Studienbrief 3_1

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Kathrin Becker-Schwarze
Grundstrukturen des Rechts
Fulda, 2011
Modul 14: Einführung Recht
3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen?
1
Studien(teil)brief 3
Rechtliche Grundlagen
Dozentin: Prof. Dr. Kathrin BeckerSchwarze
E-Mail: [email protected]
Telefon: 0421 327640
3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen?
3.
Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen?........................................................................................................3
3.1.
Einführung ............................................................................................................................................................3
3.2.
Anspruchsgrundlage .............................................................................................................................................3
3.3.
Weitere Normkategorien .....................................................................................................................................5
3.3.1.
Defintionsnormen ..........................................................................................................................................5
3.3.2.
Verweisgungsnorm ........................................................................................................................................5
3.3.3.
Ergänzungsnorm ............................................................................................................................................6
3.3.4.
Gegenrechte ..................................................................................................................................................7
3.4.
Wie prüfe ich jetzt meinen Lebenssachverhalt rechtlich? ...................................................................................7
3.5.
Rechtsanwendung im Öffentlichen Recht ............................................................................................................8
3.5.1.
Unbestimmte Rechtsbegriffe .........................................................................................................................9
3.5.2.
Beurteilungsspielraum .................................................................................................................................11
3.5.3.
Ermessen......................................................................................................................................................12
3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen?
2
3.
Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen?
3.1.
Einführung
Nachdem Sie sich nun in einem ersten Schritt einen Überblick über die
allgemeinen Rechtsstrukturen verschafft haben, geht es in diesem
Studienbrief darum, Ihnen nahezubringen, wie die juristische Denk- und
Arbeitsweise funktioniert. Sie haben ja schon erfahren, dass die „Juristerei“ eine ziemlich abstrakte Angelegenheit ist und für Nichtjuristen die
Rechtssprache oftmals nicht verständlich erscheint. Keine Angst, Sie sollen hier nicht zu JuristInnen ausgebildet werden. Anliegen ist es vielmehr, dass Sie die Technik der Gesetzesanwendung bzw. den Umgangs
mit rechtlichen Normen in den Grundzügen beherrschen.
JuristInnen haben gegenüber SozialarbeiterInnen den Vorteil, dass sie an
einem bereits aufgearbeiteten Sachverhalt konkrete Rechtsfragen zu
beurteilen haben. Die sozialarbeiterische Praxis hat es dagegen in der
Regel mit komplexen sozialen Lebenswelten mit unterschiedlichsten
Rechtsproblemen zu tun. Für Personen in der Beratung besteht nun die
nicht zu unterschätzende Aufgabe, mit KlientInnen überhaupt erst einmal herauszubekommen, um was es genau geht und was die KlientInnen
wollen. Sie wissen besser als ich, dass das in der Praxis eine schwierige
Aufgabe ist. Bei dieser Informationssammlung schwingt auch immer die
Frage mit, ob es sich überhaupt um einen Rechtsstreit handelt oder ob es
für die KlientInnen nicht besser ist, die Konflikte zunächst anders zu lösen.
3.2.
Anspruchsgrundlage
Haben Sie aber in ihrer Praxis eine Rechtsfrage herausgearbeitet und Sie
haben ungefähr eine Idee, welchen Rechtsbereichen diese zuzuordnen
ist, beginnt die rechtliche Prüfung. Sie werden in der Praxis nicht mit
abstrakten Rechtsfragen betraut werden, sondern es geht immer darum,
dass Ihre KlientInnen etwas wollen bzw. fordern oder aber die KlientInnen mit Forderungen dergestalt konfrontiert sind, dass von ihnen etwas
verlangt wird. Und es gilt dann immer der Grundsatz: man kann nur dann
etwas fordern oder verlangen, wenn es dafür eine gesetzliche Grundlage
gibt. Wir brauchen also immer eine konkrete gesetzliche
Anspruchsgrundlage.
Den Begriff „Anspruchsgrundlage“
unbedingt merken!
Wir JuristInnen beginnen bei der Prüfung eines Anspruchs immer mit der
Frage:
3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen?
3
Wer will was von wem woraus?
Wer von wem = Anspruchsbeziehung – beteiligte Personen ermitteln und
klären, wer Anspruchsteller/in und wer Anspruchsgegner/in ist.
Was = Ermittlung des Anspruchsziels – worauf richtet sich der Anspruch
der AnspruchstellerInnen? Schadensersatz, Zahlung des Kaufpreises,
Hilfe auf Erziehung, Zuweisung an eine Regelschule etc.
Woraus = aus welchen §§ könnte sich einer solcher Anspruch ergeben?
Dieser W-Satz klingt sicher schematisch, aber er hilft einem, den zu
beurteilenden Sachverhalt gedanklich zu strukturieren.
Also haben wir schon die erste Kategorie von §§, nämlich die Anspruchsnormen. Diesen §§ liegt immer eine Wenn-dann-Programmierung zugrunde. Diese §§ sind zweigeteilt aufgebaut:


Tatbestandsebene
Rechtsfolgenebene
Wenn die im § genannten Tatbestandsmerkmale vorliegen (erfüllt sind),
dann tritt die Rechtsfolge (Ergebnis) ein.
Aufgabe 1
§ 823 Abs. 1 BGB:
(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen
widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus
entstehenden Schadens verpflichtet.
Lesen Sie sich die § 823 Abs. 1
BGB und § 27 Abs. 1 SGB VIII
gründlich durch und unterstreichen die Tatbestandvoraussetzungen der Norm mit grün und
die Rechtsfolge mit rot.
Lösung 1
§ 27 Abs. 1 SGB VIII:
(1) Ein Personensorgeberechtigter hat bei der Erziehung eines Kindes
oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn
eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet
und notwendig ist.
3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen?
4
3.3.
Weitere Normkategorien
3.3.1. Defintionsnormen
Bleiben wir noch einen Moment bei den unterschiedlichen Normkategorien. Neben den Anspruchsnormen enthalten viele Gesetze einfache
Defintionen (sogenannten Definitionsnormen). Ein Beispiel dafür finden
wir in § 7 SGB VIII.
Materialien
Trenczek(Tammen/Behlert,
Grundzüge des Rechts, 2011, S.
139-143 (lesen!)
§ 7 Begriffsbestimmungen
(1) Im Sinne dieses Buches ist
1. Kind, wer noch nicht 14 Jahre alt ist, soweit nicht die Absätze 2 bis 4
etwas anderes bestimmen,
2. Jugendlicher, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist,
3. junger Volljähriger, wer 18, aber noch nicht 27 Jahre alt ist,
4. junger Mensch, wer noch nicht 27 Jahre alt ist,
5. Personensorgeberechtigter, wem allein oder gemeinsam mit einer anderen Person nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs die
Personensorge zusteht,
6. Erziehungsberechtigter, der Personensorgeberechtigte und jede sonstige Person über 18 Jahre, soweit sie aufgrund einer Vereinbarung mit
dem Personensorgeberechtigten nicht nur vorübergehend und nicht nur
für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge wahrnimmt.
(2) Kind im Sinne des § 1 Abs. 2 ist, wer noch nicht 18 Jahre alt ist.
(3) (aufgehoben)
(4) Die Bestimmungen dieses Buches, die sich auf die Annahme als Kind
beziehen, gelten nur für Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht
vollendet haben.
3.3.2. Verweisgungsnorm
Wenn Sie sich § 7 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII und § 823 Abs. 1 BGB ansehen,
finden Sie noch eine weitere Kategorie von Rechtsnormen. Dort werden
nämlich entweder auf andere Gesetze oder auf andere § verwiesen (sog.
Verweisungsnorm).
§ 7 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII verweist auf das BGB, weil dort im Buch zum
Familienrecht das Personensorgerecht geregelt ist, und zwar in § 1626
BGB.
3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen?
5
 § 1629 Abs. 1 Satz 1BGB: Die Eltern haben die Pflicht und das
Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge).
§ 823 Abs. 1 BGB setzt u. a. Vorsatz oder Fahrlässigkeit voraus.
 § 276 Abs. 2 BGB: Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.
3.3.3. Ergänzungsnorm
Und schließlich fordern manche Anspruchsnormen noch weitere
Voraussetzungen und verweisen auf andere §§ (sog. Ergänzungsnorm).
Ein Beispiel dafür ist § 280 Abs. 2 BGB, wobei dieser sprachlich schwer zu
verstehen ist.
§ 280 Abs. 2 BGB:
Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung kann der Gläubiger nur
unter der zusätzlichen Voraussetzungen des § 286 BGB verlangen.
Dazu vielleicht zur Auflockerung folgender Fall:
Die Evangelische Kirche in B. fährt jedes Jahr im Sommer zu einer Freizeit in ein Ferienlager. In diesem Jahr hatten sich 50 Jugendliche
angemeldet. Die Fahrt ging an die Ostsee. Die Leitung der Gruppe hatte
im Vorfeld mit einem Surfbrettverleih vereinbart, dass die Surfbretter
spätestens nach Abruf von drei Tagen in das Zeltlager geliefert werden
sollen. Das Wetter war ausgezeichnet. Als die Gruppe anreiste, rief die
Leitung beim Surfbrettverleiher an und orderte 20 Bretter. Der
Surfbrettverleiher hatte mit einer solchen dauerhaften guten Wetterlage
nicht gerechnet und hatte sein Kontingent bereits an andere vergeben
und musste selbst erst neue Bretter ordern. Er teilte der Leitung mit,
dass die Lieferung ca. 10 Tage dauern würde. Die Leitung war verärgert
und bestellte die Surfbretter bei einem anderen Kollegen, der jedoch
insgesamt um 1.000,--€ teurer war. Die Leitung will nun von dem ersten
Surfbretterverleiher Schadensersatz in Höhe von 1.000,-- €.
Kommen wir jetzt wieder auf den § 280 BGB zurück. Der Verleiher hat
nicht fristgerecht geliefert, die Lieferung war also verzögert. Der Verleiher hat diese Verzögerung auch zu vertreten, weil er seine Bretter an
andere abgegeben, obwohl er zuvor einen anderen Vertrag mit dem
Leiter geschlossen hatte. Dem Leiter ist dadurch ein Schaden entstanden.
Er könnte jetzt eigentlich den Schadensersatz fordern. Jetzt verweist
aber der § 280 Abs. 2 BGB auf den § 286 BGB, der etwas vereinfacht sagt,
3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen?
6
dass der Schadensersatz nur verlangt werden darf, wenn der Leiter den
Verleiher zuvor gemahnt hat. Der Leiter hatte aber den Verleiher nicht
gemahnt, sondern gleich bei einem anderen Verleiher geordert. Jetzt
gibt es aber davon wieder eine Ausnahme in § 286 Abs. 2 Nr.2 BGB:
„Der Mahnung bedarf es nicht, wenn der Leistung ein Ereignis vorauszugehen hat und eine angemessene Zeit für die Leistung in der Weise
bestimmt ist, dass sie sich von dem Ereignis an nach dem Kalender
berechnen lässt.“
Aufgabe 2
Versuchen Sie einmal, die rot
unterlegten Voraussetzungen mit
den Angaben aus dem Sachverhalt zu begründen
3.3.4. Gegenrechte
Und dann muss wissen, dass Ansprüche dann nicht durchsetzen sind,
wenn der Gegner Gegenrechte geltend machen kann. Damit ist dann die
letzte Gruppe der Normen angesprochen. Sie haben beispielsweise eine
Schadensersatzanspruch – alle Voraussetzungen dafür liegen vor – aber
mein Gegenüber beruft sich zum Beispiel darauf, dass der Anspruch verjährt ist. Dann beruft sich mein Gegenüber auf ein Gegenrecht.
Zusammenfassend sind folgende
Normkategorien zu unterscheiden:





Anspruchsnormen
Definitionsnormen
Verweisungsnormen
Ergänzungsnormen
Gegennormen
3.4. Wie prüfe ich jetzt meinen Lebenssachverhalt
rechtlich?
An dem kleinen Fall oben konnte man schon sehen, wie schwierig es ist,
einen Sachverhalt juristisch zu prüfen bzw. wie gelingt es die juristischen
Tatbestandvoraussetzungen und den Lebenssachverhalt zu verbinden?
Wir JuristInnen nennen das Subsumtion. Subsumtion bedeutet eine
Technik, mit der untersucht, ob der rechtlich zu beurteilende Sachverhalt
die Voraussetzungen eines gesetzlichen Tatbestands erfüllt.
3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen?
7
Aufgabe 3
Ich will Ihnen das an folgendem einfachen Beispiel verdeutlichen:
Der Student S radelt mit seinem Fahrrad, welches er zum Geburtstag von
seinen Eltern geschenkt bekommen hat, auf eine Fete. Als er in der
Morgendämmerung wieder nach Hause will, ist sein Fahrrad verschwunden. Zwei Tage später sieht er D mit seinem Fahrrad vorbeifahren. Er
stoppt ihn und verlangt sein Fahrrad heraus. D weigert sich. Kann S die
Herausgabe des Fahrrades von D verlangen?
Obersatz: S könnte einen Anspruch gegen D auf Herausgabe des Fahrrades gem. § 985 BGB haben.
Obersatz: dazu müsste S Eigentümer des Fahrrades sein.
 Subsumtion: S erhielt das Fahrrad als Geschenk zum Geburtstag.
Danach ist davon auszugehen, dass es in seinem Eigentum steht.
 Subsumtion: S ist folglich Eigentümer des Fahrrades.
Obersatz: Besitzer ist gem. § 854 BGB, wer die tatsächliche Sachherrschaft über eine Sache ausübt.
 Subsumtion: D fährt mit dem Fahrrad durch die Stadt und übt
damit die tatsächliche Sachherrschaft über das Fahrrad aus.
 Subsumtion: Folglich ist D Besitzer des Rades.
Lesen Sie zunächst die untenstehenden §§ und versuchen Sie
dann den Beispielsfall nachzuvollziehen.
§ 985 BGB
Der Eigentümer kann von dem
Besitzer die Herausgabe der Sache
verlangen.
§ 854 BGB
(1) Der Besitz einer Sache wird
durch die Erlangung der tatsächlichen Gewalt über die Sache
erworben.
(2) Die Einigung des bisherigen
Besitzers und des Erwerbers genügt zum Erwerb, wenn der
Erwerber in der Lage ist, die Gewalt über die Sache auszuüben.
rechtshindernde Einwendung (Gegenrecht): fraglich ist, ob D gem. § 986
BGB ein Recht zum Besitz hat. Ein solches ist nicht erkennbar.
Ergebnis: Damit hat S einen Anspruch auf Herausgabe des Fahrrades
gegen D aus § 985 BGB.
Dieses Beispiel ist sicherlich überzogen und so arbeitet ein Jurist in der
Praxis sicher nicht mehr. Wichtig für Ihren Kontext ist, dass Sie die einzelnen Tatbestandsmerkmale eines § sicher identifizieren können und prüfen können, ob für Ihren Fall die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt
sind. Verneinen Sie nämlich eine der Tatbestandsmerkmale, gibt es keinen durchsetzbaren Anspruch.
3.5.
Materialien
Falterbaum, Rechtliche
Grundlagen Sozialer Arbeit, 2.
Aufl.2007, S. 24-28
Rechtsanwendung im Öffentlichen Recht
Im Folgenden soll auf die Rechtsanwendung im Öffentlichen Recht
eingegangen werden. Bei der Rechtsanwendung im Öffentlichen Recht
müssen Sie die Begriffe unterscheiden können:
3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen?
8
 unbestimmte Rechtsbegriffe und Beurteilungsspielraum
 Ermessen
3.5.1. Unbestimmte Rechtsbegriffe
Aufgabe 4
Lesen Sie einmal folgende §§:
Ich habe die Stellen, auf die es mir ankommt markiert. Sie werden mit
mir übereinstimmen, dass sowohl der Begriff „Kindeswohlgefährdung“
wie auch die Frage „der Nichtgewährleistung des Kindeswohls“ relativ
vage Begriffe sind, die viele Interpretationsmöglichkeiten eröffnen. Insofern ist es nachvollziehbar, dass die JuristInnen hier von unbestimmten
Rechtsbegriffen sprechen, die in der Rechtsanwendung interpretiert
werden müssen.
Eine gute Problembeschreibung gibt Trenczek
„Normen können nur dann richtig angewandt werden, wenn man sich
über die genaue Definition eines Rechtsbegriffs klar wird. Sprache ist
aber nicht mathematisch exakt, Begriffe werden in unterschiedlichen
Kontexten verwendet und ihnen dabei verschiedene Inhalte und
Bedeutungen beigemessen. Schon deshalb basiert die Rechtsanwendung
nicht auf einer reinen inhaltsunabhängigen Logik, sondern es geht um
ein hermeneutisches Vorgehen, um ein verstehendes Bemühen, den
Inhalt des Rechts richtig zu deuten.“ (Trenczek/Tammen/Behlert, Grundzüge des Rechts, S. 105)
Wir in der Juristerei sprechen dann von Auslegung dieser Begriffe. Eine
solche Auslegung erfolgt nicht im luftleeren Raum, sondern dafür gibt es
bestimmte Auslegungsmethoden, auf die ich hier aber nicht weiter
eingehen will. Mir geht es eher darum, Ihnen deutlich zu machen, dass
die Anwendung solcher unbestimmter Rechtsbegriffe nicht durch Ihre
persönliche Meinung und Einschätzung erfolgen darf, sondern dass Sie
dazu das notwendige Fachwissen zu der rechtlichen Fragestellung eruieren müssen.
In der Praxis entsteht häufig der Eindruck, dass die JuristInnen inhaltlich
unabhängig und völlig frei festlegen, was beispielsweise unter einer
„Kindeswohlgefährdung“ zu verstehen ist. Das ist falsch. Richtig ist, dass
die JuristInnen – insbesondere die Gerichte – einen Konflikt rechtlich
entscheiden müssen. Aber natürlich haben JuristInnen nicht die Fachkompetenz, eigenständig zu interpretieren, welche Kategorien bei der
3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen?
§ 42 Abs.1 SGB VIII
(1) Das Jugendamt ist berechtigt
und verpflichtet, ein Kind oder
einen Jugendlichen in seine Obhut
zu nehmen, wenn
1. das Kind oder der Jugendliche
um Obhut bittet oder
2. eine dringende Gefahr für das
Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme
erfordert und
a) die Personensorgeberechtigten
nicht widersprechen oder
b) eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann oder
3. ein ausländisches Kind oder ein
ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt
und sich weder Personensorgenoch Erziehungsberechtigte im
Inland aufhalten.
Die Inobhutnahme umfasst die
Befugnis, ein Kind oder einen
Jugendlichen bei einer geeigneten
Person, in einer geeigneten
Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen; im Fall von Satz 1 Nr. 2
auch ein Kind oder einen Jugendlichen von einer anderen Person
wegzunehmen.
9
Feststellung einer Kindeswohlgefährdung anzulegen sind. Dazu bedient
sich das Recht des externen Sachverstands, d. h. der ExpertInnen aus
dem Bereich der Sozialen Arbeit, Psychologie etc. JuristInnen ziehen diesen Sachverstand bei der Anwendung der rechtlichen Normen hinzu und
entscheiden auf dieser Grundlage.
Wie aber wird dieses Wissen generiert? Und damit sprechen wir die
juristischen Hilfsmittel an. JuristInnen arbeiten natürlich mit den Gesetzen und anderen Normen, aber eines der wichtigsten Mittel bei der
Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen sind die Kommentare zu
den einzelnen Gesetzen und die aktuelle Rechtsprechung.
§ 27 SGB VIII Hilfe zur Erziehung
(1) Ein Personensorgeberechtigter
hat bei der Erziehung eines Kindes
oder eines Jugendlichen Anspruch
auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung),
wenn eine dem Wohl des Kindes
oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht
gewährleistet ist und die Hilfe für
seine Entwicklung geeignet und
notwendig ist.
Wie das Wort schon sagt, es wird jeder einzelne § eines Gesetzes erläutert und ausgelegt.
Aufgabe 5
Sehen Sie sich dazu einmal die
Kommentierung des § 42 SGB VIII
an, damit Sie einen Eindruck von
Gesetzeskommentaren bekommen.
Handelt es sich bei der Rechtsfrage um eine sehr aktuelle Fragestellung,
reichen oftmals die Kommentare nicht aus, sondern es muss die neueste
Rechtsprechung recherchiert werden. Das geschieht in der Regel über
online-Datenbanken. Die bekannteste ist juris. Sie haben ja zu Beginn
Ihres Studiums eine Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten erhalten und wissen, wie die online-Recherche funktioniert. Ich nehme an,
dass Sie alle über einen VPN-Client verfügen, der es Ihnen ermöglichst,
auf die Bibliotheksseite der Hochschule zuzugreifen.
Kommen wir wieder auf die unbestimmten Rechtsbegriffe zu sprechen.
§ 42 SGB VIII-Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, hrsg.
v. Münder/Meysen/Trenczek, 6.
Auflage
Machen Sie einmal eine OnlineRecherche bei Juris und finden Sie
neuesten Entscheidungen zu § 42
SGB VIII (Inobhutnahme) heraus.
Aufgabe 6
Wenn Sie sich die markierten
unbestimmten Rechtsbegriffe in §
27 und 42 SGB VIII noch einmal
ansehen, sind diese auf der Tatbestandsebene oder auf der Rechtsfolgenebene des § angesiedelt?
Wenn Sie unsicher sind, gehen Sie
noch einmal zurück und sehen
nach.
3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen?
10
Unbestimmte Rechtsbegriffe sind immer auf der Tatbestandsebene eines
§ angesiedelt und betreffen die Tatbestandsvoraussetzungen. Erst wenn
die Voraussetzungen eines unbestimmten Rechtsbegriffs vorliegen, muss
oder darf die Behörde handeln (=Rechtsfolge). Die Auslegung
unbestimmter Rechtsbegriffe erfolgt durch die Behörden (z. B. Jugendamt). Beantragen Eltern für ihr Kind Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB
VIII, prüft das Jugendamt u. a. ob eine dem Wohl des Kindes oder
Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist. Das
Jugendamt muss also ermitteln, ob ein Erziehungsbedarf besteht. Rechtlich stellt sich die Frage, ob der Behörde bei der Auslegung der
unbestimmten Rechtsbegriffe einen Entscheidungsspielraum hat, der
durch die Gerichte nicht überprüft wird. Grundsätzlich ist es so, dass die
Gerichte, sollte es zu einem Rechtsstreit kommen, immer überprüfen, ob
die Behörde die unbestimmten Rechtsbegriffe korrekt ausgelegt hat. Der
Behörde wird bei der Auslegung dieser unbestimmten Rechtsbegriffe
kein Entscheidungsspielraum eingeräumt. Es kommt allein auf die Auffassung der Gerichte an.
Materialien
3.5.2. Beurteilungsspielraum
Von diesem Grundsatz werden nur in ganz bestimmten Fällen Ausnahmen gemacht. Man spricht dann davon, dass der Behörde ein
Beurteilungsspielraum eingeräumt wird.
Trenczek(Tammen/Behlert,
Grundzüge des Rechts, 2011, S.
123-131
„Die Rechtsprechung ist Aufgabe der Gerichte (Art. 92 GG), ihnen obliegt
es, die richtige Anwendung der Gesetze durch die Verwaltung zu
überprüfen. Deshalb wird von den (Verwaltungs-)Gerichten auch überprüft, ob die von der Verwaltung vorgenommene Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe mit dem Gesetz im Einklang steht, also „richtig“ ist.
Diese Überprüfung ist grundsätzlich allumfassend, nur ausnahmsweise
wird der Verwaltung von der Rechtsprechung bei der Auslegung von
unbestimmten Rechtsbegriffen ein gerichtlich nur eingeschränkt
nachprüfbarer
„Beurteilungsspielraum“
oder
eine
sog.
Einschätzungsprärogative im Rahmen der Abwägung zuerkannt. Den
Ausnahmefällen ist gemeinsam, dass es sich um Wertentscheidungen
der Verwaltung handelt, die das Gericht aufgrund der besonderen,
einmaligen Konstellation der Entscheidungsfindung oder sonstigen Gründen
nicht
nachholen
kann,“
(Trenczek, Grundzüge des Rechts, S. 110)
Im Bereich von Prüfungsentscheidungen im Schul- und Hochschulbereich
3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen?
11
hat die Rechtsprechung der Verwaltung einen solchen Beurteilungsspielraum eingeräumt. Begründet wird dieses mit der für die Gerichte nicht
rekonstruierbaren Prüfungssituation und der besonderen Beziehung
zwischen SchülerInnen/Studierenden und PrüferInnen. Also sollten Sie
mit der Benotung einer Prüfung nicht einverstanden sein und wollen Sie
dagegen gerichtlich vorgehen, überprüfen die Verwaltungsgerichte nur,
ob der Prüfer beispielsweise die Verfahrensvorschriften nicht eingehalten hat, oder seine Benotung auf völlig sachfremden Erwägungen beruht.
Übertragen auf den Bereich der Sozialen Arbeit wird diskutiert, ob man
der Verwaltung im Bereich der Kindeswohlgefährdung ebenfalls einen
solchen Beurteilungsspielraum einräumen sollte. Die Rechtsprechung ist
da sehr zurückhaltend, weil damit immer die Gefahr besteht, dass das
Handeln der Behörde nicht überprüfbar ist. Hinsichtlich der Frage, ob
eine Kindeswohlgefährdung vorliegt oder ob die Voraussetzungen einer
Inobhutnahme gegeben sind, wird ein solcher Beurteilungsspielraum
verneint. Einen Beurteilungsspielraum wird lediglich hinsichtlich der
Frage, ob das Jugendamt bei einer kindeswohlgefährdenden Situation
sofort das Familiengericht einschalten muss, eingeräumt.
3.5.3. Ermessen
Während unbestimmte Rechtsbegriffe immer die Tatbestandvoraussetzungen eines § betreffen, ist „Ermessen“ immer auf der Rechtsfolge eines § angesiedelt. Wir hatten ja bei der Rechtsanwendung gelernt, dass
wir zunächst einen § finden müssen, aus dem wir einen Rechtsanspruch
ableiten können. Wenn Eltern für ihr Kind Hilfe zur Erziehung wünschen,
so ist die Anspruchsnorm § 27 SGB VIII. Wenn die
Tatbestandsvoraussetzungen des § 27 SGB VIII (1. Erziehungsbedarf, 2.
Hilfe muss notwendig und 3. geeignet sein) vorliegen, dann stellt sich die
Frage der Rechtsfolge, nämlich ob Hilfe zur Erziehung gewährt wird. Auf
der Rechtsfolgenseite muss dann geprüft werden, ob die Verwaltung
(Jugendamt) den Anspruch gewähren muss oder ob sie in dieser Frage
einen Gestaltungsspielraum hat. Im ersten Fall sprechen wir von einer
gebundenen Entscheidung. Wird der Behörde ein Entscheidungsspielraum eingeräumt ist, dann hat die Behörde einen Ermessensspielraum.
Materialien
Trenczek(Tammen/Behlert,
Grundzüge des Rechts, 2011, S.
131-133
Beispiele, in denen der Verwaltung kein Ermessen eingeräumt
wurde:
§ 24 Abs. 1 S. 1 SGB VIII
Wenn Sie sich jetzt den § 27 SGB VIII daraufhin noch einmal durchlesen:
hat das Jugendamt hier ein Ermessen hinsichtlich der Frage, ob Hilfe zur
Erziehung gewährt wird oder nicht?
(1) Ein Kind hat vom vollendeten
dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt auf den Besuch einer
Tageseinrichtung.“
§ 27 SGB VIII räumt der Behörde kein Ermessen ein. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen vor, muss die Behörde Hilfe zur Erziehung
§ 23 Abs.1 S. 1 SGB XII
3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen?
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gewähren. Sie erkennen es an dem Wort „hat“: Ein Personensorgeberechtigter hat Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn die
Voraussetzungen 1., 2. und 3. vorliegen. Sie müssen also den § genau
lesen. Finden Sie solche Signalworte wie „hat“ „muss“ oder „ist“, dann
wird der Behörde kein Ermessen eingeräumt mit der Folge: der Anspruch
muss gewährt werden.
In manchen §§ finden Sie auch Worte wie „soll“. Soll-Bestimmungen sind
in der Regel wie „Muss“-Bestimmungen zu behandeln, also hat die Behörde hier keinen Spielraum. Nur in absoluten Ausnahmefällen, wenn
eine ganz untypische Konstellation vorliegt, davon die Behörde davon
abweichen.
(1) Ausländern, die sich im Inland
tatsächlich aufhalten, ist Hilfe zum
Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft
und Mutterschaft sowie Hilfe zur
Pflege nach diesem Buch zu leisten.
Beispiel für eine Soll-Bestimmung:
§ 20 SGB VIII
(1) Fällt der Elternteil, der die
überwiegende Betreuung des
Kindes übernommen hat, für die
Wahrnehmung dieser Aufgabe
aus gesundheitlichen oder anderen zwingenden Gründen aus, so
soll der andere Elternteil bei der
Betreuung und Versorgung des im
Haushalt lebenden Kindes werden, wenn
1. er wegen berufsbedingter
Abwesenheit nicht in der Lage ist,
die Aufgabe wahrzunehmen,
2. die Hilfe erforderlich ist, um das
Wohl des Kindes zu gewährleisten,
3. Angebot der Förderung des
Kindes in Tageseinrichtungen
oder in Kindertagespflege nicht
ausreichen.
Woran erkennt man nun, ob der Behörde ein Ermessen eingeräumt
wurde? Häufig finden Sie Wörter wie „darf“, „kann“, „ist ermächtigt“.
Wir sprechen dann von sogenannten „Kann-Bestimmungen“.
Ist der Behörde ein Ermessen eingeräumt, heißt das nicht, dass die Behörde entscheiden kann wie sie will. Die Behörde muss immer pflichtgemäß handeln, insbesondere muss sie die zweckmäßigste Alternative auswählen.
„Die Pflichtgebundenheit der Ermessensausübung kommt als allgemeiner Grundsatz des Verwaltungshandelns ausdrücklich in § 39 SGB I, § 40
VwVfG zum Ausdruck, nach denen die Behörden nicht nur verpflichtet
sind, das Ermessen entsprechend dem Zweck der gesetzlichen Ermächti3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen?
Beispiel für Kann-Bestimmungen:
§ 32 SGB VIII
Hilfe zur Erziehung in einer Tagesgruppe soll die Entwicklung
des Kindes oder Jugendlichen
durch soziales Lernen in der
Gruppe, Begleitung der schulischen Förderung und Elternarbeit
unterstützen und dadurch den
Verbleib des Kindes oder Jugendlichen in seiner Familie sichern. Die
13
gung auszuüben, sondern auch die gesetzlichen Grenzen des Ermessens
einzuhalten.“
(Trenczek/Tammen/Behlert, Grundzüge des Rechts, 2011, S. 134
Hilfe kann auch in geeigneten
Formen der Familienpflege geleistet werden.
Die Gerichte prüfen die Grenzen des Ermessens danach, ob ein Ermessensfehler vorliegt. Es gibt folgende Ermessensfehler:
1. Ermessensunterschreitung:
Hat die Behörde überhaupt das ihr zustehende Ermessen erkannt und
ausgeübt? Nicht selten kommt es vor, dass eine Behörde das ihr zustehende Ermessen nicht erkennt und infolgedessen nicht ausübt.
2. Ermessensfehlgebrauch:
a.) Ermessensdefizit: Hat die Behörde alle Gesichtspunkte erkannt und
berücksichtigt, die nach dem Zweck der Ermächtigung zu berücksichtigen
sind?
b) Sachwidrige Erwägungen: Hat die Behörde Gesichtspunkte in die
Ermessenserwägungen einfließen lassen, die dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechen?
3. Ermessensüberschreitung:
Hat die Behörde auf eine Rechtsfolge erkannt, die von der Ermessensermächtigung nicht gedeckt, insbesondere unverhältnismäßig ist oder gegen das Gebot der Gleichbehandlung verstößt?
4. Verstoß gegen eine Richtlinie
bzw. Selbstbindung der Verwaltung
Wird dem Sachbearbeiter verwaltungsintern eine Ermessensrichtlinie
vorgegeben, so liegt von vornherein für ihn eine Einschränkung des Spielraums vor. Gerichte sind jedoch nicht daran gebunden, sondern haben
dann wie folgt zu prüfen:
a.)
Ist
die
Richtlinie
selbst
rechtsfehlerfrei?.
Nicht wenige Richtlinien erfüllen diese Bedingung nicht, weil sie in erster
Linie eine Verwaltungspraxis spiegeln oder Vorgaben der Behördenleitung umsetzen, die selbst nicht ausreichend rechtlich überprüft worden
sind.
b) Stimmt die Ermessensentscheidung mit der Richtlinie überein?
c) Liegt ein in der Richtlinie nicht bedachtet atypischer Fall vor?
(Stahlmann, Studienbrief BASS O2)
3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen?
14
Damit es ein bisschen konkreter wird, hier einige Beispielsfälle:
Beispiel für Ermessensunterschreitung:
Die Behörde verbietet eine Versammlung, weil sie die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet glaubt und meint, in diesem Fall habe sie
keine andere Wahl, als die Versammlung zu verbieten oder von Auflagen
abhängig zu machen. Aber § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz räumt durch
das Wort „kann“ ein Ermessen ein.
Beispiel für Ermessensfehlgebrauch:
 Unsachliche Motive:
Ein Antrag auf Übernahme der Mietschulden zur Vermeidung einer
Zwangsräumung (§ 34 SGB XII) wird abgelehnt, weil der Antragsteller sich
wegen beleidigender Äußerungen des zuständigen Sachbearbeiters bei
dessen Vorgesetzten beschwert hat. (aus: Papenheim/Baltes/Tiemann,
Verwaltungsrecht für die Soziale Praxis, S. 142.)
 Zweck der gesetzlichen Grundlagen
Materialien
Trenczek(Tammen/Behlert,
Grundzüge des Rechts, 2011, S.
133-137
Die Behörde lädt einen seit langer Zeit unfallfrei beim ersten und nicht
allzu schweren Verkehrsverstoß zur Verkehrserziehung vor. Prinzipiell
darf dies Behörde das, sie ist aber nicht vom Sinn und Zweck des Gesetzes gedeckt und zudem unverhältnismäßig.
Beispiel für Ermessensüberschreitung:
Die Behörde erlässt einen Gebührenbescheid in Höhe von 120,-- €, vom
Gesetz darf sie aber nur eine Gebühr zwischen 30,-- € und 60,-- € erheben.
Wenn Sie nun gegen eine Entscheidung der Behörde vorgehen, dann
prüft das Gericht u. a., ob die Behörde ein Ermessen hat und wenn ja, ob
sie das Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat. Was ist damit gemeint? Sie als
Bürger haben keinen Anspruch auf eine bestimmte Entscheidung, sondern nur das Recht auf eine fehlerfreie Ermessensausübung.
Ich will das an folgendem Beispielsfall verdeutlichen:
Benutzungsverordnung
Eltern meldeten ihr Kind zum Besuch eines Kindergartens an; als
Wunschkindergarten gaben sie den Gemeindekindergarten H. an. Dem
Kind wurde ein Kindergartenplatz in R. zugewiesen. Das Kind hatte,
vertreten durch seine Eltern, Widerspruch eingelegt und im Wege der
einstweiligen Anordnung beim Verwaltungsgericht beantragt, ihm einen
Kindergartenplatz in H. zuzuweisen. Zur Begründung führten die Eltern
3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen?
§ 2 – Vergabekriterien
(1) Sind nicht genügend freie
Plätze verfügbar, so wird die Auswahl ob ein Kind einen Kindergarten- bzw. Kinderkrippenplatz
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aus, dass nicht nur die Auswahlentscheidung rechtswidrig gewesen sei,
das Kind habe auch einen Anspruch auf einen Kindergartenplatz in H.,
weil es direkt gegenüber dem Kindergarten wohne. Gerade dem Kind
dort keinen Platz zuzuteilen sei rechtswidrig. Es standen 27 freie Plätze
zur Verfügung bei 43 Bewerbungen. Die Gemeinde hatte auf der Grundlage des § 2 Abs. 1 der Benutzungsverordnung entschieden.
Dieser Sachverhalt lag einer Entscheidung des VG München aus dem
Jahre 2006 zugrunde. Die gesetzlichen Regelungen dürften sich inzwischen geändert haben. Entscheidungsgrundlage für das Verwaltungsgericht war damals die Gemeindeordnung, die den Gemeindeangehörigen
einen Anspruch darauf gab, die öffentlichen Einrichtungen ihrer Gemeinde (den gemeindlichen Kindergarten) zu benutzen. Dieser Anspruch
war aber durch die Kapazität der Einrichtung begrenzt. Die Gemeinde
musste eine Auswahlentscheidung auf der Grundlage der
Benutzungsverordnung treffen.
Das Verwaltungsgericht München hielt die Zuteilung des Kindergartenplatzes für fehlerhaft, weil die Gemeinde die Zuteilung nach § 2 Abs. 1
vorgenommen hatte. Die korrekte Rechtsgrundlage wäre aber § 2 Abs. 2
gewesen. § 2 Abs. 1 sei für die Auswahl, welches Kind überhaupt einen
Platz aus dem gemeindlichen Platzkontingent bekommt, heranzuziehen.
Für die Frage, welches Kind dann aber welchem Kindergarten zugeteilt
wird, käme nur § 2 Abs. 2 zur Anwendung.
Sehen wir uns die Begründung des Verwaltungsgerichts im Einzelnen an:
„Aus dieser Wahl der falschen Rechtsgrundlage ergibt sich vor allem der Fehler,
dass die örtliche Nähe zum Kindergarten überhaupt nicht berücksichtigt
wurde (vgl.
Seite 4 der Niederschrift zum Erörterungstermin). Die
Wohnortnähe ist aber nach der
richtigen Rechtsgrundlage - § 2 Abs. 2 e)
Benutzungsordnung - ein Kriterium, das bei der Auswahlentscheidung mit
heranzuziehen ist. Zwar stehen die in § 2 Abs. 2 Benutzungsordnung genannten
Kriterien in keiner Rangfolge zueinander, sodass es im Ermessen der
Antragstellerin steht, in welchem Verhältnis zueinander sie die Kriterien
gewichtet. Aus den Akten der Gemeinde und im Erörterungstermin hat sich
aber ergeben, dass dem Kriterium
der Wohnortnähe nicht etwa bewusst
weniger Gewicht beigemessen wurde, sondern dass es deshalb nicht zur
Anwendung kam, weil unzulässigerweise vorrangig Absatz 1 herangezogen
wurde und dieser das Kriterium der Wohnortnähe nicht nennt. Da Absatz 2
aber die Wohnortnähe mit aufführt, war es fehlerhaft, sie von vorneherein gar
nicht in die Auswahlentscheidung miteinzubeziehen.
aus dem gemeindlichen Platzkontingent erhält, nach folgenden
Dringlichkeitsstufen getroffen:
a) Kinder, die in der Gemeinde
wohnen;
b) Familien in besonderen, sozialen Notlagen;
c) Alter der Kinder;
d) Kinder, deren Eltern beide Vollzeit berufstätig sind;
e) Kinder, bei denen ein oder
beider Elternteile Teilzeit
berufstätig sind;
Zum Nachweis der Dringlichkeitsstufen b), d) und e) sind entsprechende Nachweise beizubringen.
(2) Liegen für einen bestimmten
Kindergarten mehr Anmeldungen
vor, als freie Plätze zur Verfügung
stehen, so ist die Verteilung der
Plätze für diesen Kindergarten
nach folgenden Kriterien zu treffen:
a) Das Kind hat nach Absatz 1 einen Anspruch auf einen Kindergartenplatz;
b) Familien in besonderen, sozialen Notlagen;
c) Geschwisterkind befindet sich
bereits im gleichen Kindergarten
(gilt nur bei gleichzeitigem Besuch);
d) Altersstruktur des aufnehmenden Kindergartens (Altersgemischte Gruppen);
e) Wohnortnähe zum aufnehmenden Kindergarten (kürzester, tatsächlicher Fußweg);
f) Kinder, deren Eltern beide Vollzeit berufstätig sind;
g) Kinder, bei denen ein oder
beider Elternteile Teilzeit
berufstätig sind;“
Weiter ist es ermessensfehlerhaft, bei der Frage der Zuteilung eines bestimmten Kindergartens die Berufstätigkeit der Eltern vorrangig zu gewichten. Die
ersten 20 Plätze in H. wurden ausschließlich an Kinder mit zwei berufstätigen
Eltern vergeben. Derart absolut angewandt handelt es sich nicht mehr um ein
sachgerechtes Kriterium. Es geht nämlich nicht um die Frage, ob ein Kind überhaupt einen Kindergartenplatz erhält, sondern (nur noch) um die Frage, in welchen Kindergarten das Kind gehen kann. Hier ist vor allem das Kindeswohl zu
berücksichtigen - mithin die Wohnortnähe, die besondere soziale Notlage, ein
3. Rechtsanwendung oder wie ticken die Juristen?
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Geschwisterkind im selben Kindergarten sowie die Altersstruktur des
aufnehmenden Kindergartens. Insbesondere die Wohnortnähe hat wesentliche
Auswirkungen darauf, wie leicht ein Kind seine Freundschaften aus dem
Kindergarten auch außerhalb der Betreuungszeiten fortsetzen kann. Sie ist
auch wichtig, damit kontinuierliche Freundschaften bis in die Grundschule hinein entstehen können. Dies hat die Antragsgegnerin beispielsweise bei der
lfd.Nr. 1 berücksichtigt, die daher den Kindergarten ausnahmsweise nach § 2
Abs. 3 Benutzungsordnung wechseln darf (vgl. Seite 4 der Niederschrift zum
Erörterungstermin). Dagegen kann der Vorteil der Zeitersparnis auf Seiten der
Eltern, der dann möglicherweise zugunsten berufstätiger Eltern ausschlägt, neben den genannten Kriterien nur eine ganz untergeordnete Rolle spielen.
Weiter entspricht es nicht § 2 Abs. 2 Benutzungsordnung, dass innerhalb der
Gruppen „berufstätige Eltern“ und „Geschwisterkind“ die Platzziffern nach Alter vergeben werden. Nur § 2 Abs. 1 Benutzungsordnung nennt das Alter der
Kinder, § 2 Abs. 2 Benutzungsordnung spricht dagegen von der „Altersstruktur
des aufnehmenden Kindergartens (Altersgemischte Gruppen)“. Die Auswahl
nach „Altersstruktur“ hat dadurch zu erfolgen, dass Altersstufen gebildet werden und nicht strikt nach Geburtsdatum vorgegangen wird. Ob ein Kind einen
Tag früher oder später geboren ist, ist hier kein sachgemäßes Auswahlkriterium. Die Antragsgegnerin hat im Übrigen auch nicht dargelegt, welche
Altersstruktur der Kindergarten H. hat und welche Altersstruktur sie somit ihrer
Auswahlentscheidung
zugrunde
gelegt
hat.„
(juris-VG München v. 8.8.2006 AZ:M 9 E 06.2404)
Was folgt nun daraus, dass die Behörde ihr Ermessen falsch ausgeübt
hat? Das Kind hat nur einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Auswahlentscheidung. Es hat keinen Anspruch darauf, dass gerade ihm ein
Platz im Kindergarten in H. zur Verfügung gestellt wird. Die Gemeinde
muss anhand der richtigen Rechtsgrundlage neu entscheiden.
Verwendete Literatur
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§ 42 SGB VIII-Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, hrsg. v.
Münder/Meysen/Trenczek, 6. Auflage
Falterbaum, Rechtliche Grundlagen Sozialer Arbeit, 2. Aufl.2007,
S. 24-28
Papenheim/Baltes/Tiemann, Verwaltungsrecht für die Soziale
Praxis, S. 142
Stahlmann, Studienbrief BASS O2, 2011
Trenczek/Tammen/Behlert, Grundzüge des Rechts, 2011
o Trenczek(Tammen/Behlert, Grundzüge des Rechts, 2011,
S. 123-131
o Trenczek(Tammen/Behlert, Grundzüge des Rechts, 2011,
S. 131-133
o Trenczek(Tammen/Behlert, Grundzüge des Rechts, 2011,
S. 133-137
o Trenczek(Tammen/Behlert, Grundzüge des Rechts, 2011,
S. 139-143
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