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Weißt du noch ...?
Wie wir erinnern, was wir erinnern.
Ich möchte Sie auf den folgenden Seiten auf einen Spaziergang durch die Welt
unseres Gedächtnisses einladen. Warum? Weil es keine reichere Quelle für das
Schreiben gibt als unsere eigene Erinnerung. Viele Menschen hegen den Wunsch,
ihr gelebtes Leben niederzuschreiben. Methoden des biographischen Schreibens,
sie würden ein eigenes Buch füllen. Wer weiß, vielleicht wird es eines Tages
entstehen? (Unter uns: Es gibt schon ganz tolle Bücher zu diesem Thema – siehe
Literaturtipps im Anhang).
An dieser Stelle möchte ich ein paar Prinzipien der Erinnerungsarbeit erläutern.
Vielleicht packt Sie beim Lesen die Inspiration und die Lust am biographischen
Schreiben. Vielleicht kann dieses Kapitel auch helfen, Blockaden oder Ängste zu
überwinden.
Erinnern – was heißt das überhaupt?
Wenn wir vom Erinnern sprechen, dann denken wir meistens an frühere
Erlebnisse, an vertraute Menschen und deren Eigenschaften, an Orte, die wir einst
besuchten. „Ich erinnere mich“, damit meinen wir: Ich kann mir eine Szene
vergegenwärtigen, kann sie erzählen und dadurch sozusagen noch einmal erleben.
Doch Erinnern ist mehr. Der Soziologe Harald Welzer gibt in seinem Buch „Das
kommunikative Gedächtnis - eine Theorie der Erinnerung“ einen großartigen
Überblick über die verschiedenen „Schubladen“ unseres Gedächtnisses.
1. Das episodische Gedächtnis („Ach, ja, weißt du noch ...?“)
Was wir in der Alltagssprache „erinnern“ nennen, bezeichnet die Wissenschaft als
das episodische Gedächtnis. Das sind alle Erinnerungen, die wir hervorholen und
bewusst erinnern und erzählen können. Sie sind fast immer mit Gefühlen
verbunden. (Was emotional nicht von Bedeutung ist, wird erst gar nicht erinnert).
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Diese Form des Gedächtnisses ist entwicklungsgeschichtlich sehr jung. Nur der
Mensch verfügt über ein episodisches Gedächtnis.
Es ist die episodische Erinnerung, die uns fühlen lässt: „Das bin ich.“ Unser Gefühl
von Identität begründet sich auf der erinnerten Vergangenheit. Wir erinnern uns
und verbinden die Erinnerungen, indem wir Zusammenhänge herstellen. So
konstruieren wir uns als kohärentes (zusammenhängendes) Wesen.
2. Das semantische Gedächtnis oder „Weltwissen“ („Lexikalisches Wissen“)
Ebenso wie das episodische Gedächtnis enthält auch unser Wissensschatz Inhalte,
die wir bewusst abrufen können. Jedoch handelt es sich bei den Inhalten des
semantischen Gedächtnisses eher um lexikalisches Wissen, also alles, was wir
einmal „mit dem Kopf“ gelernt haben. Während unser episodisches Gedächtnis
„angestupst“ werden kann (und muss), haben wir die Inhalte des semantischen
Gedächtnisses prinzipiell jederzeit parat. Dieses Wissen wird gerne bei Rätseln und
Quiz-Shows abgefragt.
Harald Welzer unterscheidet prägnant zwischen „erinnertem Wissen“ (das
episodische Gedächtnis) und „gewusster Erinnerung“ (semantisches Gedächtnis).
Unser „Weltwissen“ ist „kalt“, d.h. neutral und nicht emotional besetzt.
Semantisches und episodisches Gedächtnis sind unterschiedlich, es gibt aber
Überlappungen (z.B. Erinnerungen an die Schule, wo wir Fakten lernten, aber auch
starke Gefühle - Angst, Freude, Langeweile etc. - hatten)
3. Das prozedurale Gedächtnis („Knowing by doing“)
Erinnern Sie sich daran, wie Radfahren geht? Könnten Sie den Vorgang genau
beschreiben? Vermutlich nicht. Im prozeduralen Gedächtnis ist alles gespeichert,
was wir können, obwohl es sich nicht leicht in Worte fassen lässt. Alles, was man
weiß
und
anwenden
kann,
wenn
es
gebraucht
wird:
Grammatikregeln,
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Schwimmen, Tischmanieren, Autofahren etc. Diese Dinge können wir nur lernen,
indem wir sie tun, nicht durch den Kopf oder aus dem Lehrbuch.
Diese Erinnerungen bleiben meistens bestehen, auch wenn das episodische und
das semantische Gedächtnis nachzulassen beginnen.
4. Das perzeptuelle Gedächtnis („Ah, genau! Jetzt weiß ich‘s wieder!“)
Hier geht es um das Wiedererkennen von Schlüsselreizen, die einem schon einmal
begegnet sind. „Ah ja, genau!“, denken wir, wenn das perzeptuelle Gedächtnis
anspringt.
Ein
Déjà-Vu
ist
sozusagen
ein
„Fehlstart“
des
perzeptuellen
Gedächtnisses.
Wiedererkennen: Den Schulfreund auf der Straße, den Hund, den unsere Oma
auch hatte, den verwachsenen Wanderweg, den wir als Kind oft gegangen sind.
Wir merken, wenn dieses Gedächtnis anspringt. Wir sind zum Beispiel irgendwo,
unser semantisches Gedächtnis weiß, dass wir früher schon hier waren, unser
episodisches Gedächtnis erinnert sich dabei an Erlebnisse von früher. Unser
prozedurales Gedächtnis sorgt dafür, dass wir gehen und uns umsehen können.
Und da, plötzlich, „fällt es uns wieder ein“: „Hier war ich wirklich schon einmal!“
Das ist das perzeptuelle Gedächtnis.
Wir haben auch mit diesem Gedächtnis zu tun, wenn wir Erinnerungen aufwecken,
indem wir Gegenstände oder Fotos mit „Wiedererkennungswert“ einsetzen. Die
Gegenstände müssen nicht die selben sein wie die bekannten, es reichen ein paar
spezifische,
charakteristische
Merkmale.
Welche
das
sind,
ist
individuell
unterschiedlich. Wir können das Wiedererkennen nicht erzwingen.
5. Priming („So bin ich eben.“)
Es gibt Dinge, die wir lernen, ohne es zu bemerken. Wir wissen nicht, dass wir sie
wissen. Ein Beispiel aus der Psychologie: Die berühmt-berüchtigten Experimente
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mit den Coca- Cola-Werbeeinschaltungen im Kino, die angeblich so kurz sind,
dass sie die Schwelle unseres Bewusstseins nicht überschreiten (nur ein paar
Millisekunden). Nach dem Kino, sagt man, kaufen überdurchschnittlich viele
Menschen Cola, wenn solche Einschaltungen laufen. Ich weiß nicht, ob dieses
konkrete Experiment stimmt, aber die Werbung arbeitet grundsätzlich stark mit
solchen unbewussten Reizen (auch Farben und Musik).
Ebenfalls in den Bereich des Priming gehören Erinnerungen an Operationen. Es
gibt Patienten, die reagieren stark auf Reize, die sie nicht „wissen“ können, z.B. auf
die Stimme eines bestimmten Arztes o.ä..
Harald Welzer selbst erzählt eine Geschichte davon, wie er seinem kleinen Sohn,
der Probleme mit dem Bettnässen hatte, im Tiefschlaf erzählte, wie schön es sei,
dass das „Pipi-Problem“ viel schneller vorbeigegangen sei als man dachte und
man nun überhaupt keine Angst mehr haben müsse, dass es wieder käme. Der
Sohn hat das alles nicht gehört, aber nach einer Woche war das Bettnässen
erstaunlicherweise wie weggeblasen.
Priming findet nicht zuletzt da statt, wo wir etwas lernen, einfach, indem es uns
vorgelebt wird. Das Vorbild der Eltern ist hier natürlich besonders prägend.
(Priming heißt auch „Prägung“).
Besonders spannend ist, dass die Inhalte des Priming-Gedächtnisses uns selbst
nicht bewusst sind, obwohl sie unser Leben und Verhalten sehr stark prägen.
Teilweise widersprechen sie unserem bewussten Selbstbild. Z.B. können wir uns für
sehr sanft und sensibel halten, aber teilweise brutales Verhalten an den Tag legen,
das uns gar nicht bewusst ist. Es scheint uns „natürlich“, dass wir z.B. Fliegen
erschlagen oder Käfer zertreten. „Das macht man doch so“, davon ist unser
Gedächtnis überzeugt, und wir selbst würden es niemals in Frage stellen.
Unbewusste Gedächtnisinhalte sind - nach dieser Theorie - nicht tief vergraben
und verschüttet, sondern eher, im Gegenteil - alltäglich und „total normal“, ja,
gerade die „ganz selbstverständlichen“ Dinge sind uns oft am wenigsten bewusst.
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Wir brauchen andere, um sie uns bewusst zu machen und sie ins bewusste
Gedächtnis zu holen.
Insgesamt gilt:
Die verschiedenen Bereiche unseres Gedächtnisses sind nicht ganz getrennt,
sondern oft eng miteinander verwoben. Und sie fördern einander gegenseitig.

Z.B. helfen Bewegungen aus der Kindheit (Ball spielen, hüpfen, oder auch
nur so dastehen, wie man als Kind gestanden ist, wenn man auf etwas stolz
war) dabei, sich an frühere Freuden zu erinnern.

Die Arbeit mit Medien (Fotos, alte Zeitungen, Gegenstände von früher)
erweckt das episodische Gedächtnis durch Reize mit Wiedererkennungswert
(perzeptuelles Gedächtnis).

Das Ansprechen von scheinbar Offensichtlichem (vor allem von guten
Eigenschaften wie Zärtlichkeit, gutes Zuhören etc. = Priming) kann mit einer
„episodischen“ Frage nach der Kindheit oder nach prägenden Vorbildern
verbunden werden.
Das Ziel gelungener Erinnerungsarbeit
Wenn Menschen ihre Erinnerungen niederschreiben, tun sie dies entweder für
andere (Kinder, Enkel, Nachkommen) oder für sich selbst. Sie haben dabei meist
eines dieser vier Ziele:

Für andere: Das Leben nachvollziehbar machen, einen Beitrag zur
Familiengeschichte leisten, Werte und Erkenntnisse vermitteln

Für sich: Dem gelebten Leben Sinn verleihen. Den roten Faden aufspüren.
Die Ernte einfahren. (Früher war der Tod eine Bauersfrau mit Sense bzw.
Sichel, passend zum Bild der Ernte!)

Für sich: Sich noch einmal an das Erlebte, an Schönes, an Höhepunkte zu
erinnern, um das Leben „noch einmal zu leben“. Um Dankbarkeit, Liebe und
Mitgefühl zu spüren.
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
Für sich: Belastende Erlebnisse aufarbeiten oder einfach nur aus dem Kopf
aufs Papier bringen. (Ein Grundsatz der Bibliotherapie lautet: „Benennen
befreit“).Versöhnung finden, sich erklären oder auch: sich selbst und das,
was war, besser verstehen. Wir können Leid besser
ertragen, wenn wir
wissen, warum wir es ertragen. Wir können Leid besser erinnern, wenn wir
wissen, wozu es letztlich gut war.
Wenn wir uns schreibend auf geglückte Weise mit unseren Erinnerungen
auseinandersetzen, könnte das heißen:

Gutes und Schlechtes in der Vergangenheit nebeneinander sichtbar zu
machen

Eine Geschichte zu finden, mit der wir gut/besser leben können.

Erkennen, dass diese, unsere Lebens-Geschichte als Ganzes Sinn macht.
Zusammenhänge
sichtbar
werden
lassen.
Ein
Gefühl
von
Ganzheit
entdecken z.B. durch Metaphern (Ein Bild für das gelebte Leben finden),
durch Gedichte (vorlesen oder selber dichten), durch das Aufschreiben von
„Lebens-Kapiteln“, durch das Gestalten eines Lebens-Fadens, ...

Belastenden Erlebnissen ein Ohr (oder ein Blatt Papier) zu schenken, Zeuge
unser Selbst zu sein, mitzufühlen, zu bestätigen: „Ja, auch das habe ich
erlebt“.

Positive Lebensfäden sichtbar zu machen. Das Gute auszusprechen, das wir
im Trubel des Lebens vielleicht zu oft übersehen haben.
Ein Blick in die Praxis: Woran wir uns besonders gut erinnern
Die Schatzkiste unserer Erinnerung lässt sich recht leicht aufsperren. In vielen
Fällen brauchen wir dazu nicht einmal einen Schlüssel. Erinnern muss keine Mühe
machen, an vieles erinnern wir uns wie von selbst.
Grundsätzlich kann man über die „Hierarchie“ in der Erinnerung ein paar Dinge
sagen (Vgl.:„Die heilende Kraft des Schreibens“ - Lutz von Werder, Barbara
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Schulte-Steinicke, Brigitte Schulte. S. 50 ff. und Verena Kast: „Was wirklich zählt, ist
das gelebte Leben“):

Wir erinnern gut nach Lebensphasen

Die Erinnerung wird durch Assoziationen „aufgeweckt“ (z.B. durch die
Geschichten von anderen oder auch durch eigene Erinnerungen. „Erinnern
löst Erinnern aus“)

„Normale“ Ereignisse, die erst kurz zurückliegen, erinnern wir klarer als
länger zurückliegende. Ausnahme: Schock-Erlebnisse erinnern wir auch
nach langer Zeit besonders genau - oder gar nicht.

Ereignisse, die eine ganz besondere Bedeutung für uns hatten (z.B. die
Geburt unseres Kindes oder einen Unfall mit Folgen), erinnern wir bis ins
kleinste Detail, auch wenn wir uns sonst kaum an diese Lebensphase
erinnern können.

Unsere Erinnerung gruppiert sich um Schlüsselerfahrungen, z.B.:
o „das erste Mal“ (erster Schultag, erster Kuss, Kennenlernen, ...)
o Lebensübergünge und Krisen („individuelle Lebensübergänge“ wie
Geburten,
Tode,
Trennungen,
Umzüge
und
„normative
Lebensübergänge“, d.h. Übergänge, die zu jedem Leben gehören,
wie runde Geburtstage, Schulabschluss, Pubertät).
o Auch „letzte Male“ werden oft gut erinnert.
o Eine der wichtigsten Schlüsselphasen unseres Lebens ist die
Adoleszenz (15-25 Jahre). An die Stimmungen und Gefühle (Musik,
Mode, Alltag, ...) dieser Zeit erinnert man sich gewöhnlich am
lebhaftesten. Sie kann der „Türöffner“ für andere Erinnerungen sein.
o Wir erinnern nur das, was für uns emotional bedeutsam ist. Was das
ist, kann sich verändern. Wir erinnern das, was uns JETZT wichtig ist.
Wir erzählen die Geschichte von uns, die zu unserem aktuellen
Selbstbild passt.

Woran wir uns erinnern, ist abhängig von der Situation, in der wir erinnern,
aber auch von der Stimmung, in der wir gerade sind. WICHTIG: In einer
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guten Stimmung kommen eher schöne Erinnerungen, in schlechter
Stimmung erinnern wir eher Schlechtes.
Wie wir unserer Erinnerung auf die Sprünge helfen können
Wir dürfen sicher sein, denn die Psychologie bestätigt es uns: Was wir einmal
erlebt haben wird grundsätzlich zu Erinnerung. Erinnerung verschwindet nicht. Sie
kann nur verblassen - oder sie wurde von aus unserem Bewusstsein verdrängt (in
diesem Fall, da, wo unsere Erinnerung schmerzhaft sprachlos wird, sollten wir
nicht zu weit „bohren“, denn meistens sind es unbewältigte Erlebnisse, die zu
schmerzhaft wären. Wenn sie von selbst hochkommen, dürfen wir damit
umgehen. Aber wir sollten sie nicht mit dem Brecheisen erzwingen).
Verblasste Erinnerungen können wir durch Fotos, Videos, durch Geschichten von
anderen, durch Gegenstände, Bewegung, durch Besuche an Erinnerungsorten oder
auch durch scheinbar naive Fragen wieder aufwecken. Das offene Ohr eines
anderen weckt Erinnerungen. Es erinnert sich leichter und lieber im Gespräch.
Auch die erzählten Erinnerungen anderer Menschen können unsere eigenen
Erinnerungen aufwecken. („Erinnern löst Erinnern aus.“) Gemeinsames Erinnern,
das ist möglich in Gruppen, in Familien, im Austausch zu zweit. Auch das Lesen
autobiographischer Texte (das kann ein kurzer Ausschnitt sein) kann ein schöner
Erinnerungsanreiz sein. „Wie war das denn bei mir? Habe ich Ähnliches - oder
ganz Anderes erlebt?“
Erinnern wir besser chronologisch oder thematisch?
Chronologisches Erinnern birgt die Gefahr, dass eher nur Daten und Fakten
erinnert werden, oder jene Geschichten, die schon oft erzählt haben. Die
Erinnerung „rastet“ in ein Schema ein.
Der Schlüssel zu neuen Erinnerungen, zu lebhaften Geschichten und „alternativen
Narrationen“
sind
ungewöhnliche
Fragen
bzw.
Fragen,
die
an
positiven
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Schlüsselerlebnissen anknüpfen. Das ist u.a. wichtig, wenn wir bemerken, dass wir
uns in einen negativen Erinnerungsstrudel hineinschreiben.
Bei belastenden Erinnerungen bewährt sich in der Beratung von Menschen die
„pendelnde Gesprächsführung“. Diese Form können wir auch im Selbstgespräch
auf Papier nachstellen, zum Beispiel in Form eines Dialogs im Tagebuch. Bei dieser
Methode wird das Belastende bestätigt (indem man den Gefühlen einen Namen
gibt bzw. wiederholt, was bereits gesagt wurde, z.B.: „Da hast du Angst gehabt.“
oder „Das hat dich verletzt, als deine Freundin das sagte“) und dann auf eine
andere Ebene gewechselt - in eine andere, gute Vergangenheit („Wie hast du
deine Freundin eigentlich kennengelernt?“ - „Wie hat das Haus deiner Eltern
ausgesehen, bevor die Bomben kamen?“).
Ist das wirklich wahr? Nun ja: Erinnerung ist tatsächlich subjektiv.
Es
gibt
viele
Forschungen
und
Experimente
zur
Funktionsweise
unserer
Erinnerung. Hier ein paar Erfahrungswerte:
Wir erinnern nur einzelne Geschichten und Ereignisse, niemals die „ganze“
Vergangenheit auf einmal. Dabei basteln wir uns aus einzelnen ErinnerungsBausteinen im Lauf der Zeit eine „Lebens-Narration“, eine Geschichte über uns
selbst.
Aber: Entschwundene Erinnerungen können aufgeweckt werden. Vor allem, wenn
man sich selbst (oder andere) nach „Ausnahmen“ fragt, kann es sein, dass
plötzlich eine ganz neue, alternative Lebensgeschichte wie aus dem Nichts
auftaucht. Z.B. kann es sein, dass wir in depressiven Zeiten überzeugt davon sind,
dass uns in unserem Leben „nie etwas gelungen ist“. Wenn wir dann versuchen,
uns an etwas zu erinnern, das uns (nach Verena Kast) mit „freudigem Stolz“ erfüllt
hat, bemerken wir vielleicht, dass es da mindestens eine Sache gab, die uns stolz
machte. Das Erinnern dieser einen Sache könnte die Geschichte, die wir uns über
uns selbst erzählen, von Grund auf verändern - oder uns zumindest aufzeigen,
dass es da noch eine „Parallelgeschichte“ gibt, die wir näher erforschen könnten.
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(Die Therapien, die sich mit o.g. Phänomenen beschäftigen, heißen „narrative
Therapie“ und „Lebensrückblicktherapie“)
Was wir erinnern, ist nicht „wahr“ im objektiven Sinn. So schwer es uns fällt, das
zu glauben, es wurde oftmals bewiesen und überprüft. Unser Hirn verschmilzt
Erinnerungen, schmückt sie aus, lässt allerlei weg. Erinnern verläuft nach
poetischer Logik, nicht nach realistischen Gesetzen. Wenn wir uns öfters an
dieselbe Sache erinnern, erinnern wir uns nicht nur an das Erlebnis selbst sondern
vermischen die Erinnerung mit all den Situationen, in denen wir von diesem
Erlebnis erzählt haben. Schließlich finden wir oft eine Version, bei der wir bleiben.
Es kommt noch „schlimmer“: Wir vermengen nicht nur eigene Erlebnisse, sondern
mischen auch Szenen aus Filmen, Geschichten aus Büchern oder von anderen
Menschen hinzu. Das klingt peinlich, ist aber ganz normal. Es scheint so etwas wie
eine „kollektive kulturelle Erinnerung“ zu geben, an die sich unser Gedächtnis
unbemerkt anhängt.
Last but not least: Unser Gedächtnis lässt sich leicht Dinge einreden. Ein
Experiment: Studenten wurden über Ereignisse befragt, die sie wirklich erlebt
haben (Ein paar Wochen vorher hatten die Studenten eine Liste solcher Ereignisse
abgegeben). Die Studenten erzählten in Interviews so genau von ihren
Erlebnissen, wie sie konnten. Darunter mischten die Forscher allerdings ein
Erlebnis, das nicht auf der Liste gestanden hatte. Doch die Studenten erzählten
ebenso lebhaft davon, es fiel ihnen gar nicht auf, dass dieses Ereignis („Als Sie
von ihrer Mutter im Einkaufszentrum vergessen wurden“) gar nicht von ihnen
gekommen war.
Konsequenzen für die Erinnerungs-Praxis
Unsere Erinnerung ist grundsätzlich unvollständig und nicht objektiv richtig. Wenn
wir mit Erinnerungen arbeiten, müssen wir das wissen - und dürfen auf den
Anspruch der Objektivität verzichten. Wir sollten im Austausch mit anderen auch
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darauf achten, dass tatsächlich unterschiedliche „Wahrheiten“ nebeneinander
bestehen können.
Sich erinnern ist ein verletzlicher Vorgang, der einen geschützten Raum braucht.
Ein Mensch, der seine innere Wahrheit mit anderen teilt, braucht Achtung,
Wertschätzung und ehrliches Interesse - weniger an den „Fakten“, die er erzählt,
als am Menschen, der da erzählt.
Vom Schauermärchen zum Happy End: Erzählstile
Verena Kast weist in ihrem Buch „Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben“ auf
etwas sehr Spannendes hin: Es gibt, so sagt sie, grundsätzlich zwei verschiedene
Arten, wie Menschen Geschichten erzählen.
Erlösungsgeschichten sind Geschichten, die gut ausgehen oder mit einer
Hoffnung enden. Menschen, die im Stil der Erlösungsgeschichte erzählen,
sprechen auch von schweren Erlebnissen, aber zum Schluss gibt es immer einen
Lichtblick - oder die Erinnerung daran, dass das, was nicht schön war, heute
anders, besser, oder wenigstens vorbei ist. Solche Menschen verwenden viele
positive Worte, sogar dann, wenn es um Negatives geht. Da hört man oft: „Es
geht mir nicht so gut“ statt „Es geht mir schlecht“. Oder „Das war nicht schön“
statt „Das war schrecklich“. Bei Menschen, die zu Erlösungsgeschichten tendieren,
kann Erinnerungsarbeit eine große Kraftquelle sein.
Kontaminationsgeschichten
hingegen
sind
das
Gegenteil
der
Erlösungsgeschichten. Sie enden eher hoffnungslos. Sie wirken wie „Beweise“
dafür, dass das Leben grundsätzlich nicht gut ausgeht. Menschen, die vor allem
Kontaminationsgeschichten erzählen, haben es beim Erinnern schwerer. Sie
müssen achtgeben, dass sie sich nicht zu sehr in ihre Geschichten verstricken. Es
kann ihnen helfen, einzelne Sätze positiv umzuformulieren (so wie bei den
Erlösungsgeschichten beschrieben). Oder sich beim Schreiben selbst nach
Ausnahmen zu fragen.
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Auch wenn wir es uns wünschen: Wir können Kontaminationsgeschichten - vor
allem die anderer Menschen - nicht um jeden Preis und mit Gewalt verwandeln.
Aber wir können versuchen, Parallelgeschichten aufzuspüren, so dass Schlechtes
neben Gutem stehen bleiben kann.
Für
mich
hat
die
Unterscheidung
zwischen
Erlösungs-
und
Kontaminationsgeschichte eine zusätzliche große, wichtige Bedeutung für das
Schreiben. Denn die Kernfrage, die sich stellt, lautet in dieser Theorie: „Wie geht
die Geschichte aus?“ - Das Ende prägt letztlich die ganze Geschichte, macht sie zu
einer „guten“ oder „schlechten“ Geschichte.
Lassen Sie uns erinnern. Lassen Sie uns schreiben. Und dann? Lassen Sie uns
weiterschreiben! So lange, bis uns das (vorläufige) Ende glücklich macht.
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