Studie belegt: ADHS wird zu häufig diagnostiziert David Klemperer 28.5.2012 erscheint in Forum Gesundheitspolitik, sobald die Serverprobleme behoben sind An Hinweisen dafür, dass Ärzte und Psychotherapeuten die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) zu häufig stellen und dabei auch bestimmten Mustern folgen, mangelt es nicht (wir berichteten mehrfach - ADHS in die Suche von Forum Gesundheitspolitik eingeben). Einen Beweis dafür gab es bislang nicht. Die Zunahme an Diagnosen und Medikamentenverschreibung könnten auch damit begründet werden, dass ADHS bislang zu selten diagnostiziert wurde. Um diese Frage zu klären ist es erforderlich, die Diagnosestellung an den gültigen diagnostischen Kriterien zu messen. Genau dies taten die Wissenschaftlerinnen Katrin Bruchmüller von der Universität Basel und Silvia Schneider von der Ruhr-Universität Bochum. Zu unterscheiden sind folgende Fragen: Stellen Ärzte und Psychotherapeuten die Diagnose zutreffend, wenn die erforderlichen Kriterien erfüllt sind (richtig-positiv), unzutreffend, wenn die erforderlichen die Kriterien nicht erfüllt sind (falsch positiv) bzw. stellen sie die Diagnose nicht wenn die Kriterien nicht erfüllt sind (richtig negativ) obwohl die Kriterien erfüllt sind (falsch negativ). Die standardisierte Diagnostik von ADHS erfolgt anhand von 28 Symptomkriterien für die 3 Bereiche Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität, Impulsivität nach ICD-10 (Link) bzw. nach den fast identischen Kriterien des DSM-IV. Der Bereich A „Unaufmerksamkeit“ umfasst 9 Kriterien, von denen mindestens 6 für mindestens 6 Monate erfüllt sein müssen (Beispiel: „Das Kind/der Jugendliche beachtet Aufgabendetails häufig nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Haus- aufgaben, der Arbeit oder anderen Tätigkeiten; ... ist nicht in der Lage die Aufmerksamkeit beim Spielen oder anderen Aufgaben aufrechtzuerhalten“). In B „Hyperaktivität finden sich 5 Kriterien, von denen mindestens 3 für mindestens 6 Monate erfüllt sein müssen (Beispiel: „Das Kind/der Jugendliche zappelt häufig mit den Händen oder Füßen und rutscht auf dem Stuhl herum, ... verlässt den Platz im Klassenraum oder anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird.“) In C „Impulsivität“ muss von 4 Symptomen mindestens 1 für mindestens 6 Monate erfüllt sein (Beispiel: „Das Kind/der Jugendliche platzt mit der Antwort heraus, bevor die Frage beendet ist; ... kann häufig nicht warten, bis es/er an der Reihe ist.“). Auf Grundlage der diagnostischen Kriterien verfassten die Autorinnen 4 Fallgeschichten (= Fallvignetten). Version1 beschrieb einen Fall, der alle Kriterien erfüllte und somit zu einer eindeutigen Diagnose führen sollte. In Version 2 war der Symptombereich Unaufmerksamkeit erfüllt, die Bereiche Hyperaktivität und Impulsivität waren jedoch ausdrücklich nicht erfüllt. Hier sollte also keine Diagnose ADHS gestellt werden. In Version 3 war der Bereich Unaufmerksamkeit nur teilweise erfüllt, Hyperaktivität und Impulsivität wie in Version 2 nicht erfüllt. Hier sollte ebenfalls die Diagnose ADHS nicht gestellt werden. In Version 4 wurde eine andere Störung beschrieben, nämlich eine generalisierte Angststörung, die bezüglich der Symptome Ruhelosigkeit, Nervosität und Konzentrationsschwierigkeiten sich mit der ADHS überlappt. Auch hier wäre die Diagnose ADHS unzutreffend. Die Fälle wurden mit Namen versehen, einem männlichen („Leo“) bzw. einem weiblichen („Lea“), so dass insgesamt 8 Fallgeschichten vorlagen. Je eine dieser 8 Fallgeschichten wurden je einer Person aus einer Zufallsstichprobe von 1.000 Kinder- und Jugendpsychotherapeuten (Kinderpsychologen, Psychiater, Sozialarbeiter) zugesandt, die aus den Adressregistern von 4 Kassenärztlichen Vereinigungen gezogen wurde (Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Niedersachsen). Der Rücklauf betrug 47%. Die Ergebnisse: Für die Fallgeschichte 1 stellten 78,9% der Therapeuten zutreffend eine ADHS-Diagnose, 4,4% die Verdachtsdiagnose ADHS, 7,7% eine andere Diagnose, 9,6% gaben an, über zu wenig Information für eine Diagnose zu verfügen. In den Fallgeschichten 2 bis 4 (kein AHDS) stellten 16,7% der Therapeuten eine ADHSDiagnose. Dies ist eine falsch-positive Diagnose, da die diagnostischen Kriterien nicht erfüllt waren. Weitere 5,8% vergaben eine Verdachtsdiagnose. 57% vergaben eine andere Diagnose, 10,2% keine Diagnose. 9,9% gaben an, zu wenig Informationen für eine Diagnosestellung zu haben. Der falsch-positive Anteil in der Fallgeschichte 1 ist mit 16,7% deutlich höher als der falsch negative Anteil mit 7% in den Fallgeschichten 2 bis 4. Dies mache deutlich, so die Autorinnen, „dass bei der Diagnostik von ADHS nicht nur eine allgemeine ‚Unschärfe’ und mangelnde Reliabilität vorkommen, sondern dass die Verzerrung spezifisch in Richtung einer Überdiagnose auftritt. Somit bestätigen die Ergebnisse die Hypothese einer Überdiagnostizierung von ADHS.“ Bei gleichem Symptombild erhielten Jungen häufiger eine ADHS-Diagnose als Mädchen in den Fallgeschichten 2 bis 4 erhielten 22% der Jungen und 11% der Mädchen eine falsche – ADHS-Diagnose. In Fallgeschichte 1 ergab sich kein wesentlicher Unterschied: 80 der Jungen und 78% der Mädchen erhielten – zutreffend - die Diagnose ADHS. Insgesamt zeigt die Überdiagnostik somit einen klaren Trend für die Jungen: bei den Jungen ist der Anteil falsch-positiver im Vergleich zu den falsch-negativen-Diagnosen deutlich höher (21,8% vs. 6,6% - statistisch signifikant), bei den Mädchen eher ausgeglichen (11,3 vs. 7,5% - statistisch nicht signifikant). Männliche Therapeuten stellten die Diagnose ADHS häufiger als Therapeutinnen. Andere Merkmale der Therapeuten (Berufsgruppe, psychotherapeutische Orientierung, Alter) hatten keinen Einfluss. Die Autoren merken – zurecht - an, dass es erstaunlich sei, wie wenig Forschung bis heute zur Verlässlichkeit der Diagnostik von psychiatrischer Störungen vorliegt. Diese wegweisende Studie belegt 2 Dinge: PsychotherapeutInnen stellen die Diagnose ADHS zu häufig Diese lange im Raum befindliche Frage ist mit einem relativ einfachen Studiendesign gut zu beantworten. Die Studie macht auch darauf aufmerksam, dass die Frage der Validität und Reliabilität der psychiatrischen Diagnosestellung unterbeforscht ist. Bruchmüller K, Schneider S. Fehldiagnose Aufmerksamkeitsdefizit-und Hyperaktivitätssyndrom? Empirische Befunde zur Frage der Überdiagnostizierung. Psychotherapeut 2012;57:77-89 Download Volltext Bruchmüller K, Schneider S. Is ADHD Diagnosed in Accord With Diagnostic Criteria? Overdiagnosis and Influence of Client Gender on Diagnosis. Journal of Consulting and Clinical Psychology. 2012, Vol. 80, No. 1, 128–138 Download Volltext Pressemitteilung der Ruhr-Universität Bochum vom 30.3.2012 Link Weitere Materialien: Gemeinsamer Bundesausschuss. Arzneimittel-Richtlinie/ Anlage III Nummer 44 (Stimulantien) vom 30.11.2012. Link. Der GBA fordert hierin eine Diagnosestellung auf Grundlage der vollständigen diagnostischen Kriterien als Voraussetzung für die Verschreibung von Stimulantien. Bundesärztekammer (2005). Stellungnahme zur Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) Link Materialien zur Diagnostik von ADHS bei Kindern und Jugendlichen auf der Website des Zentralen ADHS-Netzes Link.