder sinnlose Kommentare abzugeben. Wie ich zwei Tage später hörte,
hieß die Frau mit der Sonnenbrille Margrit.
Helga näherte sich in ihren beige-rosa Anzug, von ihren besinnlichen Rundgang im Flur sichtlich
erheitert. In der Hand hatte sie ausgedruckte Blätter.
„Die kommt in die Gummizelle“ räumte Stecki. Tatsächlich sah ihr Zustand schlimmer, als den
der anderen Patienten aus, was nicht zuletzt an ihrem Anzug lag, denn sie als einzige Patientin
auf der Station trug. Auf ihn darauf waren ein Wappen der UKE und eine römische 3. Sie öffnete
die gläserne Eingangstür. Die ausgedruckten Zettel waren ein Kino- oder Kulturprogramm, das
sie laut vorlas. Zeitgleich kommentierte sie jeden Programmpunkt. So viel Übung wie sie dabei
zu haben scheint, machte sie wohl so was öfters. Als sie damit geendet hatte, fing sie an,
wirkürlich Anekdoten zu erzählen. Die tat sie mit etwas, das man schon Euphorie nennen
könnte. Nicht nur einmal verfiel sie dabei in ihren Singsang. Mit fast religiöser Insbrust sprach
sie schließlich immer wieder das Wort „Freedom“. „Ja, darauf freue ich mich. Ich habe meinen
Paragraphen abgesessen. Noch Samstag noch übernachten, dann mach ich meine drei Kreuze“
- erzähle Stecki vergnügt.
Die Mutter, die ihre dritte oder vierte Zigarette anzündete, war schließlich genervt und verließ
den Raum. Dafür wollte sie im Flur jemand anders herein. : Eine gebrechliche Frau mit Gehhilfe
und Sonnenbrille; vom Alter her auf Mitte 50 zu schätzen. Ich öffnete ihr die Tür, nachdem sie
durch Klopfen sich zu erkennen gab, man solle das für sie tun.
Langsam wollte sie zum anderen Zimmerende und nahm vorsichtig Platz auf einer Bank rechts
hinter Margret. Dort saß sie schweigend und die Szenerie mal interessiert, mal ausdruckslos
beobachtend.
Helga erzählte jetzt unterdessen von einem Lebensgefährten oder Ehemann, der ihr immer
vorgeworfen hätte, morgens eine Fahne zu haben, wenn sie am Abend zuvor ein Glas Wein
getrunken hätte.
Margret stieg in die Thematik ein. Sie wäre auch mal verheiratet gewesen. Mit einem Spanier,
dessen Namen ich wieder vergessen habe. Ob sie mit ihm tatsächlich verheiratet gewesen sei,
wüsste sie nicht mehr. Es stünde aber in der Dokumenten, in der Heiratsurkunde.
Helga wechselte das Thema, in dem sie erzählte, sie hätte die größte Party in Hamburg des
Jahres 1988 mit veranstaltet. Margret schwenkte mit um, in dem sie vom Woodstock erzählte.
Dort hatten sie alle „gefickt“. „Das heißt geschlafen“ – rief Stecki empört. Plötzlich läutete das
Telefon. Freudig hüpfte Helga zum Telefon. „Hallo, wer ist da?“; „Angelika C.? Kenne ich nicht“(
Das ist eine Verwandte, die Frau C. sprechen möchte – flüsterte Stecki mir zu.) „ Ach, sie sind
Frau C. Und sie wollen Angelika sprechen (lachen!)? Wie ? Das verstehe ich nicht, das müssen
sie mir noch mal erklären!“ Sie hörte einen momentlang lachend zu, und sie legte schließlich
auf. Dabei grinste sie, als hätte sie sich einen Telefonstreich erlaubt.
Wir waren offensichtlich Zeuge davon, wie ein Familienangehöriger veräppelt wurde. Lachend
turnte Helga auf der Bank und erzählte weiter. Nicht selten verfiel sie in ihren Singsang.
Margret beteiligte sich weiterhin, bildete dabei mit ihrer träger Art, dem monotonen Ton und dem
trockenen Humor das genaue Gegenstück zu Helgas manischen Gelächtern.
Mittlerweile drehte sich das Gespräch um gewaltige Zahnarztrechnungen und privaten
Krankenkassen, die nichts zahlen würden. Von Leuten, deren nach 30 Jahren alle Kronen
abfielen und danach zahnlos waren.
Zum zweiten Male klingelte das Telefon. Wiederum hüpfte Helga auf. Stecki war aber diesmal
schneller: „Lass mich, sonst vermasselst du es wieder“. „Stecki ! Die Frau C. ? Ja, ich hol sie
mal!“. Besagte Frau C. War die Mutter von vorhin. Besorgt nahm sie den Hörer. „Hallo , mein
Liebes... Geht es dir wirklich gut? Sind die Hundert Euro schon angekommen? Wie? Ist der Riss
leicht? Versucht es mit Tesafilm. Das reicht nicht? Dann geh zur Bank. Hörst du.... (...) . Ja aber
bleibt nicht solange auf, und mach nicht soviel Unfug. Und ich bitte dich, trink nicht soviel Bier,
hörst du? (..) Du hast was? Ach, er hat die Perücke geklaut. 750 Euro!? Ja, lasst diesen Mist.
(...) Ja, fruchtbar.“ (Margaret, die ca. 60 cm neben ihr saß, gab wieder ihre „Statements“ ab.
Helga sprang sofort mit ein. Stecki wies beide Unruhenquellen an, Still zu sein.) „Hör zu, der
Doktor hat mir eine Hautprobe entnommen. Ich hatte diesen Hautausschlag, den du auch hast.
Dann wissen wir beide, was wir haben...“, „Hatte Jesus nicht alle Menschen als Brüder?
Pscht…“- herrschte Stecki Margret an.); „Ja, es stimmt, morgen ist ja frei; mach aber trotzdem
nichts Dummes mit deiner Freundin...“ („Wird man von diesem Leponex nicht auch so fett? „Seid
mal endlich still, hier will jemand telefonieren“ - schimpfte Stecki laut. Helga schaute darauf
betrübt nach unten, während Margret ihren Mund verzog. Was dieser zu bedeuten hatte, konnte
man nicht sagen, da ihre Augen von den dunklen Gläsern verdeckt waren.) „Ja, tut mir Leid
Liebes, wir haben heute eine Neueinweisung bekommen, die ist nicht auszuhalten.“ Ganz
offensichtlich meinte Frau C. Helga. Kurz danach beendete sie das Telefonat und zündete sich
wieder ihre Glimmstängel an. Hier Hände zitterten.
Allmählich entspannte sich die Atmosphäre. Die Frau mit dem Anzug „römisch drei“ (Helga)
forderte zum Singen auf und ging gleich mit gutem Beispiel voran.
Genervt äffte Frau C. Sie nach. „Bist ganz schön anstrengend, weißt du das?“ Helgas Blick und
Stimme wurde etwas ernster. „Ja, ich weiß“.
Später, plötzlich stand Margret auf und sagte: Ich gehe mich jetzt beschweren!“, „Worüber
denn?“ - fragte Stecki. „Weil man hier als Frau nicht mehr ungestört werden kann!“. Sie verließ
tatsächlich den Raum und ging zur Kanzel. „Offensichtlich will sie sich über mich beschweren“ Steckis Gesichtausdruck nach, soll ich mir keine Gedanken machen. Ich sah durch das
Glasfenster wie sie mit dem Pfleger sprach. Der schüttelte nur den Kopf. Margaret stapfte
wieder zurück. „Frechheit, dies ist eine Frauenklinik. Hier waren seit Wochen keine Männer.“
„Aber ich mache doch gar nichts“ - sagte ich.
„Ich fühle mich aber trotzdem bedroht. Wegen was bist du denn hier?“ - fragte Margret.
„Ich stehe hier nur unter Beobachtung wegen Selbstmordversuch. Ich hatte noch keinen
vergewaltigt“ - antwortete ich.
„Na gut“ - sie hat sich sichtlich beruhigt.
Nach einer Minute gingen die Gespräche weiter. Wie: „Von Leponex habe ich geblutet wie ein
Schwein, als ich noch meine Regel hatte…!
Ich ging aber schlafen, plötzlich fühlte ich mich unter den Damen nicht mehr so wohl.
Zweiter Tag:
Hatte man am Freitag das Gefühl, es gehe auf dieser Station den Umständen entsprechend
fröhlich und lebendig zu, so lies sich die Stimmung am diesem Samstag und Sonntag mit der
eines Kleintierfriedhofs vergleichen.
Dabei konnte man meinen, der Tag würde recht angenehm beginnen. Der Weckdienst lässt
einen am Wochenende tatsächlich bis kurz nach sieben schlafen. Auf diese Art und Weise ist es
tatsächlich möglich, sich von der nächtlichen Anwesenheitskontrolle zu erhöhen, bei der die
Zimmertür geöffnet wird und das hereinfallende Flurlicht, welches Tag und Nacht brennt, den
Schlafenden blendet wie ein Flakscheinwerfer.
Doch schon das Frühstück entpuppte sich als Enttäuschung. Die acht bis neun Anwesenden im
Speiseraum vermittelten den Eindruck, als kämen sie von der Station für Komapatienten. Die
zumeist greisen und versehrten Patientinnen nahmen mit zittrigen, faltigen Händen schweigend
ihre Nahrung zu sich. Mühsam wurden Joghurtbecher aufgerissen, hustend Kaffeetassen
gekippt. Nun wenn jemand ein Brötchen übrig hatte oder noch Butter brauchte, hörte man eine
menschliche Stimme.
Wo war der Rest der Belegschaft geblieben?
Als ich mit dem Essen fertig war, - brachte ich mein Tablett zum Rollwagen, in dem 3 x täglich
das Essen serviert wurde. Anhand der Namensschildchen lies sich entnehmen, dass sich auf
der Station 17 bis 18 Patientinnen befinden. Die meisten müssten sich aber in ihren Zimmern
aufhalten.
Mein persönlicher Höhepunkt an diesem Vormittag war die Gewichtskontrolle und die
Blutdruckmessung. Mehr Aufmerksamkeit kriegte man vom Personal nicht geschenkt.
Mit zittrigen Fingern wurden die Tabakbeutel und Papierblättchen hervor gezücht. Die
Wohlhabenden, konnten sich Zigaretten leisten. Schweigsam wurde die Nikotinsucht in den
Höfen und im nikotingelben Raucherzimmer befriedigt. Die meisten rauschten eine Zigaretten
nach der anderen, denn eine einzelne genügte ihnen nicht. Einige machten auch ein Gebrauch
von ihrem Recht auf einen einhalb- und einstündigen Freigang. Es folgte das Mittagessen, das
nicht anders ablief als das Frühstück.
Danach war das Stockwerk noch ruhiger als morgens. Überall nachmittägliche Stille.
In der Kanzel lösten die Pfleger Kreuzworträtsel. Frau C. geisterte mit verzweifeltem Geist durch
die Korridore, Helga hüpfte konzentriert auf dem Hof und bestaunte die dortige Botanik. Später
kam Margrit, die mit Nachnahmen Frau B. Hieß, dazu und unterhielt sich mit Helga.
Anscheinend hatten sich zwei gefunden.
Mir neu war die Frau W., eine Rollstuhlfahrerin mit eingefallenem Gesicht, knochigen Armen und
Beinen und furcht erregenden Augen. Sie erinnerten an eine blinde, alte Siamkatze. Ihr Mund
was meist halbgeöffnet und entblößte ein schiefes Gebiss. Sie hatte einen grauen, stoppeligen
Frauenbart. Mit trägen Blick starrte sie nach draußen und wirkte sehr einsam. Was wohl die
Ärmste in der Psychiatrie machte?
Die Langeweile dieses Samstags war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Stecki wie so
manche andere, auch Zuhause Übernachtungsurlaub machten. So trottelte ich im
Gefängnishofgang durch den Garten und Flurgebäude und wartete darauf, dass sich etwas
ereignen wollte. Tatsächlich was das einzig auffällige, der sich zunehmend verschlechternder
Zustand von Frau C., die abends darum bat, den Blutdruck zu messen und sich untersuchen zu
lassen.
Beim Abendessen lernte ich noch die beiden Rentnerinnen, Frau H. und Fr. Fritz kennen.
Schließlich ging ich zeitig zu meinem Nachtlager und wollte schlafen, was aber hinausgezögert
wurde, weil die Nachschicht mir ein Schlafmittel andrehen wollte.
Dritter Tag
Auch am Sonntag war die Stimmung vergleichbar trübe wie am Sonnabend. Es gab ebenso
keine Arztvisiten, Untersuchungen oder Therapieangebote. Auch jetzt hatten so manche
Patientinnen Heimurlaub von der Psychiatrie. Da ich dessen mir von Anfang an bewusst war,
nutzte ich die Zeit über die Erkenntnisse, welche ich über die Insassen gewonnen habe, zu
reflektieren.
Es ist ohne Aktenansicht, unmöglich zu sagen, wie viele Personen aktuell eingeschrieben sind.
Manche befinden sich nur gelegentlich auf der Station und fast täglich sieht man im Schnitt ein
neues Gesicht. Alle paar Tage wird auch glücklicherweise jemand entlassen. Auch hier im
Schnitt nur eine Person. Trotzdem kann man recht sicher von mindestens einem dutzend
Personen ausgehen, die zumindest dieser Tage sich zeitweise in der Klinik aufhielten.
Zwei von ihnen war eine Kathrin Sch., angeblich nach eigener Aussage hier, weil sie während
eines Krankenhausaufenthaltes auf das Dach kletterte und sich in der folgenden Tagen selbst
Blut zu „medizinischen Zwecken“ abnehmen wollte. Eine Bilderbuchgeschichte, um in die
Psychiatrie zu kommen. Die meiste Zeit verbringt sie auswärts. Entweder vormittags in der
Schule und abends in einer Wohngruppe, wo sie schon mal übernachten durfte. Sie ist
gegenüber den Pflegern sehr gesprächig und sehr zappelig. Wie ein kleines Kind lässt sie
überschüssige Energie ab, indem sie auf einem Stuhl turnte.
Eine zweite wird Dornrösschen genannt. Ein mageres Geschöpf. Ihr Haar meist unter einem
Kopftuch versteckt und fast immer verträumt. Sie hat mehrfach bewiesen, dass sie manchmal
sprechen kann. Meist starrt sie aber einfach nun an, wenn man sie anspricht. Aber von sich aus
redet sie nicht. Dafür fängt sie oft urplötzlich an zu lachen. Wenn sie mit ihrem Disc-Man Musik
hört, so wird sie noch verträumter und gerät schon fast in eine Art Trance. Nicht selten singt sie
mit. Mal wirken ihre Gesichtzüge dabei entweder völlig entspannt, oder aber sehr angestrengt.
Zu ihrem eigenen Unglück raucht sie sehr viel.
Petra ist die Zimmergenossin von Margret B. Sie muss wohl wegen enorm starker Depressionen
eingeliefert worden sein. Denn in den Abendrunden erzählt sie davon , wie sehr für sie einfache
Tätigkeiten wie Wäsche aufhängen oder das Zimmer aufräumen, eine Anstrengung, welche den
ganzen Nachmittag ausfüllt-, darstellt.
Freudig erzählt sie, wie viel sie geschafft hätte, wenn sie nicht mit ihrer Mutter ein paar Kartons
sortiert hätte, und wie der Tag dabei schnell zu Ende ging. Nach solchen „arbeitsamen“ Tagen
pflegt sie, abends fernzusehen. Sie versucht des Weiteren, in der Bibel Hoffnung zu finden.
Frau V. Ist eine etwas zottelige Erscheinung, was daran liegt, dass sie ihr vorderes Haar,
welches ihr Gesicht verdecken würde, provisorisch mit einer Haarklammer nach hinter befestigt.
Dank dieser Frisur wirkt sie mitunter dämlich. Wegen ihrer Medikamente hat sie Schwierigkeiten
mit ihren Körperbewegungen. Deshalb geht sie langsam und stocksteif, ähnlich wie Frau C. und
Frau B. (Margret). Sie soll paranoid sein.
Melitta ist eine etwas schlankere Frau Ende 40, was man an grauen Haaransatz erkennen kann.
Nicht desto trotz läuft sie mit Latzhose, rot geschminkten Wangen und Pippi-LangstrumpfZöpfen herum. In ihrem Zimmer hält sie Stofftiere. Diese auffälligen Äußerlichkeiten stellen auch
alle erkennbaren Anomalien dar. Ich habe noch nie eine kranke Verhaltensweise bei ihr
beobachten können. In den Abendrunden erzählt sie grundsätzlich nichts.
Frau Fritz ist eine charmante Rentnerin mit ausgeprägter norddeutscher Mundart. Sie spielt auf
der Station gerne Tischtennis und isst jeden Abend ihren Salatteller. Ihr Problem scheint eher
ein neurologisches zu sein, dass sich durch mitunter heftigen Körperzittern äußert. Auch sie ist
während der Abendrunden nicht gerade gesprächig.
Frau H. Ist zwar 56, aber ihren Aussehen nach schon Ende 70. Dies liegt nicht zuletzt an ihren
fast zahnlosen Mund. Damit man sie verstehen kann, muss sie entsprechend laut reden. Warum
sie hier ist, kann ich nicht sagen. Sie wird aber Anfang Oktober entlassen. Wie sehr sie sich
darauf freut, betont sie während der Abendrunde.
Weitere erwähnenswerte Psychiatriebewohnerinnen sind die greise Frau W., Anna , die
gehbehinderte Frau, die beiden Helgas, Frau C. und Margret B., die Frau , die von sich selbst
sagt, sie hätte kein Herz mehr.
Gegen Sonntagnachmittag kam Stecki für eine letzte Übernachtung noch einmal zur Station
zurück. Schlagartig änderte sich die Atmosphäre im Erdgeschoß. Patienten und Personal
werden im Umgang lockerer. Sie bemerkte den roten Blumenstrauß, den ich von meiner Mutter
bekam. „Uuuii, dass ist aber ein schöner Strauß, nehme ich mit für zu Hause. Oh, was ist denn
das für eine Vase?“ Ich vergaß, dass Glas auf diesem Geschoß verboten war. Wohl damit
niemand im Wahn mit einer zerbrochenen Flaschenhälfte Jack the Ripper oder Macki-Messer
nachahmte. Ich machte mich daran, die Vase zu verstecken, um sie bei nächsten Mal meiner
Mutter wieder mitzugeben. Als ich den Schrank öffnete, bemerkte sie, dass ich mittlerweile einen
enormen Süßigkeitenberg angesammelt habe. „Was hast du denn da Tolles?“ Ich erklärte ihr,
wie meine Eltern und Großmutter mir bisher jeden Tag mehr Schokolade mitbrachten, als ich
binnen einer Woche überhaupt essen könnte. Ich hatte diverse Milka-Sorten, After-Eight, VivilBonbons, Sesamstangen und Rittersport-Taffeln auf Vorrat. Als Krönung noch eine Packung
Celebration-Schokoriegelbonbons. „Die nehme ich!“ - Stecki lies es sich nicht zweimal sagen,
als ich ihr etwas anbot. Um auch im Raucherraum die Stimmung zu verbessern, beschloss ich
gut die Hälfte meiner Süßigkeiten mitzunehmen und dort auf den Tisch zu verteilen. Mein
Angebot wurde angenommen. Insbesondere Helga stützte sich begeistert auf die weiß
Milkaschokolade. Stecki dagegen vergriff sich an die Vieviel-Bonbons und die Rittersporttafeln.
Auch andere naschten, insbesondere Frau C., welche den Eindruck machte, dass sie von ihrer
Tochter, welche sie heute besucht hatte, auch gerne mal Süßigkeiten bekommen hätte.
Helga verhielt sich deutlich ruhiger als am Freitag. An diesem Vormittag wirkte es so als hätte
sie eine depressive Phase, die Manie abgelöst hatte. Die Brille, die sie jetzt trug, lies sie sogar
sehr intelligent wirken. Frau B. hielt sich allerdings diesmal nicht im Raucherraum auf.
Anna saß wieder in der Ecke. Stecki hatte zittrige Hände, deshalb spielte ich ihren Assistenten
und öffnete für sie Verpackungen und drehte eine Kippe nach der anderen. Die Stimmung war
angenehm. Ich machte mir jedoch seit Längeren um Frau C. sorgen. Sie hat sich halb getäubt
meist in ihrem Zimmer aufhielt, welches aus Sicherheitsgründen eine Kamera hatte.
Ich sollte früh genug erfahren, warum. An diesem Abend schien sich ihr Zustand allmählich zu
verschlechtern. Ihre Augen waren erschöpft, ihr Mund war halb offen, aber ihre Bewegungen
nicht mehr hölzern. Sie sprach auch ein wenig.
Ich nahm nicht bewusst wahr, dass sie den Raum verließ und zum Hof hinausging. Wohl dachte
ich zu diesem Zeitpunkt, sie wollte frische Luft schnappen. Zwar stand die Tür zum Hof weiterhin
offen, aber die Luft war dermaßen Teen- und Nikotin geschwängert, dass man regelmäßig den
Raum kurz verließ. So auch ich.
Ich bemerkte eine Gestalt in der Dunkelheit. Sie stand auf der Tischtennisplatte. Ich konnte nicht
erkennen, um wen es sich handelte. Nur dass, die Frau von der Platte fiel und darauf auf ihren
4-Buchstaben saß. Um mich zu vergewissern, dass ihr nichts passiert war, lief ich hin. Es war
Frau C. Auf die Frage hin, ob mit ihr alles in Ordnung sei, konnte ich ihre Antwort nicht
verstehen. Verunsichert ging ich wieder. Als ich beim Eingang zum Hof stand, sah ich, dass sie
wieder auf der Tischtennisplatte stand und auf der Tischkante balancierte. Sie beugte sich vor,
als ob sie einen Kopfsprung auf den Pflastersteinen wagen wollte. Ich eilte zur Kanzel und gab
Bescheid. Sie nahmen mich erfreulicherweise ernst und liefen zum Hof raus. Wenig später
führten sie zwei Pfleger rein. Ihr war offensichtlich nichts passiert. Betrübt setzte sie sich in den
Speiseraum. Minuten später hörte ich ein Klopfen oder Hämmern. Das Personal wurde wieder
alarmiert. Wieder zerrten sie an Frau C.! Sie hatte ihren Kopf mehrfach auf die Tischplatte
gedonnert. Ihre Stirn war gerötet und geschwollen. „Frau C., gestern noch haben Sie Angst
gehabt, dass sie sterben und heute tun Sie sich das an. Das können wir nicht nachvollziehen“
Die Pfleger schnallten sie ans Bett und spritzten ihr Beruhigungsmittel ein. Fixieren nannte man
diesen Vorgang.
Vierter Tag
Das Wochenende war vorbei. Wieder hieß es, um kurz nach sieben aufzustehen. Mühsam
richtete ich mich auf und bewegte mich Richtung Bad. Ich beschloss, heute Morgen zu duschen.
So manchen ist der Umstand bekannt, dass in billigen Hotels oder öffentlichen Gebäuden das
Wasser nicht richtig warm ist. Dieses Problem hatte ich nicht. Das Shampoo ausspülen erwies
sich als Tortur, musste ich damit rechnen, Verbrennungen ersten Grades auf meiner Kopfhaut
zu erleiden.
Ich hielt mich deshalb die meiste Zeit außerhalb des Wasserstrahls auf, und wenn ich mich doch
darunter stellen musste, ging ich dabei in die Hocke, da das Wasser unten kühler war, als direkt
an der Brause. Schließlich verließ ich die dampfende Kabine. Merkwürdigerweise hatte ich
dieses Problem nicht gehabt, als ich mich am Freitagabend duschte.
Ich hatte einige Erwartungen an diesen Tagen gehabt. Da es nun wieder Arztvisiten gab, was
ich gespannt auf klärende Untersuchungen und Gespräche. Es fing auch hoffnungsvoll an, denn
gleich am frühen Tag, kam einer vom Pflegepersonal und servierte mir einen leeren Pappbecher
mit meinem Namen darauf. Spätestens bei seiner Musterung, weiß ein junger Man, wozu dieser
Becher gut ist.
Nach dem Frühstück bildete sich wie jeden Morgen eine Schlange vor der Kanzel. Eine nach der
anderen formte ihre Hände zu einer Schale, um eine Handvoll runder oder länglicher, weißen
oder rosanen, kleiner Pillen zu empfangen. Als nächstes reichte man ihnen kleine orange oder
gelber Einwegbecher, gefüllt mit lauwarmem Wasser, der nach Benutzen in einem Abfallkorb
landete. Ich war glücklich, nicht zu diesen Leuten gehören zu müssen. Ich schüttelte mit dem
Kopf, als ich die Verschwendung mit den kleinen Bechern sah.
Die Urinprobe war Teil einer Routinenuntersuchung. Der nächste Schritt waren drei Blutproben.
Eine junge Ärztin wies mich an, meinen Arm frei zu machen und die Faust zu ballen. Sie tastete
den Arm ab und wurde sich auf einmal unsicher. Sie hatte offenbar Schwierigkeiten eine
ergiebige Ader zu finden. Auf Höhe des Ellenbogens wurde sie doch findig. Begierig stach sie
zu, doch statt Blut, kam nur Vakuum heraus. „Sie haben eine zu dicke Haut. Dann müssen wir
es wohl mit dem anderen Arm probieren“ Sie schnürte mir den Arm mit einem blauen Band ab,
bat mich wieder die Faust zu ballen und stach zu. Sie zog die Spritze an, doch die
Schlauchkanüle, durch das mein Blut in den Behälter fließen sollte, blieb sauber und leer. „Dann
müssen wir mit der Hand versuchen. Sind Sie Rechthändler?“ Ich verstand zwar nicht, warum
sie nicht die große, pulsierende Ader auf der Innenseite meines Unterarms anstachen wollte,
aber ich dachte mir schon, sie wüsste, was zu tun sei. Sie versucht e es also mir meiner linken
Hand. Als das aber auch missglückte und auch ein weiterer Versuch im rechten
Ellenbogenbereich fehlschlug, stach sie schließlich in eine Aderverzweigung meiner rechten
Hand. Langsam füllte der rote Lebenssaft alle drei Probengefäße.
Mit dem Gefühl zerstochen zu sein wie ein Heroinsüchtiger verließ ich das Behandlungszimmer.
Bei der Arztvisite sprach ich das Problem mir meiner Leiste an. Mein Leistenbruch ist nun seit
zwei Jahren ein Problem gewesen, und ich hatte gehofft, man würde sich diesem Leiden
annehmen. Ich erreichte immerhin, dass ich bei der Chirurgie angemeldet wurde. Beim
Einweisungsgespräch mit dem Oberarzt, schenkte man mir wenig Beachtung.
Im Flur sah ich Frau C. Ihre Augen waren entsetzlich anzusehen. Mit einer Mischung aus
Apathie und Entsetzen starrten ihre Augen durch die Gänge. Ihr Mund war halb offen. Stocksteif
bewegte sie sich vorwärts. Auf ihrer Stirn thronte eine rot angeschwollene Beute. Sie musste
unglaubliche Kopfschmerzen haben oder durch die Medikamente bis oben hin bedröhnt sein.
Plötzlich kam Stecki um die Ecke „Na, bist du auch auf der Idiotenrennbahn (Der Korridor der
Station) unterwegs? Haben deine Eltern wieder was mitgebracht? Mach deinen Schrank auf!“
Wir gingen in mein Zimmer. Ich öffnete die Schranktür und sofort griff sie sich eine Schachtel
Süßigkeiten. „Biete den anderen aber auch mal was an!“ - sagte ich und sie lachte nur höhnisch.
„Ich bin Egoist! Komm hier, du kannst mir die Zigaretten drehen“.
Im Raucherraum rauchten natürlich auch die anderen Patientinnen. Darunter auch Dornröschen.
Steck sprach sie an, ob sie ihr Tabak geben könnte. Offenbar muss sich zwischen den beiden
eine Beziehung entwickelt haben. „ Und, krieg ich jetzt das hübsche Bild für meine Küche?“ Sie
atmete einen tiefen Zug ein, schob Stecki den Tabakbeutel zu, atmete aus und fragte
„Welches?“, „Das mit der Elfe“. Dornröschen lächelte ein wenig verträumt, stand auf und brachte
eine Postermalerei mit einer Fee auf einer Seerose darauf. „Schön, was Bekloppte für tolle
Sachen machen können“ -sagte Stecki.
Später am Abend läutete das Telefon. Ich ging ans Telefon: „Klapsmühle UK-Eppendorf! Frau
B.? Einen Moment“ Frau B. war auf ihrem Zimmer, und da sie nicht gut zu Fuß war, musste der
Anrufer lange warten. Ächzend setzte sie sich hin und ergriff den Hörer. „Hallo? Ja Hallo
Christiane. Schön, dass du anrufst (..) Ich bin heute recht müde, war heute Schuhe kaufen und
habe einen langen Spaziergang gemacht. Die hatten aber nicht das richtige Paar gehabt (...)
Ja, ich weiß auch nicht warum. Eigentlich wollte ich nur meine Schwiegermutter besuchen, Als
ich mich über diese Zustände aufgeregt habe, haben sie mich hier behalten (...)“ Stecki
unterdrückte erfolglos ein lautes Lachen. „Übrigens, der Typ, mit dem ich verheiratet war oder
verlobt, oder wie man das nennen kann, bei dem ist die Heiratsurkunde gefälscht. (...). Ich weiß
nicht. Ich habe bei einer Anwältin angefragt; sagte mir sie hätte keine Zeit und werde sich um
die Sache später angucken. Und nicht nur das ! Meine drei Renten sind falsch berechnet. Diese
Summen sind zu hoch angesetzt. Auch meine Betriebsrente ist gefälscht...“ - erzählte sie weiter.
„ Und deine Geburtsurkunde auch ist gefälscht“ - bemerkte Frau C. bissig. Offensichtlich hörte
sie so was nicht das erste Mal.
„Ja, wenn soll ich anklagen? Das Amt. Ja, du weißt gar nicht wie schrecklich das ist. Ja (...). Und
in der Wohnung hatte ich auch schon ein schlechtes Gefühl gehabt. In dieser wurde ich nämlich
abgehört. Du lass uns lieber morgen treffen. Dann erkläre ich dir das genauer. Jetzt nicht am
Telefon (...). Ja, ich habe Ausgang, ich bin ja schließlich freiwillig hier!“ Zwischendurch fragte
mich Stecki erstaunt: Lukas, was machst du hier überhaupt? Hier unter diesen ganzen
Psychopathen?“ Ich zuckte mit den Schulten und lächelte: „Keine Ahnung, wohl aus rechtlichen
Gründen.“ „ Ha, pass auf. Die geben dir auch noch Psychopharmatika. Zyprexa und all so was,
Davon wirst du bekloppt“
Fünfter Tag
Ich legte mich am späten Vormittag hin, da mein Gedärm gegen meine Leiste drückte. Plötzlich
kam die Ärztin rein, die mir gestern das Blut abgenommen hatte, mit einer jungen
Auszubildenden herein. Sie führte EKG-Messgerät auf einem Rollwagen mit. Sie erklärte mir,
dies wäre Bestandteil einer Routineuntersuchung. In der Hand hatte sie eine Liste von
Körperteilen und Merkmalen, die sie von Kopf bis Fuß untersuchen sollte. Sie beklebte mich mit
Noppen, an denen die Kabel eingesteckt wurden. Sie drückte die Starttaste, während sie sich
mit dem Azubi unterhielt. Das Gerät spuckte darauf nur einen zerflederten Streifen raus. „ Da
muss eine neues Papier rein“ Beide grübelten und versuchten herauszufinden, wie die neue
Papierrolle einzuführen sei. Nach mehreren Versuchen war das Gerät wieder einsatzbereit. Als
die Ärztin den Knopf drücken wollte, kam jedoch eine Schwester herein. Die Ärztin hatte einen
Anruf. Hastig eilte sie nach draußen, während die Schwester die Arbeit übernahm. Die restlichen
Untersuchungen werden bis auf Weiteres verschoben.
In der Mittagszeit schritt Stecki in ihre“ goldene Freiheit“. Sie wurde entlassen. „ Dir geben sie
auch noch Psychopharmatika“ Diese Worte hallten noch immer im meinem Kopf, als sie ging.
Noch an der Sonntag-Abendrunde sprach ich noch ausdrücklich davon, wie ich froh darüber
war, keine M. nehmen zu müssen. Ich hoffte, dass Stecki düstere Prophezeiung sich nicht
bewahrheitete.
Doch nach der Arztbesprechung kam meine verantwortliche Ärztin in mein Zimmer. Ich solle das
Neuroleptikum; Zyprexa und eine Antidepressivum nehmen. Soviel zu meinem Glück. Ich
versuchte wenigstens mehr Informationen über dieses Mittel zu bekommen. Sie aber hätte
schon längst Feierabend und müsse gehen.
Leicht verärgert ging ich ins Raucherzimmer und erzählte es Helga. Die sagte, ich müsste nichts
annehmen solange ich nicht den Beipackzettel erhalten habe. Ich fasste Mut.
Als ich eben um diesen bei der Kanzel fragte, sagte man mir, dass das nicht üblich sei. Man
habe schlechte Erfahrungen damit, da bei der Auflistung möglichen Nebenwirkungen der Patient
Panik bekommt und sich weigert, das Mittel zu nehmen. Überdies hätten sie keinen auf der
Station.
Das war nichts mehr zu machen. Denn das Mittel war fest und nicht auf Bereitschaft von der
Ärztin vorgeschrieben worden.
Verärgert saß ich im Raucherzimmerund hörte den Oldie-Sender. Der einige Sender, der von
allen Patientinnen akzeptiert wurde. Helga tänzelte zur Musik und hob die Hände, Bärbel, eine
Suizidkandidatin, die von etwa 48 Stunden, eingeliefert wurde, und zu der ich bis jetzt keinen
Kontakt hatte, war von ihr fasziniert, ohne sie jedoch auszulachen. Nach einigen Stücken
machte Helga eine Pause, statt Musik wurden Nachrichten gesendet. Helga setzte sich neben
mir und bemerkte sofort, dass ich immer noch schlechter gelaunt war als sonst.
Sie ergriff meine Hand und hielt sie „ Ich halte deine Hand bis es dir besser geht“ Als wieder
Musik gesendet wurde, begann sie meine Hand rhythmisch zu bewegen, wie bei einem Tanz.
Die Musik wechselte und ich begann den Tanz zu führen.
Unsere Hände kreisten und sie verschloss ihre Augen, „Schön „ - sagte sie.
Sechster Tag
Frau H. trug nun seit einer Woche denselben Pullover. Er war königsblau und mit Perlen
verziert. Sie saß am Rauchertisch, was ungewöhnlich war, da sie zu den wenigen
Nichtraucherinnen gehörte.
Sie war sehr aufgeregt. „Ich werde heute abgeholt“ – erzählte sie immer wieder mit
lauter aber aufgrund ihres unvollständigen Gebisses, undeutlicher Stimme. „Ich werde
am 03. Oktober entlassen. Aber mein Mann holt mich schon heute ab zum Übernachten.
Halb elf, hat er gesagt“. Helga beruhigte sie: „Ja, es sind noch 10 Minuten, er wird
bestimmt gleich kommen“ „Er ist aber immer sehr pünktlich gewesen; er kommt, nu?“
„Ja, der wird ganz bestimmt kommen“
Bärbel, eine Patientin, die wegen eines Suizidversuchs am Sonntagabend oder Montag
eingeliefert wurde, beobachtete die Szene. Die zehn Minuten verstrichen sehr unruhig,
weil Frau H. ständig besorgt war, dass ihr Mann nicht erscheinen wird. „Kommt er mit
dem Taxi oder mit der Bahn?“ „Der kommt mit dem Bus und mit der Bahn“. „Ja siehst
du, dann kann er sich verspäten“ – erklärte ihr die Helga. „Aber mein Mann ist immer
pünktlich. Der war sogar immer früher da“ „Aber der Bus könnte im Stau stehen“ –
meinte Helga. „Ja, das kann angehen“ „ Es reicht ja schon, wenn er den Anschlussbus
verpasst, oder die U-Bahn Schwierigkeiten hat, dann kommt man schon auf 10 bis 15
Minuten Verspätung“ – pflichte ich bei. „Ja, dass kann angehen. Kann angehen…“
Nach einigen Minuten kam ihr Mann immer noch nicht. Frau H. begann, sich wirklich
Sorgen zu machen und war durch unsere Beschwichtigung, nur noch bedingt zu
beruhigen. Wir schlugen ihr vor, ihn anzurufen. „Wenn er nicht rangeht, wird er schon
unterwegs sein“ – sagte ich ihr. Und Helga ergänzte:“ Und 10 Minuten verspäten kann
sich jeder“ „Ja das kann angehen“ Ans Telefon ging keiner ran. Er musste wohl also
doch unterwegs sein. Und auch in den folgenden Minuten wollte ihr Gatte einfach nicht
kommen. Somit blieb ihr einfach nicht übrig, als sie weiter zu vertrösten. Ständig
klingelte es. Aber es war nie Herr H., der die Station betrat. Ich setzte Frau H. schon auf
einen Stuhl im Eingangsflur, um den hoffentlich, bald aufkreuzenden Herr H. zu
empfangen. Nach einer Stunde rief die Station noch mal an. Wieder ging keiner ran.
Glücklicherweise konnten wir die traurige Frau H. überreden, sich schlafen zu legen.
Sie habe sich vermutlich verhört und ihr Mann wollte erst am Nachmittag kommen. So
redeten wir auf sie ein.
Tatsächlich erschien ihr Mann auch, als sie schlief. Der bis auf die Krücke gesund
aussehende alte Herr (womit er deutlich besser aussah als seine Frau), brachte ein
Strauß Blumen vorbei. Sein Bein ginge es schlecht. Daher muss er sie morgen abholen.
Nachmittags war Frau H. wieder unruhig. „Mein Mann wird mich morgen abholen. Wird
er doch, oder?“ „Ganz bestimmt“ – ermutigte sie Helga. „Aber die Zeit, die ich verloren
habe… Ich könnte so viel machen können zuhause“
„Ja, ich weiß, aber Hauptsache es kommt morgen. Nicht wahr?“ „Ja, Ja. Morgen kommt
er“ Frau H. war jetzt sichtlich den Tränen nahe.
Helga nahm den Strauß mit Blumen unter die Nase. „Guck mall, das hat er mitgebracht.
Sonnengeld sind sie“ „Ja, ich weiß. Aber er ist sonst immer pünktlich. Ich hatte schon
einkaufen gehen können“ Sie erzählte eine Weile so weiter, während Helga ihr die
Blumen immer vor der Nase hielt, wie einem Baby den Schnuller. „Schau mal, wie dich
die Blumen anlächeln.“ – strahlte sie. Frau H. vergoss schließlich einige Tränen und
legte ihr Gesicht in den Strauß. Dann fasste sich sie sich wieder. „Ich bin ja eigentlich
nicht so weinerlich“ – und lächelte sie wieder.
Getröstet verließ sie den Raum. Bärbel sprach: „Wie lange läuft sie eigentlich in diesem
Pulli rum? Sie riecht schon unangenehm“
Frau H. wurde tatsächlich abgeholt und verließ am 3. Oktober mit ihrem Mann die
Station.
Siebter Tag
Als ich aufwachte, war der Morgen dunkel und neblig. Ich war müde und meine Augen
gingen ungewöhnlich schwer auf. Mit wackligen Beinen stieg ich aus dem Bett. Als ich
zum Tablettwagen schritt, um mein Frühstück zu holen, blendete mich das Korridorlicht
und mein Gang war mehr ein Schlürfen als ein Gehen. Meine vor Müdigkeit zufallenden
Augen spähten noch einen Sitzplatz, den ohne Sondererlaubnis war Frühstücken im
Zimmer verboten. Mit Anstrengung verspeiste ich mein Essen.
Helga schien, dagegen it zu sein. Dies ist insoweit erstaunlich, da sie die halbe Nacht
mit Yaw im Aufenthaltsraum verbracht haben soll. Yaw ist einer Schwarzafrikaner,
sprach kaum Deutsch, sondern einen englischen Dialekt und wurde gestern Nachmittag
hierher gebracht. Gestern Abend verbrauchte er die Zeit unruhig im Hof und rauchte.
Es war offensichtlich, dass es hier raus wollte. Helga war erfreut über sein Erscheinen,
sie sprach von einem „Engelsgeschöpf“ und begann sogleich ihr Englisch, das
eingerostet war, zu polieren.
Mir war das Geschehen recht egal, ich wollte nur noch schlafen. Sogleich verkroch ich
mich auf mein Zimmer und döste für mehrere Stunden ein. Am späten Vormittag war ich
immer noch nicht richtig wach, aber es reichte, um das geschäftige Treiben auf der
Station, zu beobachten. Helga machte dem Personal die Hölle heiß. Den genaueren
Hergang konnte ich zwar nicht mehr rekonstruieren, es scheint jedoch, dass ihr
richterlicher Entschluss sie hier festzuhalten zeitlich abgelaufen war. Ob sie
rausgeschmissen wurde, oder selber hinaus wollte blieb unklar. Tatsache war aber,
dass sie ihre Originalunterlagen haben wollte, die ihr verweigert wurden. Wütend
flüchtete sie vor dem Personal, das ihr hinterher schritt. Schließlich gelang es einem
Arzt, sie mit Kopien zu beschwichtigen. „Sehr anständig von Ihnen“ – kommentierte sie.
Circa eine Stunden später verlies sie und; auch Kathrin durfte nach dreizehn Monaten
endgültig raus.
Helga verabschiedete sich herzlich von mir. „Schade, jetzt wird es hier langweilig
werden“ – bedauerte Bärbel.
Tatsächlich traf das nur auf die nächsten Stunden zu. Bereits am Abend war was wieder
los im Erdgeschoß vom Haus S15. Zunächst einmal erbarmte, sich einer von der
Chirurgie mich endlich zu besuchen. Er schaute sich meinen Leistenbruch an und
betätigte, dass es wohl operiert werden müsste, aber sagte auch, dass man dies
Übernächste Woche machen würde. Das enttäuschte mich ein wenig. Heißt es doch, so
was müsste zeitnah gemacht werden. Als er wieder ging, schaute ich aus dem Fenster:
Yaw spazierte im Hof und unterhielt sich mit sich selbst.
Plötzlich kamen Gestalten in weißen Kitteln hinzu. Ein bärtiger Mann ging mit Ihnen. Er
war wohl Übersetzer. „I don´t need you“ – sagte Yaw immer und immer wieder. Offenbar
wollten sie ihm Medikamente verabreichen. „You cannot force me. I`ll do not take any
medication. I don´t need you” Mehrere Minuten ging es so hin und her. Dabei wurde
seine Stimme immer lauter. Das Personal wurde unruhig. Ein Zivildienstleistender
schickte die Patienten in die Zimmer. Das war für die meisten nicht weiter schlimm, denn
im Zimmerfenster hatte man schon den besten Ausblick.
Kurz darauf klingelte die Eingangstür. Ein Polizeibeamter und eine Polizistin kamen in
voller Montur herein. Die Lage war sichtlich angespannt. Sie hielten einen gebührenden
Abstand zwischen sich und Yaw. Sie sprachen ihn an. Yaw verwies immer wieder
darauf, dass er sie nicht brauchen würden. „Ich spreche kein Englisch“ – sagte der
Polizist. „Fuck you“ – schrie Yaw quengelnd. „Du mich auch“ „Get away, you working for
CIA and Mossad. I don´t need you!” Zwei weiteren Polizisten kamen als Verstärkung.
Yaw, der sich sichtlich bedroht gefühlt hatte, wich zurück“ Ein bulliger Polizist kam auf
ihn zu und ergriff seinem Arm. Yaw versuchte sich loszureißen, doch die anderen
Beamten kamen hinzu. Sie drückten ihn zu Boden, Er brachte unsanft auf. Ein
Kittelträger bereitete eine Spritze von und stach zu. Dann trug man den Schwarzen in
den „Bau“. Ein Zimmer mit doppelter Tür und Kamera. Man fixierte ihn.
Achter bis zehnter Tag
Und wieder näherte sich das Wochenende. Am Freitag kam noch Helga zu besuch,
brachte Tabak und Süßigkeiten. Mit schuldete sie noch Geld, das sie einmal für
Zigaretten ausgeliehen hatte. Sie zahlte es von sich aus zurück.
Ich war aber zu erschöpft, so dass ich der Runden nicht lange Gesellschaft leisten
konnte,
Erst gegen Abend wurde ich wacher, dafür versuchte sich mein Darm zwischen
Bauchdecke und Leiste zu drücken. Schwester Elke holte tatsächlich einen
Krankenpfleger, der mich zur Notaufnahme brachte. Nach eineinhalb Stunden schaute
sich der Chirurg mich an und bestätigte, dass ich zeitnah operiert werden müsste.
Montag sollte ich zur Vorbesprechung.
Spätnachts kam ich auf mein Zimmer und hielt mein Gedärm im Schach. Am
Sonntagmorgen war ich wieder so schlapp, dass ich auf das Frühstück voll verzichtete.
Ich war nicht der einzige. Ein dunkelhaariger Bursche lag neben mir im Nachbarsbett. Er
muss spätnachts hierher gebracht worden sein. Wir beide brauchten einfach unsere
Ruhe. Bis Mittag lagen wir auf der Matratze, nur geweckt, um Medizin zu nehmen.
Zum Mittag wachte ich auf, als auf einmal Laserkanonen das Feuer auf mich eröffneten.
Nein, es war nur bloß ein skurriler Handyklingelton. Der Busche bekam ein Anruf. Er
hatte erst einen normalen Tonfall: „Hallo Mama, mir geht es gut. Ich bin hier im
Krankenhaus Eppendorf. Wann holst du mich ab?“ Von da wurde der Ton weinerlicher.
„Nein, du musst kommen. Der Arzt hat gesagt, ich kann abgeholt werden. Du musst
kommen, hörst du? Ich muss auch nicht zu Hause bleiben, ich gehe mit Kumpels weg“
Nach einigen Augenblicken wurde er merklich wütend. „Doch, du musst mich abholen,
sonst ist das Wochenende versaut. Doch. Hält´s Maul. Hol mich jetzt ab“ Nach ein bis
zwei Minuten wurde sein Tonfall wieder weinerlich. Aber er hat angefangen. Er hat mich
sauer gemacht. Bitte, hol mich jetzt ab“ Er flehte noch minutenlang, doch es war
zwecklos. Die Mutter des unsympathischen Kerls wollte ihn hier drin behalten. Er aber
wäre lieber mit Freunden auf die Piste gegangen.
Sein pickliges, derbes Gesicht offenbarte, dass er noch ganz Teenie war, und was ich
von den Gesprächsfetzen mitkriegte, ein aggressiver dazu. Mit war nicht danach, mit
ihm zu sprechen. Und das galt ebenfallsumgekehrt mir gegenüber. Er ging mit einer
Schachtel Zigaretten raus und knallte die Tür zu. Als er später wieder rein kam, legte er
sich wieder hin. Ich verließ meine Stube. „Schläft er bei dir?“ – fragte mich Anna. „Na du
hast vielleicht einen tollen Nachbar. Guckt nur mürrisch und macht auf Gangster“
„Erinnert mich an meinen Kleinen“ – meinte Bärbel.
Bärbel war die Mutter zweier Söhne und mit einem Türken verheiratet. Der jüngere Sohn
spielte sich, wie sie erzählte, als Ghettoschläger auf. Ich verstand mich prima mit Bärbel.
Sie erzählte gerne du freute sich, wenn ich Leckereien auf den Tisch stellte, die ich bei
meinen Besuchen geschenkt bekam.
Sie war hier, weil ihr Mann und ihre Söhne seit Jahren zerstritten waren. Sie geriet
zwischen die Fronten und ertrug es nicht mehr. Ich fragte nicht nach weiteren Details.
„Aber im Inneren ist er ein Milchbubi“ – ergänzte Bärbel ihre Einschätzung meines
neuen Zimmergefährten.
Ich war von allen erstaunt wie lange er schlafen konnte. Am späten Nachmittag schlief
er immer noch. Können das alleine Schlafmittel sein?
Ich hörte schließlich auf, mich zu wundern, da ich schließlich selber so erschöpf war.
Es war das Zyprexa. Ja, ich habe das auch bekommen. Ich bekam morgens so einen
trockenen Mund davor und Augenringe, die mir schmerzten. Na toll, welche Freude.
Durch die Glastür sah ich den Pfleger mit einem weißen, durchsichtigen Kanister mit
einer gelben Flüssigkeit aus dem „Bau“ spazieren.
Yaw war wohl immer noch aus Bett gefesselt.
„Ich wundere mich, dass du Zyprexa auch bekommen hast“ – meinte Frau C. zu mir.
„Das nimmt man normalerweise bei Psychosen“.
Das Wochenende verlief insgesamt langweilig. Der unangenehme Bursche wurde
verlegt. Yaw blieb aber bis Sonntag im Sicherheitszimmer eingesperrt, ohne sich
aggressiv verhalten zu haben
Elfter Tag
Der Drehtüreneffekt. So nannte es Stecki. Wenn Patienten immer wieder auf die Station
zurückgebracht werden mussten. Und ich wurde Zeuge so einer Begebenheit.
Er war früher Vormittag. Ich war gerade erst wieder auf den Beiden, denn nach dem
Frühstück war ich wieder mal so müde, dass ich mich wieder hinlegen musste. Da
schleusten auf einmal Polizisten jemanden durch die Eingangstür. Ich staunte nicht
schlecht, als ich die Person wieder erkannte. Es war Helga. Die Helga, die gerne im Hof
tänzelte und so sehr weiße Schokolade liebte.
Doch sie war nicht so wie sonst. Etwas stimmte nicht mit ihr. Ws war nicht die Helga, die
einen die Zeit schnell vergessen lies. Durch ihre Brille, die sie anhatte wirkte sie ernster.
Sie war ruhiger und gefasster. Ja, sie wirkte sogar melancholisiert.
„Hallo Lukas“ – sagte sie leise und zurückhaltend. „Was ist vorgefallen?“ – fragte ich
verwundert. „Nichts, die Polizisten waren so nett zu mir und brachten mich hierher“. Sie
senkte ihren Kopf und schaute nach unten.
Ich konnte es nicht länger ertragen. Ich griff nach ihrem Arm. Meine Finger umfasste der
ihre. So wie sie vor einigen Tagen bei mir tat. Sie schaute wieder hoch. Ich beobachtete
ihr Gesicht. Nach einer Weile änderte sich ihre Miene und ihre Lippen formten sich zu
einem schüchternen Lächeln. Aus dem Lächeln erwuchs ein Lachen. Uns aus dem
Lachen wurde schließlich ein Laut, der eine Mischung aus Gackern und Piepen war.
Sie kugelte sich fast vor Freude. Kurz darauf tänzelte sie wieder zur Radiomusik. Das
war die Helga, wie wir sie kannten!
Am selben Tag stand mein chirurgisches Vorgespräch auf dem Terminkalender. Der
Umstand, dass meine Eltern mich begleiten, freute die Stationsleitung. So mussten sie
keine Aufsicht entbehren. Der Termin war auf 14:00 Uhr angesetzt. Wir meldeten uns
ordnungsgemäß an, setzten uns aber in den falschen Warteraum, was wir erst nach
über einer Stunde merkten. Ich wies die zuständige Schwester daraufhin; in Sorge, dass
wir bereits aufgerufen wurden und den Termin verpasst haben. „Keine Sorge“ –
beruhigte uns die Schwester „Hier hat sich nichts getan“. Im Warteraum befanden sich
außer uns, vier Personen. Ein Gipfbeiniger, ein Rollstuhlfahrer und zwei junge Buschen.
Im Flur war ein wehleidiges Wimmern zu hören. Kein Gespenst, sondern eine alte Frau,
am Bett gefesselt, war alleine in einem Zimmer, dessen Tür offen war. Mehr als
eineinhalb Stunden begleitete uns ihr Klagen. Etwa um dieser Zeit wurde der
Rollstuhlfahrer aufgerufen. Die jungen Burschen waren sichtlich gelangweilt. Sie
verstrichen sich die Zeit mit Scherzen und Unfug. Nach zwei Stunden verging ihnen das
lachen aber auch und sie verließen den Warteraum, ohne aufgerufen worden zu sein.
Nach drei Stunden verlor auch der Mann mit dem Gipsbein die geduld und ging. Nach
dreieinhalb Stunden erst wurde unser Warten belohnt. Der Termin wurde auf den
Montag gelegt. Ich sollte endlich operiert werden.
Zwölfter Tag
Ich hatte mir erhofft, Helgas Anwesenheit würde mir die Lebensgeister wecken. Aber
meine Erschöpfung hielt an. Nur am späten Nachmittag war ich einigermaßen wach und
konzentriert.
Wir scherzten über MedikamenteBärbel und ich hatten die Idee gehabt, alle „Smarties“
In einem Wasserbottich zu schmeißen, aufzulösen und davon zu kosten. Wir erhofften
uns eine halluzigene Wirkung, was eine recht optimistische Erwartung war. Man musste
viel eher mit Herzrasen und Schwindelgefühl rechnen. Im unspektakularischen Fall mit
Übelkeit.
Ich jedenfalls habe mich die ganze Zeit geärgert, dass ich von Zyprexa augenblicklich
gähnen musste und schläfrig wurde. Aber ich war mir sicher, der Ärztin schlechtes zu
wünschen, nachdem ich hörte, dass mein OP-Termin auf ein Mal um eine Woche
verschoben wurde. Es bestand die Möglichkeit, so erklärte man mir, dass ich einen
Schlauch bekommen musste, damit das Blut aus der Wunde abfließen könnte.
Dies wurde Patienten verunsichern, so dass sie mir den Schlauch versuchen würden
fortzureißen. Meine Frage, warum Frau W. einen Infusionsschlauch mit sich führte,
wurde abgewimmelt.
Die Chirurgie aber hätte nicht die Möglichkeit gehabt, mich nach der Operation
„psychologisch zu versorgen…!“
Dreizehnter Tag
Es war vormittags und ich schrieb gerade an meinen Aufzeichnungen. Da klopfte es an
meiner Tür. Die Türklinge wurde runtergedrückt. Es traten zwei Personen herein. Die
erste war eine Pflegerin, die zweite war ein mürrisch und streng dreinblickender Mann
mit Brille und kariertem Anzug. Es schaute mich skeptisch an. Ich hatte das Gefühl, es
wäre aus einem beruflichen und offiziellen Anlass hier. War er ein Richter? Ein
Beamter? Ein Gutachter? Oder vielleicht ein Psychologe?
„Herr U., dies ist Herr V.“ – sprach die Schwester endlich. „Er wird für eine Nacht Ihr
Zimmergenosse sein“ Ich grüsste ihn und wir beide gaben uns die Hand. Die Schwester
zog sich zurück. „Um eines klar zu stellen“ – sprach der Herr V. im energischen, ja
gerade befahls…. Ton „Ich bin hier, um zu schlafen. Ich will Sie nicht stören. Sie aber
dürfen mich stören“ „Ist gut, ich werde Sie nicht daran hindern“ – erwiderte ich.
„Versichern Sie mir, dass ich Sie nicht Ihrer Freiheit beraube?“ Ich wunderte mich über
die Frage und verneinte. Immerhin wusste der Kerl, dass er manchen Personen auf den
Wecker gehen konnte, wenn seine wahrscheinlich exzentrischen Verhaltenmuster zu
Tage legte und andere damit konfrontierte. Er begann sich zu entkleiden und fragte
welcher Schrank frei sei. „Der rechte. Sie können bei der Kanzel einen Schlüssel
ausleihen“ Er schaute mich finster an, musterte mich von Kopf bis Fuß. „Sie werden auf
die Sachen aufpassen. Ich vertraue Ihnen“ – sagte er knapp.
Er zog sein Jackett aus, knöpfte dann sein Hemd auf. Unter seiner Kleidung entblößte
sich ein kurzarmiges Feinripphemd. „Ich wollte Sie nur warnen. Ich dusche nur freitags.
Mein Körper stinkt.“ Ich antwortete ihm, dass es mir egal sei, ich werde auch nicht
täglich duschen. „Ich tue dies aber aus religiöser Überzeugung“ – sagte er „Ich sage mir
immer: Im Schweiße meiner Arbeit“ – ergänzte er. „Auch das stört mich nicht“
Er zog die Hosen aus und hing die Socken offensichtlich im Schrank auf. Dann legte es
sich ins Bett hinein. Dort lag er für mehrere Minuten reglos. Als dann einen andere
Schwester ins Zimmer trat, hob er flink seinen Kopf und sagte „Für Sie gibt es keine
Krankenkassennummer. Ich rechne mit Ihnen privat ab“. Nach kurzem Hin und Her gab
sich die Schwester zufrieden und ging wieder. Daraufhin fragte Herr V. „Wie viel der
Aufenthalt in diesem Krankenhaus kosten würde“ „Ich habe mir sagen lassen bis zu
mehreren hundert Euro“
„Tausend werden wohl reichen“ – sagte er ernst.
Ich hörte Klimpern und einen Wagen rollen. Das Mittagessen wird angeliefert. Ich sagte
dies auch den Herrn V. „Ich bin hier zum Schlafen, nicht zum Essen. Das Essen ist hier
eh ein Fraß“ – sagte er erwütend. „Zugegeben, der Joghurt ist mit Aroma und Farbstoff
bearbeitet, aber der Rest geht doch“ „Ja, wenn man von Joghurt spricht. sein ganzer
Produktionszyklus ist widernatürlich“
Das hielt mich natürlich nicht von Essen ab. Ich ging, wie die anderen auch, während er
im Zimmer liegen blieb. Er rollte sich seitwärts zur Wand hin. Sein Hinter …. Unter der
Decke hervor.
Nach dem Essen schlich ich mich wieder ins Zimmer herein. Ich kritzelte an meinen
Unterlagen. Ich hörte gerade wie ein anderer Mann auf die Station gebracht wurde. Ihm
wurde erklärt, wie das Badezimmer funktionierte. Die Tür zum Bad stand offen, so
konnte ich jedes Wort aus dem benachbarten Raum hören.
Das Weckte den Herr V., wenn er denn überhaupt eingeschlafen war. „Glauben Sie,
dass ich hier einschlafen kann?“ „Sie können sich ja ein Schlafmittel verabreichen
lassen. Heute ist die Oberarztvisite“ Er sprang aus dem Bett, kleidete sich wieder an und
marschierte Schnurstracks zur Kanzel. Dort wurde sein Begehren abgelehnt. Es sei ja
schließlich heiligster Tag. Der sei nicht zum Schlafen. Auch die Betonung, dass es
Privatpatient wäre, überzeugte das Personal nicht. Nun gut, darauf wollte er einen
Kaffee. Aber nicht das widerliche Zeig, sondern seinen eigenen, denn er in seiner
Tasche mit sich führte. Ob dem stattgegeben wurde, vermag ich nicht sagen, aber er
kehrte noch einen in mein Zimmer zurück, wo er eine Erörterung über das Universum
begann: „Zunächst aber holte es seine Geldbörse raus. Es wühlte darin herum und legte
mir ein 5-Euroschein auf den Tisch. „Leg die in die Spendenschale in der Petri-Kirche in
der Mönckebergstr. Sie werden mir dort den Schein wiedergeben“ „Ich darf aber nicht
heraus“ – sagte ich. „Morgen darfst du raus um 11:30 Uhr auf den Rathhausmarkt.
Weißt du wann ich raus darf?“ Ich zuckte mit den Schultern So wie der sich benahm,
wohl noch eine ganze Weile nicht.
„ Es hat was mit den Urknall zu tun. Alles hat damit zu tun. Das Universum dehnt sich
aus, aber verschieden schnell. Was hat das zu Folge?“
Ich überlegte eine Weile. Würden nach seiner Theorie die Sternsysteme sich gleich
schnell bewegen, würden alle Ereignisse in der Geschichte zeitgleich ablaufen. Die
Kausalität würde in vielen Fällen wegfallen, oder die Zahl der Ereignisse würde sich
drastisch veringern. „Sehen wir es mal so, ich bin schneller draußen ais du“ stellte er
fest. Das Duzen kam recht plötzlich, irritierte mich aber nicht. „Auch die Gedanken
bewegen sich zeitversetzt. Deswegen bin ich heute dazu gekommen und du warst
schon hier, Was heißt das?“ Er schaute zu mir hoch, als er sah, dass ich nichts
verstand, worauf er hinauswollte, erzählte er weiter. „Das bedeutet alles Gedanken sind
...endlich“ Nun dem würde so nach einer zustimmen, aber die Verknüpfung mit der
Materie und Energie im All blieb mir unergründlich. Würden sich Gedanken durch den
Urknall fortbewegen wie Masse im Kopf, dann würde sie unendlich und stetig in der
Leere in Bewegung sein, wenn sie nicht in einer Athmophäre haften bleiben“
Er erzählte noch eine Weile weiter, ich konnte dem Gesprächlauf nicht weiter folgen..
Kurz darauf redete er nämlich von unendlichem Gedanke, Ich fragte, welcher das sei
„Der Gedanke der ewigen Liebe“
Er wollte darauf gehen, faselte was von Religion und das ich was darüber schreiben
sollte. Ich fragte was. „In Tansania haben sie die ältesten Götterbilder. Wenn die
Menschen ein Ritual feiern, wäre das ein weltweiter Glaubenerkenntnis für die
Menschheit.“
Der Herr verlangte wenig später gehen zu dürfen. Und tatsächlich ging er ca. eine
Stunden später.
Vierzehnter Tag
„Frau B, sie haben sich schon wieder verspätet. Sie haben uns doch versprochen in
einer Stunde wieder hier zu sein“ „Ich war in einem Gespräch vertieft. Da habe ich die
Zeit vergessen, Dann waren diese unfreundlichen Schwestern auf einmal da. Welche
mit kurzen Haaren und kräftig gebaut. Das hat mich alles an die Nazizeit erinnert…“
Frau B. war stets mindestens zweimal draußen. Fast immer verspätete sie sich, was ihr
immer wieder Tadel einbrachte. Aber sie durfte in diesen Tagen die Station verlassen.
Auch die schweigsame Anna sollte gehen. So dass diese Station recht leer wurde. Am
Wochenende schien hier wieder langweilig zu werden.
Aber heute würde mir nicht langweilig werden. Ich sollte heute ein Gespräch mit dem
Oberarzt haben. Das besondere: Im Beisein von über 20 Studenten, die – wenn ich er
erlaubte- fragen stellen durften. Es war zunächst ungewohnt, mich vor soviel Leuten
seelisch zu entblößen, aber irgendwie war meine Zunge lockerer als sonst. Die Fragen
der Studenten waren sogar recht tiefgründig.
Der Doktor stellte dagegen nur Standardfragen: „Haben Sie manchmal das Gefühl, sie
verschwinden mit Ihrer Umwelt?“ „Ich nehme kein LSD…
Fünfzehnter Tag
Am Freitag herrschte enormer Betrieb. Nachdem es am Donnerstag, so leer war, dass
die Abendrunde nur an einem Tisch Platz fand. Bärbel und ich waren noch erstklassige
Gesprächspartner mit einigen Gemeinsamkeiten, wie zum Beispiel einen Ähnlichen
Geschmack, was Essen anging. Doch das reichte nicht, um seinen Bedarf an
menschlichen Kontakten zu befriedigen.
Helga sorgte ab und an für Unterhaltungen, doch sonst war der Alltag trist. Yaw schaute,
nachdem er e Tagelang fixiert wurde, von morgens bis abends CNN. Petra und Frau F.
waren meist auswärts. Frau C. und Dornröschen dagegen ganz mit sich selbst
beschäftigt und kamen nur zum Rauchen aus ihrem Zimmern. Frau W. war bettlägerig
und hing an einer Infusion, denn sie wurde zwangsernährt.
Melitta war nur abends zu sehen und Frau F. schließlich war wegen ihrer Medikamente
zum Teil schwer ansprechbar. Am Freitag aber wurden 6 Patienten neu aufgenommen.
Das Personal war den ganzen Tag auf den Beinen.
An meiner Tür klopfte es zur Mittagszeit. Es war ein kleiner Mann, dunkelhaarig und
dunkelhäutig. Seine Beine mussten wohl vor längerer Zeit zu schaden gekommen sein,
denn er bewegte sich fort wie ein Pinguin. Mit kleinen Schritten watschelte er ins
Zimmer. „ Hallo, ich heiße Ali, wie geht’s dir?“ – sagte mit starkem Akzent. Ich reichte
ihm die Hand und sagte, dass es mir sehr gut ginge. „Sehr gut. Dankeschön“ –
plapperte er erfreut und verbeugte sich. Der etwas ältere Iraner, der ständig grüßte und
sich ständig für etwas bedankte, verbrachte die ersten Stunden fernzusehen. Yaw saß
im Fernsehzimmer. Er war schlecht gelaunt, weil er schon so lange ohne Ausgang
eingesperrt wurde. Elizar, so hieß Ali in Wirklichkeit, lies sich nicht daran stören und
schaute die CNN-Nachrichten.
Schon bald fand er Anschluss zu den anderen. War er doch politisch gebildet und
reflektierte aktuelle politische Ereignisse. „Israel geht kaputt durch Erdbeben“ – erzählte
es erfreut in der Abendrunde. „Ich mache weg, Ich bin Jesus“ „Meinen Sie nicht eher ein
Erdbeben in Ihrem Kopf?“ – fragte der Pfleger frech. Von dann an begnügte er sich
damit andere nach ihrem Wohlbefinden zu fragen. Jedem wünschte er in der Früh einen
guten Morgen, Bei jeder Mahlzeit wünschte er allen einen guten Appetit. Und den hatte
er!!!!
Das Essen, das er bekam war tatsächlich knapp bemessen. So naschte er gerne bei
anderen mit. Ob ein übrig gebliebener Brot, eine Tütensuppe oder Schokolade. Wenn
man ihm etwas anbot, griff er gierig zu und verschlang es. So, dass er schließlich die
Rationen vergrößert bekam. „Dankeschön! Vielen Dank!“ Und ein Lächeln waren seine
Reaktion. Trotzdem hortete es alles, was er nicht sofort verspeiste im Zimmer. Bärbel,
die in der letzten Zeit kaum Appetit hatte, gab einmal Elizar ihr ganzes Abendbrot zu
essen. Er war somit ein freundlicher, wenn auch etwas anstrengendes Zeitgenosse.
Dafür hilfsbereit. Manchmal war er aber auch in sich gekehrt. Dann sprach er zu sich
selbst auf iranisch und sang.
Einmal erzürnte er, oder aber freute er sich ganz besonders. Da zerschlug er draußen
im Hof eine Tasse. Helga, die inoffizielle Seelsorgerin der Station, eilte sofort zu ihm und
beruhigte ihn erfolgreich. Sie verstanden sich gut.
Am Sonntag fand Elizar noch eine Deutschlandkarte. Er fand derart großen Gefallen
daran, dass es sie die ganze Zeit an behielt. Nur zum Schlafen setzte er sie ab.
Genauso handhabte er mit seiner Lederjacke, die er zum Schlafen zwar auszog, aber
sie trotzdem ins Bett nahm als Unterlage.
Nachdem das Wochenende vorbei war, kamen seine Pflegerinnen ihn besuchen. Sie
sagten, sie wollten ihn bald abholen. Elizar war aber bei uns vollauf zufrieden und wollte
gerne noch etwas bleiben
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