Wozu Phantasie-Reisen im Musik-Unterricht ? Phantasie-Reisen im Musikunterricht bieten vielen Schülern einen Zugang zu Musik, auf die sie sich anders vielleicht nicht einlassen würden, weil sie nicht „ihre Musik“ ist. Phantasie-Reisen geben den Gefühlen der Schüler den hohen Stellenwert, den sie subjektiv haben. Im Schulalltag, vor allem am Gymnasium, werden Gefühle häufig als Störung empfunden und die Schüler werden dazu erzogen, sie zu unterdrücken. Phantasie-Reisen geben Freiheit, und zwar eine Freiheit, die die Schüler sonst nirgends genießen: Sie können alles tun, was ihre Phantasie möglich macht. Phantasie-Reisen sind individuell, subjektiv und entziehen sich sowohl der Bewertung als auch der Kontrolle durch Lehrer und Mitschüler. Phantasie-Reisen sind Übungen im Respekt voreinander, denn die Teilnahme ist grundsätzlich freiwillig, aber jeder Einzelne muss durch sein Verhalten gewährleisten, dass diejenigen, die „verreisen“ wollen, nicht daran gehindert werden. Phantasie-Reisen erlauben die Erfahrung, dass Stille erfüllt sein kann. Phantasie-Reisen fördern eine vertrauensvolle Atmosphäre in der Gruppe. Phantasie-Reisen trainieren in lustvoller Weise Vorstellungskraft und Konzentration. Phantasie-Reisen sind Reisen zum Ich. Die Musik kann dabei Anregung, Führer, Projektionsfläche sein. Trotzdem wird man feststellen, dass die Bilder, die entstehen, nicht beliebig sind, dass sich oft Übereinstimmungen zwischen den „Filmen“ ergeben, die die Schüler produzieren. Dies wirft die Frage auf, wodurch solche Übereinstimmungen entstehen und wenn die Klasse das Musikstück noch einmal aufmerksam anhört, werden die Schüler musikalische Merkmale finden, die bestimmte Assoziationen auslösen. Wenn jeder selbst erfahren hat, welche Wirkung die Musik auf ihn hat, setzt sich bereitwilliger mit ihrer Machart auseinander, als jemand, der das Gefühl hat, er muss sich mit der Lieblingsmusik des Lehrers beschäftigen. Im an die Reise anschließenden Gespräch wird es oft um die Wirkung von Klangfarben gehen, um die Instrumentation, schließlich um das Wechselspiel zwischen verschiedenen Stimmen und um den musikalischen Gestus. Musik, deren Flüchtigkeit durch Notentexte nur unvollkommen gebannt wird, erzeugt im Kopf der jugendlichen Hörer eine Mischung aus Erinnerungen, Wünschen, Phantasien, die sich im selben Moment mit der Musik verbinden, sie visualisieren. Dass gerade diese Verknüpfung das Risiko einer klischee-haften „Deutung“ von (absoluter) Musik birgt, soll nicht ausgeblendet werden. Je komplexer eine Musik ist, desto unterschiedlicher werden die Assoziationen sein, die sie auslöst. Je nichts sagender eine Musik ist (Entspannungsmusik aus der Apotheke), desto beliebiger werden die Vorstellungen sein, die Hörer dabei produzieren. Manche Hörer fühlen sich bereits durch eine allgemeine Vorgabe („Du gehst durch einen Park und kommst nach einiger Zeit an einen Teich.“) zu sehr eingeschränkt, andere sind dankbar für Vorgaben, die ihnen den Zugang zu ihren Bildern erleichtern In der Imagination begegnet sich jeder selbst, aber er tut es ohne festes Ziel, es gibt kein richtiges oder falsches Ergebnis, also auch keine Angst vor dem Scheitern. Aber es gibt Austausch von Erlebnissen, von Bildern – und das geht oft mit Staunen einher: Staunen über das, was das eigene Hirn erfindet und Staunen über ähnliche oder sogar gleich Bilder bei anderen. Der Lehrer, der nach einer Phantasie-Reise die Beschreibungen seiner Schüler lesen oder anhören darf, wird oft beschenkt: durch die schöpferischen Ergebnisse, die die Schüler mit ihm teilen. Dafür muss er die volle Verantwortung für die Rahmenbedingungen übernehmen und seinen Schülern die nötige Sicherheit vermitteln. Seine Neutralität muss überzeugend sein, er zeigt, dass man auf Geräusche von außen mit freundlicher Gelassenheit reagieren kann, er verspricht, dass er Besucher wieder fortschickt, er betont, dass jeder selbst entscheiden darf, ob und wie lange er an einer Reise teilnimmt. Und er muss darauf vertrauen, dass die Erlebnisse seiner Schüler kleine Schätze sind, deren positive Wirkung sich im Verborgenen entfalten wird – jenseits von Pflichten, Aufgaben, Zensuren. Welche Musik eignet sich? Zunächst sollte die Musik eher reizarm, ruhig, eher langsam sein, weil die Vorstellung verzögert auf die Musik reagiert. Instrumentalmusik ist geeigneter als Vokalmusik, weil sie vieldeutiger ist. Die gewählte Musik sollte eine positive Atmosphäre erzeugen, weil man sonst das Risiko, dass traumatische Erfahrungen oder heimliche Ängste aktiviert werden, erhöht. Die Dauer des Hörbeispiels richtet sich nach den Vorerfahrungen: Zu Beginn genügen anderthalb bis zwei Minuten, später kann man auf 5 Minuten erhöhen. Bei regelmäßiger Durchführung von Phantasie-Reisen können sie bis zu 20 Minuten dauern. Und wo bleibt der „eigentliche“ Musikunterricht? Vergleiche zwischen den Bildern führen rasch zur Frage nach den musikalischen Mitteln, also im weitesten Sinne zur Analyse. Bewegungsabläufe, die die Schüler im Kopf gesehen oder ausgeführt haben, können sie anschließend als Bewegungsimprovisation wiederholen. Das Sprechen über Musik macht den Nutzen eines präzisen Vokabulars deutlich. Phantasie-Reisen sind wunderbare Schreibanlässe und Anregungen für Zeichnungen und Malerei. Solche Bilder oder Texte können umgekehrt wieder Vorlagen für musikalische Gestaltungsaufgaben sein. Micaela Grohé: Phantasiereisen im Musikunterricht Phantasiereisen werden als Methode fast nur in der Grundschule genutzt, können aber in der Sekundarstufe mit ähnlicher Intention Verwendung finden: einerseits zur Einbeziehung von Gefühl, Imagination, Kreativität, Individualität jenseits verbaler Äußerungen. Gerade in Verbindung mit Musik können Phantasiereisen die üblichen Aktionsformen erweitern und das Musikhören vertiefen Phantasiereisen werden ganz verschieden genutzt, z.B. zur Antizipation von Veränderungen, Problemlösungen, Bewusstmachung von Ressourcen, Wege zur Transzendenzerfahrung. Folgende Ziele können mithilfe von Phantasiereisen verfolgt werden: 1. Körperliche und geistige Entspannung 2. Aktivierung von Phantasie-Potential 3. Wahrnehmungsschärfung a. für die eigenen Gefühle b. für das eigene Unbewusste c. für alle fünf Sinne 4. Vorbereitung auf das Hören von Musik 5. Vertiefung nach der Beschäftigung mit einem Musikwerk, einem Komponisten, einem Tanz etc. 6. Imaginationsübung für Bewegungsabläufe, z.B. von Tänzen F u n k t i o n Dazu muss gesagt werden, dass 5. und 6. zwar in eine Phantasiereise eingebettet werden können, für sich durchgeführt aber diese Bezeichnung nicht verdienen, weil die Vorstellungskraft stark eingeschränkt bzw. fokussiert wird. Die idealen Bedingungen für eine Phantasiereise sind: ein großer, warmer, gut gelüfteter Raum mit sauberem Fußboden, Decken oder Matten zum entspannten Liegen und die Sicherheit, dass keine Störung von außen zu befürchten ist. Kaum ein Unterrichtsraum wird diese Bedingungen erfüllen, aber die Schüler können aufrecht sitzen oder vorgebeugt die Unterarme auf die etwas gespreizten Oberschenkel stützen. In diesen Haltungen kann der Atem gut fließen. Manche Schüler ziehen aber die Intimität eines verborgenen Gesichts vor: Dann können sie den Kopf auf die Arme auf den Tisch legen. Die Teilnahme an einer solchen Übung muss freiwillig sein, ebenso ist es jederzeit erlaubt „auszusteigen“, z.B. wenn das Erlebnis unangenehm oder sogar bedrohlich wird. Eine Bewertung oder Benotung muss von vornherein ausgeschlossen sein. 1. Raum: Wärme, Frischluft, Licht/Dunkel Schutz vor Störungen (abschließen, Schild aufhängen) Schreib- oder Malzeug vorher bereitlegen Musik-Anlage betriebsbereit halten D u r c h f ü 2. Wichtig vorher zu sagen: Die Teilnahme ist freiwillig. Wer nicht mitmachen möchte, ist still. Jeder hat das Recht, jederzeit abzubrechen und zurückzukommen. h r u n g Der eigentlichen Phantasiereise sollte immer eine Anleitung zur Entspannung vorausgehen. Auf die jeweilige Technik sollte auch in der Zurückführung Bezug genommen werden. Die Vorgaben, die der Lehrer macht, werden in der Regel Landschaften, Räume im weitesten Sinne sein. Dabei ist unbedingt auf eine positive, angenehme Atmosphäre zu achten, um bedrohliche Vorstellungen zu vermeiden. Nach einiger Zeit überlässt man die „Reisenden“ ihren Vorstellungen und holt sie nach 3 bis 8 Minuten zurück. Beobachten Sie Ihre Schüler genau und reagieren Sie auf Störungssymptome! 1. Drei Phasen: Hinführen – Reise – Zurückkommen Hinführung/Rückholung möglichst gleich: Atem/Körper oder Anspannung/Entspannung oder Treppe mit 10 Stufen oder Alle Sinne 2. Sprache vieldeutig Verknüpfung zwischen Wirklichkeit und Fiktion Metaphern positive Formulierungen alle Sinne ansprechen Pausen beim Sprechen machen Hinführung langsam und leise, zurück lauter und schneller Die Art der Nachbereitung hängt vom anvisierten Ziel ab und kann in einem freiwilligen mündlichen Austausch bestehen, im Aufschreiben des Erlebten, die Schüler können malen oder sich zu der während der Phantasiereise gehörten Musik bewegen. Aus den Vorstellungen und Erlebnissen können Schlüsse bezüglich der Komposition gezogen werden (Stil, Form, Motive, Themen). Auswahl der Hörbeispiele: möglichst instrumental, neutrale oder positive Atmosphäre (selbst ausprobieren!), Möglichkeit zum Ausblenden nach ca.5 Minuten, HBs nicht kürzer als 2 Minuten. Wenn das Stück/der Ausschnitt einen abrupten Wechsel enthält, besteht das Risiko, dass der „Reisende“ erschrickt oder nicht so schnell folgen kann. Programmmusik bietet sich in jedem Fall für eine erste Erprobung an. Dabei kann die Idee des Komponisten die Inspiration für die Phantasie-Reise sein. Denkbar ist aber auch, dass die Vieldeutigkeit der Musik gerade durch alternative Vorstellungen deutlich gemacht wird. D u r c h f ü h r u n g Phantasie-Reisen zu absoluter Musik können einen (emotionalen) Zugang zur Musik bieten und so die Offenheit ungewohnter Musik gegenüber fördern. Mit älteren Schülern kann man auch anhand geeigneter Hörbeispiele die Frage erörtern, welche Besetzungen, welche Rhythmen oder Tempi bei vielen Hörern zu ähnlichen Vorstellungen führen bzw. warum das so ist. Beispiel für eine Phantasie-Reise: Du kannst jetzt entspannt auf dem Tisch liegen und einfach alles loslassen. Gib das Gewicht deines Körpers an den Boden, an den Stuhl, an den Tisch ab. Sie tragen dich. Spüre nach, ob es bequem ist, ob du noch etwas ändern möchtest, damit du dich gut entspannen kannst. Dies wird eine Reise ins Land der Phantasie sein, und die Musik wird dich mitnehmen in ein Land, wo alles möglich ist. Spüre noch einmal durch deinen Körper, wo du überall aufliegst und was du noch loslassen kannst - mit jedem Ausatmen ein kleines bisschen mehr Gewicht an den Boden abgeben... Was du loslassen möchtest, lass einfach los, lass es weich werden oder weit oder ein bisschen wärmer oder ein kleines bisschen schwerer. Du darfst jetzt zur Ruhe kommen, dein Körper darf sich ausruhen. Während er das tut, kannst du in Gedanken in eine Zeit zurückkehren, in der du gerne Märchen gehört hast, eine Zeit, in der du dich über phantastische Geschichten gefreut hast. Erinnere dich an das Besondere an dieser Zeit und welche Märchen du besonders gern gehört hast - welches dein Lieblingsmärchen war. Welche Farben und Formen gehören dazu? Welche Bilder? Töne und Geräusche? Welche Personen sind wichtig? Vielleicht gibt es einen ganz bestimmten Geruch oder Geschmack, der dazu gehört. Mach es dir bequem, so bequem, dass du deine Phantasie einfach fliegen lassen kannst. Lass dich überraschen, was dich in diesem Land der Märchen erwartet. Du kannst dort alles ausprobieren, was dir Spaß macht. Du kannst neugierig sein auf alles, was du hier entdecken willst. Nimm dir deine Zeit, alles zu entdecken, was du entdecken möchtest. Vielleicht nur kurze Szenen, vielleicht ganze Filme, Geschichten... Lass dich mitnehmen in unbekannte Gebiete, wo du vielleicht ganz unbekannte neue Formen kennen lernst oder vielleicht die Wesen aus deiner Märchenzeit wiedertriffst - altbekannte Freunde oder auch alte Widersacher. Vielleicht hat hier auch die Stille eine ganz besondere Qualität. Lass dich mitnehmen von deiner Lieblingsgestalt, die dir jetzt etwas zeigen will, etwas Wichtiges in diesem Land... (Musik) Lass dich von einer Gestalt, von einem Helfer zur Bibliothek führen, wo alles Wissen und alle Bilder, alle Melodien gesammelt werden. Schau dir an, wie all dies Wissen geordnet ist, wie du dir etwas aussuchen kannst. Vielleicht findest du dein Märchen. Vielleicht möchtest du etwas mitnehmen... Dann bedanke dich auf eine Art für alles Neue, das du hier kennen gelernt hast. Und verabschiede dich auf deine Art und komm hierher zurück mit deiner ganzen Aufmerksamkeit, hierher zurück. Nimm den Weg, wie du ihn für dich gemacht hast: laufe oder schwebe oder fliege zurück in diesen Raum und in deinen Körper und finde eine Bewegung oder eine Berührung, die dich ganz wach macht. Fang mal mit einem Guten-Morgen-Räkeln an, während du noch spüren kannst, wie es im Land der Phantasie für dich war... (nach: Maaß/Ritschl, Phantasiereisen leicht gemacht, Junfermann 2004 ) Hörbeispiel Schostakowitsch, „Der Kutscher“ Für die Entspannungsphase kann man die „Kutscherhaltung“ (Ellenbogen auf die Knie stützen, Oberkörper nach vorne geneigt, Kopf hängt) nutzen, wenn man die Vorstellung lenken möchte. Man kann die Schüler danach ihren eigenen Assoziationen überlassen, mit einem allgemeinen Satz wie z.B. „Schau dir die Bilder an, die die Musik entstehen lässt.“ Achtung: Die Musik beginnt mit einem heftigen forte-Schlag, deshalb muss man sie vorsichtig einblenden. Viele Zuhörer sehen Festzüge, Zirkusprogramme, Faschingsumzüge mit mehr oder weniger skurilen Gestalten und Instrumenten. Meistens sind sie Zuschauer und nicht Teilnehmer des Zuges. Deshalb sind bei dieser Musik folgende Fragestellungen interessant: Was habt ihr gesehen? Welche Einzelheiten hast du bemerkt? Hat es dir gefallen? Wo wart ihr selbst? Spielte sich das Ganze draußen oder drinnen ab? Welches Gefühl hattest du? Hat sich etwas verändert? Wenn sich Übereinstimmungen herausstellen, kann man der Frage nachgehen, wie die Musik die Vorstellung in diese Richtung beeinflusst: gerader Takt, Marschcharakter, Blechbläser, Schlaginstrumente; eine eher ruhige Streicher-Melodie öffnet den Raum, dann folgt eine Glockenspiel-Melodie, die für eine bestimmte Figur stehen kann usw. Wenn man den Schülern den Titel verrät, werden sie rasch die musikalischen Peitschenhiebe in den Blechbläsern erkennen. Fächerübergreifende Fortsetzungsmöglichkeiten: Bilder von einzelnen Gestalten – vielleicht mit Instrumenten - malen (Größe evtl. vorgeben) und dann an der Wand zu einem langen Zug zusammenstellen sich (als Klasse oder in Gruppen) auf eine Vorstellung einigen und sie tänzerisch umsetzen einzelne Figuren oder den Ablauf beschreiben oder in eine Geschichte einbauen