Beispiel für die Lösung von Klausur Nr.1: Kamala Wittiber, Q2a (bewertet mit 15 Punkten) 1. Der Textausschnitt von Peter Christian Giese aus der Klett Lektürehilfe zu „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann beschreibt die unterschiedliche Auffassung des Unheimlichen durch Nathanael und den Leser. Der Leser hat nicht immer die gleiche Sichtweise wie Nathanael, da er sich nicht sicher sein kann, was der Realität entspricht und was Nathanaels Wahnvorstellungen. Für den Leser stellt sich die Frage, welche der Figuren glaubhaft ist - Nathanael, Clara oder der unbekannte Erzähler. Die Erzählung bietet verschiedene Möglichkeiten an, kaum hat man sich aber auf eine plausible Erklärung festgelegt, wird diese durch die weitere Handlung sogleich widerlegt. Der Leser wird dadurch mehr und mehr verwirrt und es erscheint ihm immer unheimlicher. 2. Der Textausschnitt von Peter Christian Giese macht deutlich, dass es für den Leser schwierig ist, sich für eine Sichtweise zu entscheiden. Auf der einen Seite steht die Hauptfigur Nathanael, der mit seinen Krankheitsschüben zwischen Wahn und Realität schwankt und auf der anderen Seite Clara, die als freundliches, liebes Wesen mit einem klaren Blick für die Realität auftritt. Der Advokat Coppelius, den Nathanael schon früh als unheimlich und böse wahrnimmt (S.14, Z.23-25) entpuppt sich schließlich als der Sandmann (S.13, Z.21-23). Der Leser ist geneigt Nathanael Glauben zu schenken, vor allem als Coppelius, wie in der Geschichte der Amme, seine Augen fordert (S. 15 Zitat: „Augen her, Augen her!“). Eine Urangst, nämlich vor dem Verlust der Augen, wird beinahe wahr und später tritt auch der Tod des Vaters auf unnatürliche Weise ein. Auch Claras zuerst so freundliche, helle Augen verwandeln sich in den Tod, der ihn anblickt (S.30, Z.31f. „Nathanael blickt in Clara’s Augen; aber es ist der Tod, der mit Clara’s Augen ihn freundlich anschaut.“) Wieder wird eine seiner Befürchtungen wahr. Da auch die Frage offen bleibt, ob Coppelius und Coppola die gleiche oder zwei verschiedene Personen sind (S.18, Z.18-27), ist der Leser unschlüssig wem zu glauben ist. Claras Figur, die als freundlicher, lebhafter „Schutzgeist“ (S.22, Z.16) beschrieben wird, schafft es immer wieder mit ihrem klaren Blick für die Realität, ihre Sicht der Dinge glaubhaft erscheinen zu lassen. Sie beweist mit ihrem Handeln großes Geschick, indem sie auf Nathanael eingeht, ohne sich jedoch auf seinen Wahn einzulassen (S.21, Z.11-18). Auch entwickelt der Leser mehr Sympathien für Clara, als sie anstelle von Olimpia als Automat bezeichnet wird (S.31, Z.35). Dies macht wieder Nathanaels Umkehr der Realität deutlich. Dennoch ist auch Clara nicht in der Lage, die beiden Figuren Coppelius und Coppola auseinander zu halten (S.22, Z.5-14). Ihre Rolle als „helle Seite“ lehnt Nathanael immer wieder ab, um sich zu den dunklen Mächten und Dämonen zurückzuziehen. Er beschwört das „Dunkle und Böse“ immer wieder herauf (S.30, Z.3-7), worauf Clara auf ihn einzuwirken versucht. Der Erzähler, der die Geschichte nach den Briefen zu Ende erzählt, bleibt unbekannt, rechtfertigt seine Vorgehensweise (S.25) und ändert des Öfteren seine Erzählerrolle: Zuerst neutraler, auktorialer und schließlich personaler Erzähler, der das Geschehen bewertet. Er scheint selbst nicht immer einen klaren Blick für die Realität zu haben, was nur weiter zur Verwirrung und unheimlichen Empfindung des Lesers führt. Wahn und Realität verschwimmen und lassen sich nicht mehr trennen. Immer wenn der Leser wieder geneigt ist, Nathanael zu glauben und zu vertrauen, ist Clara mit ihren Erklärungen zur Stelle (S.21, Z.1118) oder Olimpia erweist sich als leblose Puppe (S.45, Z.6-9), wobei dem Leser absurd vorkommt, wie man auf so etwas hereinfallen kann. Jedoch stellt sich die Frage, wer auf dem Turm die Tür abgeschlossen hat (S.49, Z.8). Die Erzählung zeigt Möglichkeiten und Erklärungen auf, hat sich der Leser jedoch gerade auf eine Möglichkeit eingelassen, wird diese sofort widerlegt, wie z.B. auf S.45, auf der Coppola von Spalanzani als Coppelius bezeichnet wird. Der gerade gewonnene Eindruck, Coppelius und Coppola seien zwei verschiedene Personen, ist damit wieder zunichte gemacht. Der Textausschnitt Gieses macht deutlich, dass es unmöglich ist, sich auf eine Figurenperspektive oder auch die des Erzählers vollkommen einzulassen, da sich keine wirklich belegen lässt. Es wird wahrscheinlich, dass der Leser absichtlich verwirrt und verunsichert werden soll, was dem Autor auch gelingt. Am Ende verbleibt der Leser mit einer Empfindung des Unheimlichen. 3. Ich selbst würde Hoffmanns Erzählung nicht als unheimlich bezeichnen, aber als verwirrend und verunsichernd. Die wechselnde Rolle der Erzählperspektive , sowie die vielen ungeklärten Fragen, die auch am Ende noch offen bleiben, führen zu diesem Eindruck. Dennoch würde ich diesen Eindruck nicht als unheimlich bezeichnen, was aber auch einfach an meiner Auffassung des Unheimlichen liegen kann. Für eine unheimliche Empfindung müssten in der Erzählung übernatürliche Phänomene vorhanden oder beschrieben sein, die ich hier aber nicht finde. Meiner Meinung nach lässt sich z.B. die Existenz von Coppelius und Coppola oder auch nur die einer Person auf den Wahn Nathanaels oder einfach auf Tatsachen der Realität zurückführen. An dieser Frage kann ich jedoch nichts Unheimliches finden. Auch der Glaube an dunkle Mächte bleibt jedem selbst überlassen. Eine Tatsache steht für mich jedoch fest, nämlich dass Nathanael an einer ernst zu nehmenden, psychischen Krankheit leidet, die viele Unstimmigkeiten in dieser Erzählung erklären könnte. Allein der Wahn Nathanaels hat für mich etwas Unheimliches, nicht aber die Erzählung an sich.