Best Practice Beispiel (bis 6.000 Zeichen inkl. Leerzeichen, Tabellen mögl.) Titel: Auswirkungen einer engen Verzahnung von Wissenschaft und Praxis bei der Entwicklung und Implementierung eines Beratungs- und Unterstützungskonzeptes für pflegende Angehörige von Schlaganfallpatienten: Das Aachener Modellprojekt- DER ANGEHÖRIGENLOTSE. 1 Hintergrund und Motivation In Deutschland erleiden jährlich circa 262.000 Menschen einen Schlaganfall (Deutsche Stiftung Schlaganfallhilfe 2015). Insgesamt sind 500.000 Menschen in Folge eines Schlaganfalls körperlich, kognitiv oder psychisch in ihrer Gesundheit eingeschränkt (Heuschmann et al. 2010). Nach der Entlassung aus der Rehabilitationsklinik ist die Mehrzahl der Schlaganfallpatienten nicht mehr in der Lage vollkommen autark zu leben und wird von nahen Verwandten praktisch, emotional und pflegerisch unterstützt (Wilz & Böhm 2005). Diese Unterstützung kann vielmals einer Vollzeitstelle mit einer 36,5 Std./Woche gleichgesetzt werden (Infratest Sozialforschung 2002). Informelle Pflege führt zu massiven Einschnitten im Lebensalltag des gesamten Familiensystems und wirkt sich häufig negativ auf die Gesundheit von pflegenden Angehörigen aus (Van den Heuvel et al. 2001; Berg et al. 2005). Jedoch sind pflegende Angehörige eine wichtige gesellschaftliche sowie gesundheitsökonomische Ressource in der postrehabilitativen Schlaganfallversorgung. Um diese Ressource zu schützen und zu stärken, sind zielgruppenspezifische Angehörigenunterstützungsangebote nötig (Jungbauer et al. 2014). Die Erprobung und Implementierung solcher Angebote ist in Deutschland unterrepräsentiert. Ziel des anwendungsbezogenen Forschungsvorhabens war es, ein Unterstützungsangebot für pflegende Angehörige von Schlaganfallpatienten zu entwickeln, implementieren und evaluieren. In diesem Beitrag soll der Fokus nur auf der Entwicklung und Implementierung des o.g. Modelprojektes liegen, da die enge Verzahnung von Forschung und Praxis in diesen beiden Phasen maßgeblich zum Erfolg (best practice) des Projektes geführt hat. 2 Beschreibung des Projekts Das vom Bundesministerium für Forschung und Bildung (BMBF) für 36 Monate geförderte Aachener Modellprojekt „DER ANGEHÖRIGENLOTSE“ kann als „best practice“-Konzept im Sinne einer phasenübergreifenden, angehörigenzentrierten Mehrkomponenten-Intervention gelten. Es umfasst schwerpunktmäßig psychosoziale Beratung, emotionale Entlastung und Stützung, Informationsvermittlung, konkrete Hilfestellungen sowie die Förderung von Problemlösekompetenzen. Folgende Grafik zeigt die enge Verzahnung von Wissenschaft und Praxis während des Projektablaufs. ***bitte Grafik 1 einfügen Konzeptentwicklung: Nach eingehender internationalen Literaturanalyse wurde das zu entwickelnde Konzept als `komplexe Intervention` eingestuft (Craig et al. 2008). Es schloss sich eine QUAL–qual. Studie (Morse, & Chek 2014) an. In Form von drei miteinander verbundenen Studien (explorative Befragung pflegender Angehöriger von Schlaganfallpatienten, leitfadengestützte Interviews mit Mitarbeitern des rehabilitativen Hilfesystems, nicht-teilnehmende Beobachtung in der rehabilitativen Versorgung) wurde eine regionale Systemanalyse durchgeführt. Aus den Ergebnissen der Datenanalyse wurden die konzeptuellen Bausteine entwickelt. Zeitgleich begann der proaktive Netzwerkaufbau, welcher unabdinglich für den Erfolg komplexer Interventionen ist. Implementierung: Angehörige von Schlaganfallpatienten wurden aktiv und zeitnah nach dem Akutereignis aufgesucht, um das neue Angebot bekannt zu machen. Die Kontaktaufnahme wurde über die Sozialdienste oder das Case Management der kooperierenden Akuthäuser vorbereitet. DER ANGEHÖRIGENLOTSE begleitete die Angehörigen phasenübergreifend bis in die häusliche Umgebung, individuell und flexibel. Das Netzwerk wurde weiter ausgebaut und gepflegt. Die Implementierung wurde durch den Handlungsforschungsansatz wissenschaftlich begleitet (Lewin 1952). Somit konnten neue Erkenntnisse aus der Begleitforschung zeitnah in die Beratung einfließen (Rückkopplungsschleife). Es wurde ein `mixed methods` Design (teilstandardisierte Fragebögen und leitfadengestützte Interviews) eingesetzt. 3 Erfolgsfaktoren Die Konzeptentwicklung profitierte von den unterschiedlichen Sichtweisen des multidisziplinären Teams (Psychologe, Sozialarbeiterin, Gesundheitswissenschaftlerin). Die frühzeitige Wahrnehmung des zu entwickelnden Konzeptes als `komplexe Intervention` sensibilisierte das Team für die unterschiedlichen Akteure und Organisationsebenen, die neben der Zielgruppe, durch das Beratungsangebot beeinflusst werden, mit dem Projekt interagieren oder es hemmen können. Die detaillierte kontextspezifische Systemkenntnis wurde durch Anwendung von qualitativen Forschungsmethoden geleitet, aus dessen Grundlage die maßgeschneiderte Konzeptentwicklung erfolgte. Der Handlungsforschungsansatz erlaubte ein konzeptionelles „fine-tuning“ während der Implementierung. Die Implementierung war nicht durch „Kinderkrankheiten“ gekennzeichnet, da das Angebot auf die authentischen Bedürfnisse der Zielgruppe abgestimmt war, was zu hoher Teilnehmerzufriedenheit, Reduktion der Belastungsspitzen, Ressourcenaufbau, Informationsvermittlung bei den Angehörigen führte. Die zeitliche und inhaltliche Investition in den Aufbau und Pflege eines tragfähigen Netzwerkes und der partizipative Arbeitsstil führte zu hoher Akzeptanz innerhalb der Versorgungslandschaft. 4 Ausblick Nach erfolgreicher Implementierung liegt die Herausforderung in der Integration des ANGEHÖRIGENLOTSEN in die regionale Versorgungslandschaft. Hierbei stellt die nachhaltige Finanzbarkeit des präventiven Angebotes stellt eine besondere Herausforderung dar. Eine Kosten-/ Nutzenanalyse könnte dazu beitragen, die unterschiedlichen Entscheidungsträger vom Benefit der Investition überzeugen, da eine frühzeitige, individuelle Beratung der pflegenden Angehörigen langfristig Kosten spart. Die inhaltliche sowie geographische Übertragbarkeit sollte geprüft werden. Die Dissemination der Projekterfahrungen und -ergebnisse soll als Impuls für die Forschungsgemeinschaft verstanden werden, sich der Forschungslücke `pflegende Angehörige` zielgruppenspezifisch anzunehmen und aktiv an der Entwicklung von passgenauen Unterstützungsangeboten mitzuwirken. 5 Literatur Berg, A., Palomäki, H., Lönnqvist, J., Lehtihalmes, M. & Kaste, M. (2005). Depression among caregivers of stroke survivors. Stroke, 36, 636-639. Craig, P., & Petticrew, M. (2013). Developing and evaluating complex interventions: reflections on the 2008 MRC guidance. International journal of nursing studies, 50, 585–587. Deutsche Stiftung Schlaganfallhilfe (2015). Der Erkrankung Schlaganfall. Ausgerufen von http://www.schlaganfall-hilfe.de/en/der-schlaganfall am 18.09.2015. Heuschmann, P.U., Busse, O., Wagner, M., Endres, M., Villringer, A., Röther, J., Kolominsky-Rabas, P.L. & Berger, K. (2010). Schlaganfallhäufigkeit und Versorgung von Schlaganfallpatienten in Deutschland. Aktuelle Neurologie, 37, 333-340. Infratest Sozialforschung München (2002). Hilfe- und Pflegebedürftigkeit on Privathaushalten in Deutschland 2002. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Jungbauer, J., Floren, M. & Krieger, T. (2014). Der Angehörigenlotse: Ein innovatives Modellprojekt für Angehörige von Schlaganfallpatienten. FORUM sozialarbeit + gesundheit 3/2014, 22-24. Lewin, K. 1952. Group Decision and Social Change. In T. M. Newcomb & E.E. Hartley (Eds.), Readings in social psychology. New York: Holt. Morse, J. M. & Chek, J. (2014). Making Room for Qualitatively –Driven Mixed-Method Research. Qualitative Health Research, 24, 3-5. Van den Heuvel, E.T.P., de Witte, L.P., Schure, L.M., Sanderman, R., & Meyboom-de Jong, B. (2001). Risk factors for burn-out in caregivers of stroke patients, and possibilities for intervention. Clinical Rehabilitation, 15, 669-677. Wilz, G. & Böhm, B (2007). Interventionskonzepte für Angehörige von Schlaganfallpatienten: Bedarf und Effektivität. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 57, 1-19. Grafik 1: Verzahnung von Forschung und Praxis bei der Konzeptentwicklung und Implementierung des ANGEHÖRIGENLOTSEN.