Kathrin Becker-Schwarze Grundstrukturen des Rechts Fulda, 2011 Modul 14: Einführung Recht 3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen? 1 Studien(teil)brief 3 Rechtliche Grundlagen Dozentin: Prof. Dr. Kathrin BeckerSchwarze E-Mail: [email protected] Telefon: 0421 327640 3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen? 3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen?........................................................................................................3 3.1. Einführung ............................................................................................................................................................3 3.2. Anspruchsgrundlage .............................................................................................................................................3 3.3. Weitere Normkategorien .....................................................................................................................................5 3.3.1. Defintionsnormen ..........................................................................................................................................5 3.3.2. Verweisgungsnorm ........................................................................................................................................5 3.3.3. Ergänzungsnorm ............................................................................................................................................6 3.3.4. Gegenrechte ..................................................................................................................................................7 3.4. Wie prüfe ich jetzt meinen Lebenssachverhalt rechtlich? ...................................................................................7 3.5. Rechtsanwendung im Öffentlichen Recht ............................................................................................................8 3.5.1. Unbestimmte Rechtsbegriffe .........................................................................................................................9 3.5.2. Beurteilungsspielraum .................................................................................................................................11 3.5.3. Ermessen......................................................................................................................................................12 3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen? 2 3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen? 3.1. Einführung Nachdem Sie sich nun in einem ersten Schritt einen Überblick über die allgemeinen Rechtsstrukturen verschafft haben, geht es in diesem Studienbrief darum, Ihnen nahezubringen, wie die juristische Denk- und Arbeitsweise funktioniert. Sie haben ja schon erfahren, dass die „Juristerei“ eine ziemlich abstrakte Angelegenheit ist und für Nichtjuristen die Rechtssprache oftmals nicht verständlich erscheint. Keine Angst, Sie sollen hier nicht zu JuristInnen ausgebildet werden. Anliegen ist es vielmehr, dass Sie die Technik der Gesetzesanwendung bzw. den Umgangs mit rechtlichen Normen in den Grundzügen beherrschen. JuristInnen haben gegenüber SozialarbeiterInnen den Vorteil, dass sie an einem bereits aufgearbeiteten Sachverhalt konkrete Rechtsfragen zu beurteilen haben. Die sozialarbeiterische Praxis hat es dagegen in der Regel mit komplexen sozialen Lebenswelten mit unterschiedlichsten Rechtsproblemen zu tun. Für Personen in der Beratung besteht nun die nicht zu unterschätzende Aufgabe, mit KlientInnen überhaupt erst einmal herauszubekommen, um was es genau geht und was die KlientInnen wollen. Sie wissen besser als ich, dass das in der Praxis eine schwierige Aufgabe ist. Bei dieser Informationssammlung schwingt auch immer die Frage mit, ob es sich überhaupt um einen Rechtsstreit handelt oder ob es für die KlientInnen nicht besser ist, die Konflikte zunächst anders zu lösen. 3.2. Anspruchsgrundlage Haben Sie aber in ihrer Praxis eine Rechtsfrage herausgearbeitet und Sie haben ungefähr eine Idee, welchen Rechtsbereichen diese zuzuordnen ist, beginnt die rechtliche Prüfung. Sie werden in der Praxis nicht mit abstrakten Rechtsfragen betraut werden, sondern es geht immer darum, dass Ihre KlientInnen etwas wollen bzw. fordern oder aber die KlientInnen mit Forderungen dergestalt konfrontiert sind, dass von ihnen etwas verlangt wird. Und es gilt dann immer der Grundsatz: man kann nur dann etwas fordern oder verlangen, wenn es dafür eine gesetzliche Grundlage gibt. Wir brauchen also immer eine konkrete gesetzliche Anspruchsgrundlage. Den Begriff „Anspruchsgrundlage“ unbedingt merken! Wir JuristInnen beginnen bei der Prüfung eines Anspruchs immer mit der Frage: 3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen? 3 Wer will was von wem woraus? Wer von wem = Anspruchsbeziehung – beteiligte Personen ermitteln und klären, wer Anspruchsteller/in und wer Anspruchsgegner/in ist. Was = Ermittlung des Anspruchsziels – worauf richtet sich der Anspruch der AnspruchstellerInnen? Schadensersatz, Zahlung des Kaufpreises, Hilfe auf Erziehung, Zuweisung an eine Regelschule etc. Woraus = aus welchen §§ könnte sich einer solcher Anspruch ergeben? Dieser W-Satz klingt sicher schematisch, aber er hilft einem, den zu beurteilenden Sachverhalt gedanklich zu strukturieren. Also haben wir schon die erste Kategorie von §§, nämlich die Anspruchsnormen. Diesen §§ liegt immer eine Wenn-dann-Programmierung zugrunde. Diese §§ sind zweigeteilt aufgebaut: Tatbestandsebene Rechtsfolgenebene Wenn die im § genannten Tatbestandsmerkmale vorliegen (erfüllt sind), dann tritt die Rechtsfolge (Ergebnis) ein. Aufgabe 1 § 823 Abs. 1 BGB: (1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. Lesen Sie sich die § 823 Abs. 1 BGB und § 27 Abs. 1 SGB VIII gründlich durch und unterstreichen die Tatbestandvoraussetzungen der Norm mit grün und die Rechtsfolge mit rot. Lösung 1 § 27 Abs. 1 SGB VIII: (1) Ein Personensorgeberechtigter hat bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. 3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen? 4 3.3. Weitere Normkategorien 3.3.1. Defintionsnormen Bleiben wir noch einen Moment bei den unterschiedlichen Normkategorien. Neben den Anspruchsnormen enthalten viele Gesetze einfache Defintionen (sogenannten Definitionsnormen). Ein Beispiel dafür finden wir in § 7 SGB VIII. Materialien Trenczek(Tammen/Behlert, Grundzüge des Rechts, 2011, S. 139-143 (lesen!) § 7 Begriffsbestimmungen (1) Im Sinne dieses Buches ist 1. Kind, wer noch nicht 14 Jahre alt ist, soweit nicht die Absätze 2 bis 4 etwas anderes bestimmen, 2. Jugendlicher, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist, 3. junger Volljähriger, wer 18, aber noch nicht 27 Jahre alt ist, 4. junger Mensch, wer noch nicht 27 Jahre alt ist, 5. Personensorgeberechtigter, wem allein oder gemeinsam mit einer anderen Person nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs die Personensorge zusteht, 6. Erziehungsberechtigter, der Personensorgeberechtigte und jede sonstige Person über 18 Jahre, soweit sie aufgrund einer Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten nicht nur vorübergehend und nicht nur für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge wahrnimmt. (2) Kind im Sinne des § 1 Abs. 2 ist, wer noch nicht 18 Jahre alt ist. (3) (aufgehoben) (4) Die Bestimmungen dieses Buches, die sich auf die Annahme als Kind beziehen, gelten nur für Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. 3.3.2. Verweisgungsnorm Wenn Sie sich § 7 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII und § 823 Abs. 1 BGB ansehen, finden Sie noch eine weitere Kategorie von Rechtsnormen. Dort werden nämlich entweder auf andere Gesetze oder auf andere § verwiesen (sog. Verweisungsnorm). § 7 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII verweist auf das BGB, weil dort im Buch zum Familienrecht das Personensorgerecht geregelt ist, und zwar in § 1626 BGB. 3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen? 5 § 1629 Abs. 1 Satz 1BGB: Die Eltern haben die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge). § 823 Abs. 1 BGB setzt u. a. Vorsatz oder Fahrlässigkeit voraus. § 276 Abs. 2 BGB: Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. 3.3.3. Ergänzungsnorm Und schließlich fordern manche Anspruchsnormen noch weitere Voraussetzungen und verweisen auf andere §§ (sog. Ergänzungsnorm). Ein Beispiel dafür ist § 280 Abs. 2 BGB, wobei dieser sprachlich schwer zu verstehen ist. § 280 Abs. 2 BGB: Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung kann der Gläubiger nur unter der zusätzlichen Voraussetzungen des § 286 BGB verlangen. Dazu vielleicht zur Auflockerung folgender Fall: Die Evangelische Kirche in B. fährt jedes Jahr im Sommer zu einer Freizeit in ein Ferienlager. In diesem Jahr hatten sich 50 Jugendliche angemeldet. Die Fahrt ging an die Ostsee. Die Leitung der Gruppe hatte im Vorfeld mit einem Surfbrettverleih vereinbart, dass die Surfbretter spätestens nach Abruf von drei Tagen in das Zeltlager geliefert werden sollen. Das Wetter war ausgezeichnet. Als die Gruppe anreiste, rief die Leitung beim Surfbrettverleiher an und orderte 20 Bretter. Der Surfbrettverleiher hatte mit einer solchen dauerhaften guten Wetterlage nicht gerechnet und hatte sein Kontingent bereits an andere vergeben und musste selbst erst neue Bretter ordern. Er teilte der Leitung mit, dass die Lieferung ca. 10 Tage dauern würde. Die Leitung war verärgert und bestellte die Surfbretter bei einem anderen Kollegen, der jedoch insgesamt um 1.000,--€ teurer war. Die Leitung will nun von dem ersten Surfbretterverleiher Schadensersatz in Höhe von 1.000,-- €. Kommen wir jetzt wieder auf den § 280 BGB zurück. Der Verleiher hat nicht fristgerecht geliefert, die Lieferung war also verzögert. Der Verleiher hat diese Verzögerung auch zu vertreten, weil er seine Bretter an andere abgegeben, obwohl er zuvor einen anderen Vertrag mit dem Leiter geschlossen hatte. Dem Leiter ist dadurch ein Schaden entstanden. Er könnte jetzt eigentlich den Schadensersatz fordern. Jetzt verweist aber der § 280 Abs. 2 BGB auf den § 286 BGB, der etwas vereinfacht sagt, 3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen? 6 dass der Schadensersatz nur verlangt werden darf, wenn der Leiter den Verleiher zuvor gemahnt hat. Der Leiter hatte aber den Verleiher nicht gemahnt, sondern gleich bei einem anderen Verleiher geordert. Jetzt gibt es aber davon wieder eine Ausnahme in § 286 Abs. 2 Nr.2 BGB: „Der Mahnung bedarf es nicht, wenn der Leistung ein Ereignis vorauszugehen hat und eine angemessene Zeit für die Leistung in der Weise bestimmt ist, dass sie sich von dem Ereignis an nach dem Kalender berechnen lässt.“ Aufgabe 2 Versuchen Sie einmal, die rot unterlegten Voraussetzungen mit den Angaben aus dem Sachverhalt zu begründen 3.3.4. Gegenrechte Und dann muss wissen, dass Ansprüche dann nicht durchsetzen sind, wenn der Gegner Gegenrechte geltend machen kann. Damit ist dann die letzte Gruppe der Normen angesprochen. Sie haben beispielsweise eine Schadensersatzanspruch – alle Voraussetzungen dafür liegen vor – aber mein Gegenüber beruft sich zum Beispiel darauf, dass der Anspruch verjährt ist. Dann beruft sich mein Gegenüber auf ein Gegenrecht. Zusammenfassend sind folgende Normkategorien zu unterscheiden: Anspruchsnormen Definitionsnormen Verweisungsnormen Ergänzungsnormen Gegennormen 3.4. Wie prüfe ich jetzt meinen Lebenssachverhalt rechtlich? An dem kleinen Fall oben konnte man schon sehen, wie schwierig es ist, einen Sachverhalt juristisch zu prüfen bzw. wie gelingt es die juristischen Tatbestandvoraussetzungen und den Lebenssachverhalt zu verbinden? Wir JuristInnen nennen das Subsumtion. Subsumtion bedeutet eine Technik, mit der untersucht, ob der rechtlich zu beurteilende Sachverhalt die Voraussetzungen eines gesetzlichen Tatbestands erfüllt. 3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen? 7 Aufgabe 3 Ich will Ihnen das an folgendem einfachen Beispiel verdeutlichen: Der Student S radelt mit seinem Fahrrad, welches er zum Geburtstag von seinen Eltern geschenkt bekommen hat, auf eine Fete. Als er in der Morgendämmerung wieder nach Hause will, ist sein Fahrrad verschwunden. Zwei Tage später sieht er D mit seinem Fahrrad vorbeifahren. Er stoppt ihn und verlangt sein Fahrrad heraus. D weigert sich. Kann S die Herausgabe des Fahrrades von D verlangen? Obersatz: S könnte einen Anspruch gegen D auf Herausgabe des Fahrrades gem. § 985 BGB haben. Obersatz: dazu müsste S Eigentümer des Fahrrades sein. Subsumtion: S erhielt das Fahrrad als Geschenk zum Geburtstag. Danach ist davon auszugehen, dass es in seinem Eigentum steht. Subsumtion: S ist folglich Eigentümer des Fahrrades. Obersatz: Besitzer ist gem. § 854 BGB, wer die tatsächliche Sachherrschaft über eine Sache ausübt. Subsumtion: D fährt mit dem Fahrrad durch die Stadt und übt damit die tatsächliche Sachherrschaft über das Fahrrad aus. Subsumtion: Folglich ist D Besitzer des Rades. Lesen Sie zunächst die untenstehenden §§ und versuchen Sie dann den Beispielsfall nachzuvollziehen. § 985 BGB Der Eigentümer kann von dem Besitzer die Herausgabe der Sache verlangen. § 854 BGB (1) Der Besitz einer Sache wird durch die Erlangung der tatsächlichen Gewalt über die Sache erworben. (2) Die Einigung des bisherigen Besitzers und des Erwerbers genügt zum Erwerb, wenn der Erwerber in der Lage ist, die Gewalt über die Sache auszuüben. rechtshindernde Einwendung (Gegenrecht): fraglich ist, ob D gem. § 986 BGB ein Recht zum Besitz hat. Ein solches ist nicht erkennbar. Ergebnis: Damit hat S einen Anspruch auf Herausgabe des Fahrrades gegen D aus § 985 BGB. Dieses Beispiel ist sicherlich überzogen und so arbeitet ein Jurist in der Praxis sicher nicht mehr. Wichtig für Ihren Kontext ist, dass Sie die einzelnen Tatbestandsmerkmale eines § sicher identifizieren können und prüfen können, ob für Ihren Fall die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind. Verneinen Sie nämlich eine der Tatbestandsmerkmale, gibt es keinen durchsetzbaren Anspruch. 3.5. Materialien Falterbaum, Rechtliche Grundlagen Sozialer Arbeit, 2. Aufl.2007, S. 24-28 Rechtsanwendung im Öffentlichen Recht Im Folgenden soll auf die Rechtsanwendung im Öffentlichen Recht eingegangen werden. Bei der Rechtsanwendung im Öffentlichen Recht müssen Sie die Begriffe unterscheiden können: 3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen? 8 unbestimmte Rechtsbegriffe und Beurteilungsspielraum Ermessen 3.5.1. Unbestimmte Rechtsbegriffe Aufgabe 4 Lesen Sie einmal folgende §§: Ich habe die Stellen, auf die es mir ankommt markiert. Sie werden mit mir übereinstimmen, dass sowohl der Begriff „Kindeswohlgefährdung“ wie auch die Frage „der Nichtgewährleistung des Kindeswohls“ relativ vage Begriffe sind, die viele Interpretationsmöglichkeiten eröffnen. Insofern ist es nachvollziehbar, dass die JuristInnen hier von unbestimmten Rechtsbegriffen sprechen, die in der Rechtsanwendung interpretiert werden müssen. Eine gute Problembeschreibung gibt Trenczek „Normen können nur dann richtig angewandt werden, wenn man sich über die genaue Definition eines Rechtsbegriffs klar wird. Sprache ist aber nicht mathematisch exakt, Begriffe werden in unterschiedlichen Kontexten verwendet und ihnen dabei verschiedene Inhalte und Bedeutungen beigemessen. Schon deshalb basiert die Rechtsanwendung nicht auf einer reinen inhaltsunabhängigen Logik, sondern es geht um ein hermeneutisches Vorgehen, um ein verstehendes Bemühen, den Inhalt des Rechts richtig zu deuten.“ (Trenczek/Tammen/Behlert, Grundzüge des Rechts, S. 105) Wir in der Juristerei sprechen dann von Auslegung dieser Begriffe. Eine solche Auslegung erfolgt nicht im luftleeren Raum, sondern dafür gibt es bestimmte Auslegungsmethoden, auf die ich hier aber nicht weiter eingehen will. Mir geht es eher darum, Ihnen deutlich zu machen, dass die Anwendung solcher unbestimmter Rechtsbegriffe nicht durch Ihre persönliche Meinung und Einschätzung erfolgen darf, sondern dass Sie dazu das notwendige Fachwissen zu der rechtlichen Fragestellung eruieren müssen. In der Praxis entsteht häufig der Eindruck, dass die JuristInnen inhaltlich unabhängig und völlig frei festlegen, was beispielsweise unter einer „Kindeswohlgefährdung“ zu verstehen ist. Das ist falsch. Richtig ist, dass die JuristInnen – insbesondere die Gerichte – einen Konflikt rechtlich entscheiden müssen. Aber natürlich haben JuristInnen nicht die Fachkompetenz, eigenständig zu interpretieren, welche Kategorien bei der 3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen? § 42 Abs.1 SGB VIII (1) Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn 1. das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet oder 2. eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und a) die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder b) eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann oder 3. ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorgenoch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten. Die Inobhutnahme umfasst die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen; im Fall von Satz 1 Nr. 2 auch ein Kind oder einen Jugendlichen von einer anderen Person wegzunehmen. 9 Feststellung einer Kindeswohlgefährdung anzulegen sind. Dazu bedient sich das Recht des externen Sachverstands, d. h. der ExpertInnen aus dem Bereich der Sozialen Arbeit, Psychologie etc. JuristInnen ziehen diesen Sachverstand bei der Anwendung der rechtlichen Normen hinzu und entscheiden auf dieser Grundlage. Wie aber wird dieses Wissen generiert? Und damit sprechen wir die juristischen Hilfsmittel an. JuristInnen arbeiten natürlich mit den Gesetzen und anderen Normen, aber eines der wichtigsten Mittel bei der Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen sind die Kommentare zu den einzelnen Gesetzen und die aktuelle Rechtsprechung. § 27 SGB VIII Hilfe zur Erziehung (1) Ein Personensorgeberechtigter hat bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Wie das Wort schon sagt, es wird jeder einzelne § eines Gesetzes erläutert und ausgelegt. Aufgabe 5 Sehen Sie sich dazu einmal die Kommentierung des § 42 SGB VIII an, damit Sie einen Eindruck von Gesetzeskommentaren bekommen. Handelt es sich bei der Rechtsfrage um eine sehr aktuelle Fragestellung, reichen oftmals die Kommentare nicht aus, sondern es muss die neueste Rechtsprechung recherchiert werden. Das geschieht in der Regel über online-Datenbanken. Die bekannteste ist juris. Sie haben ja zu Beginn Ihres Studiums eine Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten erhalten und wissen, wie die online-Recherche funktioniert. Ich nehme an, dass Sie alle über einen VPN-Client verfügen, der es Ihnen ermöglichst, auf die Bibliotheksseite der Hochschule zuzugreifen. Kommen wir wieder auf die unbestimmten Rechtsbegriffe zu sprechen. § 42 SGB VIII-Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, hrsg. v. Münder/Meysen/Trenczek, 6. Auflage Machen Sie einmal eine OnlineRecherche bei Juris und finden Sie neuesten Entscheidungen zu § 42 SGB VIII (Inobhutnahme) heraus. Aufgabe 6 Wenn Sie sich die markierten unbestimmten Rechtsbegriffe in § 27 und 42 SGB VIII noch einmal ansehen, sind diese auf der Tatbestandsebene oder auf der Rechtsfolgenebene des § angesiedelt? Wenn Sie unsicher sind, gehen Sie noch einmal zurück und sehen nach. 3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen? 10 Unbestimmte Rechtsbegriffe sind immer auf der Tatbestandsebene eines § angesiedelt und betreffen die Tatbestandsvoraussetzungen. Erst wenn die Voraussetzungen eines unbestimmten Rechtsbegriffs vorliegen, muss oder darf die Behörde handeln (=Rechtsfolge). Die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe erfolgt durch die Behörden (z. B. Jugendamt). Beantragen Eltern für ihr Kind Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII, prüft das Jugendamt u. a. ob eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist. Das Jugendamt muss also ermitteln, ob ein Erziehungsbedarf besteht. Rechtlich stellt sich die Frage, ob der Behörde bei der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe einen Entscheidungsspielraum hat, der durch die Gerichte nicht überprüft wird. Grundsätzlich ist es so, dass die Gerichte, sollte es zu einem Rechtsstreit kommen, immer überprüfen, ob die Behörde die unbestimmten Rechtsbegriffe korrekt ausgelegt hat. Der Behörde wird bei der Auslegung dieser unbestimmten Rechtsbegriffe kein Entscheidungsspielraum eingeräumt. Es kommt allein auf die Auffassung der Gerichte an. Materialien 3.5.2. Beurteilungsspielraum Von diesem Grundsatz werden nur in ganz bestimmten Fällen Ausnahmen gemacht. Man spricht dann davon, dass der Behörde ein Beurteilungsspielraum eingeräumt wird. Trenczek(Tammen/Behlert, Grundzüge des Rechts, 2011, S. 123-131 „Die Rechtsprechung ist Aufgabe der Gerichte (Art. 92 GG), ihnen obliegt es, die richtige Anwendung der Gesetze durch die Verwaltung zu überprüfen. Deshalb wird von den (Verwaltungs-)Gerichten auch überprüft, ob die von der Verwaltung vorgenommene Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe mit dem Gesetz im Einklang steht, also „richtig“ ist. Diese Überprüfung ist grundsätzlich allumfassend, nur ausnahmsweise wird der Verwaltung von der Rechtsprechung bei der Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen ein gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbarer „Beurteilungsspielraum“ oder eine sog. Einschätzungsprärogative im Rahmen der Abwägung zuerkannt. Den Ausnahmefällen ist gemeinsam, dass es sich um Wertentscheidungen der Verwaltung handelt, die das Gericht aufgrund der besonderen, einmaligen Konstellation der Entscheidungsfindung oder sonstigen Gründen nicht nachholen kann,“ (Trenczek, Grundzüge des Rechts, S. 110) Im Bereich von Prüfungsentscheidungen im Schul- und Hochschulbereich 3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen? 11 hat die Rechtsprechung der Verwaltung einen solchen Beurteilungsspielraum eingeräumt. Begründet wird dieses mit der für die Gerichte nicht rekonstruierbaren Prüfungssituation und der besonderen Beziehung zwischen SchülerInnen/Studierenden und PrüferInnen. Also sollten Sie mit der Benotung einer Prüfung nicht einverstanden sein und wollen Sie dagegen gerichtlich vorgehen, überprüfen die Verwaltungsgerichte nur, ob der Prüfer beispielsweise die Verfahrensvorschriften nicht eingehalten hat, oder seine Benotung auf völlig sachfremden Erwägungen beruht. Übertragen auf den Bereich der Sozialen Arbeit wird diskutiert, ob man der Verwaltung im Bereich der Kindeswohlgefährdung ebenfalls einen solchen Beurteilungsspielraum einräumen sollte. Die Rechtsprechung ist da sehr zurückhaltend, weil damit immer die Gefahr besteht, dass das Handeln der Behörde nicht überprüfbar ist. Hinsichtlich der Frage, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt oder ob die Voraussetzungen einer Inobhutnahme gegeben sind, wird ein solcher Beurteilungsspielraum verneint. Einen Beurteilungsspielraum wird lediglich hinsichtlich der Frage, ob das Jugendamt bei einer kindeswohlgefährdenden Situation sofort das Familiengericht einschalten muss, eingeräumt. 3.5.3. Ermessen Während unbestimmte Rechtsbegriffe immer die Tatbestandvoraussetzungen eines § betreffen, ist „Ermessen“ immer auf der Rechtsfolge eines § angesiedelt. Wir hatten ja bei der Rechtsanwendung gelernt, dass wir zunächst einen § finden müssen, aus dem wir einen Rechtsanspruch ableiten können. Wenn Eltern für ihr Kind Hilfe zur Erziehung wünschen, so ist die Anspruchsnorm § 27 SGB VIII. Wenn die Tatbestandsvoraussetzungen des § 27 SGB VIII (1. Erziehungsbedarf, 2. Hilfe muss notwendig und 3. geeignet sein) vorliegen, dann stellt sich die Frage der Rechtsfolge, nämlich ob Hilfe zur Erziehung gewährt wird. Auf der Rechtsfolgenseite muss dann geprüft werden, ob die Verwaltung (Jugendamt) den Anspruch gewähren muss oder ob sie in dieser Frage einen Gestaltungsspielraum hat. Im ersten Fall sprechen wir von einer gebundenen Entscheidung. Wird der Behörde ein Entscheidungsspielraum eingeräumt ist, dann hat die Behörde einen Ermessensspielraum. Materialien Trenczek(Tammen/Behlert, Grundzüge des Rechts, 2011, S. 131-133 Beispiele, in denen der Verwaltung kein Ermessen eingeräumt wurde: § 24 Abs. 1 S. 1 SGB VIII Wenn Sie sich jetzt den § 27 SGB VIII daraufhin noch einmal durchlesen: hat das Jugendamt hier ein Ermessen hinsichtlich der Frage, ob Hilfe zur Erziehung gewährt wird oder nicht? (1) Ein Kind hat vom vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt auf den Besuch einer Tageseinrichtung.“ § 27 SGB VIII räumt der Behörde kein Ermessen ein. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen vor, muss die Behörde Hilfe zur Erziehung § 23 Abs.1 S. 1 SGB XII 3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen? 12 gewähren. Sie erkennen es an dem Wort „hat“: Ein Personensorgeberechtigter hat Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn die Voraussetzungen 1., 2. und 3. vorliegen. Sie müssen also den § genau lesen. Finden Sie solche Signalworte wie „hat“ „muss“ oder „ist“, dann wird der Behörde kein Ermessen eingeräumt mit der Folge: der Anspruch muss gewährt werden. In manchen §§ finden Sie auch Worte wie „soll“. Soll-Bestimmungen sind in der Regel wie „Muss“-Bestimmungen zu behandeln, also hat die Behörde hier keinen Spielraum. Nur in absoluten Ausnahmefällen, wenn eine ganz untypische Konstellation vorliegt, davon die Behörde davon abweichen. (1) Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, ist Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege nach diesem Buch zu leisten. Beispiel für eine Soll-Bestimmung: § 20 SGB VIII (1) Fällt der Elternteil, der die überwiegende Betreuung des Kindes übernommen hat, für die Wahrnehmung dieser Aufgabe aus gesundheitlichen oder anderen zwingenden Gründen aus, so soll der andere Elternteil bei der Betreuung und Versorgung des im Haushalt lebenden Kindes werden, wenn 1. er wegen berufsbedingter Abwesenheit nicht in der Lage ist, die Aufgabe wahrzunehmen, 2. die Hilfe erforderlich ist, um das Wohl des Kindes zu gewährleisten, 3. Angebot der Förderung des Kindes in Tageseinrichtungen oder in Kindertagespflege nicht ausreichen. Woran erkennt man nun, ob der Behörde ein Ermessen eingeräumt wurde? Häufig finden Sie Wörter wie „darf“, „kann“, „ist ermächtigt“. Wir sprechen dann von sogenannten „Kann-Bestimmungen“. Ist der Behörde ein Ermessen eingeräumt, heißt das nicht, dass die Behörde entscheiden kann wie sie will. Die Behörde muss immer pflichtgemäß handeln, insbesondere muss sie die zweckmäßigste Alternative auswählen. „Die Pflichtgebundenheit der Ermessensausübung kommt als allgemeiner Grundsatz des Verwaltungshandelns ausdrücklich in § 39 SGB I, § 40 VwVfG zum Ausdruck, nach denen die Behörden nicht nur verpflichtet sind, das Ermessen entsprechend dem Zweck der gesetzlichen Ermächti3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen? Beispiel für Kann-Bestimmungen: § 32 SGB VIII Hilfe zur Erziehung in einer Tagesgruppe soll die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen durch soziales Lernen in der Gruppe, Begleitung der schulischen Förderung und Elternarbeit unterstützen und dadurch den Verbleib des Kindes oder Jugendlichen in seiner Familie sichern. Die 13 gung auszuüben, sondern auch die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten.“ (Trenczek/Tammen/Behlert, Grundzüge des Rechts, 2011, S. 134 Hilfe kann auch in geeigneten Formen der Familienpflege geleistet werden. Die Gerichte prüfen die Grenzen des Ermessens danach, ob ein Ermessensfehler vorliegt. Es gibt folgende Ermessensfehler: 1. Ermessensunterschreitung: Hat die Behörde überhaupt das ihr zustehende Ermessen erkannt und ausgeübt? Nicht selten kommt es vor, dass eine Behörde das ihr zustehende Ermessen nicht erkennt und infolgedessen nicht ausübt. 2. Ermessensfehlgebrauch: a.) Ermessensdefizit: Hat die Behörde alle Gesichtspunkte erkannt und berücksichtigt, die nach dem Zweck der Ermächtigung zu berücksichtigen sind? b) Sachwidrige Erwägungen: Hat die Behörde Gesichtspunkte in die Ermessenserwägungen einfließen lassen, die dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechen? 3. Ermessensüberschreitung: Hat die Behörde auf eine Rechtsfolge erkannt, die von der Ermessensermächtigung nicht gedeckt, insbesondere unverhältnismäßig ist oder gegen das Gebot der Gleichbehandlung verstößt? 4. Verstoß gegen eine Richtlinie bzw. Selbstbindung der Verwaltung Wird dem Sachbearbeiter verwaltungsintern eine Ermessensrichtlinie vorgegeben, so liegt von vornherein für ihn eine Einschränkung des Spielraums vor. Gerichte sind jedoch nicht daran gebunden, sondern haben dann wie folgt zu prüfen: a.) Ist die Richtlinie selbst rechtsfehlerfrei?. Nicht wenige Richtlinien erfüllen diese Bedingung nicht, weil sie in erster Linie eine Verwaltungspraxis spiegeln oder Vorgaben der Behördenleitung umsetzen, die selbst nicht ausreichend rechtlich überprüft worden sind. b) Stimmt die Ermessensentscheidung mit der Richtlinie überein? c) Liegt ein in der Richtlinie nicht bedachtet atypischer Fall vor? (Stahlmann, Studienbrief BASS O2) 3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen? 14 Damit es ein bisschen konkreter wird, hier einige Beispielsfälle: Beispiel für Ermessensunterschreitung: Die Behörde verbietet eine Versammlung, weil sie die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet glaubt und meint, in diesem Fall habe sie keine andere Wahl, als die Versammlung zu verbieten oder von Auflagen abhängig zu machen. Aber § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz räumt durch das Wort „kann“ ein Ermessen ein. Beispiel für Ermessensfehlgebrauch: Unsachliche Motive: Ein Antrag auf Übernahme der Mietschulden zur Vermeidung einer Zwangsräumung (§ 34 SGB XII) wird abgelehnt, weil der Antragsteller sich wegen beleidigender Äußerungen des zuständigen Sachbearbeiters bei dessen Vorgesetzten beschwert hat. (aus: Papenheim/Baltes/Tiemann, Verwaltungsrecht für die Soziale Praxis, S. 142.) Zweck der gesetzlichen Grundlagen Materialien Trenczek(Tammen/Behlert, Grundzüge des Rechts, 2011, S. 133-137 Die Behörde lädt einen seit langer Zeit unfallfrei beim ersten und nicht allzu schweren Verkehrsverstoß zur Verkehrserziehung vor. Prinzipiell darf dies Behörde das, sie ist aber nicht vom Sinn und Zweck des Gesetzes gedeckt und zudem unverhältnismäßig. Beispiel für Ermessensüberschreitung: Die Behörde erlässt einen Gebührenbescheid in Höhe von 120,-- €, vom Gesetz darf sie aber nur eine Gebühr zwischen 30,-- € und 60,-- € erheben. Wenn Sie nun gegen eine Entscheidung der Behörde vorgehen, dann prüft das Gericht u. a., ob die Behörde ein Ermessen hat und wenn ja, ob sie das Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat. Was ist damit gemeint? Sie als Bürger haben keinen Anspruch auf eine bestimmte Entscheidung, sondern nur das Recht auf eine fehlerfreie Ermessensausübung. Ich will das an folgendem Beispielsfall verdeutlichen: Benutzungsverordnung Eltern meldeten ihr Kind zum Besuch eines Kindergartens an; als Wunschkindergarten gaben sie den Gemeindekindergarten H. an. Dem Kind wurde ein Kindergartenplatz in R. zugewiesen. Das Kind hatte, vertreten durch seine Eltern, Widerspruch eingelegt und im Wege der einstweiligen Anordnung beim Verwaltungsgericht beantragt, ihm einen Kindergartenplatz in H. zuzuweisen. Zur Begründung führten die Eltern 3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen? § 2 – Vergabekriterien (1) Sind nicht genügend freie Plätze verfügbar, so wird die Auswahl ob ein Kind einen Kindergarten- bzw. Kinderkrippenplatz 15 aus, dass nicht nur die Auswahlentscheidung rechtswidrig gewesen sei, das Kind habe auch einen Anspruch auf einen Kindergartenplatz in H., weil es direkt gegenüber dem Kindergarten wohne. Gerade dem Kind dort keinen Platz zuzuteilen sei rechtswidrig. Es standen 27 freie Plätze zur Verfügung bei 43 Bewerbungen. Die Gemeinde hatte auf der Grundlage des § 2 Abs. 1 der Benutzungsverordnung entschieden. Dieser Sachverhalt lag einer Entscheidung des VG München aus dem Jahre 2006 zugrunde. Die gesetzlichen Regelungen dürften sich inzwischen geändert haben. Entscheidungsgrundlage für das Verwaltungsgericht war damals die Gemeindeordnung, die den Gemeindeangehörigen einen Anspruch darauf gab, die öffentlichen Einrichtungen ihrer Gemeinde (den gemeindlichen Kindergarten) zu benutzen. Dieser Anspruch war aber durch die Kapazität der Einrichtung begrenzt. Die Gemeinde musste eine Auswahlentscheidung auf der Grundlage der Benutzungsverordnung treffen. Das Verwaltungsgericht München hielt die Zuteilung des Kindergartenplatzes für fehlerhaft, weil die Gemeinde die Zuteilung nach § 2 Abs. 1 vorgenommen hatte. Die korrekte Rechtsgrundlage wäre aber § 2 Abs. 2 gewesen. § 2 Abs. 1 sei für die Auswahl, welches Kind überhaupt einen Platz aus dem gemeindlichen Platzkontingent bekommt, heranzuziehen. Für die Frage, welches Kind dann aber welchem Kindergarten zugeteilt wird, käme nur § 2 Abs. 2 zur Anwendung. Sehen wir uns die Begründung des Verwaltungsgerichts im Einzelnen an: „Aus dieser Wahl der falschen Rechtsgrundlage ergibt sich vor allem der Fehler, dass die örtliche Nähe zum Kindergarten überhaupt nicht berücksichtigt wurde (vgl. Seite 4 der Niederschrift zum Erörterungstermin). Die Wohnortnähe ist aber nach der richtigen Rechtsgrundlage - § 2 Abs. 2 e) Benutzungsordnung - ein Kriterium, das bei der Auswahlentscheidung mit heranzuziehen ist. Zwar stehen die in § 2 Abs. 2 Benutzungsordnung genannten Kriterien in keiner Rangfolge zueinander, sodass es im Ermessen der Antragstellerin steht, in welchem Verhältnis zueinander sie die Kriterien gewichtet. Aus den Akten der Gemeinde und im Erörterungstermin hat sich aber ergeben, dass dem Kriterium der Wohnortnähe nicht etwa bewusst weniger Gewicht beigemessen wurde, sondern dass es deshalb nicht zur Anwendung kam, weil unzulässigerweise vorrangig Absatz 1 herangezogen wurde und dieser das Kriterium der Wohnortnähe nicht nennt. Da Absatz 2 aber die Wohnortnähe mit aufführt, war es fehlerhaft, sie von vorneherein gar nicht in die Auswahlentscheidung miteinzubeziehen. aus dem gemeindlichen Platzkontingent erhält, nach folgenden Dringlichkeitsstufen getroffen: a) Kinder, die in der Gemeinde wohnen; b) Familien in besonderen, sozialen Notlagen; c) Alter der Kinder; d) Kinder, deren Eltern beide Vollzeit berufstätig sind; e) Kinder, bei denen ein oder beider Elternteile Teilzeit berufstätig sind; Zum Nachweis der Dringlichkeitsstufen b), d) und e) sind entsprechende Nachweise beizubringen. (2) Liegen für einen bestimmten Kindergarten mehr Anmeldungen vor, als freie Plätze zur Verfügung stehen, so ist die Verteilung der Plätze für diesen Kindergarten nach folgenden Kriterien zu treffen: a) Das Kind hat nach Absatz 1 einen Anspruch auf einen Kindergartenplatz; b) Familien in besonderen, sozialen Notlagen; c) Geschwisterkind befindet sich bereits im gleichen Kindergarten (gilt nur bei gleichzeitigem Besuch); d) Altersstruktur des aufnehmenden Kindergartens (Altersgemischte Gruppen); e) Wohnortnähe zum aufnehmenden Kindergarten (kürzester, tatsächlicher Fußweg); f) Kinder, deren Eltern beide Vollzeit berufstätig sind; g) Kinder, bei denen ein oder beider Elternteile Teilzeit berufstätig sind;“ Weiter ist es ermessensfehlerhaft, bei der Frage der Zuteilung eines bestimmten Kindergartens die Berufstätigkeit der Eltern vorrangig zu gewichten. Die ersten 20 Plätze in H. wurden ausschließlich an Kinder mit zwei berufstätigen Eltern vergeben. Derart absolut angewandt handelt es sich nicht mehr um ein sachgerechtes Kriterium. Es geht nämlich nicht um die Frage, ob ein Kind überhaupt einen Kindergartenplatz erhält, sondern (nur noch) um die Frage, in welchen Kindergarten das Kind gehen kann. Hier ist vor allem das Kindeswohl zu berücksichtigen - mithin die Wohnortnähe, die besondere soziale Notlage, ein 3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen? 16 Geschwisterkind im selben Kindergarten sowie die Altersstruktur des aufnehmenden Kindergartens. Insbesondere die Wohnortnähe hat wesentliche Auswirkungen darauf, wie leicht ein Kind seine Freundschaften aus dem Kindergarten auch außerhalb der Betreuungszeiten fortsetzen kann. Sie ist auch wichtig, damit kontinuierliche Freundschaften bis in die Grundschule hinein entstehen können. Dies hat die Antragsgegnerin beispielsweise bei der lfd.Nr. 1 berücksichtigt, die daher den Kindergarten ausnahmsweise nach § 2 Abs. 3 Benutzungsordnung wechseln darf (vgl. Seite 4 der Niederschrift zum Erörterungstermin). Dagegen kann der Vorteil der Zeitersparnis auf Seiten der Eltern, der dann möglicherweise zugunsten berufstätiger Eltern ausschlägt, neben den genannten Kriterien nur eine ganz untergeordnete Rolle spielen. Weiter entspricht es nicht § 2 Abs. 2 Benutzungsordnung, dass innerhalb der Gruppen „berufstätige Eltern“ und „Geschwisterkind“ die Platzziffern nach Alter vergeben werden. Nur § 2 Abs. 1 Benutzungsordnung nennt das Alter der Kinder, § 2 Abs. 2 Benutzungsordnung spricht dagegen von der „Altersstruktur des aufnehmenden Kindergartens (Altersgemischte Gruppen)“. Die Auswahl nach „Altersstruktur“ hat dadurch zu erfolgen, dass Altersstufen gebildet werden und nicht strikt nach Geburtsdatum vorgegangen wird. Ob ein Kind einen Tag früher oder später geboren ist, ist hier kein sachgemäßes Auswahlkriterium. Die Antragsgegnerin hat im Übrigen auch nicht dargelegt, welche Altersstruktur der Kindergarten H. hat und welche Altersstruktur sie somit ihrer Auswahlentscheidung zugrunde gelegt hat.„ (juris-VG München v. 8.8.2006 AZ:M 9 E 06.2404) Was folgt nun daraus, dass die Behörde ihr Ermessen falsch ausgeübt hat? Das Kind hat nur einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Auswahlentscheidung. Es hat keinen Anspruch darauf, dass gerade ihm ein Platz im Kindergarten in H. zur Verfügung gestellt wird. Die Gemeinde muss anhand der richtigen Rechtsgrundlage neu entscheiden. Verwendete Literatur § 42 SGB VIII-Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, hrsg. v. Münder/Meysen/Trenczek, 6. Auflage Falterbaum, Rechtliche Grundlagen Sozialer Arbeit, 2. Aufl.2007, S. 24-28 Papenheim/Baltes/Tiemann, Verwaltungsrecht für die Soziale Praxis, S. 142 Stahlmann, Studienbrief BASS O2, 2011 Trenczek/Tammen/Behlert, Grundzüge des Rechts, 2011 o Trenczek(Tammen/Behlert, Grundzüge des Rechts, 2011, S. 123-131 o Trenczek(Tammen/Behlert, Grundzüge des Rechts, 2011, S. 131-133 o Trenczek(Tammen/Behlert, Grundzüge des Rechts, 2011, S. 133-137 o Trenczek(Tammen/Behlert, Grundzüge des Rechts, 2011, S. 139-143 3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen? 17 3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen? 18