Dr. Paul C. Martin Stellvertretender Chefredakteur der BILD (geschrieben im Jahr 1999) Die Bitte, die Andreas Harms stellt, geht nach einem persönlichen Text über ein Jahr oder ein Ereignis der letzten 50 Jahre, welches mich geprägt hat. Ich werde bald 60 und kann also mit ziemlich guter Erinnerung die 50 Jahre überblicken. Aber kann ich einen so langen Zeitraum auch derart präzise analysieren, daß ich sagen kann, etwas hätte mich besonders so sehr geprägt, daß anderes, was ich erleben durfte, dagegen verblaßt? Zeit ist ein endloser Strom. Dir geht es wie einem Wanderer, der sich an einem Ufer niedergelassen hat. Es ist immer derselbe Strom aber doch immer ein anderer. Ich glaube daher, das Schönste für mich ist die Tatsache, daß ich überhaupt an diesem Strom sitze, also das vergangene halbe Jahrhundert miterleben durfte. Am wichtigsten darin war mir immer die Freiheit, und zwar die ganz persönliche Freiheit. Dies habe ich nie stärker gespürt als ich 1969 in Merseburg Archivforschungen betrieb. Merseburg war damals eine kleine Stadt in einem unfreien System, unter dem Millionen meiner Landsleute leben mußten. An einem Sonntag ging ich durch die kleine, graue Stadt (alle Städte in der ehemaligen DDR vergrauten in unterschiedlichem Tempo) und überlegte mir, was ich wohl machen würde, wenn ich nicht Westbürger wäre, mit einer Erlaubnis, dieses unfreie Land jederzeit wieder verlassen zu können. Die Straßen waren leer, ich kam an einer kleinen Kneipe vorbei und wollte ein Bier trinken. Aber die Kneipe war zu. Ich sah keinen Menschen und hatte bald das Gefühl, überhaupt ganz allein zu sein. Allein und - potentiell - unfrei. Dieser Gedanke machte mich schwermütig und ich spürte: Freiheit ist eine Sache, die du nur fühlst, wenn du sie verloren hast. Ich ging danach über die Felder, bis es dunkel wurde und kehrte dann in mein kleines Hotel zurück. Dort lag ich lange wach und weinte. Am nächsten Tag saß ich wieder im Archiv und wälzte endlose Bände voller alter preußischer Akten (die nach dem Kriege in Merseburg ausgelagert waren). Vor mir Reihen von gebeugten Köpfen, die alle Akten studierten. Plötzlich hörte ich aus dem Nebenzimmer Händeklatschen und Bravorufe. Es war der Tag, an dem Gustav Heinemann zum deutschen Bundespräsidenten gewählt wurde. Die Archivbeschäftigten hatten die Wahl über den Empfang eines Westsenders verfolgt. Alle standen plötzlich auf und riefen "Heinemann, Heinemann!" Mir kam es vor als riefen sie "Freiheit, Freiheit!" Wieder weinte ich - diesmal waren es Freudentränen. Das Gefühl der Freiheit hatte mich zum ersten mal durchströmt, als in meinem Heimatdorf Oberammergau am 20. April 1945 die siegreichen Amerikaner einrückten. Der Bürgermeister ging den Truppen mit einer weißen Fahne entgegen und wir warteten neugierig auf dem Dorfplatz. Als die Amerikaner auf den Panzern ins Dorf gefahren waren, lachten sie uns an und warfen uns Kindern Kaugummi zu. Freiheit hat auch etwas mit besserem Leben zu tun. Das zweite Mal erlebte ich das Gefühl Freiheit 1956, als der Ungarnaufstand losgebrochen war. Mit einem Schulfreund verließ ich nachts heimlich das Internat im oberbayrischen Ettal und schlug mich nach Innsbruck durch und von dort über Wien bis an die österreichisch-ungarische Grenze. Dort fragten wir nach Waffen und dem Weg nach Budapest, Grenzer fingen uns ab. Wir zwei verhinderten Freiheitskämpfer wurden mit einem Polizeifahrzeug wieder nach Deutschland gebracht. Dann aber kam der Prager Frrühling und die Besetzung der CSSR durch die Truppen des Warschauer Paktes. Ich war damals Journalist bei der Zeitung "Christ und Welt" und hörte die Meldung als einer der ersten, denn ich saß mit Freunden bis in die Morgenstunden zusammen, als plötzlich die Sondermeldung durchkam. Wir fuhren sofort in die Druckerei und schmissen das Blatt um, das gerade gedruckt werden sollte. Da ging Freiheit verloren und wir waren verbittert. Einen Triumph und obendrein ihren größten feierte die Freiheit schließlich, als die Mauer fiel. Wer diesen Novemberabend vor dem Fernseher verbracht hat, wird die Bilder nie vergessen: erst die Pressekonferenz, wo die Maueröffnung bekanntgegeben wurde (ob es ein Versprecher, Zufall oder Absicht war ist bis heute nicht geklärt), dann die Menschen, die sich umarmten, die Trabbis, die in einem Rutsch von Berlin gleich bis nach Hamburg fuhren, wo ihnen Landsleute Zehnmarkscheine unter die Scheibenwischer klemmten. Diese Erfahrungen haben mich am stärksten geprägt. Und ich weiß, ich werde alles tun, was in meiner Kraft steht - ob als Journalist oder als einfacher Bürger - um die Freiheit zu schützen und zu fördern. Jede Prägung zeigt zum Schluß ein Profil. Das Erlebnis Freiheit hat das Wort Freiheit in mein Bewußtsein gestanzt. Sie ist zu meinem ich geworden. Ich appelliere an alle jungen Menschen, die Freiheit als das höchste aller Güter zu achten und zu bewahren. Das fiel zum Thema "persönlich geprägt" ein. Alles andere ist nebensächlich. Dr. Paul C. Martin (dieser Text wurde von Andreas Harms vermittelt)