Joh 16,33

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Ermutigung mitten in der Angst
Wenn wir uns auf einem Kongress der Akademie für Psychotherapie und Seelsorge mit dem Thema „Keine Angst vor etwas
Mut“ beschäftigen, dann können manchem beim Stichwort
„Angst“ die Phobien in den Sinn kommen, die kleinen und
großen Ängste des Alltags, mit denen wir in unserer Beratungsarbeit zu tun bekommen. Ich möchte diesen Horizont im
Blick behalten und doch für diese Andacht einen etwas anderen Schwerpunkt setzen.
Wird in Gemeinden oder christlichen Fortbildungsveranstaltungen für Berater und Therapeuten das Thema „Angst“ behandelt und nach einer biblischen Orientierung zu dieser Thematik gefragt, dann rückt oft ein Wort Jesu in den Mittelpunkt,
das wir im Johannesevangelium finden: Dies habe ich zu euch
geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr
Angst (oder Bedrängnis); aber seid guten Mutes, ich habe die
Welt überwunden (Jh 16,33).
Ermutigung oder Entmutigung?
Die Aufforderung „seid guten Mutes, ich habe die Welt überwunden!“ kann von vielen als Ermutigung aufgenommen werden. Es kann dabei helfen, den Blick wegzulenken von der
Angst, die wir in dieser Welt haben und die Augen auf Jesus zu
richten, der diese Welt, in der wir Angst haben, überwunden
hat.
Doch kann man dieses Wort als therapeuticum für alle unsere
Ängste verwenden? Wird es helfen bei der Angst, in einen
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Fahrstuhl zu steigen, bei der Angst auslösenden Begegnung
mit einem Hund, bei der Angst davor, die Anerkennung von
wichtigen Menschen zu verlieren? Kann durch den Glauben an
Jesus alle Angst überwunden werden?
Was ist, wenn wir als Christen dennoch große Angst haben?
Stimmt dann etwas nicht in unserem Glaubensleben? Müssten,
sollten wir nicht frei von Angst sein, wenn wir doch glauben
können, dass Jesus die Welt überwunden hat?
Wer so zu denken und so zu fragen gelernt hat, für den wird
dieses Jesuswort nicht eine Ermutigung sein, sondern eine
Entmutigung. Denn: Nichts ist geeigneter, in den Menschen tief
sitzende Ängste hervorzurufen, als die irrige Behauptung, das
Leben solle frei von Angst sein (Fulton J. Sheen).
Die tief sitzende Angst
Solange wir in dieser Welt leben, werden wir Angst haben –
tief sitzende Angst, die auch dann noch weiter besteht, wenn es
uns gelingt, spezielle Phobien zu therapieren und lebeneinschränkende Vermeidungsstrategien zu überwinden.
Die Bibel zeigt uns, wo die Angst ihre Wurzel hat. Schon auf
den ersten Seiten der Bibel lesen wir von Angst. Wir lesen,
dass Adam und Eva von der verbotenen Frucht aßen. Und dann
versteckte sich Adam mit seiner Frau im Garten Eden vor Gott.
Als Gott ihn rief: „Adam, wo bist du?“, antwortete er: „Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich.“
Diese Begebenheit weist auf die Herkunft der Angst hin. Der
Mensch hat sich Gott gegenüber entfremdet. Er lebt nicht mehr
so, wie Gott es eigentlich wollte. Er hat die Freiheit und die
Weite eines Lebens vor Gott verloren. Er ist mit Gott entzweit,
Mann und Frau sind miteinander entzweit, und im Grunde ist
der Mensch so mit sich selbst entzweit. Hermann Hesse hat in
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seinem Buch „Demian“ einmal geschrieben: „Man hat nur
Angst, wenn man mit sich selbst nicht einig ist“. Es geht ein
Riss durch diese Welt hindurch, der das Leben auf dieser Erde
eng macht, und das erzeugt Angst: Angst vor Gott, Angst davor, die Aufgabe seines Lebens zu verfehlen, Angst vor dem
Tod, Angst vor dem letzten Gericht, die in modernem Gewand
sich als Angst vor dem Nichts maskiert. Von dem irischen
Schriftsteller George Bernard Shaw stammt der bemerkenswerte Satz: „Wer nicht glaubt, hat vor allem Angst“.
Damit ist nun keine Grenze zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden gezogen. Denn der Unglaube im eigentlichen Sinn
des Wortes, das fehlende Vertrauen und Zutrauen zu Gott, erfasst und bestimmt alle Menschen, auch die, die beten.
Manche sagen: „Wenn du Angst hast, dann kannst du dich an
Gott wenden. Das Gebet wird dir helfen, deine Angst zu überwinden.“ Doch wenn uns die große Angst befällt, dann hilft
uns auch das Gebet nicht immer, die Angst wieder loszuwerden. Im Gegenteil: dann schleicht sich die Angst in unsere Gebete, und wir beginnen, uns auch beim Beten um uns zu drehen, um unsere Sorgen und Ängste. Dann kann auch das Gebet
zu einem Weg werden, die Ängste stärker zu fokussieren.
Es ist eine irrige Vorstellung, zu glauben, man könne die Angst
loswerden, die die Weltgeschichte und auch unser Leben
durchzieht. So lange wir leben, leben wir in einer Welt, in der
wir Angst haben. Das sagt Jesus unmissverständlich: „In der
Welt habt ihr Angst“.
Das Ende der Angst
Erst im letzten Buch der Bibel erfahren wir von einer Hoffnung
am Ende der Zeiten, die alles auf den Kopf stellt und eine Perspektive erschließt, die über alles hinaus geht, was wir in dieJoh 16,33
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ser Welt wissen und erfahren. Da heißt es: „Gott selbst wird alle ihre Tränen trocknen, und der Tod wird keine Macht mehr
haben. Leid, Angst und Schmerzen wird es nie mehr geben;
denn was einmal war, ist für immer vorbei“ (Offb 21,4).
„Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen“ – Kann es
sein, dass wir mit Tränen in den Augen in Gottes Reich ankommen? Ja, das kann gut sein! Gott weiß: unsere Wunden
sind noch zu frisch, und unsere Augen können die Herrlichkeit
Gottes gar nicht sehen, weil alles noch so verschwommen ist.
Gott wischt die Tränen fort, damit wir seine Güte und Nähe
überhaupt sehen können.
Das Wesen der Bedrängnis
Jesus selbst kannte die Angst, und er hat sie im Garten Gethsemane durchlitten. Und das ist bei seinen Jüngern nicht anders. Jesus sagt ihnen: In der Welt habt ihr Angst. Und dabei
haben wir es nicht mit neurotischen Ängsten zu tun, sondern
mit handgreiflichen Bedrohungen, mit Mächten, die uns
manchmal zu groß erscheinen.
Im Griechischen steht hier deshalb auch nicht das Wort für
„Furcht oder Angst“ (phobos), sondern für „Bedrängnis“
(thlipsis). Es ist damit die tödliche Bedrängung in der letzten
Zeit gemeint, bevor der Messias kommt.
Diese Bedrängnis hat ihr Wesen nicht nur darin, dass auf Menschen etwas zukommt, das den Tod bringen könnte. Die Bedrängnis besteht vielmehr darin, dass das, was in der Welt geschieht, allem zu widersprechen scheint, was vorher geglaubt
wurde. Wie können Christen daran glauben, dass sich das
Reich Gottes auf der Erde ausbreitet, wenn sie gleichzeitig erfahren müssen, dass die Gemeinde, die sich um Jesus Christus
sammelt, immer mehr an die Seite gedrängt uns sogar verfolgt
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wird? Wir glauben, dass Jesus der König dieser Welt ist. Aber
scheint die Welt nicht manchmal ein Gesicht zu zeigen, das uns
fragen lässt, ob nicht ein anderer herrscht?
Das ist das Thema der Offenbarung, des letzten Buches der Bibel. Und auch Jesus hat diese Frage aufgenommen. Er sagt uns:
Ich bin der Messias. Ich bin der Herr über diese Welt, die in
solcher Bedrängnis liegt.
Der Glaube, der sich darauf stützt wird immer auch ein Glaube
gegen den Augenschein sein, ein Glaube, der noch etwas anderes weiß als das, was er in der Welt sieht und erfährt.
Seid guten Mutes!
Und deshalb bliebt Jesus bei der Angst auch nicht stehen. Er
sagt uns nicht: Findet euch damit ab, dass ihr in der Welt Angst
oder Bedrängnis habt, sondern er sagt: „Seid guten Mutes,
denn ich habe die Welt überwunden!“
Seid guten Mutes! Diese Formulierung klingt ein wenig anders
als wenn er gesagt hätte: seid mutig. Es gibt einen Unterschied
zwischen „guten Mutes sein“ und „Mut haben“. Jesus fordert
nicht so sehr dazu auf, Mut zu haben, sondern er ermutigt dazu,
trotz der Angst und trotz der Bedrängnis den Mut nicht sinken
zu lassen. Das Wort Mut hat an dieser Stelle nicht den Klang
von „mutig“, sondern den von „Sinn, Einstellung, Stimmung,
Gesinnung“. Es bezeichnet den Ort im Menschen, wo er sich
innerlich ausrichtet auf ein Ziel, woran sich seine Grundstimmung orientiert, wo sein Verhältnis zu sich selbst in der Tiefe
verankert ist.
In diesem Sinn wird das Wort auch gebraucht, wenn Jesus zu
dem Gelähmten, der ihm auf einem Bett gebracht wird, sagt:
„Sei guten Mutes, Kind, deine Sünden sind dir vergeben“.
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Etwas muss stärker sein als die Angst
Wo immer versucht wird, eine Angst zu überwinden, da muss
etwas gefunden werden, was stärker ist als die Angst: die Lebenslust, die Neugier, die Liebe zu einem Menschen, eine
sinnvolle Aufgabe, ein Helfer in der Not, die Geborgenheit in
einem größeren Ganzen, die Gewissheit, dass einem nichts geschehen kann, was einen letztlich vernichtet, die Hoffnung auf
die endgültige Vernichtung dessen, was mir Angst macht, ein
Blick über die augenblickliche Bedrohung hinaus, ein Wissen
darum, dass dies Leben nicht die letzte Gelegenheit ist, in der
alles verwirklicht werden muss.
Die Ursache der modernen Lebensangst ist der Schwund des
Glaubens an ein ewiges Leben. Christus setzt an die Stelle dessen, was uns ratlos und beklommen macht, an die Stelle der
Angst die Hoffnung auf ein Leben über den Tod hinaus. Leben
ist nicht Vergehen, Zerrinnen, Aufhören, Fallen ins Dunkel
und Nichts, sondern die Vorstufe zum eigentlichen, erfüllten
und vollkommenen Leben.
Diese Zuversicht ist etwas, was durchaus im Leben heute eine
große Bedeutung hat. Wenn wir die Psalmen lesen, werden wir
auf Sätze aufmerksam, die von Menschen stammen, die Angst
hatten, tiefe Angst, die das Leben fast unmöglich macht. Aber
es gelingt ihnen, diese Angst auszusprechen; nicht nur auszusprechen, sondern zu adressieren. Sie finden ein Gegenüber,
dem sie ihre Angst und ihre Sehnsucht anvertrauen können. So
z. B. in Ps 18,7: „Als mir Angst war rief ich den Herrn an und
schrie zu meinem Gott“.
Und die ausgesprochene, adressierte Angst enthält schon ein
Stück Befreiung wie im 55. Psalm: „Mein Herz ängstet sich in
meinem Leibe und Todesfurcht ist auf mich gefallen... Ich
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sprach: O hätte ich Flügel wie Tauben dass ich wegflöge und
Ruhe fände.“ Wer so sprechen kann setzt schon zum Fluge an.
Die Männer und Frauen des Widerstands gegen Hitler waren
Menschen, die die Angst kannten wie alle andern. Denn diese
Angst gehört zum Menschen: „Mensch sein, heißt Angst haben“. (Alfred Adler). Aber sie gehen anders mit der Angst um.
Sie wissen dass das, was Angst macht, nicht das Letzte im Leben ist.
Diese Zuversicht hat Dietrich Bonhoeffer zum Ausdruck gebracht: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er
Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich
glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft
geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie uns nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn
verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich glaube dass Gott kein zeitloses
Schicksal ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“
Impulse zum Schluss
Zum Abschluss einige kurze Impulse zum Weiterdenken:
Hermann Hesse: „Es fehlt nicht an Autoren, deren Verzweiflung an unserer Zeit und deren Angst vor dem Chaos echt ist.
Es fehlt aber an solchen, deren Glaube und Liebe ausreicht,
sich selber über dem Chaos zu halten.“
Jörg Zink: „Man hat immer wieder gesagt, es sei das Kennzeichen des Menschen, dass er aufrecht stehen, dass er frei gehen
und sein Haupt erheben könne. Aber manchmal ist es menschlicher, zu sitzen und zu zagen. Manchmal ist der wirkliche
Mensch daran kenntlich, dass er den Mut hat, seine Angst und
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Verzweiflung einzugestehen, dass er sich dem Grab, dem Symbol der Hoffnungslosigkeit, gegenübersetzt und auf den Tod
oder das Wunder wartet. Es hat einer gesagt: Menschsein
heißt leiden können. Wer am tiefsten zu leiden versteht, ist am
meisten Mensch.“ Das einzugestehen, braucht es auch Mut!
Paul Tillich: „Angst ist die Abwesenheit von Vertrauen.“ Vielleicht ist das Gegenteil von Angst nicht Mut, sondern Vertrauen, und der Ton des Vertrauens schwingt in dem biblischen
Wort „Glaube“ mit.
Elisabeth Lukas: „Wen allein die Ohnmacht bewegt, sich in einer Aufwallung der Angst an eine höhere Macht zu wenden,
der ist nicht wirklich geborgen, sondern greift nach ‚Strohhalmen’, von deren Festigkeit er sich keineswegs überzeugt
hat. Wahres Grundvertrauen hingegen schwingt durch alles
hindurch, durch sämtliche Auf und Abs der Gezeiten.“
Anselm Grün: „Eine Hilfe ist, sich die Angst einzugestehen,
aber gleich daran zu glauben, dass in mir ein Raum ist, zu dem
die Angst keinen Zutritt hat.“
Sprichwort aus China: „Angst klopfte an, Vertrauen öffnete die
Tür. Keiner war draußen.“
Martin Luther: „Alle Ängstlichkeit kommt vom Teufel, der Mut
und die Freudigkeit von Gott.“
HANS-JÜRGEN PETERS
INSTITUTO CONSIGLIO, MARBURG
05. NOV. 2005
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