Hier können alle die Abschrift der Diskussion

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WuV-Diskussion:
Die Ferse des Achilles
Die Rolle des behinderten Menschen für die Gesellschaft
Zeit: Montag, 24. März 2014, 19:00 Uhr
Ort: MCI – Managment Center Innsbruck
Diskutanten: Erwin Riess und Volker Schönwiese
Moderation: Lisa Gensluckner
Erwin Riess – zur Person:
Dr. Erwin Riess studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaft und Theaterwissenschaft in Wien, war von
1983-1995 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Wirtschaftsministerium (Wohnbauforschung/Barrierefreies
Bauen). Seit 1995 ist er freiberuflicher Schriftsteller. Er schrieb 14 Theaterstücke, die in Zürich, London,
Prag, Wien (Volkstheater, Konzerthaustheater, Winterpalais Prinz Eugen, Schauspielhaus) und anderen
Orten aufgeführt wurden (zuletzt „Der Zorn der Elonore Batthyány“ 2014, belvedere.at. Derzeit arbeitet
er an einem Stück über das KZ Loibl für das Klagenfurter Ensemble.
Der Autor schrieb 5 Groll-Romane, 2 Essaybände, 2 Erzählbände und zahlreiche Essays und Groll-Storys.
Erwin Riess schreibt regelmäßig in "Die Presse", „konkret/Hamburg“ und im „Augustin“. In den
Zeitschriften „Versorgerin“, „Stimme der Minderheiten“, „Behinderte Menschen" schreibt er regelmäßig
Groll-Storys.
Erwin Riess ist seit dreißig Jahren in der Independent Living-Bewegung behinderter Menschen als
Freelancer engagiert und hatte auf diesem Gebiet Gastprofessuren in New York, Manchester und
Klagenfurt (derzeit im Wintersemester 14/15 in Klagenfurt)
Der Autor und Behindertenaktivist lebt in Wien-Floridsdorf und Pörtschach-Pritschitz
Volker Schönwiese – zur Person:
ao. Univ.-Prof.i.R. Dr. Volker Schönwiese hat von 1983 bis 2013 den Bereich Inklusive Pädagogik und
Disability Studies an der LFU Innsbruck aufgebaut und geleitet. 1997 gründete er die digitale
Volltextbibliothek bidok ( http://bidok.uibk.ac.at/ ) mit Texten und Materialien zum Thema Integration
und Inklusion von Menschen mit Behinderungen. In der bidok sind eine Reihe seiner Publikationen und
Hinweise zu seiner Arbeit zu finden, u.a. zu dem transdisziplinären und partizipatorischen
Forschungsprojekt „Das Bildnis eines behinderten Mannes aus dem 16.Jhd.“
(http://bidok.uibk.ac.at/projekte/bildnis/index.html). Zu Publikationen siehe auch:
http://www.uibk.ac.at/iezw/mitarbeiterinnen/ao.-univ.-professorinnen/volkerschoenwiese/about.html#ver2.
Volker Schönwiese ist seit dem Ende der 1970er-Jahre behindertenpolitisch im Rahmen in der
Selbstbestimmt-Leben-Bewegung engagiert und bei zahlreichen öffentlichen Diskussionen,
Veranstaltungen und Tagungen sowie in Medien aufgetreten.
Publikation über Volker Schönwiese: Flieger, Petra/ Plangger, Sascha (Hg.) (2013): Aus der Nähe: Zum
wissenschaftlichen und behindertenpolitischen Wirken von Volker Schönwiese. Neu Ulm: Verlag AGSP
Arbeitskreis Wissenschaft und Verantwortlichkeit an der LFU Innsbruck, der MUI und dem MCI (kurz WuV)
Herzog-Friedrich-Str. 3, 6020 Innsbruck, ZVR:806274014,
web: http://www.uibk.ac.at/wuv/, mailto: [email protected]
fon: +43/512 507-35400 oder -35401, fax +43/512 507-38309
Der folgende Text ist die Abschrift der Audio-Aufnahme zur Veranstaltung.
Nachhören können Sie unter diesem Link (Verlinkung)
Das WuV-Team bemüht sich, die mündliche Konzeption der Texte zu erhalten.
Lisa Gensluckner: Ich möchte Sie alle ganz herzlich zum heutigen – doch eher außergewöhnlichen –
Diskussions- und Gesprächsabend begrüßen. Zum Zustandekommen hat vor allem Petra Flieger sehr viel
beigetragen: Danke an dieser Stelle. (Applaus)
Der Schriftsteller Erwin Riess und der mittlerweile pensionierte, aber nichtsdestotrotz sehr aktive
Universitätsprofessor Volker Schönwiese sind in der österreichischen Behindertenbewegung zwei sehr
zentrale Protagonisten. Der Veranstaltungsabend heute bietet daher in außergewöhnlicher Weise die
Möglichkeit 30 Jahre Behindertenpolitik in Österreich gemeinsam zu reflektieren und auch über die
autonome Behindertenbewegung miteinander ins Gespräch zu kommen. Dies ist besonders spannend
vor dem Hintergrund, dass Österreich ja auch ein Staat ist, in dem Gleichstellung und Menschenrechte
eben für Menschen mit Behinderungen wortwörtlich „Errungenschaften“ sind. Sie müssen dem
politischen System abgerungen werden und sind Errungenschaften selbstorganisierter Menschen mit
Behinderungen. Beide Diskutanten haben auch gemeinsam, dass sie jeweils in zwei sehr
unterschiedlichen Feldern – einmal in der Wissenschaft, einmal in der Kunst – eine sehr enge Verbindung
zum Politischen haben. Bei Volker Schönwiese ist das die Verbindung von Wissenschaft in Theorie und
Praxis und Politik, bei Erwin Riess die Verbindung von Literatur und Politik.
Ich möchte Ihnen ganz kurz beide noch einmal genauer vorstellen.
Volker Schönwiese ist Ihnen sicher sehr bekannt. Er leistet seit vielen Jahren in Innsbruck unschätzbare
Grundlagenarbeit in der Theoretisierung von Behinderung, immer auch sehr objektiv an den
Alltagserfahrungen von Menschen mit Behinderungen in einer Gesellschaft voller Barrieren. Er war seit
1983 Universitätsassistent am Institut für Erziehungswissenschaften und hat sich 1993 habilitiert und
wurde dann auch Universitätsprofessor. Wenn ich beginnen würde, seine Verdienste in Bezug auf
Integrationspädagogik und Inklusion jetzt und hier zu würdigen, dann würden wir morgen noch hier
sitzen. Ich möchte nur ein paar ganz kurze Aspekte herausgreifen, die das außeruniversitäre Engagement
von Volker Schönwiese hervorheben. Er war auch hier in Tirol Mitbegründer von mobilen Hilfsdiensten1,
vom Kindergarten für Alle und er hat das Projekt Bidok2 gegründet – ein sehr schönes, tolles Projekt in
Bezug auf barrierefreie Kommunikation. Und Volker Schönwiese war in seinem Engagement auch immer
schon und von Anfang österreichweit sehr gut vernetzt. Diese Zusammenhänge kann man jetzt wirklich
nicht aufzählen, weil es so viele sind. Ich möchte beispielhaft zwei Zitate aus einer Publikation über
Volker Schönwiese erwähnen. Das Buch heißt „Aus der Nähe“3. Es wurde anlässlich der Pensionierung
von Volker Schönwiese von Petra Flieger und Sascha Plangger herausgegeben. Er wird dort unter
anderem als „ungebrochen kreativer Kampfgeist“ und als „Ideengeber für die gesamte österreichische
Behindertenbewegung“ bezeichnet.
„Erwin Riess mit Groll gesagt“ – so die Zeitschrift Die Zeit – so kann man das literarische Schaffen von
Erwin Riess charakterisieren. In den Geschichten von Herrn Groll – selbst Rollstuhlfahrer und Dozent – ist
Gesellschaftskritik literarisch in legendärer und auch oft sehr humorvoller Weise eingearbeitet. Wie wir
1
Vgl. dazu den ORF-Inlandseport „Daheim oder im Heim“ aus dem Jahr 1986 Link:
https://www.youtube.com/watch?v=EPi80RSvvbM
2
bidok ist eine digitale Volltextbibliothek mit Texten und Materialien zum Thema Integration und Inklusion von
Menschen mit Behinderungen. Link: http://bidok.uibk.ac.at/
3
Flieger, Petra; Plangger, Sascha (Hg.in) (2013): Aus der Nähe. Zum wissenschaftlichen und behindertenpolitischen
Wirken von Volker Schönwiese. Neu Ulm: AG SPAK Verlag
–2–
Arbeitskreis Wissenschaft und Verantwortlichkeit an der LFU Innsbruck, der MUI und dem MCI (kurz WuV)
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schon gehört haben: einer der Groll-Romane – „Herr Groll im Schatten der Karawanken“4, eine
Auseinandersetzung mit der Kärntner Geschichte und Gegenwart – ist der heurige „Innsbruck liest“Roman. Erwin Riess hat Politik- und Theaterwissenschaften in Wien studiert und war dann ungefähr 10
Jahre lang – bis 1994 – wissenschaftlicher Referent für behindertengerechtes Bauen im österreichischen
Wirtschaftsministerium. Er ist seit 1994 freier Schriftsteller und war auch auf längeren
Auslandsaufenthalten – unter anderem in Ungarn und New York. Er war zum Beispiel 1998 writer in
residence an der New Yorker Universität. Außerdem hat er zahlreiche Theaterstücke verfasst. Erwin Riess
ist auch einer jener Intellektuellen, die sich immer wieder und sehr beharrlich öffentlich zu Wort melden,
wenn es um die Rechte von Menschen mit Behinderungen geht.
Soviel zur Vorstellung der beiden Diskutanten heute Abend.
Ich möchte einleitend, weil wir heute auch sehr viel über die Behindertenbewegung sprechen werden,
an Sie beide die Frage stellen: Wie ihr Weg zur Behindertenbewegung war, gerade weil der Weg doch
sehr unterschiedlich war.
Volker Schönwiese: Danke für die Einladung zuerst. Ein kleine Anmerkung: Ich bin zwar in Pension, aber
in der Behindertenbewegung geht man nicht in Pension, da geht es ungebrochen weiter. Und das ist
auch schon ein Hinweis, wo ich anfange und stehe. Ich stehe ja auch am Anfang mit einigen, mit vielen
anderen – aber in den 70er-Jahren waren es in Österreich noch nicht sehr viele. Und wir haben über
einen Umweg – über Kalifornien und Frankfurt – in Innsbruck und in Wien so ungefähr Mitte der 70erJahre angefangen5. Und woher das kommt? Die Betroffenheit setzt sich um. Das gesellschaftliche Klima
in den 70er-Jahren, die Art der Diskussion in den 70er-Jahren war etwas anders als heute. Sie war noch
bei uns in irgendeiner Art und Weise unbekümmerter, der eigenen Machtlosigkeit bewusster und in
dieser Unbekümmertheit um Einiges freier als heute6, wo wir bekümmerter sind und scheinbar mehr
Macht haben.
Lisa Gensluckner: Wie war dein Weg, Erwin? Wie war dein Weg der Politisierung?
Erwin Riess Weg ist nicht das richtige Wort. Es waren viele Umwege, die vielleicht insgesamt einen
möglichen Weg ergeben. Einer dieser Umwege begann mit meinem Rückenmarktumor und der
Querschnittlähmung, die damit verbunden war. Das hat sich dann in meinen 20er- und 30er-Jahren
dahingehend ausgewirkt, dass ich meine freiberufliche Existenz als Verlagslektor, Journalist und
Korrespondent aufgegeben habe. Ich war 1980/81 in Polen für diverse Zeitschriften unterwegs und bin
viel herumgereist und hab zwar die Behinderung schon gehabt, aber so richtig ist die
Querschnittlähmung erst 1983 da gewesen und seither sitze ich auch im Rollstuhl. Und ich habe gedacht,
da verändert sich Einiges. Man sitzt 1 Meter 40 hoch – und nicht mehr 1 Meter 75 – und man schaut
quasi der Wirklichkeit unter den Rock. Die Frage ist, ob man das, was man an gesellschaftlichen
Strukturen da zu Gesicht bekommt auch wahrnehmen will und wie man mit dieser Erkenntnis umgeht.
Und da habe ich die Feststellung gemacht, dass wir in Österreich eigentlich seltsame Aliens waren, weil
4
Riess, Erwin (2012): Herr Groll im Schatten der Karawanken. Salzburg: Otto Müller Verlag.
Initiativgruppe von Behinderten und Nichtbehinderten, Innsbruck: Isolation ist nicht Schicksal. In: Forster, Rudolf;
Schönwiese, Volker (Hrsg.) (1982): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird. Jugend und Volk: Wien. 333 376. Link: http://bidok.uibk.ac.at/library/initiativgruppe-isolation.html
Initiativgruppe von Behinderten und Nichtbehinderten, Innsbruck: Befreiungsversuche und Selbstorganisation.
Erschienen in: Forster, Rudolf; Schönwiese, Volker (Hrsg.) (1982): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird,
Jugend und Volk: Wien. 377 - 390. Link: http://bidok.uibk.ac.at/library/initiativgruppe-befreiungsversuche.html
6
Vgl. z.B.: ORF Club 2 "Wohin mit den Behinderten", 3. Jänner 1980. Link:
https://www.youtube.com/watch?v=xZgxDbJyJ38
–3–
Arbeitskreis Wissenschaft und Verantwortlichkeit an der LFU Innsbruck, der MUI und dem MCI (kurz WuV)
5
Herzog-Friedrich-Str. 3, 6020 Innsbruck, ZVR:806274014,
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wir eine Kategorie von Menschen waren, die es vorher nicht gab: Behinderte Menschen, die das NaziRegime überlebt haben. Hartheim war eine der Hauptvergasungs- und Tötungs- und Mordanstalten des
Dritten Reiches – Schloss Hartheim bei Linz7.
Behinderte Menschen haben in Österreich in den 70er-Jahren einen nicht-vorhandenen
gesellschaftlichen Platz besetzt und haben sich Freiräume erkämpft. Und da ist wirklich jeder Schritt und
jeder Zentimeter erkämpft worden, weil wir eben in einer post-traumatisierten, vom Faschismus noch
über Jahrzehnte geprägten Gesellschaft leben. Und da war für Behinderte überhaupt kein Platz. Das ist
ein Ausfluss dieser rigiden und fast diktatorischen Strukturen gegenüber anderen abweichenden
Lebensformen. Und das sind wir. Wir können das nicht wegdiskutieren, denn wir sind für alle erkenntlich
anders. Wir können dies nicht verstecken unter irgendwelchen Masken. Wir sind für alle erkenntlich
anders und haben bestimmte Bedürfnisse. Eine Entwicklung, die nirgendwo auf der Welt so in dieser
Dramatik und in dieser Wucht festzustellen ist, und die mit der Geschichte Österreichs verbunden ist und
damit wie in Österreich mit Behinderung umgegangen wurde und zum Teil wird.
Volker Schönwiese wird Einiges über Heime und De-Institutionalisierung in diesen zentralen Punkten der
Selbstbestimmt Leben Bewegung erzählen. Die Auflösung von Großheimen ist eine zentrale Forderung
der UNO – in Österreich noch unerhört.8 Und wir haben fleißig neue gebaut. In Kärnten bauen wir jetzt
schon wieder fleißig große neue Heime.
Eine Hauptinstitution dieses alten Denkens, wo auch behinderte Menschen in der Konzeption der ganzen
Organisation keinen Platz haben und nicht vorkommen, ist diese widerliche Mitleidsorgie „Licht ins
Dunkel“9 , gegen die man in Österreich kaum etwas sagen darf. Ich sage nur ganz kurz, warum „Licht ins
Dunkel“ so schädlich ist: Erstens einmal wird ein Bild von Behinderung gezeichnet, das fatal ist – mit
Mitleid und über den Kopf streicheln – das alles verbunden mit der Forderung: „Für diese Leute muss
man spenden“. Jetzt gibt es genug andere Bevölkerungsgruppen, die existenziell stark unter Druck sind
und noch mehr unter Druck kommen werden durch die bekannten Entwicklungen in einer krisenhaften
Ökonomie. Es fällt diesen Leuten schwer zu verstehen, warum man für die behinderten Menschen
besonders spenden soll. Diese Aktion läuft fast ein halbes Jahr. Künstler stellen sich in den Dienst dieser
Aktion, um selber Auftrittsmöglichkeiten zu erhalten. Man kann diese Aktion von außen nicht
beeinflussen. Die offiziellen Behindertenverbände, der Behindertendachverband und andere –
bekommen Gelder von „Licht ins Dunkel“. Das heißt, sie haben kein Interesse, dass da etwas geändert
wird. In Deutschland gab es auch eine ähnliche Aktion – lange nicht so groß, lange nicht so
flächendeckend. Die hat man völlig verändert und hat behinderte Menschen in die Konzeption einer
Spenden-Kampagne – aber halbwegs mit Würde – eingebaut (Die „Aktion Mensch“). Das ist in Österreich
unmöglich, bis jetzt. Wir sehen aber darin auch ein Zeichen dafür, wo die offizielle österreichische
7
Schloss Hartheim. Link: http://www.schloss-hartheim.at und https://www.youtube.com/watch?v=tFUQZNi372I
Vgl. die Handlungsempfehlungen des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen an
Österreich. Link:
http://www.sozialministerium.at/cms/site/attachments/2/5/8/CH2218/CMS1314697554749/131219_uebereinko
mmen_ueber_die_rechte_von_menschen_mit_behinderungen.pdf
Aus den Handlungsempfehlungen:
„36. Der Ausschuss stellt mit Besorgnis fest, dass in den letzten 20 Jahren die Population der Österreicherinnen und
Österreicher mit Behinderungen, die in Institutionen leben, zugenommen hat. Der Ausschuss ist besonders über
dieses Phänomen besorgt, da die Unterbringung in Institutionen im Widerspruch zu Artikel 19 des
Übereinkommens steht und Personen dort Gefahr laufen, Opfer von Gewalt und Missbrauch zu werden.
37. Der Ausschuss empfiehlt, dass der Vertragsstaat sicherstellt, dass die Bundesregierung und die
Landesregierungen ihre Anstrengungen verstärken, die De-Institutionalisierung voranzutreiben und Personen mit
Behinderungen die Wahl ermöglichen, wo sie leben wollen.“
9
Licht ins Dunkel. Link: http://lichtinsdunkel.orf.at/
8
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–4–
Behinderten-Politik heute noch steht. Ich werde später auf ein paar andere Fragen eingehen, um zu
zeigen, was sich verändert hat, was wir zum Teil auch gemeinsam erkämpft haben, was jetzt wieder
verloren geht und weggenommen wird und wie das im internationalen Vergleich – zum Beispiel mit
Italien, England oder den USA – ausschaut.
Lisa Gensluckner: Es ist jetzt schon sehr viel angesprochen, was die Rahmenbedingungen in Österreich
betrifft. Zum Beispiel auch das Nachwirken nationalsozialistischer Geschichte. Meiner Meinung nach gibt
es auch sehr wichtige Überlegungen zur Rolle von Intellektuellen in der Behinderten-Bewegung, also zur
Rolle der Theoriearbeit. Und diese steht ja auch wieder vor dem Hintergrund einer langen Geschichte
von Segregation, Sonderbeschulung usw. Vielleicht könntest du hier anschließen mit deinen
Ausführungen dazu?
Erwin Riess: Es gibt eine Tatsache in Österreich, die uns unterscheidet von anderen westeuropäischen
Ländern, nämlich dass es bis heute nicht gelungen ist, fortschrittliche Behindertenpolitik –
Selbstbestimmt Leben, Independent Living – an den Universitäten zu verankern, in Lehrstühlen. Das ist
nach wie vor nicht gelungen – seit 30 Jahren. Es gibt mittlerweile in fast allen westlichen oder
entwickelten Industriestaaten einen Wissenschaftszweig, der heißt „Disability Studies“. Das ging aus von
den USA, hat sich aber weltweit schon durchgesetzt. Es gibt einige Protagonisten, die in Österreich in
diesem Bereich auch arbeiten – in Wien, in Innsbruck zum Beispiel Volker Schönwiese und Petra Flieger
und andere in Klagenfurt. Aber es hat nach wie vor nicht zu einem Lehrstuhl gereicht.
Ich sage das jetzt nicht, weil der Eitelkeit der Gruppe Genüge getan werden soll, damit wir auch einen
Professor oder eine Professorin haben. Es hat weitreichendere Konsequenzen.
Eine Bewegung wie unsere – ich rede jetzt von der autonomen Behindertenbewegung, die man trennen
muss von den offiziellen Behindertenverbänden, die eher Teil des Problems als der Lösung sind. Eine
Bewegung wie unsere – also eine Emanzipationsbewegung – ist darauf angewiesen, dass neue, sagen wir
einmal Kader, junge Leute, nachkommen, die die Erfahrung der Alten aufgreifen und nicht wieder bei
Null beginnen. Und das ist genau das Problem, vor dem wir stehen: Wir haben an den Universitäten nicht
die Möglichkeit, dass dort junge behinderte Menschen ausgebildet werden und davon profitieren, was
die Vorfahren – quasi die Oldies und die Veteranen dieser Kämpfe – schon durchgesetzt haben. Das
heißt, es droht jetzt eine Situation, dass viele von den Jungen voraussetzungslos dastehen in ihren
Überlegungen und in ihren Lebensentwürfen. Auch wenn viele glauben, sie gehen jetzt in irgendwelche
Nischen – und das geht ja alles ganz gut mit Behinderung –, stellen sie dann nach fünf oder zehn Jahren
fast alle fest, dass die Nischensuche nicht aufgeht. Weil es extrem schwierig ist, einen Arbeitsplatz zu
bekommen. Die Arbeitslosigkeit der vermittelbaren behinderten Menschen liegt seit Jahren bei 30 bis 40
Prozent. Diese Sache wird sich eher verschlechtern, da man ja jetzt noch den Kündigungsschutz
verschlechtert hat10 – mit Zustimmung der offiziellen Behindertenverbände. Es ist das eine Entwicklung,
die für uns gefährlich ist und es schwieriger macht, weil Teile unserer Bewegung jetzt abbröckeln. Es
sterben Leute, es sind Leute krank, andere sind Leute um die siebzig, — was man früher ja nicht geglaubt
hat, dass behinderte Menschen auch einmal alt werden. Das gibt es jetzt aber zum Teil und das sind
Frauen und Männer, die bei den hunderten Demos und Mahnwachen und Ministerbüro-Besetzungen
und allem Möglichen mitgemacht haben. Das Pflegegeld ist ja nicht vom Himmel gefallen. Das haben wir
wirklich mühsam erkämpft mit unzähligen Aktionen.11.
Der Volker Schönwiese war am weitesten, er hat große Schwierigkeiten gehabt, auch an der Universität.
10
Vgl.: „Die Zahl der arbeitslosen behinderten Menschen ist im Vergleich zum Vorjahr um 26,3 % gestiegen (Juni
2014)“. Link: http://www.bizeps.or.at/news.php?nr=15092&suchhigh=Arbeitslosigkeit
11
Vgl. die Berichte über den Hungerstreik im Parlament für ein Bundespflegegeldgesetz, in der Nr. 31/1991 der
behindertenpolitischen Zeitschrift LOS. Link: http://bidok.uibk.ac.at/bibliothek/archiv/los.html
–5–
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Ihm wurde sehr übel mitgespielt. Man hat alles versucht zu verhindern, dass sich ein Lehrstuhl und ein
wissenschaftlicher Nukleus bilden. Er ist in der Pädagogik, in der Ausbildung junger Menschen – ob
behindert oder nicht – einer der führenden Experten im deutschen Sprachraum. Aber ein Lehrstuhl oder
eine ordentliche Professur – sehr früh schon mit der Möglichkeit,daraus ein Institut zu machen –, soweit
hat man ihn nicht kommen lassen.
Eine zweite universitäre Basis hatten wir einige Jahre lang in Klagenfurt über den Hans Hovorka12 der
leider sehr früh verstorben ist. Ich habe dort ein paar Mal Gastprofessuren gehabt und werde jetzt im
Herbst wieder eine haben. Aber kaum war der Hans Hovorka verstorben, hat man diese
Integrationspädagogik wieder in die allgemeine Pädagogik zurückgeholt, die nichts anderes macht, als
wieder Aussonderung zu produzieren.
Und ich weise auch noch darauf hin, dass Österreich einer der wenigen Staaten ist, der diese UNOKonvention13 in keiner Weise erfüllt – in Richtung Integration –, sondern wir leisten uns ein drittes
Schulsystem, ein Sonderschulsystem mit „Sonderpädagogischen Zentren“. Das heißt, die Ausgrenzung
behinderter Menschen wird fortgesetzt. Im Gegensatz zu Südtirol zum Beispiel, wo sich die gemeinsame
integrative Schulkarriere seit 1977 großartig bewährt hat. Wenn schon im Kindergarten und in der Schule
segregiert wird, hat das weitreichende Konsequenzen für das Bild von Behinderung in der Gesellschaft.
Lisa Gensluckner: Wir reden noch über die Bedeutung, die eine Verankerung an der Universität in der
Wissenschaft auch hat. Und wie schwierig es ist, auch in den Curricula verankert zu sein –
personenunabhängig –, um dann auch das Thema vorgeben zu können.
Volker Schönwiese: Erwin Riess hat es schon gesagt, unser Bildungssystem ist segregativ. Es ist von
Vornherein gegliedert und ständisch gegliedert. Es lebt von der Bildungsvorstellung der ständischen
Organisation, die nach dem I. Weltkrieg entstanden ist – und natürlich noch älter ist. In diesen Ständen
ist die unterste Gruppe, die der behinderten Menschen. Deren Bildung wird entsprechend vernachlässigt
in der ganzen Systematik – wie du (Anm.: gerichtet an Erwin Riess) es schon erzählt hast.
Also es gibt so etwas wie ein gesellschaftliches Interesse an Unterscheidung – auch einer formellen und
strukturellen Unterscheidung – und so schaut das Bildungssystem auch aus. Das heißt auch, dass diese
Tendenz von Gesamtschule, die ja durchaus eine übliche industriestaatliche Geschichte ist, in Österreich
nicht gegriffen hat. Industriestaatlich ist die Gesamtschule üblich, weil es ja auch um die Ausschöpfung
der Arbeitsfähigkeit und Ressourcen von allen Menschen geht und nicht um die Verschleuderung von
Human-Ressourcen. In Österreich ist es noch nicht einmal so weit, dass dieser Ressourcenansatz
umgesetzt worden wäre. Wir sind im Ständischen hängen geblieben. Und diese Standespolitik setzt sich
weiter fort, als Rahmen für die gesamte Behindertenpolitik – auch heute noch.
Wir fragen uns ja auch, wo steht die Behindertenpolitik, wie ist ihr Zustand und warum ist er so. Und
über Jahrzehnte war es nicht sagbar, was die eigentliche Antwort auf diese Frage ist. Über Jahrzehnte
hinweg ist eine Art von Politik betrieben worden, die sehr stark an der Entwicklung einer
Wohlfahrtsindustrie und an der Entwicklung von Hilfssystemen FÜR behinderte Menschen orientiert ist.
12
Information zu Hans Hovorka. Link: http://bit.ly/1kUk9zF
UN-Konvention über Rechte von Menschen mit Behinderungen. Bundesministerium für Arbeit, Soziales und
Konsumentenschutz. Download-Link:
http://www.sozialministerium.at/cms/site/attachments/2/5/8/CH2218/CMS1314697554749/unkonvention_inkl._fakultativprotokoll,_de.pdf
UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in der Fassung Leichter Lesen. Download-Link:
http://www.sozialministerium.at/cms/site/attachments/2/5/8/CH2218/CMS1314697554749/131008_unkonvention_ll-version_kompl1.pdf
13
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–6–
Diese Hilfssysteme haben als solche eine Dynamik entwickelt, die als Industrie- oder als
Dienstleistungsdynamik zu beschreiben ist. Und es ist in diesen Dynamiken eigentlich wenig darum
gegangen, den tatsächlichen Bedarf und die Bedürfnisse von Menschen entsprechend abzudecken. Das
ist die provokante These, dass es hier bei diesem Behinderten-Hilfssystem nicht darum geht, eine
Dienstleistung mit Personen zu machen, die von behinderten Personen selbst gesteuert wird. Vielmehr
sind behinderte Menschen diejenigen, für die etwas gemacht wird. Und es wird so inszeniert, damit das
System – ein ständisches System – funktioniert.
Österreich ist sehr stark sozialpartnerschaftlich organisiert. Die Sozialpartner sind eigentlich die
Entscheidenden und nicht die BürgerInnen. So ist das auch im Bereich der Behindertenhilfe und jenseits
von Einzelpersonen, die in Einrichtungen arbeiten und auch bestimmte Steuerungsfunktionen haben.
Jenseits dieser Einzelpersonen, die Verbündete sein können und mit denen man auch kooperieren kann
und muss, hat das Gesamtsystem eine eigenartige Dynamik, in der die Segregation immer wieder und
wieder reproduziert wird. Mit Bildung hängt das insofern zusammen, dass behinderte Menschen, die sich
dagegen wehren können, systematisch nicht herangebildet worden sind. Und nicht einmal diese
Gesamtschul-Idee ist bei uns akzeptiert. Und wie soll denn dann auch dieses Inklusive und Integrative
akzeptiert sein?
Ich kann nur sagen, ich bin eher durch einen Zufall durch das Gymnasium und an die Universität
gekommen14. Alle aus meiner Generation, die so weit gekommen sind, sind Einzelpersonen und eher
durch Zufall in ihre Positionen gekommen. Als ich 1983 zu lehren begonnen habe, gab es überhaupt
keine behinderten Personen unter den Studierenden. Die ersten behinderten Studierenden sind aus
Südtirol gekommen, weil dort 1977 die Sonderschulen abgeschafft worden sind und ein
Gesamtschulsystem vorhanden war. Erst sehr viel später sind behinderte Personen aus Österreich
gekommen. Da und dort sind auch behinderte Personen aus Österreich – eher zufällig – durch das
Regelsystem durchgerutscht. Wie beispielsweise Christine Riegler, die hier sitzt. Immer wieder sind also
Menschen zufällig dann doch durchgerutscht, aber nicht systematisch.
Was die Intellektualität betrifft, so ist durch den Bildungsmangel das Potenzial von Personen, die sich
äußern können, viel geringer als bei anderen Gruppen. Und wenn ich das auf die heutige Politik beziehe
– universitäre Politik und Forschungspolitik —— Ich spreche gar nicht vom Mangel an Instituten, die sich
an den Universitäten mit dem Thema beschäftigen. Sie müssen bedenken, dass der Betrieb
„Behindertenhilfe“ in Österreich ungefähr 1,5 Milliarden Euro im Jahr umsetzt. Man kann noch ungefähr
5 Milliarden Euro dazurechnen für die verschiedenen Renten, die mit Behinderung verbunden sind – zum
Beispiel Invalidenrenten und dergleichen. Es werden also zirka 6,5 Milliarden Euro sein, die für diesen
Bereich ausgegeben werden. Und was wird für einen Betrieb, der zwischen 1,5 und 5 Milliarden Euro
umsetzt, an steuernder Evaluation und Forschung betrieben? Was glauben Sie? Glauben Sie, dass
Volkswagen oder beispielsweise Siemens keine Forschung machen? Im Behindertenbereich gibt es aber
keinen Forschungsbereich. Für andere Bereiche gibt es das schon. In eine steuernde Forschung wird
weder vom Bund noch von den Ländern investiert. Der politische Wille ist insgesamt nicht sichtbar. Und
Forschungen, die wir machen, sind oft hart erkämpft, damit wir sie überhaupt durchführen können.
Forschungsanträge – das ist auch meine Erfahrung – haben ja oft auch einen bestimmten
Entscheidungsrahmen, der über die reine Evaluation durch ExpertInnen hinausgeht. Und dort fallen wir
ziemlich regelmäßig durch. Andere natürlich auch, weil die Forschungsmittel rundherum gestrichen
werden.
Also, das war jetzt eine Aufzählung von bestimmten Faktoren, um den Mangel an Intellektualität und der
Partizipation an diesem Bildungssystem zu argumentierten. Die Frage heute ist ja: Welche Rolle haben
behinderte Menschen für diese Gesellschaft? Der Mangel im Bildungssystem erklärt sich ja auch ein
14
Siehe das Interview mit Volker Schönwiese am Ende der Ausgabe von „betrifft: integration“, Nr. 3/1996. Link:
http://bidok.uibk.ac.at/library/bi-3-96.html
–7–
Arbeitskreis Wissenschaft und Verantwortlichkeit an der LFU Innsbruck, der MUI und dem MCI (kurz WuV)
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Stück weit dadurch, dass es einen Zweck hat, dass wir hilflos und ungebildet bleiben. Wir können deshalb
nur begrenzt an diesem System partizipieren, weil wir so schlicht die besseren Objekte für
Dienstleistungen sind und bleiben.
Das klingt jetzt vielleicht zynisch, ist aber nicht so sehr zynisch gemeint, sondern das ist die Beschreibung
einer Dienstleistungsgesellschaft. Wir müssen daran denken: Im 19. Jahrhundert waren vielleicht 80
Prozent der Bevölkerung Bauern. Der Rest waren Arbeiter, Handwerker, Händler und Dienstleister. Und
heutzutage gibt es eine rasante Entwicklung in Richtung Dienstleistungsgesellschaft mit in etwa 60 bis 70
Prozent Dienstleistungen. Also, Dienstleistung ist eine zentrale ökonomische Grundstruktur. Und
Dienstleistungspolitik ist bei uns auch Wirtschaftspolitik, so wie es beispielsweise auch in der Baupolitik
die Bauwirtschaftspolitik ist. In diesem Bereich werden sehr viele Arbeitsplätze geschaffen und deshalb
wird auch ununterbrochen so viel gebaut, weil das national steuerbar – und weniger international
abhängig – ist. Und so ist es auch mit dem Behindertenbereich. Die Arbeit in diesem Bereich ist zwar
schlecht bezahlt – wir wissen, das sind keine Spitzenjobs für viel Geld –, aber es gibt trotzdem eine große
Menge von Menschen, die dort arbeiten. Und wenn man schaut, was die Bundespolitik macht, dann ist
dieser Aspekt im Fokus. Aber das, was uns zentral wichtig ist, was wir mit Selbstbestimmung benennen,
würde auf eine andere Art und Weise Arbeit schaffen. Nämlich eine von uns gesteuerte Arbeit. Wir
müssen natürlich noch darüber reden, wie wir an ein Marktmodell andocken können, das gleichzeitig
auch ein selbstbestimmtes System ist. Denn so ein System ist schlicht weniger leicht in der derzeitigen
Arbeitsmarktpolitik ökonomisierbar. So würde ich das schnell erklären.
Und noch zu diesen Phänomenen, die man mit „Licht ins Dunkel“ lenkt: Diese Schicksalsgebundenheit,
die uns immer zugeschrieben wird. Wenn man uns sieht, denkt man ans Schicksal und das wird auch
medial produziert und reproduziert.15 Diese Schicksalsgebundenheit passt in dieses System hinein.
Und als Letztes, weil du (Anm.: gerichtet an Erwin Riess) „Licht ins Dunkel“ angesprochen hast und wir ja
diesen Mangel an Integration in der Schule haben.
Der Präsident von „Licht ins Dunkel“ ist der leitende Sektionschef im gesamten Pflichtschulbereich. Also
auch hier gibt es Zusammenhänge innerhalb der Sozialdemokratie, die man nicht vermuten würde aufs
Erste – auch personelle Verbindungen –, wo einiges an Nachhilfe geleistet werden muss. Und man sieht
auch, dass sich viele über Nachhilfe freuen, aber manche auch weniger. Das Bonmot ist dieses, dass
dieser Sektionschef gemeint hat, vor nicht allzu langer Zeit, in Österreich müssen wir die Integration erst
einmal ausprobieren, bevor man sie machen kann. Es gibt aber seit den 80er-Jahren Schulversuche und
das ganze Rundherum. Petra Flieger, die auch hier sitzt, und ich, wir haben dann die Aktion „Nachhilfe
für einen Sektionschef“16 gegründet und haben 20 Lektionen ins Netz gestellt, die alle nachlesen können.
Ich bitte Sie, lesen Sie: Nachhilfe für einen Sektionschef. Sie stoßen auf 20 strukturierte, kurze Lektionen
mit denen man schnell Einblick bekommt, wie Integration gehen könnte, was aber nicht gemacht wird.
Erwin Riess: Das war jetzt eine wichtige, umfassende Darstellung des Zusammenhangs von Wirtschaft
und Behindertenpolitik. Ich möchte das in dem Fall mit meiner persönlichen Biographie verknüpfen. Ich
hatte ursprünglich auch die Möglichkeit, an der Universität zu bleiben – an der Politikwissenschaft in
Wien – und hätte Assistent werden können. Das konnte ich aber nicht machen, weil das Institut für
Politikwissenschaft im 5. Stock war – in der Hohenstaufengasse im 1. Bezirk. Ich war zwar damals nicht
im Rollstuhl, aber ich bin sehr schlecht mit zwei Krücken gegangen. Es gab also keine Chance in den 5.
Stock hinaufzukommen – auch nicht zu den meisten Lehrveranstaltungen. Also bin ich über das
Akademiker-Training ins damalige Bauten-Ministerium gegangen und war dort halb
15
Vgl.: Schönwiese, Volker: Behinderung als Schicksals-Konstruktion. Zur Analyse von öffentlichen Darstellungen
behinderter Menschen. In: Virus, Beiträge zur Geschichte der Sozialmedizin, Nr. 11, 2012, 11 - 26. Link:
http://bidok.uibk.ac.at/library/schoenwiese-schicksalskonstruktion.html
16
Nachhilfe für einen Sektionschef, Bizeps Info Online. Link: http://www.bizeps.or.at/links.php?nr=141
–8–
Arbeitskreis Wissenschaft und Verantwortlichkeit an der LFU Innsbruck, der MUI und dem MCI (kurz WuV)
Herzog-Friedrich-Str. 3, 6020 Innsbruck, ZVR:806274014,
web: http://www.uibk.ac.at/wuv/, mailto: [email protected]
fon: +43/512 507-35400 oder -35401, fax +43/512 507-38309
Öffentlichkeitsarbeiter und halb mit der Wohnbauförderung beschäftigt. Ich wurde als B-Beamter
eingestuft, obwohl ich eine Dissertation vorzuweisen hatte – noch dazu eine angeblich ganz gute über
verstaatlichte Industrie und Antonio Gramscis Hegemoniedenken. Ich habe mich dann im Ministerium
langsam durchgesetzt und habe gesehen, dass es in der Wohnbauförderung auch einen Posten
Wohnbauforschung gibt. Der war damals mit 1 Prozent der gesamten Wohnbauförderung dotiert. Das
waren um die 100 Millionen Schilling – also relativ viel Geld. Und es ist über die Jahrzehnte eine große
Szene herangewachsen – von Architekten, Soziologen, Baustoffleuten und Ähnliches. Wir haben immer
gesagt: Ein Drittel sind hervorragende Arbeiten, ein Drittel ist Aufrechterhalten des Betriebes – große
Institute, wie Institut für Stadtforschung, Institut für Bauen und Wohnen – und ein Drittel ist „a fonds
perdu“ sozusagen. Aber viele Studien der Bauwissenschaften wurden durchgeführt: Bauen mit Holz,
soziologische Modelle, auch die ersten Studien zum Bereich behindertengerechtes und barrierefreies
Bauen. Damals war die Schweiz ein großes Vorbild, wie zum Beispiel Joe Manser17.
Die Studien sind durchgeführt worden und haben Konsequenzen gehabt. Das war die letzte große Arbeit
in dem Bereich: Man weiß eigentlich, wie barrierefrei gebaut wird. Es gibt de facto keine bautechnischen
Hindernisse, die Barrierefreiheit verhindern. Man glaubt nicht, was alles möglich ist, wenn man nur die
moderne Bauindustrie zu Rate zieht. Das Problem in Österreich sind die Landesbauordnungen und die
Technikgesetze der Städte, weil die wiederum ganz unterschiedliche Zugänge haben. 1984 die
Wohnbauförderung, die ja zweckgebunden war, verländert worden und plötzlich war sie in den Ländern
nicht mehr zweckgebunden. Man hat das Geld für alles Mögliche verwendet und auch die
Wohnbauforschung ist damit zugrunde gegangen. Wir haben dann noch einige dutzend Projekte – wie
man so sagt – ausadministriert, wissenschaftlich begleitet und abgerechnet. Und irgendwann Anfang der
90er-Jahre war klar: Beim behindertengerechten, barrierefreien Bauen würde die Industrie mitmachen.
Die waren durchaus interessiert. Ich kann mich an eine Pressekonferenz erinnern mit dem Herrn
Pöchhacker von Porr und mit dem Minister Schüssel. Bei dieser Pressekonferenz hat die Industrie gesagt:
Wir hätten gerne ein einheitliches Baurecht in Österreich. Wir müssen uns de facto für jedes Bundesland
einen eigenen Experten oder eine Expertin halten. Weil das Baurecht österreichweit immer mehr
auseinanderklafft, gibt es de facto niemanden mehr, der alle Bauordnungen im Kopf hat. Sie müssen sich
das anschauen! Bei einem Bautechnikgesetz oder einer Bauordnung werden immer nur kleine
Änderungen hinzugefügt. Da steht dann dabei: § 27d lit c usw. wird das und das geändert. Aber die
gesamte Geschichte haben Sie nie im Überblick. Es hat schon Studien gegeben, die die
Wohnbauförderungs- und Wohnbaugesetze der Länder untersucht haben, damit man überhaupt
wissenschaftlich einen Überblick bekommt. Das ist auch gescheitert, die Studien sind nicht fertig gestellt
worden. Dies sehend habe ich mich dann abgesetzt. Nachdem ich damals auch schon intensiv
geschrieben habe und gesehen habe, dass man auch damit Geld verdienen kann. Sonst wäre ich ein
weißer Elefant geworden oder hätte im Ministerbüro nur irgendwelche Reden oder Eröffnungen von
Klagenfurter Holzmessen und ähnlich bedeutenden Veranstaltungen geschrieben.
Ich habe mich auch damals schon intensiv mit der amerikanischen Behindertenbewegung beschäftigt.
Und eine Zeit lang sind die Dinge in Österreich ganz gut gelaufen. Das war auch die Zeit, wo der
berühmte Sektionschef Rozsenich18 – für den Hans Hovorka, der in Schweden „Design for all“ studiert
hatte, eine Professur in Klagenfurt ermöglicht hat. Das ist aber dann auch nicht lange gegangen. Derzeit
stehen wir vor der Situation, dass keine universitäre Ausbildung im Bereich der Disability Studies vorliegt.
17
Information zu Joe Manser. Link: http://www.hindernisfrei-bauen.ch/kosten_d.php
18
Informationen zu Norbert Rozsenich. Link:
http://www.boku.ac.at/universitaetsleitung/universitaetsrat/mitglieder/sektionschef-ir-dr-norbert-rozsenich/
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In Wien probiert Ursula Naue19 mit großem Einsatz die Disability Studies zu etablieren, aber sie dringt
nicht durch. Die klassische aussondernde Allgemeinpädagogik ist nach wie vor am Werk.
Einen Punkt möchte ich noch bei „Licht ins Dunkel“ anbringen, damit es nicht nur im Ideologischen
bleibt. „Licht ins Dunkel“ schafft auch einen enormen ökonomischen Schaden für behinderte Menschen.
Es ist ein Schmäh, wenn erzählt wird, dass „Licht ins Dunkel“ so viel tut. Der Anteil der Gelder von „Licht
ins Dunkel“, der für Soforthilfen ausgegeben wird, liegt bei 7 Prozent. Da rechen sie aber auch schon
alles Mögliche hinein. Und was diese einzelnen Fälle dann de facto bekommen, sind 2.000 Euro für einen
Liftumbau oder 3.000 Euro Zuschuss für einen Hausumbau. Das Projekt kostet aber 40 oder 50.000 Euro
im Gesamten. Also, auch das ist lächerlich und was wirklich schlimm an der ganzen Geschichte ist: Das
waren früher Materien, die in gewählten demokratisch überblickbaren Gebietskörperschaften
verhandelt wurden. Dass zum Beispiel ein Heim einen neuen Turnsaal bekommt, dass Badelifte für
behinderte Personen in irgendwelchen Institutionen angekauft werden. Das wurde früher über die
Budgets in den Städten oder in den Landtagen verhandelt. Jetzt –aber schon seit einigen Jahren – ist die
Tendenz die: Geht’s zu „Licht ins Dunkel“, holt’s euch einen Zuschuss! Das heißt: kein Rechtsanspruch
und sowieso immer zu wenig. Damit verschwindet die Problematik auch aus dem Bewusstsein der
Öffentlichkeit, der demokratischen Öffentlichkeit. Es wird nicht mehr mitverhandelt. Das ist eine kalte
Privatisierung der Behinderten, die hier stattfindet. Und ich denke, man hätte in Österreich schon viel
erreicht, wenn man diese fürchterliche Aktion ersatzlos streichen würde. Das wäre schon ein großer
Fortschritt. (Anm.: Applaus) Und Sie hören das am Applaus hier, wo immer Sie hingehen und mit
behinderten Menschen – und ich rechne auch die Angehörigen dazu, die sind genauso mitbehindert und
können nicht in den Urlaub fahren, weil keine Lokale und Gasthöfe usw. zur Verfügung stehen etc. etc –
wo immer man mit behinderten Menschen und Angehörigen als Experten in dieser Sache reden, sind alle
gegen „Licht ins Dunkel“. Und wir rennen gegen eine Wand, haben keine Chance. Der ORF steht in
diesem Fall nicht als – wie soll man sagen – Multiplikator der öffentlichen Meinung zur Verfügung. Ich
habe hohe ORF-Leute auf und nieder springen gesehen bei Diskussionen, wenn man auch nur ein Wort
gegen „Licht ins Dunkel“ gesagt hat.
Volker Schönwiese: Stichwort Bauwirtschaft. Sie müssen wissen, weniger als 5 Prozent der Wohnbauten
sind barrierefrei zugänglich. Also alle, die hier sitzen und gehen können, müssen sich überlegen: Sie
können nur in 5 Prozent – wahrscheinlich noch weniger – der Wohnbauten irgendwelche Bekannte
besuchen. Das ist ungewöhnlich wenig und schränkt als Barriere unglaublich ein. Die Bauwirtschaft hat
kein Interesse das zu ändern. Die Bauwirtschaft bzw. die Bauinnung ist im Moment österreichweit
intensiv daran die Bauordnungen, die schon jetzt nicht einheitlich sind, weiter zu deregulieren. Heute
geht es um die Deregulierung, das heißt weniger Normen. Das heißt beispielsweise, dass auch weniger
Lifte vorgeschrieben werden. Dafür kämpft die Bauinnung österreichweit intensiv. In Vorarlberg hat sie
es erreicht, in Oberösterreich haben sie es ganz katastrophal erreicht, in der Steiermark haben sie es
versucht und ein bisschen erreicht, in Wien sind sie gerade daran – systematisch und auch mit
Werbekampagnen. Und auch in Tirol haben sie es gemacht, mit dem Sager: Wir Tiroler sind so gesund,
wir brauchen das nicht (für die Wenigen die weniger gesund sind)20. Sie vergessen, dass im Laufe des
Lebens alle Menschen auf Barrierefreiheit angewiesen sind. Das hat weniger mit Gesundheit und
Bewegung zu tun, sondern das ist eine natürliche Geschichte, dass im Laufe des Lebens alle Menschen
darauf angewiesen sind.
19
Information zu Ursula Naue. Link:
https://politikwissenschaft.univie.ac.at/institut/personen/projektmitarbeiterinnen/naue/
20
Aus einem Inserat der Tiroler Wirtschaftskammer: „… Es muss sicher nicht jede einzelne Tiroler Wohnung
barrierefrei sein. Denn erfreulicherweise ist ein Großteil der Bevölkerung gesund und sehr mobil.“, in einer Beilage
zu „Wohn&Raum“ in der Tiroler Tageszeitung, 1. Dez. 2012, 3
– 10 –
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Warum sind sie für die Deregulierung? Die Bauinnung hat das Marktforschungsinstitut GfK Österreich
damit beauftragt zu erfragen, ob die österreichische Bevölkerung – wenn sie es braucht – bereit ist in
Barrierefreiheit zu investieren. Und klarerweise waren über 70 Prozent der Befragten in verschiedener
Weise bereit dafür etwas ausgeben.21 Das heißt, die Bauwirtschaft hat mit dieser Meinungsumfrage –
das war eine Imagestudie – herausgefunden, dass die Barrierefreiheit ein Potenzial ist und dass die
betroffenen Leute auch selbst mitzahlen würden. Also muss man politisch darauf schauen, dass bei
Neubauten nicht entsprechend barrierefrei gebaut wird. Denn die Bereitschaft, nachher auf eigene
Kosten umzubauen, ist in Hinsicht auf das eigene Altern und die Angst vor einer Zukunft im Altenheim in
der Bevölkerung sehr groß. Das Sozialministerium, das ja die Wohnbauförderung vergibt, hat die Bindung
an Barrierefreiheit mehr oder weniger aufgehoben. In der Steiermark ist es beispielsweise so, dass die
Wohnbauförderung den öffentlich-sozialen Wohnbau zu 100 Prozent mit Barrierefreiheit verbunden
gefördert hat. Als das Sozialministerium den Richtwert für Barrierefreiheit in der Wohnbauförderung auf
10 Prozent gesenkt hat22, hat das Land Steiermark sofort geplant die erforderliche Barrierefreiheit von
100 auf auf 20 Prozent zu senken23, wenn etwas neu gebaut werden muss. Das funktioniert, weil es ein
politisches Interesse und eine bestimmte Bereitschaft gibt, dass die betroffenen Personen selbst zahlen.
In den Koalitionsverhandlungen der Regierung wurde auch darüber verhandelt, dass es einen
Baukostenzuschuss für Barrierefreiheit geben soll. Hier wurden EUR 3.000,-- in Aussicht gestellt. Das ist
genau der Zuschuss, der es ermöglicht darüber nachzudenken und dann gibt „Licht-ins-Dunkel“ noch
etwas dazu, aber die tatsächlichen Kosten des Projektes für Barrierefreiheit belaufen sich vielleicht auf
EUR 20.000,-- und lange Angespartes muss verwendet werden oder ein Kredit ist nötig. Das ist ein
Beispiel dafür, wie sich liberale Wirtschaftspolitik durchsetzt und nicht menschengerechtes Bauen, denn
das ist barrierefreies Bauen. Das ist nicht irrational, sondern hier zeigt sich ein gewisser politischer und
ökonomischer Mechanismus, der im Alltag nicht so leicht durchschaubar ist.
Erwin Riess: Dazu zwei Zahlen. Wenn man bei der Planung Barrierefreiheit berücksichtigt, treten de facto
keine oder höchstens Mehrkosten von 0,5 bis 1 Prozent der Bausumme auf. Wenn man ordentlich
barrierefrei baut. Das ist das eine. Das andere ist: Es ist so, dass die Summe der neuerrichteten Gebäude,
die nicht barrierefrei sind, größer ist als die da und dort durchaus passierenden Sanierungen oder
Rücksichtnahmen oder Bauten – so wie hier (Anm.: MCI Management Center Innsbruck) – wo das
funktioniert. Das heißt, die Situation wird nicht ständig besser – wie man unterstellen müsste –, sondern
sie wird ständig aussondernder. Und wenn ich jetzt beispielsweise Oberösterreich hernehme24 und sage:
Wir zahlen jetzt keinen Lift mehr bis in den 3. Stock hinauf im Gemeindebau, denn wir machen nur im
Erdgeschoss eine Behindertenwohnung. Ob die Behinderten vielleicht einmal weiter oben ihren Freund
besuchen wollen, das interessiert nicht. Dann findet das statt und es findet leider statt – und das sind
auch wirkliche Hauptgegner – mit heftiger Unterstützung der Architekten.
Auch besonders berühmte und tolle Architekten sagen, wir fühlen uns beengt, wir wollen bauen, wir
brauchen Stufen und Ähnliches. In diesem Bereich gibt es wirkliche Horrorgeschichten, aber das hat sich
mittlerweile zu einer Bewegung verdichtet. Der Vorsitzende der Wiener Architektenkammer rennt durch
alle Radio- und Fernsehsendungen und sagt, diese Behindertennormen müssen weg, die stören.25 Und
du (Anm.: gerichtet an Volker Schönwiese) sagst es auch richtig, was die Bauwirtschaft schon einmal
gewusst hat und geglaubt hat, dass das sinnvoll ist – und es wäre auch sinnvoll gewesen, wirklich
einheitlich in größeren Massen barrierefrei zu bauen – ist in dieser ganzen Deregulierungswelle, die in
21
Vgl. Link: http://www.baufair.at/uploads/Document/99025.pdf
Vgl. Link: http://www.bizeps.or.at/news.php?nr=14182&suchhigh=Wohnbauf%F6rderung
23
Vgl. Link : http://www.bizeps.or.at/news.php?nr=14722&suchhigh=Steiermark
24
Vgl. Link: http://www.bizeps.or.at/news.php?nr=13661&suchhigh=Wohnbauf%F6rderung
25
Vgl. z.B.: http://www.bizeps.or.at/news.php?nr=13866&suchhigh=Architekten
22
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den 2000er-Jahren über Österreich geschwappt ist, wieder verloren gegangen. Und hier ergänzen sich
solche Aktionen wie „Licht-ins-Dunkel“ und diese Entwicklung ganz gut, wenn man dann sagt: Hier sind
EUR 3.000,-- und holt euch noch EUR 3.000,-- von „Licht ins Dunkel“.
Volker Schönwiese: Jetzt sind wir bei „Licht ins Dunkel“ – da möchte ich auch noch schnell mitnaschen,
bitte. (Lachen)
Erwin Riess: Aber, ich möchte zwei Dinge noch kurz ansprechen und dann vielleicht in einem späteren
Beitrag nochmal darauf eingehen, wenn die Publikumsdiskussion im Gange ist. Damit nicht der Eindruck
entsteht: Es ist eh alles eine Katastrophe und es geht überhaupt nichts weiter. Es gibt auch wirkliche
Erfolge zu vermelden. Das muss man schon sagen. Ich möchte in diesem Zusammenhang mit allen
Schwierigkeiten, die hier dazu noch zu sagen sind, das Pflegegeld erwähnen. Wobei der Name eine
Katastrophe ist, aber die Sache selber ist toll und wäre ein Weg aus der ganzen Malaise im Pflegebereich
hinauszukommen. Und das Leben mit Assistenz – Arbeitsassistenz und persönlicher Assistenz –, das sich
das langsam durchsetzt. Weil es zumindest ein kleiner Bereich ist, wo behinderte Menschen als Experten
in eigener Sache quasi die Chefs sind und angeben, was passiert und nicht das Objekt der Politik sind,
sondern das Subjekt. Das ist die Kerngeschichte von Independent Living: Wir sind Subjekte der Politik,
was uns anlangt. Aber das muss man auch durchkämpfen. Also, es gibt auch Dinge, die man als Erfolge
bezeichnen kann, die aber auch zum Teil wieder gefährdet sind. Man sollte auch über die UNOKonvention sprechen, die Österreich unterschrieben hat. Wie das dann im Detail ins Gegenteil verkehrt
wird, das ist auch ein Lehrstück an österreichischer Politik. Aber es gibt nicht nur die negative Sicht der
Dinge. War ich jetzt zu positiv? (Lachen)
Volker Schönwiese: Es ist aus meiner Sicht nicht ganz richtig. Denn ein Phänomen bei uns ist die
Spaltung. Manche bekommen und manche bekommen nicht mehr. Und das Pflegegeldgesetz hat vor
allem auch diese Spaltung betrieben. Das heißt, das Pflegegeld ist damals vom Zivilinvalidenverband und
der ÖAR26 erkämpft worden. Und das war unter der Hand ein Modell für etwas ältere behinderte
Männer, die wollten, dass ihre Frauen zu Hause bleiben und dass Geld in die Wohnung kommt. Die
Frauen sollten zu Hause bleiben und uns pflegen. Also dahinter steckte eine Art von Familienpolitik. Und
es ist auch akzeptiert worden, dass das Pflegegeld ein Zuschuss ist, der die Kosten nicht abdeckt. Wir
haben auch für das Pflegegeld gekämpft, aber waren immer die Rufer dafür, dass es eine
bedarfsorientierte Finanzierung braucht, was heute unter der Forderung nach einem „Persönlichen
Budget“ läuft27 FN 27). Aber damals waren wir mit dem Kompromiss dann doch zufrieden. Was natürlich
für einige Personen – wie auch für mich – eine großartige Geschichte ist. An der Universität zu sein und
dieses Geld dazuzubekommen, ermöglicht mir einfach mehr. Ich weiß nicht, wie es bei dir ist (Anm.:
gerichtet an Erwin Riess). Also ich gehöre zu den Profiteuren dieses Systems, das muss ich eindeutig dazu
sagen.
Erwin Riess: Dasselbe. Das Leben auf freier Wildbahn wäre ohne Pflegegeld entscheidend schwieriger.
Volker Schönwiese: Strukturell ist aber etwas anderes passiert. Die Länder haben gesehen: Da gibt es ein
Bundespflegegeld und die Länder haben die Entwicklung von Einrichtungen gefördert. Sie sind wie Pilze
aus dem Boden geschossen. Gewachsen ist damit eine unkontrollierte Struktur. Über diesen
Mechanismus können Einrichtungen – Einzelpersonen sollen sich jetzt bitte nicht angegriffen fühlen –
das Pflegegeld und Bundesgelder zur Landesfinanzierung abschöpfen. Und man sieht, wenn man sich die
26
27
Information zur ÖAR. Link: http://www.oear.or.at/
Vgl. Link: http://de.wikipedia.org/wiki/Pers%C3%B6nliches_Budget
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Statistiken anschaut – und Hubert Stockner von Selbstbestimmt Leben Innsbruck hat das gemacht –, dass
ab dem Zeitpunkt, an dem das Pflegegeld eingeführt worden ist, eine unglaubliche Explosion von
zusätzlichen Heimplätzen in den Ländern festzustellen ist.28 Die Struktur war so, dass man über das
Bundespflegegeld die Landesheime mitfinanziert. Das Geld geht nicht in die Persönliche Assistenz,
sondern das Geld geht in die Einrichtungen. Insofern ist das eine doppelte Geschichte und das ist ganz
typisch. Vieles, das im Ansatz gut ist, hat diese spaltenden Effekte.
Man kann es auch umgekehrt sagen: Manche Dinge, die eindeutig ganz schlecht sind, haben trotzdem
auch teilweise ganz interessante Entwicklungen initiiert. Wenn man zurückschaut, dann sind nach dem
Zweiten Weltkrieg bei uns für die Betreuung von Menschen mit Behinderung klösterlichen Strukturen
geschaffen worden. Behinderte Menschen sind nach dem klassischen Dreischritt „warm-satt-sauber“ in
diese Strukturen verbracht worden. Dazu muss man sagen: Das waren humanisierte Einrichtungen im
Vergleich zu dem, was in der ersten Republik Standard war. Und im Vergleich zur Tötungsmaschinerie in
der NS-Zeit schufen diese Strukturen auch eine Überlebensmöglichkeit, auch wenn das erkauft war mit
klösterlichen Strukturen, struktureller und persönlicher Gewalt. Also das ist auch diese Doppelbödigkeit.
Dann gab es die Tendenz der Modernisierung: viele kleinere Einrichtungen, aber immer noch relativ
große. Denn die Menschen haben überlebt und sind aufgewachsen und demographisch gab es auch
wieder normal viele Behinderte. Also war auch ein Bedarf gegeben an vielen Einrichtungen. Dann sind
die Einrichtungen überall wie Pilze aus dem Boden geschossen. Es gibt auch Einige, die sehr davon
profitiert haben. Und damit ist ein modernisiertes Rehabilitationsmodell entstanden, das auch vielen
Menschen verbesserte regionale Lebensmöglichkeiten gegeben hat. Und trotzdem ist auch hier wieder
diese Spaltung vorhanden: Die Besseren haben es besser gehabt und die anderen sind einer sehr
paternalistischen und behindernden Struktur unterworfen worden, die für Gewalt anfällig war und ist.29
Und in der dritten Phase – das ist die Phase der Selbstbestimmung und in der sind wir jetzt – werden wir
freier oder zumindest ist das das Ziel. Und über die Doppelbödigkeit dieser Freiheit müssen wir auch
noch reden.30
Also ich gehe eher von einer Spaltungstheorie aus. Man kann in historischen Situationen anschauen, was
dort passiert ist und wie die Zusammenhänge zu erklären sind. Wir können uns fragen, was war positiv
und was war negativ. Dann kann man sich fragen, was wir heute und in Zukunft tun wollen.
Erwin Riess: Ich möchte hier noch einen Gedanken anfügen. Es war in den 70er- und 80er-Jahren
durchaus so, dass die Behindertenbewegung – die fortschrittliche, die autonome, Independent-LivingBewegung – zusammen mit anderen Emanzipationsbewegungen gearbeitet hat: zusammen mit der
damals eher noch bescheidenen Bewegung für migrantische Leute, aber sehr stark mit der
Frauenbewegung oder mit Bewegungen für sexuelle Minderheiten. Ich bin seit 25 Jahren im Vorstand
der NGO „Initiative Minderheiten“ und kann mich daran erinnern, dass die Homosexuellen früher ständig
bei den Sitzungen dabei waren. Die sind jetzt schon seit Jahren nicht mehr gesehen worden, weil sie
relativ viel durchgesetzt haben. Mit der Solidarität zwischen den einzelnen Minderheiten ist es nicht weit
her. Das muss man jeweils für einzelne Projekte neu herstellen. Das ist die eine Geschichte.
28
Vgl.: Stockner, Hubert (2011): Persönliche Assistenz als Ausweg aus der institutionellen Segregation von
Menschen mit Behinderungen. Innsbruck. Link:
http://www.slioe.at/downloads/themen/assistenz/PA_institutionelle_Segregation.pdf
29
Siehe dazu als Beispiel die Rolle von Andreas Rett in diesem System. Link:
http://bidok.uibk.ac.at/library/schoenwiese-rett.html
30
Vgl. zu dem ganzen Thema: Plangger, Sascha; Schönwiese, Volker: Behindertenhilfe – Hilfe für behinderte
Menschen? Geschichte und Entwicklungsphasen der Behindertenhilfe in Tirol. In: Schreiber, Horst (2010): Im
Namen der Ordnung. Heimerziehung in Tirol. Innsbruck: Studienverlag. 317 - 346. Link:
http://bidok.uibk.ac.at/library/plangger-behindertenhilfe.html
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Die andere ist, dass ich aus der Tradition der Arbeiterbewegung komme. Ich bin in der verstaatlichen
Industrie aufgewachsen. Auch in meiner wissenschaftlichen Arbeit habe ich mich viel damit beschäftigt.
Ich stelle mit Groll fest, dass es in der österreichischen Arbeiterbewegung – und das ist eben die stärkste
Sozialdemokratie der Welt , plus Arbeiterkammer, plus Gewerkschaft – nicht gelungen ist, auch nur
Ansätze eines autonomen, selbstbestimmten Behindertenwesens soweit zu verankern, dass es
überhaupt Stellen gibt, die sich in der Gewerkschaft und in der Arbeiterkammer darum kümmern. Rufen
Sie einmal in der Bundes-Arbeiterkammer an und fragen Sie, wer für Behindertenpolitik zuständig ist. Da
wird dann lange herumtelefoniert und irgendjemand betreut das irgendwie mit. Es ist sicher kein
Betroffener, keine Ahnung von Independent Living und das können Sie jetzt durchdeklinieren: Es ist bei
der Gewerkschaft dasselbe, es ist bei den Landeseinrichtungen dasselbe – mit ganz wenigen Ausnahmen,
wo durch persönliche Zufälle eine Stelle entstanden ist. Zum Beispiel: Der Präsident der
niederösterreichischen Arbeiterkammer ist hier sehr fortschrittlich und auf der Höhe der Zeit. Aber
ansonsten muss ich leider – als jemand der aus der Arbeiterbewegung kommt – sagen, dass – zum
Beispiel was diese Doppelbödigkeit beim Pflegegeld anlangt – es von der Sozialdemokratie immer wieder
infrage gestellt worden ist. Man wollte uns zum Beispiel Pflege-Schecks andrehen usw. Mir gelingt es seit
30 Jahren nicht, mit Betriebsräten, Arbeiterkammerleuten oder Gewerkschaftern überhaupt in Kontakt
zu kommen. Man wird dann vielleicht einmal eingeladen, aber man hat gar keine Möglichkeit, mit den
Leuten zu diskutieren. Paternalismus, Aussonderung – wir machen schon für euch! Und wenn man dann
Kritik übt, dann ist man der Querulant. Und das setzt sich fort: Herr Faymann entscheidet immer
darüber, wer im ORF im Publikumsrat die Belange behinderter Menschen vertritt. Das waren jahrelang
behinderte Menschen und über deren Arbeit kann man unterschiedlicher Meinung sein, aber es waren
behinderte Menschen. Seit einiger Zeit ist es der Herr Fenninger, der Vorsitzende der Volkshilfe. Der hat
von Independent Living und von dem was wir wollen erstens keine Ahnung und zweitens will er es auch
gar nicht wissen. Denn er hat institutionelle Interessen seiner Volkshilfe zu vertreten und das tut er auch.
Und er wird jetzt wahrscheinlich – jetzt stehen diese Wahlen bzw. Delegierungen ja wieder an – das
weiter fortsetzen. Ich sage es Ihnen, diese Vorgangsweise ist in vielen westlichen zivilisierten Staaten
schon längst unmöglich.
Lisa Gensluckner: Ich denke, es ist gut an der Zeit einen Runde mit dem Publikum zu machen. Gibt es
Fragen, Kommentare, Diskussionsbeiträge?
Wortmeldungen aus dem Publikum:
Beitrag 01: Eine Besucherin schließt sich den Ausführungen von Erwin Riess an. Sie findet, dass in den
meisten Fällen nicht-behinderte Menschen über die Anliegen von Menschen mit Behinderungen
entscheiden. Aus eigener Erfahrung weiß sie, wie mühsam – beispielsweise bei der
Pensionsversicherungsanstalt – die Ansprüche von Menschen mit Behinderungen zu argumentieren sind.
Grundsätzlich attestiert sie wenig Interesse für die Thematik bei den Institutionen. Auch beim Thema
Barrierefreiheit schließt sie sich inhaltlich an. Sie findet, dass Architekten und Architektinnen nicht über
die Wohn- und Lebensbedürfnisse von Menschen mit Behinderungen Bescheid wissen und sich auch
nicht dafür interessieren. Zudem kritisiert die Besucherin die Politik. Auch hier sieht sie wenig Interesse
für die Anliegen und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen.
Beitrag 02: Eine Besucherin meldet sich zum Thema Pflegegeld zu Wort und schließt sich den
Ausführungen von Volker Schönwiese an. Sie kann sich an die Einführung von 20 Jahren erinnern. Damals
sei verkündet worden, dass die Familienangehörigen pflegen sollen. Dieser Aufruf hat sich vor allem an
Frauen gerichtet. Grundsätzlich habe sich hier Einiges verändert. Zum einen kann niemand mehr vom
Pflegegeld allein leben und zum anderen werden aus sozialpolitischen Gründen Frauen nicht mehr
aufgefordert zu Hause zu bleiben. Die Besucherin merkt an, dass die Einführung vor 20 Jahren allerdings
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ein sozial-politisches Highlight gewesen sei.
Zur Aktion „Licht-ins-Dunkel“ merkt die Besucherin an, dass eine offene Kritik an der Aktion nicht als
gesellschaftlicher Konsens gesehen werden kann. Wer in einschlägigen Kreisen oder bei entsprechenden
Veranstaltungen von „Licht-ins-Dunkel“ Kritik übt, hat mit heftigem Gegenwind zu rechnen. Wenn
kritisiert wird kommt das in Tirol nur von den Betroffenen oder deren Angehörigen.
Die Besucherin spricht als dritten Punkt das Behinderteneinstellungsgesetz an. Das Land Tirol selbst zahlt
als Arbeitgeberin mittlerweile 1,2 Millionen Euro Ausgleichstaxe. Die Einstellung von Menschen mit
Behinderungen fehlt vor allem im Bereich der LehrerInnen und im Bereich der Tiroler Krankenanstalten.
Ein grundsätzliches Bemühen, die Quote zu erhöhen, sei allerdings erkennbar.
Zuletzt kritisiert die Besucherin den Titel der Veranstaltung. Anstatt „behinderte Menschen“ sollte
„Menschen mit Behinderungen“ verwendet werden.
Beitrag 03: Der Besucher lobt die WuV-Mitglieder für die Veranstaltung zum Themen Menschen mit
Behinderungen im Speziellen und für die Veranstaltungsreihen von WuV im Allgemeinen. Er wünscht sich
noch mehr – wie im Titel angekündigt – über die Rolle der Menschen mit Behinderungen für die
Gesellschaft zu hören. Grundsätzlich würde ihn auch noch interessieren, wie andere europäische Staaten
mit dieser Bevölkerungsgruppe umgehen und von welchen Modellen Österreich lernen könnte.
Der Besucher schließt sich Volker Schönwieses These der Spaltung an. Er versteht die Spaltung als
wesentlichen Punkt, wenn von Behinderungen oder Beeinträchtigungen gesprochen wird. Er berichtet
von einer Diskussionsveranstaltung, die Selbstbestimmung zum Thema hatte. In der Diskussion habe sich
gezeigt, dass vor allem Menschen und Gruppen, die behinderte Menschen oder beeinträchtigte
Menschen vertreten, keine gemeinsame Sicht der Dinge haben.
Volker Schönwiese: Ich möchte zum Thema Pflegegeldgesetz antworten. Natürlich war das damals ein
Riesenfortschritt, wir haben auch sehr dafür gekämpft. Das Typische für Österreich sind aber die
Halbherzigkeiten. Damals ist dieses Geld – zwar nicht ausreichend, aber immerhin – geschaffen worden,
gleichzeitig hat es österreichweit heftige Bemühungen gegeben, auch die Unterstützungsstrukturen zu
ändern. Das heißt, dass Bund und Länder sich einigen, damit man wegkommt von den
Großeinrichtungen zu ambulanten kleinen Unterstützungsstrukturen – auch zur persönlichen Assistenz.
Das ist damals bis ins Parlament verhandelt worden.31 Nur hat die Regierung sehr halbherzig mit den
Ländern verhandelt und die Länder haben gesagt: Nein, wir wollen nur das Geld, wollen aber an den
Strukturen nichts verändern. Das ist die österreichische Halbherzigkeit, die sich dann immer wieder
durchschlägt.
Ein anderes Beispiel: Ich finde, einer der größten Fortschritte in der österreichischen BundesBehindertenpolitik war damals 1990 das Unterbringungsgesetz.32 Das heißt, dass Menschen mit
Lernschwierigkeiten – sogenannte geistig Behinderte hat man früher gesagt – nicht auf Dauer in
psychiatrischen Anstalten als Dauerpatienten sein durften. Sie mussten alle aus den Psychiatrien hinaus.
Das war super und es hat viel an Bewegung ausgelöst, aber nicht in der Landesbehindertenhilfe. Die
Landesbehindertenhilfe hat sie übernommen – teilweise auch mit fortschrittlichen Modellen, da ist auch
viel Gutes passiert – aber die Großeinrichtungen haben weiter bestanden und die haben so funktioniert
wie die Psychiatrie früher auch funktioniert hat. Das ist dieses Halbe in Österreich, diese halben Schritte.
Wir haben ein Gleichstellungsgesetz, das uns erlaubt zu schlichten, wenn wir irgendwo nicht
hineinkommen und dann können wir vielleicht klagen und dann bekommen wir vielleicht 500 Euro
31
Vgl. „Bericht der Arbeitsgruppe"Vorsorge für pflegebedürftige Personen" (Bundesministerium für Arbeit und
Soziales, Mai 1990) an das Parlament. Download-Link: http://www.slioe.at/downloads/links/SozialministeriumsBericht_1990.pdf
32
Siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Unterbringung_(%C3%96sterreich)
– 15 –
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Schadenersatz. Aber die Stufe bleibt! Und das sind diese Halbherzigkeiten bei uns und ich denke mir
dann immer: Cui bono – wem nützt das. Das ist ja keine Bösartigkeit oder Vergessen – Vergessen gibt's
nicht, Vergessen ist etwas ganz Aktives –, sondern da muss etwas dahinter sein. Und ich frage mich, was
ist dahinter.
Letztendlich läuft es auf das hinaus, was dort oben steht (Anm. WuV: Volker Schönwiese zeigt auf den
Titel der Veranstaltung „Die Ferse des Achilles. Zur Rolle des behinderten Menschen für die
Gesellschaft“): Wir sollen für die Gesellschaft da sein und bleiben, wie wir sind. Deswegen stimmt der
Titel auch. Man braucht uns als Abhängige und das sollen wir auch bleiben. Es geht dabei um einen
Vorgang den man englisch „Creaming“ nennt, im Sinne von Sahne abschöpfen. Das heißt, einige werden
herausgeholt und gefördert, damit sie dann Vorzeige-Behinderte sind, die auch etwas leisten können
und etwas tun. Und hier sitzen zwei klassische Exemplare dieser Vorzeige-Behinderten. Nur dass wir halt
diejenigen sind, die versuchen, das System aufzuzeigen. Insofern ist das das Dilemma. Und das ist nicht
zu individualisieren, sondern man muss sehen, dass es sich dabei um ein System handelt. Man muss die
Interessen wahrnehmen, die dahinter stecken, und die Interessen benennen.
Österreich ist geprüft worden, ob es der UN-Konvention über die Recht der Menschen mit
Behinderungen entspricht und wie es diese UN-Konvention erfüllt. Und dann waren einige wenige von
uns dort und wir haben gesagt, es gibt einen Interessenkonflikt, der dahinter steht.33 Es gibt nicht die
bösen Menschen, die das alles böse machen. Sondern Österreich ist in seiner sozialstaatlichen und
sozialpartnerschaftlichen Tradition, die auf die erste Republik als Ständestaat verweist, weiterhin auf
Einigungen angewiesen, die außerhalb des Parlaments und außerhalb der Demokratie Strukturen
errichtet und auch aufrecht erhält. Diese Strukturen halten Unterschiede von Menschen aufrecht und
profitieren auch davon. Und deswegen müssen wir bleiben, wo wir sind. Das wäre meine politologische
Theorie.
Erwin Riess: Zur Frage Architektenausbildung: Wissen die Architekten nicht, wie man barrierefrei baut?
Das stimmt. Sie wissen es nicht. Und warum? Weil die Grundsätze des barrierefreien Bauens nicht
verpflichtender Bestandteil der Architektenausbildung sind. Bis zur Gegenwart hat sich nichts verändert.
Es ist nicht gelungen. Die meisten Architekten – ich übertreibe jetzt vielleicht ein bisschen, aber ich
glaube, dass das im Wesentlichen stimmt – sind erstaunt, wenn man ihnen sagt: Ich kann über 3 Stufen
den Rollstuhl nicht rüberbringen. Dann schauen sie groß. Gut. Eine Geschichte.
Die andere Geschichte, die mich als Schriftsteller besonders betrifft: Behinderung und Sprache. Ich habe
mich von Anfang an mit dem Thema auseinandergesetzt und bin eigentlich schon seit langer Zeit zu einer
Art von Lösung gekommen. Ich halte überhaupt nichts davon, behinderte Menschen hinter
irgendwelchen hinwegeskamotierenden Begriffen wie „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“ oder
„mit besonderen Zusatzbeeinträchtigungen“ zu verstecken. Da weiß kein Mensch, was damit gemeint ist.
Ich habe zum Beispiel das Bedürfnis, in jeder Stadt in der ich bin, sofort zum nächsten Fluss zu gehen und
zu schauen, ob es eine Binnenschiffahrt gibt. Ich bin ein Binnenschiffahrtsfanatiker. Unter „Mensch mit
besonderen Bedürfnissen“ kann ich mir alles vorstellen, aber nicht, dass er behindert ist. Daher auch die
Frage: Natürlich reden wir von behinderten Menschen. Wenn man zwischendurch sagt „Menschen mit
Behinderung“ ist es vielleicht korrekter, aber in der Sache ist das dasselbe. Man sagt zwar gerne in der
Behindertenbewegung: Wir sind nicht behindert, wir werden behindert! Das ist ein Unsinn. Wir sind
natürlich behindert. Wenn ich im Hotel den Duschkopf nicht herunterbekomme, weil er weit oben
angebracht ist, dann muss ich um Hilfe ansuchen. Das heißt, da gibt es natürlich wirkliche Hinderungen
den Alltag zu bewältigen. Blöd ist, wenn man durch aussondernde Strukturen und Barrieren zusätzlich
behindert wird – gesellschaftlich behindert wird. Das ist das Zweite.
33
Vgl. die Präsentation der österreichischen NGO-Delegation beim UN-Behindertenrechtskomitee. Link:
http://www.slioe.at/was/stellungnahmen/2013-04_Praesentation_UN-CRPD.php
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Ganz kurz: Internationale Geschichten. Wir haben schon erwähnt, Italien ist im pädagogischen Bereich
sehr weit. Seit 2007 lebe ich halb in Kärnten und halb in Wien. Ich hab die Gelegenheit sehr oft in Italien
zu sein. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass in der Toskana und in Friaul – die beiden Regionen kenne
ich am besten – enorme Fortschritte in der Barrierefreiheit und auch in anderen Bereichen gemacht
wurden. Ein Beispiel: Sie fahren nach Florenz mit dem Auto hinein. Florenz hat – glaube ich – 9 oder 10
Seitengassen zum Dom und die letzten 2 Parkplätze sind Behindertenparkplätze. Und wenn jemand
draufsteht, dann ist das ein Behinderter oder eine Behinderte und fast immer ist etwas frei. Und ich habe
es mir abgewöhnt in Italien zu schauen, ob es eine Behindertentoilette, eine Rampe oder einen
Behindertenparkplatz gibt. Selbst in Grado – in diesem 1500 Jahre alten Steinkonglomerat – hat man da
und dort immer noch Behindertentoiletten hineingequetscht. Genau das, was ich im Übrigen 1992 bis
1995 in den USA erlebt habe, wo ich in Manhattan gewohnt habe. Wo dann plötzlich überall Rampen
und Behindertentoiletten waren, man hat es nicht für möglich gehalten. Genauso hat man es auch nicht
für möglich gehalten, wie viel Behinderte plötzlich auftauchen, mit allen möglichen Gefährten – vom
motorbetriebenen Schreibtischsessel bis zum Bett. Alles Mögliche ist herumgefahren und war auf freier
Wildbahn unterwegs und niemand hat etwas dabei gefunden. New York hat zu einem Zeitpunkt, wo die
Stadt fast bankrott war, alle Autobusse umgerüstet auf Hebeplattformen. Die Chauffeure waren stolz
drauf! Die mussten ja stehen bleiben, mussten das Hebezeug runterlassen, den Rollstuhlfahrer an Bord
bringen. Und die Leute waren auch stolz drauf, die haben sich gefreut, dass ihre Stadt so etwas anbietet.
Das war in Wien nicht ganz so am Anfang. Die grantigen Chauffeure – das hat sich ein bisschen
gebessert.
Das ist auch ein Problem, denn die Chauffeure müssen ihre Zeiten einhalten. Und wenn die
Gewerkschaft, die diese Leute vertritt, das nicht durchkämpft, dann sind die Fahrer – als schwächstes
Glied an der Kette – dran.
Einen Satz noch. Also: Italien habe ich erwähnt. In Frankreich gibt es einen Staatssekretär für
Behindertenfragen. Selbst Ungarn – ein Land, das wie wir wissen, keine sonderlich tolle Entwicklung
nimmt, eine Katastrophe ist diese Geschichte. Selbst in Ungarn wird bis 2015 ein Großteil der
öffentlichen Gebäude barrierefrei sein müssen und die halten sich auch daran und versuchen das
umzusetzen. So wie auch unter Berlusconi in Italien barrierefrei gebaut wurde. Das gilt auch weitgehend
für Spanien. Und in Österreich ist Folgendes passiert: Die Wiener SPÖ hat gesehen, die EU schreibt vor,
dass bis 2015 alle öffentlichen Gebäude barrierefrei sein müssen. Wir machen in Österreich Folgendes:
Wir erhöhen das auf 2042!34 (Lachen im Publikum) Das ist kein Scherz, das ist Wirklichkeit. Und zusätzlich
wurde festgesetzt, dass 75 Prozent der Mittel, die in den nächsten 20 Jahren für Barrierefreiheit
ausgegeben werden, erst in den letzten 5 Jahren ausgegeben werden. Das heißt, sie machen das genaue
Gegenteil. Das ist das, was Volker Schönwiese auch immer wieder erzählt: Wir stoßen auf gesetzliche
Bestimmungen und Durchführungsbestimmungen, wo das Gegenteil von dem, was an sich möglich ist,
erreicht wird. Durch eine teils indolente, teils fehlgeleitete, teils unwissende Beamtenschaft, die das
auch administriert. Ich darf das sagen, ich bin selbst Beamter in Ruhestand. Das ist diese spezifisch
österreichische Doppeldeutigkeit.
Du (Anm.: gerichtet an Volker Schönwiese) erwähnst immer den Ständestaat. Einer meiner Professoren
an der Universität Wien, Emmerich Talos35 hat in seinem Standardwerk36 zum Ständestaat geschrieben –
und das ist mittlerweile in der Politikwissenschaft Standard -, dass man das Austrofaschismus nennt. Das
heißt, es ist nicht ganz so harmlos, wie es klingt. Wir haben in der österreichischen Sozial- und
Gesundheitspolitik und in diesen Strukturen – Hauptverband der Sozialversicherungsträger usw. –
34
Siehe: http://www.bizeps.or.at/news.php?nr=13773&suchhigh=2042
Information zu Emmerich Tálos. Link: http://staatswissenschaft.univie.ac.at/mitarbeiterinnen/emmerich-talos/
36
Tálos, Emmerich (2013): Das austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1933-1938. Reihe Politik und
Zeitgeschichte, Band 8. Berlin/Münster/Wien/Zürich/London: Lit Verlag
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fortwirkende austrofaschistische Strukturen. Es ist eben nicht so harmlos, wie es auf den ersten Blick
ausschaut. Mein Freund Werner Vogt, ein Tiroler, warnt mich immer und hat mich seinerzeit schon sehr
gewarnt. Er hat gesagt: Der Herr Buchinger37 ist ein toller Sozialminister für euch, denn hat einen
behinderten Sohn. Er kennt sich aus. Aber wenn jetzt Herr Hundsdorfer38 kommt, von der Gewerkschaft
der Gemeindebediensteten in Wien, dann zieht' euch warm an! Und genauso ist es gekommen. Der
Sozialminister spricht mit den Beamten seiner Behindertensektion nicht oder nur sehr, sehr selten. Das
sind zum Teil großartige Menschen, die wissen, worum es geht. Vom Sozialministerium kommen aber in
der Behindertenpolitik nur Streichungen und Kürzungen und wir rennen dagegen an. Wir haben keine
Chance auf diesen Status oder dieses Level zu kommen, wie es zum Beispiel mit dem Herrn Hesoun39
möglich war. Den konnte man noch überzeugen, indem man das Ministerbüro besetzt hat und mit ihm
drei Stunden redete. Vorher war er strikter Gegner des Pflegegeldes und dann hat er verstanden – er war
ja Bauarbeiter-Gewerkschafter: Meine vielen behinderten Bauarbeiter, die werden vom Pflegegeld ja
auch einen Vorteil haben! Und dann war er auch dafür.
Letzter Punkt! Und das sage ich jetzt ganz ruhig, obwohl das für manche vielleicht provokant klingt. Ich
habe einen Essay geschrieben – 110 Seiten lang – in dem die verschiedenen Rollenbilder der Menschen
für die Gesellschaft behandelt werden. Das Buch gibt es noch im Buchhandel und heißt eben „Die Ferse
des Achilles“40. Also ich habe das, was ich jetzt sehr ungeordnet mache, systematisch dargestellt und bin
dann bei der letzten Rolle hängengeblieben. Und nach all dem, was ich da untersucht hatte, habe ich
festgestellt, dass wir behinderte Menschen auch – und gar nicht in einem kleinen Ausmaß – die Rolle
einer gesellschaftlichen Abschreckungswaffe spielen. Was meine ich damit? Es ist offensichtlich von der
Politik oder von den führenden Kreisen in diesem Land gewollt, dass es eine Gruppe gibt, die für alle
erkenntlich anders ist, die Schwierigkeiten hat und die auch immer an der Armutsgrenze oder an
sonstigen prekären Lebensverhältnissen entlangschrammt. Wenn sie nicht schon ständig in diesen
Verhältnissen leben, weil sie keine Arbeit bekommen, weil sie nicht studieren können et cetera. Das hat
eine stabilisierende Funktion in der Logik dieser Leute –nennen wir es herrschende Elite –, weil sehr viele
andere Bevölkerungsgruppen, die eben nicht behindert sind oder nicht migrantisch sind oder
beispielsweise keine Frauen sind oder nur zum Teil in dieses System hineinfallen, dadurch immer noch
diszipliniert werden. „Uns geht's immer noch nicht so schlecht wie denen!“, das ist auch eine Rolle, die
wir spielen.
Lisa Gensluckner: Es gab hier noch eine Wortmeldung.
Beitrag 04: Ein Besucher meldet sich zu Wort und merkt an, dass das Pflegegeld seit der Einführung vor
20 Jahren nicht erhöht worden ist.
Beitrag 05: Ein Besucher meldet sich zu Wort. Er möchte wissen, ob sich gesellschaftlich etwas verändern
würde, wenn mehr Lehrer und Lehrerinnen mit Behinderungen im öffentlichen Schuldienst beschäftigt
wären?
Volker Schönwiese: Natürlich würde sich viel verändern. Wenn ich in meinen Vorlesungen über
Schulintegration rede, dann wird immer hin- und herdiskutiert, warum das so schwierig ist. Und dann
frage ich, ob jemand aus Südtirol da ist. Und in der Regel zeigen dann 2 oder 3 Studierende auf und ich
37
Informationen zu Erwin Buchinger. Link: http://www.parlament.gv.at/WWER/PAD_36449/index.shtml
Informationen zu Rudolf Hundsdorfer. Link: http://www.parlament.gv.at/WWER/PAD_52689/index.shtml
39
Informationen zu Josef Hesoun. Link: http://www.parlament.gv.at/WWER/PAD_00583/index.shtml
40
Riess, Erwin (2003): Die Ferse des Achilles. Zur Bedeutung behinderter Menschen für die Gesellschaft. 1. Auflage.
Edition Seidengasse/Bibliothek der Provinz: Weitra.
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frage dann: Was meinen Sie? Dann zucken sie ganz verzweifelt mit den Achseln und sagen, was soll das
Problem sein, sie verstehen die Diskussion nicht. Südtirol ist kein revolutionäres, linkes Land.
Grundsätzlich ist die Mentalität ähnlich wie bei uns. Diese Probleme haben sie in der Art nicht, sie haben
andere Probleme. Ich hoffe, dass sich dieses Problem einfach auflöst, sodass Kinder und Lehrer und
Lehrerinnen mit Behinderungen selbstverständlich in der Schule sind.
Beitrag 06: Eine Besucherin skizziert die Situation in Kanada. Auch dort ist die gemeinsame Schule eine
Selbstverständlichkeit. Damit verbunden ist auch die grundsätzliche Haltung, dass das „Anders-Sein“
nicht bewertet wird.
Die Besucherin berichtet auch von einem wissenschaftlichen Tourismus-Projekt, an dem sie beteiligt war.
Dabei ging es darum, touristische Infrastruktur barrierefrei zu planen und zu gestalten. Bei dieser Arbeit
ist sie auf Widerstand gestoßen. Sie vermutet, dass wenig Interesse an der Barrierefreiheit – speziell im
Tourismus – vorhanden ist. Die Besucherin möchte wissen, ob die Referenten das ähnlich sehen und was
Studierende tun können, um die Situation zu verändern.
Beitrag 07: Ein Besucher bedankt sich für die interessanten Informationen und Details. Er geht auf die
Ausführungen von Erwin Riess ein, wonach die offiziellen institutionalisierten Behindertenverbände ein
Teil des Problems sind und nicht Teil der Lösung seien. Hier möchte er noch eine genauere Erklärung.
Beitrag 08: Eine Besucherin berichtet von einem Studierenden mit Behinderung, der nicht zum
Lehramtsstudium zugelassen wird. Als Begründung wurde angegeben, dass für das Lehramt eine
bestimmte Persönlichkeit und bestimmte Fähigkeiten Voraussetzung sind. Sie findet, dass es für alle
Menschen möglich sein muss zu studieren, was sie wollen. Speziell mit Persönlicher Assistenz wird jedes
Fach auch für Menschen mit Behinderungen studierbar.41
Beitrag 09: Eine Besucherin meldet sich zu Wort und berichtet von funktionierenden Projekten im
Bereich Barrierefreiheit im Tourismus. Sie merkt an, dass der Erfolg von solchen Projekten vor allem von
der Einbindung von Betroffenen und von der Vernetzung mit anderen Institutionen und Organisationen
abhängt.
Die Besucherin ist selbst Dienstleisterin im Gesundheitsbereich. Sie sieht ihre Aufgabe darin, die
Handlungsfähigkeit von Klienten und Klientinnen zu stärken, damit Partizipation möglich ist. Die
Besucherin versteht sich als Vermittlerin und sieht Dienstleistung auch immer als Beziehungsarbeit. Für
die Dienstleistungen generell und speziell im Gesundheitsbereit ist der Diskurs von großer Bedeutung,
weil sich dadurch unterschiedliche Zugänge eröffnen und Synergien entstehen. Es geht zum Beispiel
darum Intentionen zu verstehen, Möglichkeiten zu finden und Handlungen und Interessen zu bündeln.
Beitrag 10: Ein Besucher meldet sich zu Wort und bemerkt, dass er ein wenig frustriert ist. Er findet, dass
man als einzelne Person nicht viel zur Veränderung beitragen kann. Es braucht immer große Aktionen
wie Ministerbüro-Besetzungen oder Demonstrationen. Er möchte wissen, ob sich auch Sicht der
Referenten in der Art und Weise, wie ein Wandel angestoßen werden kann, etwas verändert hat.
Lisa Gensluckner: Erwin, du wurdest direkt angesprochen auf die Rolle der Behindertenverbände.
Möchtest du darauf eingehen?
41
Zur Ergänzung: „Zwar wurde im Zuge der PädagogInnen-Bildung-Neu der Zugang von Menschen mit
Beeinträchtigungen zur Ausbildung an Pädagogischen Hochschulen rechtlich verankert, doch nun muss auch
Anrecht auf Ausübung des Lehrberufes im Regelschulwesen für Menschen mit Beeinträchtigungen bestehen“. Link:
http://www.bizeps.or.at/news.php?nr=14412&suchhigh=behinderte%2BLehrerInnen
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Erwin Riess: Die Frage der Rolle der großen und offiziellen Behindertenverbände war der Anlass. Ich sage
nur drei oder vier Punkte dazu. Die Erhöhung bzw. die Aussetzung des besonderen Kündigungsschutzes
für behinderte Arbeitnehmer von 6 Monaten auf 4 Jahre42 ist unter Zustimmung des BehindertenDachverbandes (ÖAR43) und des Präsidenten des Behinderten-Dachverbandes Dr. Klaus Voget
geschehen, der seinerzeit durchaus Verdienste im Zusammenhang mit dem Pflegegeld hatte. Jetzt
werden die Auswirkungen schon sichtbar. Die Arbeitslosigkeit hat sich erhöht und die Wirtschaft stellt
überhaupt nicht mehr behinderte Leute ein. Denn das war immer das Scheinargument, aber das hat nie
gestimmt. Alle haben es gewusst, aber man hat auf Druck nachgegeben. Wir werden das nie wieder
wegbekommen. Es wird nicht wieder in die alte Situation zurückgehen. Provisorien halten in Österreich
ewig.
Zweiter Punkt: Es gibt die UNO-Konvention44, die Österreich sogar als erster Staat der Welt – glaube ich –
unterschrieben hat, unter Erwin Buchinger. Es gibt sogenannte Pariser Protokolle, die regeln, wie so ein
Monitoringapparat45 ausschauen sollte. Für Bund, Länder und für andere Einrichtungen sollten Experten
einen Bericht abfassen, wie sich die ganze Situation entwickelt und ob die Vorgaben dieser UNOKonvention in Richtung Barrierefreiheit, Schule, Arbeit usw. halbwegs umgesetzt werden. Betroffene
sollten dabei eine wesentliche Rolle spielen. Diese Büros sollten – also zumindest das Bundesbüro –
autonom finanziert werden; also mit einem garantierten Budget, mit einer Infrastruktur für das Büro,
also ein paar Leute, die die Büroarbeit wirklich abwickeln, und mit allen Zugriffs- und
Zugangsmöglichkeiten zu Informationen. Und sie sollen nicht von der Politik beeinflusst werden. Was hat
Österreich daraus gemacht unter der Führung des Sozialministeriums mit tatkräftiger Unterstützung des
Behinderten-Dachverbandes? Ich war in diesem Monitoringausschuss und als ich dann gemerkt habe,
wie der Hase läuft, bin ich natürlich raus. Es ist in Österreich so, dass dieser Bundesausschuss von großen
Dienste-Betreibern beschickt wird – also Lebenshilfe, Pro Mente et cetera. Die vertreten dort ihre
Interessen, aber nicht die Interessen der behinderten Menschen. Die Arbeit wird von drei durchaus
netten und freundlichen Beamten des Sozialministeriums erledigt und Sie können sicher sein, dass dort
kein Einwurf, der irgendeine gesetzliche Änderung bedingen würde, durchgeht. Durch diese Mauer
kommen Sie nicht durch. Ich war bei 2 oder 3 Sitzungen dabei. Da ich selber zuerst 10 Jahre im Bautenund dann im Wirtschaftsministerium gearbeitet habe, habe ich sehr schnell verstanden, wie der Hase
läuft, und bin auch aus diesem Grund raus. Da wird man freundlich abgewimmelt, da passiert gar nicht.
Das heißt, Monitoring, so wie die UNO es vorgesehen hat – von unabhängiger Seite unter führender
Beteiligung der Betroffenen – ist nicht möglich. Marianne Schulze46, die Vorsitzende des
Monitoringausschusses, macht eine hervorragende Arbeit. Sie schaut darauf, das zu erledigen, was grade
noch geht. Sie steht aber in Wirklichkeit auf verlorenem Posten und sie weiß das auch. Das ist wieder so
42
Kündigungsschutz für Menschen mit Behinderungen. Link:
https://www.wko.at/Content.Node/Service/Arbeitsrecht-und-Sozialrecht/Arbeitsrecht/Menschen-mitBehinderung/Beguenstigte_behinderte_Arbeitnehmer_Arbeitgeberkuendigung.html
43
Information zum ÖAR. Link: http://www.oear.or.at/
44
UN-Konvention über Rechte von Menschen mit Behinderungen. Bundesministerium für Arbeit, Soziales und
Konsumentenschutz. Download-Link:
http://www.sozialministerium.at/cms/site/attachments/2/5/8/CH2218/CMS1314697554749/unkonvention_inkl._fakultativprotokoll,_de.pdf
UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in der Fassung Leichter Lesen. Download-Link:
http://www.sozialministerium.at/cms/site/attachments/2/5/8/CH2218/CMS1314697554749/131008_unkonvention_ll-version_kompl1.pdf
45
Unabhängiger Monitoringausschuss zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen. Link: http://www.monitoringausschuss.at
46
Information zu Marianne Schulze. Link: http://bidok.uibk.ac.at/library/schulze-menschenrechte.html
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ein Beispiel, wo in Österreich an sich fortschrittliche und richtig intendierte Gesetze in der konkreten
Praxis ins Gegenteil ausschlagen. Und da könnte man jetzt noch ein paar dieser Geschichten erzählen,
wo die Behindertenverbände letzten Endes ihre Interessen – institutionelle Interessen – in den
Vordergrund stellen. Die Gelder werden überall gekürzt. Was macht der Behindertendachverband? Er
stellt de facto seine Zeitung ein. Als erste Reaktion erscheint die Zeitung jetzt nur mehr quartalsmäßig
und bald wird sie sicher ganz eingestellt. Man muss dazu aber auch sagen, dass Österreich ein eigenes
System hat, dass sich wieder von Europa unterscheidet. In den 70er-Jahren wurde dieser BehindertenDachverband als Verband von betroffene Menschen gegründet, aber überwiegend von DiensteAnbietern. Das heißt, man hat es da mit großen, mächtigen Organisationen zu tun, die auch Arbeitsplätze
und Heime betreiben und wollen, dass die Sachen weitergehen. Die wenigen autonomen behinderten
Menschen, die dabei sind, haben de facto keine Durchsetzungsmöglichkeiten.
Lisa Gensluckner: Volker, du wurdest angesprochen auf die Qualität der Dienstleistungen und zur
Situation der Studierenden. Möchtest du dazu Stellung nehmen?
Volker Schönwiese: Ganz kurz zur Qualität der Dienstleistungen: Eine Dienstleitung braucht auch einen
bestimmten Rahmen, der die Dienstleitung ermöglicht. Ich denke an eine Physiotherapeutin, die in den
70er- und 80er-Jahren in einem Großheim in Tirol gearbeitet hat und die ihre Arbeit aufgegeben hat, weil
sie eigentlich mit den dort arbeitenden Personen in direkten Kontakt und Dialog treten wollte. Also, es
braucht Strukturen, die integrativ und die dialogisch orientiert sind, wo ein Austausch funktioniert. Und
es braucht Professionelle, die das auch unterstützen können. Und ich habe in den langjährigen TherapieGeschichten seit meiner Kindheit grauenhafte TherapeutInnen und großartige TherapeutInnen erlebt.
Darüber könnt ich jetzt eine halbe Stunde reden. Also, die Qualifikation ist einerseits eine fachliche und
andererseits auch eine Fähigkeit Beziehungen einzugehen. Es braucht aber bestimmte
Rahmenbedingungen. Insofern sind auch viele Personen, die in Einrichtungen etwas ändern wollen,
manchmal sehr an ihren Grenzen – und andere machen schlichtweg mit. Um dieses System zu ändern
braucht es die Kooperation von vielen. Aber die Kooperation funktioniert nur, wenn es so etwas wie
einen Kick der politischen EntscheidungsträgerInnen gibt, wo es hingehen soll. Und diese politische
Entscheidung wird durch Interessensvertretungen „Hinten-herum“ behindert . So entsteht die klassische
Blockade, die wir in Österreich haben. Das kennen wir dann als halbherzige Lösungen, die wiederum
nicht durchschaubar sind. Und wir fragen uns, warum ist das wieder so halbherzig geworden. Das ist
schon ein Verweis darauf, was für Behindertenpolitik heute möglich ist. Ich erlebe, dass heute viel mehr
möglich ist als in diesen „lustigen“ 70er- und 80er-Jahren. In Reminiszenz könnten wir sagen, damals
haben wir noch tolle Sachen gemacht. Die Reminiszenz trügt aber. Gezielt können wir heute mehr tun
und wir sind auch wesentlich mehr und wir sich auch weiter. Nur, ich habe nicht das Gefühl, dass es
deswegen leichter wird und dass ein Ende abzusehen wäre. Ein Ende in dem wir die gleichen Chancen
und die gleichen Rechte habe und ohne Angst – so hast du das ja gesagt (Anm.: gerichtet an Erwin Riess)
– dabei sein können, wie andere auch. In unserer Gleichheit und Verschiedenheit – gleich sein und
verschieden gleichzeitig.
Erwin Riess: Das ist ein Satz von Adorno47: Ohne Angst anders sein zu können. Das halte ich für das
größte Ziel behinderter Menschen und nicht nur behinderter Menschen, sondern von Minderheiten
insgesamt in einer Gesellschaft – ohne Angst anders sein zu können! Auch gar nicht zwangsinkludiert,
integriert, was auch immer – das ist alles auch wichtig und notwendig prinzipiell und von der Zielsetzung
her, aber wenn ich schon anders bin, dann möchte ich das ohne Angst sein können. (Applaus)
47
Adorno, Theodor W. (1944/1997): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Suhrkamp:
Frankfurt a. M.
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– 21 –
Volker Schönwiese: Das wäre eigentlich ein schönes Schlusswort! Aber du sagst ich soll weiterreden. Das
Thema heute: Welche Funktion haben wir, warum braucht es uns behinderte Menschen in dieser
Gesellschaft. Das hängt auch mit diesem Angst-Thema zusammen. Es gibt diese Gruppen, an denen man
bestimmtes Existenzielles – das ist Leid, Schmerz, Krankheit, Tod – festmachen und in die Nachfolge
Christus einbetten möchte. Das ist unsere katholische Tradition. Wenn die traditionelle Angst aufhört,
dann stellt sich die Frage, wohin mit der Angst. Wir haben eine neue Sterbehilfe-Debatte. Da wird die
Angst wieder aufgekocht. Das ist ein neues neoliberales Gefühlskonstrukt, das mit Angst operiert und mit
Leid-Erlösung. Die Lösungsvorstellung, die da jetzt wieder auftaucht, ist, dass Glück heißt konsumfähig zu
sein und damit verbunden ist die Vermeidung von Leid. Es hört nicht auf. Aber im Prinzip sind mehr
behinderte Personen in der Gesellschaft angekommen, sie sind sichtbarer. Es gibt weniger Angst, es
herrscht auch mehr Normalität. So wie es mir seit langer Zeit passiert, dass mir kleine Kinder – vor allem
Buben – auf den Rollstuhl neidisch sind. Das ist eine technische Geschichte. Und neulich hat mich eine
ältere Frau mit Stock darauf angesprochen: „Wenn ich nicht mehr gehen kann, dann will ich auch so
einen tollen Rollstuhl wie Sie“. Also, jetzt fangen auch schon ältere Leute an, auf meinen Rollstuhl
neidisch zu sein. (Publikum lacht). Das ist eine Veränderung. Früher haben sie mich angeschaut und an
ihren eigenen Tod gedacht. Jetzt sind sie mir meinen Rollstuhl neidig (lacht).
Das sind Veränderungen, über die sich auch die Rollstuhlindustrie freuen könnte. Aber was tut sie, sie
nutzt es nicht aus! Vielleicht sollen wir gemeinsam an die Presse gehen, tolle Rollstühle bauen und gut
verkaufen! In Amerika und England ist diese Tendenz schon sichtbar, bei uns aber noch nicht.
Also, die Geschichte dreht sich zyklisch und nicht in linearen Schleifen. Man kann also weniger von
Rückschritt reden. Im Prinzip ist das Leben heute viel freier als früher. Vielleicht hängt das mit meinem
Alter oder der ausreichenden Menge des Geldes, das ich inzwischen habe, zusammen oder womit sonst?
Keine Ahnung.
Erwin Riess: Darf ich doch noch einen Satz anfügen? Auch wenn du jetzt einen schönen Schluss geplant
hättest (Publikum lacht). Jetzt falle ich dir in den Rücken.
Euthanasie: Die Euthanasie-Debatte wird alle zwei Jahre oder jedes Jahr losgetreten. Man kann über die
Gründe einige Theorien anstellen, das würde jetzt den Rahmen und die Zeit sprengen. Ich gebe nur eines
zu bedenken: Ich denke, dass die Hauptgefahr für behinderte Menschen – und das sind überwiegend alte
Menschen – besteht. Es geht nicht um uns in freier Wildbahn. Der große Teil der Leute sind alte
Menschen bis hin zu dementen Menschen, die ihr Lebensrecht haben müssen. Wenn diese EuthanasieDebatte – wie sie aus Holland oder aus Belgien auch zu uns immer wieder hereinschwappt –, wenn sich
das fortsetzt, dann findet Folgendes statt: Man weiß in der Gesundheitsökonomie – das sind ja sehr
interessante Herrschaften, diese Gesundheitsökonomen –, dass 50% der Gesundheitskosten in einem
Menschenleben im letzten Jahr anfallen. Das heißt, wenn man dieses letzte Jahr um 3 Monate verkürzt –
und zwar systematisch, für alle, die schwer betroffen sind – dann spart man sehr viel Geld. Ich glaube in
dem Sinn, dass die Gefahr für uns behinderte Leute, für unser Leben und Fortkommen gar nicht so sehr
von irgendwelchen rechtsradikalen oder faschistischen Gruppierungen kommt – die gibt's auch, die
vergiften das Klima und machen Schwierigkeiten –, sondern aus der Mitte der Gesellschaft, aus der
Gesundheitsökonomie und aus der Ökonomisierung andersartiger Lebenszustände. Und ein zweiter
Punkt noch zur Kirche: Ich habe einmal ein Theaterstück geschrieben über Stephen Hawking48 und habe
mir im Zuge dessen den Katechismus der Katholischen Kirche49, den der Erzbischof von Wien Kardinal
48
Riess, Erwin (2000): Hawking’s Dream. London: Oberon Plays. Link: http://oberonbooks.com/hawkings-dream
Katechismus der Katholischen Kirche. Internetseite des Vatikan. Link:
http://www.vatican.va/archive/DEU0035/_INDEX.HTM
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Arbeitskreis Wissenschaft und Verantwortlichkeit an der LFU Innsbruck, der MUI und dem MCI (kurz WuV)
49
Herzog-Friedrich-Str. 3, 6020 Innsbruck, ZVR:806274014,
web: http://www.uibk.ac.at/wuv/, mailto: [email protected]
fon: +43/512 507-35400 oder -35401, fax +43/512 507-38309
Schönborn redigiert hat, angesehen. Er hat ihn endredigiert im Auftrag vom damaligen Papst Ratzinger50.
Da finden Sie keine eindeutige Verurteilung der Euthanasie. Und Sie finden noch einen zweiten Punkt,
der mich besonders erstaunt hat. Nämlich man soll als behinderter oder als kranker Mensch nicht gegen
sein Schicksal aufbegehren, keinen Rabatz machen in der Gesellschaft, weil man in einer gewissen Art
und Weise ein Auserwählter oder eine Auserwählte ist. Und man trägt ein bisschen die Sünden der
anderen mit. Das ist also die Rolle, die uns die Kirche zumutet. Wir sind alle kleine Christusse. Wie
gemeingefährlich das ist, sieht man ja in den Mißbrauchsdingen, die in den Kircheneinrichtungen – und
nicht nur dort – geschehen sind.
Lisa Gensluckner: Die Zeit ist leider schon sehr weit fortgeschritten und wir müssen zu einem Abschluss
kommen. Ich möchte aus den letzten beiden Statements zwei Dinge herausgreifen, die ich für sehr
wichtig empfinde – sozusagen als Wegweiser zu einer Gesellschaft mit weniger Barrieren und mehr
Selbstbestimmung. Das ist einerseits angstfrei leben zu können und andererseits aber auch der Abbau
von Ängsten vor Krankheit, Behinderung und Tod. Ich finde das könnte ein guter Wegweiser sein für eine
andere Zukunft.
Ich möchte mich noch einmal sehr herzlich bedanken für dieses sehr spannende Gespräch. Dankeschön!
(Applaus)
50
Information zu Joseph Ratzinger. Link:
http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/biography/documents/hf_ben-xvi_bio_20050419_shortbiography_ge.html
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