Willy Thalmann - Europeana 1914-1918

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Willy Thalmann
Kriegstagebuch 1915 bis 1917
[März 2013]
2
Vorwort
Der Großvater meiner Frau hinterließ ein kleines schwarzes Notizbuch, in dem er sein
Kriegstagebuch führte. Willy Thalmann wurde am 26. März 1888 in Leipzig geboren und starb am
17. Juni 1977 in Hamburg. Zum Zeitpunkt der ersten hier vorliegenden Aufzeichnungen war er 27
Jahre alt.
Die Aufzeichnungen beginnen ohne Erklärung unvermittelt, vermutlich mit einem Schreibfehler,
denn statt des 5. Juli dürfte der 5. August 1915 gemeint gewesen sein, als ihn die „Aufforderung
ins Feld“ erreichte. Leider ist über seinen vorangegangenen Wehrdienst nichts bekannt. Es liegt
nahe, dass er in jüngeren Jahren bereits Militärdienst absolvierte. Welchen Dienstgrad er
bekleidete, ist ebenfalls unbekannt, es dürfte aber ein einfacher Mannschaftsdienstgrad
gewesen sein. Es gibt auch keine Aufzeichnungen über Truppenteile, Regimentsnummern o.ä.,
denen er angehörte.
Ebenso unvermittelt endet das Tagebuch mit den letzten Aufzeichnungen von Mitte April 1917.
Ein Grund dafür könnte eine Malaria-Erkrankung sein, die sich Willy Thalmann in diesem Krieg
zuzog und unter der er in der Folge recht lange zu leiden hatte. Von dieser Erkrankung ist jedoch
in diesem Büchlein nicht die Rede, von ihr hat seine Tochter Irmgard Larsen, meine Schwiegermutter, berichtet.
Das Tagebuch wurde handschriftlich in deutscher
Kurrentschrift („Sütterlin“) verfasst. Es lässt sich nur
vermuten, unter welch schwierigen Umständen die
Aufzeichnungen mit Bleistift erfolgten. Aus diesem
Grunde ist die Handschrift gelegentlich schwierig zu
entziffern. Orts- und Eigennamen wurden meist in
lateinischer Schrift geschrieben, der Wechsel
zwischen den Schriften führte mitunter zu
unleserlichen Stellen. Offensichtlich wurden
manche Ortsnamen nur phonetisch erfasst und
aufgeschrieben, wie der Verfasser sich die
Schreibweise vorstellte. Viele Orte im heutigen
Lettland, Polen und Weißrussland, aber auch in
Serbien trugen zu Anfang des 20. Jahrhunderts
deutsche oder eingedeutschte Namen. Nicht jeden
genannten Ort konnte ich eindeutig zuordnen. Wo
es nahe lag, habe ich Vermutungen darüber
geäußert, welche Orte gemeint gewesen sein
könnten. Die Ortsnamen habe ich stets in der
Schreibweise des Verfassers wiedergegeben, in den
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Fußnoten habe ich heutige oder auch damals geläufige andere Schreibweisen angegeben. In den
Legenden der abgebildeten Kartenausschnitte habe ich ebenfalls die Schreibweise des
Verfassers verwendet.
Militärische Begriffe wurden im Tagebuch in der Regel abgekürzt. Ich habe sie ausgeschrieben
wiedergegeben. Willy Thalmann hat häufig nur Stichworte notiert, aus denen ich des besseren
Leseflusses wegen meist ganze Sätze zu formulieren versucht habe, in aktueller deutscher
Rechtschreibung. Ich hoffe, es ist mir dabei gelungen, den Stil des Verfassers dadurch nicht zu
verschleiern.
Eine große Hilfe bei der Recherche nach den genannten Orten war mir eine ungarische
Webseite, die detaillierte Karten von 1910 aus dem Gebiet des österreichisch-ungarischen
Reiches bereithält. Die abgebildeten Karten und Kartenausschnitte wurden mit Hilfe der
Webseite scribblemaps.com erstellt.
Mein besonderer Dank geht an Marinela Filipova, Schülerin meiner Frau an der Schule für
Medizinisch-technische Laboratoriums-Assistenten. Von ihr stammt die entscheidende Hilfe bei
der Identifikation des am Schluss wiedergegebenen Textes der ehemaligen bulgarischen
Nationalhymne.
Heiko Mausolf
Hamburg, im März 2013
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5
Willy Thalmann –
Kriegstagebuch 1915-1917
Am 5.7.19151 morgens um ½ 5 erhielt ich die Aufforderung ins Feld. Nachmittags um 4 Uhr ist
Abmarsch. Die Reise geht über Bad Powitz und Bromberg2, Ankunft in Posen um ½ 12. Um 2.15
Weiterfahrt nach Breslau, gegen 6 Uhr Ankunft. Weiterfahrt unbestimmt. Um 8.45 Uhr nach
Krakau. Speisung, Übernachtung in einem Lokal auf Strohsäcken.
7.8.1915
Um 9.45 Uhr Weiterfahrt über Gleiwitz und Kattowitz. Um 6 Uhr abends erreichen wir die erste
Station im Ostreich, Osviecim3. Abspeisung mit Brot, Käse, Fleischbrühe, Kaffee, um ¾ 84 weiter
ohne Beleuchtung.
Mein Kamerad und ich besitzen ein Abteil III. Klasse allein und legen uns in den Mantel gewickelt
auf die Bänke schlafen. Ich ruhe ganz vorzüglich mit einigen Mal aufwachen beim Vorüberfahren
großer Stationen bis mich morgens um 4 mein Kamerad weckt, um die ersten Anzeichen des
Krieges, zerschossene Häuser und dergleichen zu besehen. Gegen 4 Uhr morgens halten wir
kurze Zeit in Tarnow5.
8.8.1915
Nach einigen Stunden Fahrt haben wir Rzeszow6 erreicht, längerer Aufenthalt. Charakteristisch
sind hier polnische Juden, Judenkinder suchen zu machen ein Geschäft mit Brieffälzern und
Postmarken. Von Ostreichern ziemlich unsanft verjagt, kommen sie immer wieder. Die ganzen
Verhältnisse werden immer trauriger, man merkt es, dass man aus Deutschland raus ist.
Während die Bahn langsam dahin fährt, kann man es beobachten. Elende Hütten, meist von
Holz, selten Steinbau. Die Brücken wurden meistens gesprengt, von den Ostreichern aber wieder
aufgebaut, so gut wie möglich. Die Bahnhöfe sind nur noch Ruinen.
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Diese erste Datumsangabe ist vermutlich ein Fehler: es wird der 5. August gewesen sein, da sich sonst
eine Lücke von über einem Monat ergäbe.
2
Bydgoszcz (Polen)
3
Auschwitz
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7.45 Uhr
5
Ca. 75 km östlich von Krakow
6
Ca. 70 km ONO von Tarnow
6
Gegen Mittag sind wir in Jaroslau7. Einige Stunden Halt. Bahnhof und halbe Stadt sind zerstört.
Langsam geht die Fahrt weiter. Die Gräber zu beiden Seiten der Bahn mehren sich, ebenso die
von schweren Kämpfen zeugenden Schützengräben. Es muss hart gekämpft worden sein
allenthalben. Die Nacht bringen wir auf und zwischen den Bänken liegend zu, da wir zu fünft im
Wagen sind.
Karte 1: Anreise bis Jaroslau im SO Polens
9.8.
Als wir des Morgens 4 Uhr aufwachen, steht der Zug bei einem Dorf. Eine Menge russischer
Waffen, Munition und zerschossene Wagen reden nun deutliche Sprache.
Gegen 6 Uhr kommen wir in Rawaruska8 an. Alles zerschossen und verbrannt.
Gegen 8 fahren wir weiter und kommen nach einigen Stunden in Belzec9, der Endstation, an,
nahe der Grenze Russisch Polens. Hier ist ein großes Etappenquartier. Es gibt viele gefangene
Russen. Ein großes gewaltiges Lager, von allen möglichen Kriegssachen. Nach ½ Tag Aufenthalt
und einer kleinen Abspeisung geht es weiter gegen 3.30 Uhr nachmittags auf der Feldbahn. Wir
haben viel Gepäck und noch an 200 km Marsch vor uns. Wir haben unseren Platz auf mit
Eisenbahnschienen beladenen Wagen. Bahnanlage, Haltestationen und Vorratslager nötigen
einem Bewunderung ab, wie alles in der kurzen Zeit so hergestellt werden konnte. Andauernd
kommen Verwundete an. Es ist sehr hart gekämpft worden.
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Jaroslaw, ca. 50 km ONO von Rzeszow in SO Polens, etwa 30 km vor der heutigen Grenze zu
Weißrussland.
8
Rawa-Ruska, ca. 50 km NW von Lviv (Lemberg) nahe der heutigen Grenze zu Polen
9
Belzec liegt heute in Polen, etwa 22 km NW von Rawa-Ruska
7
Karte 2: Von Jaroslau (1) über Rawaruska (2), Belzec (3) und Samosc (4) nach Krasnostaw (5)
Am Dienstag, 10.8.
gegen 6 morgens kommen wir in Samosc10 an. Die Nacht ist kalt, wir sind ordentlich
durchgefroren. So schlecht habe ich noch nie in meinem Leben eine Nacht verbracht. Samosc ist
ein ganz erbärmliches, schmieriges Kaff. Meist von Juden bewohnt. Alle schachern.
Kurz nach Mittag machen wir uns auf den Weg. Die Halte- und Verpflegungsstation liegt 38 km
weiter. Wir haben wieder Glück und können ungefähr 12 km mit der Feldbahn weiterfahren, von
der einige Wagen mit Artilleriemunition beladen sind. Die anderen 25 km legen wir auf Lastautos
zurück, die ebenfalls Artilleriemunition geladen haben. In 1½ Stunden schaffen sie diesen Weg.
Gegen ½ 9 Uhr abends kommen wir in Krasnostaw11 an. Wir bekommen ein Stück Brot und
Kaffee und beziehen Quartier: zwei Stuben und Küche für 44 Mann. Einladend sieht es nicht aus.
Der ganze Eindruck veranlasst mehrere Kameraden, uns auf Läuse und die Wände auf Wanzen
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Heutige Schreibweise Zamość
Heute Krasnystaw
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zu untersuchen. Zeltpläne auf den Boden, Stiefel als Kopfkissen, Mantel als Decke und das Lager
ist fertig. So schlafen wir bis morgens 5 Uhr. Hier am Ort herrscht reges Leben und Treiben des
Militärs. Autos und Wagen fahren ununterbrochen durch die Stadt, welche größtenteils in
Trümmern liegt.
Mittwoch, 11.8.
Wir begeben uns nach dem Kaffeetrinken auf den Weitermarsch. Es sollen noch 40 km bis Lublin
sein12. Unweit der Stadt warten wir auf eine Fahrgelegenheit für uns oder wenigstens für unser
Gepäck. In der Nähe ist eine mit russischen Verwundeten belegte Kirche. In dichten Schwärmen
summen die Fliegen massenhaft herum. Unaufhörlich rasen Automobile vorbei. Verwundete
kommen unaufhörlich an, auf Wagen, Autos usw. Ein jeder sucht eine Fahrgelegenheit. Hier
humpelt einer an Krücken herbei, dort kriecht einer auf allen vieren vorwärts. Neue Gruppen
marschieren zur Front. Wir haben wieder Gelegenheit, auf Munitionslastautos ca. 25 km weiter
zu fahren. Dichte Staubwolken hüllen die Landstraße ein, so dass man kaum atmen kann und wir
alle mit einer dicken Staubdecke überzogen sind. Rechts und links auf der Straße fahren endlose
deutsche und österreichische Kolonnen, in der Mitte rasen Autos hindurch.
Gegen ½ 5 kommen wir am Munitionslagerplatz an, von wo aus die Munition durch die schwere
Artillerie-Munitions-Kolonne weiterbefördert wird. Wagen derselben nehmen unser Gepäck mit,
ungefähr drei Stunden bis zum Standort der Kolonne, einem größtenteils zerschossenen Dorfe.
Wir kochen aus Kartoffeln und Erbsen Gulasch. Gegen 11 Uhr nachts wird es verzehrt. In einer
Scheune legen wir uns schlafen.
Am Donnerstag, 12.8.
um 5 Uhr morgens stehen wir auf und wandern mit der Kolonne weiter bis gegen Mittag. Hitze
und Anstrengung machen das Laufen immer saurer. In einem Dorfe machen wir Halt, kochen
uns, was wir gerade erwischen können und übernachten in einem Wohnhause eines großen von
den Russen zerstörten Gutes.
Am 13. August
marschieren wir weiter. Ein vorüberfahrender Bauer wird gezwungen, unser Gepäck zu fahren.
Gegen Mittag erreichen wir das Dorf Nowawes13, wo vor kurzem der Stab unseres Regiments lag.
Nach kurzem Aufenthalt geht‘s weiter. Die Dörfer meistens zerstört durch Feuer, nur die
Schornsteine ragen empor.
Am Spätnachmittag kommen wir im Dorfe Neuhof14 an. Es ist noch ganz erhalten, die Russen
hatten keine Zeit mehr, es niederzubrennen. Zu drei Mann wird abgekocht. Eine Büchse Fleisch
und ein Erbswürfel. Zwei Kameraden und ich kochen im Hause des Gemeindevorstehers, der
weder lesen noch schreiben kann. Die Kinder gehen nicht zur Schule hier. Einige Bettstellen, ein
Tisch, eine Bank. zwei Schüsseln, einige Töpfe und Löffel bilden den ganzen Hausrat. Das Essen
12
Von Krasnystaw bis Lublin sind es (Luftlinie) rund 50 km nach NW.
unleserlich, der genaue Name und die Lage dieses Ortes sind unbekannt.
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Heutiger Name und Lage des Ortes sind unbekannt.
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der Leute besteht aus Kartoffeln und Salz. Wenn vorhanden, saure Milch dazu. Von hier aus ist
der Kanonendonner schon zu hören.
Nach Übernachtung in einer Scheune marschieren wir weiter.
Sonnabend, 14. August
Nachmittags gegen 5 kommen wir in Bartschew15 (Judenstadt) an. In zerrissenen Kleidern, fast
Lumpen, in langem Mantel laufen sie umher. Auffallend viele Kinder, ganz hübsche Mädchen.
Weil die Juden die Stadt nicht verlassen wollten, haben sie die Russen nicht niederbrennen
können. Fleisch ist billig hier. Für 2 Mark kaufen wir eine Hammelkeule zu 8 Pfund.
Am 15. August
geht es weiter über weite Steppen, durch niedergebrannte Dörfer. Leute erzählen, dass die
Russen das Vieh in Ställe zusammengetrieben haben und diese dann angezündet.
Auf noch rauchenden Trümmern ihrer Häuser sitzen die Besitzer herum. Viel Vieh läuft herrenlos
umher. Gegen Abend machen wir auf einem Gehöft Halt. Da der Hunger groß und nichts mehr
zu essen vorhanden ist, wird ein Schwein requiriert und geschlachtet und Kartoffeln gekauft.
Montag, 16. August
Nach einer kurzen Nachtruhe marschieren wir weiter und treffen am Abend in Biala16 ein. Am
Morgen waren die Russen noch in der Stadt. Hier treffen wir unser Regiment, für das wir
bestimmt sind. In einem leeren Hause ruhen wir bis ¾ 4 morgens17, um dann wieder
vorzumarschieren.
Dienstag 17. August
Den Russen hinterher. Endlose Wagenzüge und Truppen schieben sich vorwärts. Langsam und
oft stockend geht es weiter. Es wird immer kriegsmäßiger. Der Russe wird in starkem Sturm
zurückgeworfen. Wir, der Ersatz, sind bei Gelegenheit dem Oberstleutnant vorgestellt worden.
Mit noch 11 Kameraden komme ich zur 1. Abteilung. Gegen ½ 1 abends werden ich und noch ein
Kamerad der 2. Batterie zugeteilt, todmüde kommen wir bei derselben an und schlafen trotz der
Kälte ganz vorzüglich bis zum Morgen.
Mittwoch 18.
Wir werden dem Hauptmann vorgestellt und vorläufig der Gefechtsbrigade zugeteilt. Die
Batterie liegt in Deckung, jeden Augenblick bereit, in Feuerstellung zu gehen. In der Nähe wird
ziemlich gefeuert. Abends ½ 8 heißt es „Vorrücken in Feuerstellung“. Gegen 10 Uhr wird in
einem Dorfe Halt gemacht, die Geschütze vor demselben in Feuerstellung. Wir holen uns Stroh
und legen uns zur Ruh. Am Horizont steigen Leuchtkugeln auf, die ganze Nacht hindurch. Ab und
zu auch Infanteriefeuer.
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Parczew, ca. 50 km NO von Lublin
Heutiger Name Biala Podlaska, ca. 40 km WSW von Brest
17
3.45 Uhr
16
10
Donnerstag, 19.8.1915
Der Feind zieht sich zurück, wir hinterher. In einer kleinen Stadt müssen wir etwa fünf Stunden
halten, bis die Pioniere eine Brücke über den Bug18 geschlagen haben, da die Russen sie zerstört
haben. Eine Merkwürdigkeit ist hier das billige Fleisch, das pro Pfund für 30 Pfennige zu kaufen
ist. Am Nachmittag marschieren wir über den Bug. Die Russen ziehen sich ohne Kampf schnell
zurück, was allgemein etwas unerklärlich ist und verdächtig erscheint. Wir übernachten in einem
Walde. Von ½ 9 – ½ 11 Uhr habe ich Wache. Um ½ 4 heißt es aufstehen.
Freitag, 20.
Wir bleiben hier. Es regnet. Ein Zelt bietet
notdürftig Schutz. Am Spätnachmittag heißt es
plötzlich vor. Ungefähr ½ Stunde weiter, vor
einer kleinen Anhöhe, macht die Bagage Halt,
während die Geschütze über die Anhöhe
hinweg Stellung nehmen und andere Batterien
von rechts den Feind beschießen. Schon hagelt
es aber auch russische Granaten, die in unserer
Nähe einschlagen. Ein Treffer in der Batterie.
Ein Unteroffizier ist tot, mehrere Fahrer sind
verwundet. Ein Protzenrad19 bricht. Ich muss es
mit noch einem hinbringen. Kaum haben wir es
angebracht, als schon wieder dicht bei uns,
rechts, links, hinter, vor uns die russischen
Geschosse einschlagen. Gehe zur Bagage
zurück, während die Granaten noch sausen und
ich, wenn‘s zu toll wird, mich in einen
Schützengraben flüchte. Von ½ 11 bis 3 Uhr
morgens übernachten wir auf freiem Felde.
Dazu habe ich noch von 12 bis 1 Wache.
Sonnabend, 21.
Trübes, regnerisches, kaltes Wetter. Heftiges Artilleriefeuer. Mittags um 10 Stellungswechsel.
Kaum sind wir über eine Anhöhe hinweg, als wieder eine wohlgezielte Kanonade einsetzt. Ein
Volltreffer, drei Verwundete. Wir müssen öfters andere Stellungen aufsuchen. Am Nachmittag
heftige Kanonade leichter und schwerer Artillerie, dass alles dröhnt und zittert. Nachts ist es
ruhiger, nur Gewehrfeuer. Der Russe hat eine gute Stellung hier.
18
19
Nebenfluss der Weichsel, heute Grenzfluss Polens zu Weißrussland und der Ukraine.
Protze: Geschützkarren
11
Karte 3: Krasnostaw (1), Bartschew (2), Biala (3), Brest-Litowsk (4), Pinsk (5) und ungefähre Lage der
Rokitno-Sümpfe (hellgrüner Kreis)
Sonntag, 22.8.1915
Nicht ganz so starkes Artilleriefeuer. Ein grässliches Eisenstück fliegt ganz in unsere Nähe. Unsere
Infanterie greift an, aber nur der linke Flügel des Feindes weicht etwas.
Montag, 23.
½ 3 Uhr aufstehen. Heftiges Getöse, Handgranaten und Gewehrfeuer. Der Feind behauptet sich
hartnäckig.
Dienstag, 24.
Der Russe ist gewichen, wir folgen. Unsere Infanterie hat große Verluste hier gehabt: Regiment
122 an 70 Tote, 150 Verwundete. Gegen Mittag Halt vor einer Bahnlinie. Wir biwakieren in
einem Walde.
Mittwoch, 25.
Gegen Mittag rücken wir wieder vor. Die ganze Abteilung geht flott vorwärts. Plötzlich
wohlgezieltes russisches Artilleriefeuer. Fast droht Verwirrung einzutreten, denn mitten
zwischen uns platzen die russischen Granaten schweren Kalibers. Doch bald herrscht wieder
Ordnung. Wir gehen hinter den Hügel zurück. Unsere Geschütze protzen ab und am Abend
künden kolossale Feuerscheine der brennenden Dörfer den Rückzug der Russen.
12
Donnerstag, 26.8.1915
½ 4 früh geht’s ihnen im Eiltempo hinterher. In einigen Stunden haben wir sie eingeholt und
können sie deutlich in ihrem Rückzug beobachten. Eine gute Ladung wird ihnen nachgesandt
und dann geht’s ihnen bis spät abends hinterher. Gegen Abend um ½ 11 machen wir vor einem
Dorfe Halt. Ringsum in weiter Runde die Feuerscheine der von den Russen angezündeten Dörfer.
Freitag, 27.
Vormarsch ohne besondere Ereignisse.
Sonnabend, 28.
Wir sind dem Feind wieder dicht auf den Fersen. Durch Dörfer geht es, die kaum ½ Stunde
vorher angesteckt wurden. Der Feind wehrt sich verzweifelt. Die Flintenkugeln sausen nur so an
uns vorbei. Ein Unteroffizier bekommt einen Brustschuss. Auch an Artilleriegeschossen mangelt
es nicht.
Mehrmals Stellungswechsel. Am Abend wird der Beschuss der Stellung wieder hartnäckig. Erst
am Sonntag 29. gegen Mittag wird sie geräumt.
In der Nacht zum Montag, 30.8. um 2 Uhr wieder Stellungswechsel, hartnäckiger Kampf.
Zahlreiche Opfer und viele russische Gefangene, welch letztere ganz vergnügte Gesichter
machen. Es geht wieder vorwärts. Leutnant Fink durch Brustschuss tot. Zur Nacht müssen wir
wieder durch einen großen Wald. Nach einigen Stunden langem Marsch stoßen wir auf den
Feind, der uns reichlich blaue Bohnen schickt, die uns um die Ohren sausen, um in irgendeinem
Baum einzuschlagen. Es wird Halt gemacht, abgeprotzt und einige Schüsse abgegeben. Wir
müssen erst warten, bis die Infanterie kommt. Die 122. geht vor. Wir legen uns vor großer
Müdigkeit auf den Waldboden, um auszuruhen.
Montag, 30.
Die Infanterie stürmt, der Russ weicht. Bis gegen 3 Uhr nachmittags folgen wir, dann beziehen
wir Biwak bis zum anderen Morgen. Wir befinden uns links der Festung Brest-Litowsk in den
Rokitno-Sümpfen in der Gegend von Pinsk20.
Anmerkungen zur Lage an diesem Abschnitt der Ostfront im August 1915:
Geschildert wird hier ein Ausschnitt aus der so genannten „Bug-Offensive“ der deutschen und der
österreich-ungarischen Armee. In deren Verlauf gelang den Angreifern zunächst die Eroberung
von Lublin und Brest-Litowsk. Ende August wurde dieser Vorstoß wegen gravierender
Versorgungsprobleme weitgehend eingestellt und ein Teil der Truppen für eine Offensive gegen
Serbien an die Südfront verlegt.
Dienstag, 31.
Von heute Rückmarsch, denn wir sollen verladen werden.
20
Pinsk liegt ca. 170 km östlich von Brest, etwa 25 km nördlich der heutigen Grenze Weißrussland –
Ukraine, am Fluss Pina
13
Mittwoch, 1. September 1915
Wir müssen wieder vor, um eine Lücke, die durch den Vorstoß der Bayern entstanden ist,
auszufüllen.
Donnerstag, 2.
Vormarsch, gegen Mittag Halt. Wir wollen abends gegen ½ 9 gerade schlafen gehen, als es
plötzlich heißt „fertig machen“. Bis 12 Uhr nachts marschieren wir und beziehen Quartier in
einem Dorfe.
Freitag 3.
Wir begeben uns nun endgültig auf den Rückmarsch. Die nächsten acht Tage bringen immer
dasselbe. Jeden Tag Marsch. Mitunter sind wir tüchtig durchgeregnet, und es herrscht
Brotknappheit.
Unser Marsch führt uns über Mordy21 nach Siedlic22. Ungefähr 9 km hinter dieser Stadt
quartieren wir uns auf einem großen Gute ein und bleiben mehrere Tage bis zum 14. September
hier.
Am Dienstag, 14. September
nachmittags werden wir verladen und fahren über Warschau nach Tschenstochau23, wo wir am
15. früh ankommen und entlaust werden.
Gegen Abend fahren wir weiter. Wir wissen nicht, wohin. Es geht über Oppeln24, Prerau25,
Luntenburg26, Budapest.
Am Sonnabend, 18.
gegen Mittag sind wir am Ende unserer Fahrt angelangt in Südungarn nahe der rumänischen
Grenze. Der Ort, wo wir ausgeladen werden, heißt Hamoskzill27. Ein vierstündiger Marsch bringt
uns nach einem größeren Dorfe namens Temezön28. Wir werden bei ganz netten Leuten
rumänischer Nationalität einquartiert. Nur der Mann versteht einige Brocken Deutsch. Er bringt
uns gleich frisch gebackenes Brot und Weintrauben, was uns sehr gut mundet. Auf den Feldern
sieht man nur Mais, hier und da auch Weingärten.
Wir bleiben voraussichtlich längere Zeit hier. Es ist eine schöne Gegend hier. Vormittags müssen
wir Pferde weiden, nachmittags Exerzieren und Appell. Ich bekomme hier meine erste
Paketpost.
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Heute Gmina Mordy, 80 km W von Brest
Vermutlich Siedlce, ca. 95 km westlich von Brest und 90 km östlich von Warszawa
23
Czestochowa, knapp 70 km nördlich von Katowice
24
Opole an der Oder, ca. 80 km SO von Wrozlaw
25
Prerov, Tschechische Republik, auf halbem Weg je 70 km entfernt von Ostrava und Brno gelegen.
26
Heute Brezlav, Tschechische Republik, ca. 50 km SSO von Brno, jeweils ca. 70 km NO von Wien und N
von Bratislava
27
Völlig unbekannt in allen denkbaren Schreibweisen.
28
Rund 120 km nördlich von Temesziget liegt das heutige Timisoara in Rumänien, das zu dieser Zeit
ungarisch war und Temesvar hieß. Dies ist der einzige Ort im weiteren Umkreis, der einen in Frage
kommenden Namen trägt. Allerdings wäre Temesvar leicht mit der Bahn zu erreichen gewesen.
22
14
Karte 4: Die nachfolgenden Ereignisse spielen sich ungefähr in dem markierten Gebiet ab. Mit Nummern
bezeichnet sind einige Orientierungspunkte: Neusatz / Novi Sad (1), Belgrad (2), Nisch / Niš (3),
Schumen / Shumen (4) und die Gegend um den Dojran-See (5).
Dienstag, 28.9.1915
marschieren wir weiter die halbe Stadt hindurch. Gegen ½ 11 kommen wir in einem Dorfe an,
wo wir Halt machen und jeder sich einen Winkel sucht zum Schlafen. Es ist sehr nasskalt. Ich lege
mich in einem Hausflur in meinen Mantel gewickelt hin.
Der Ort heißt Dunadomba29, unweit der Donau bei der Donauinsel Temesziget30.
Am Mittwoch, 29.
quartieren wir uns im Dorfe ein. Wir wissen nun, was wir sollen. Wir sollen am Feldzuge gegen
Serbien teilnehmen.
29
Dieses Dorf müsste am nördlichen Ufer der Donau liegen. Im weiteren Umkreis von 20-30 km ist kein
Ort dieses oder eines ähnlichen Namens auffindbar. Anmerkung: „Duna“ ist der serbische Name der
Donau.
30
Die Donauinsel Temesziget trägt auf Serbisch den Namen Ostrovó. Heute ist der südliche Arm der
Donau weitestgehend trockengelegt. Die Insel liegt rund 10 km nördlich der Stadt Požarevac.
15
Sonntag, 3. Oktober
beziehen wir Biwak außerhalb des Dorfes. Von Tag zu Tag mehrt sich das militärische Leben.
Ganz in unserer Nähe nimmt eine 30,5 cm Batterie Aufstellung. Feindliche Flieger sind über uns
jeden Tag. Insel Temesziget wird mit Bomben belegt. Die Vorbereitungen zur Offensive schreiten
gewaltig voran. Nachts werden Munition und Lebensmittel, nach und nach auch Geschütze nach
der Donauinsel befördert auf großen von Pionieren geruderten Kähnen, was oft nur unter
großes Schwierigkeiten und Gefahren geschehen kann. Die Überfahrt dauert zwei und mehr
Stunden, da starke Strömung zu überwinden ist.
Karte 5: Grün markiert die Donauinsel Temesziget. Im Nordwesten der Karte liegt Belgrad.
Am Donnerstag, 7. Oktober
beginnt die Kanonade der schweren 30,5er Batterie und wird anderntags fortgesetzt.
Freitag, 8.
Unser Vizewachtmeister Heidenreich wird durch ein Granatstück (einer deutschen Granate)
getötet. Er soll schon vorher geäußert haben, dass er in Serbien seinen Tod finden werde. Der
Übergang von der Insel ist schwer. Das jenseitige, serbische Ufer geht steil bergan. Mancher
Kamerad ist dabei gefallen und hat in den Donauwellen sein Grab gefunden.
Am 12. Oktober
sind unsere Truppen schon 12 km in Serbien drin und tausende Gefangene gemacht. Ein
gefangener Serbe sagte: „Den ganzen Sommer haben wir auf German gewartet, aber er kam
nicht. Jetzt hörten wir Schießen, da sagte einer zum anderen German kommt.“
German kam und bald war ihr Schicksal besiegelt.
Erst am 20.10. wird unsere Gefechtsbagage übergesetzt, was bei der Breite der Donau hier von
1½ km eine Stunde dauert. Morgens um 6 setzten wir über, fahren über die Insel, die auch einige
km breit ist, und erwischen nach Passieren der Pontonbrücke das serbische Ufer. Wir begeben
uns auf den Marsch zu unserer Batterie. Nachmittags gegen 5 kommen wir in der Stadt
16
Pocarewac31 an und quartieren uns in den ersten Häusern derselben ein. Ich komme in eine
Wirtschaft, in der die Leute, einige alte Frauen und Männer, noch da sind, während sonst die
meisten Einwohner geflüchtet sind. Wir laben uns ordentlich an Weintrauben, Nüssen und
dergleichen, da es genug davon gibt. Wein lagert fässerweise fast in jedem Hause. Bis zum 23.
haben wir unsere Batterie bei strammem Marsch eingeholt, natürlich nicht ohne uns des Nachts
gut einquartiert und die nötigen Hühnchen, deren es ja genug gibt, geschmort und verzehrt zu
haben. Bei der Batterie angekommen geht es täglich vorwärts, da sich die Serben schnell
zurückziehen. Täglich werden Gefangene gemacht. Obwohl die Geschütze oft dicht am
Schützengraben auffahren, bekommen wir doch wenig Feuer, dafür kommen andere
Schwierigkeiten, nämlich die schlechten Wege, die noch erhöht werden durch eine einsetzende
Regenperiode, während welcher es mit wenig Unterbrechungen regnet. Die Wege und Straßen
werden in Schlammbäche verwandelt. Bis über die Knöchel waten wir darin herum. Aber
durchnässt, von oben bis unten samt den Pferden mit dem Straßenschmutz bespritzt und so
richtig feldgrau aussehend geht es unaufhaltsam vor. In Svilajnac32 müssen wir einige Tage
liegen, bis eine gesprengte Brücke von den Pionieren wieder für uns hergestellt ist. An Nahrung
fehlt es uns nicht.
Nach mehreren Tagen erreichen wir die Stadt Jagodina33. Tausende junger Burschen und
Männer kommen uns kurz vor dieser entgegen, Tücher schwenkend und rufen uns das Wort
„Schiweri“ zu. Sie werden von Infanteristen zum Nachbardorfe gebracht zur Untersuchung. Denn
es sollen sich viele Soldaten darunter befinden, die auf der Flucht einfach ihre Uniform
weggeworfen und Zivilkleider angezogen haben. In der Stadt selbst reichen uns Frauen und
Mädchen Blumensträuße. Über Nacht bleiben wir hier.
Bis zum 9. November sind wir im Gefecht und kommen dann einige Tage in Ruhe, um dann ganz
herausgezogen zu werden. In einem Dorfe kurz vor der westlichen Morawa34 machen wir Halt
und werden einquartiert. Mit mehreren Kameraden bin ich bei einer Familie einquartiert, die
anscheinend Zigeuner sind. Ärmlich gekleidet, barfuß, Kinder nur mit Hemd bekleidet, die Leute
im Allgemeinen ängstlich. Sie helfen uns Hühner zu fangen, zu rupfen und kochen sie uns.
Wie schnell wir vorrückten, erhellt sich aus einem Fall. Ungefähr ein Dutzend Serben, darunter
ein Offizier, sitzen gemütlich beim Essen, während Germanski schon im Dorf ist. So wurden viele
Gefangene gemacht. Die Frauen hatten anfangs viel Angst und Wehgeschrei. Sie glaubten, den
Gefangenen würde der Hals durchgeschnitten.
31
Požarevac, Serbien, ca. 60 km OSO von Belgrad
Ca. 40 km südlich von Požarevac
33
Jagodina liegt in Serbien, etwa auf halber Strecke zwischen Belgrad und Sofia und knapp 30 km südlich
von Svilajnac.
34
Der Fluss Morava, der Hauptfluss Serbiens und ein rechter Nebenfluss der Donau. Er mündet westlich
der Insel Temesziget in die Donau.
32
17
Von nun an haben wir nur noch Marsch. Es geht über Krusewac 35, woselbst ein Biwak gemacht
wurde und der serbische König noch war, als schon die deutschen Granaten darin einschlugen.
Am 15. November kommen wir nach beschwerlichen Fahrten durch Wetter, schlechte Wege im
Gebirge in ungefähr 1000 m Höhe an.
Karte 6: Die Donauinsel Temesziget (1), Pacarewac (2), Svilajnac (3), Jagodina (4), Kruzevac (5) und Niš
(6). Zur Orientierung: oben links in der Karte liegt Belgrad.
35
Kruševac, ca. 50-60 km WNW von Niš gelegen
18
In einsamen Höfen im Walde beziehen wir Quartier, d.h. die Pferde in Stall und Wohnhäusern,
wir selbst ziehen es vor, im Freien zu kampieren, doch in der Nacht zwingt uns ein plötzlich
einsetzender Regen, der zu einem mächtigen Schneegestöber wird, zum Übersiedeln in einen
Schuppen. Als Andenken an dieses Schneewetter besitze ich eine erfrorene linke
Daumenfingerspitze.
Am 17.11.1915
marschieren wir zurück nach Nisch36, wo wir am 21. gegen Abend ankommen und auf einem
Zimmerplatze Biwak aufschlagen. Es ist ziemlich kalt, wir unterhalten deshalb ein lustiges Feuer.
Habe nach vier Stunden Wache. Um ein wenig zu schlafen, lege ich mich in einen Panjewagen37.
Am nächsten Morgen geht es beizeiten weiter und nach ungefähr 30 – 35 km Marsch kommen
wir in Alexinac38 an. Hier sind viele Bulgaren. Wir bleiben bis zum 29. hier. Ich bin bei einer
Kaufmannsfrau einquartiert, deren Mann auch kämpft im serbischen Heer. Bei ihr ist ihre
21jährige Schwester, von echtem serbischem Typ. Beide sind sehr nett zu uns, und wir
unterhalten uns des Abends, trotzdem wir uns nicht in einer Sprache sprechen können, sehr
köstlich.
Am 29. November
geht es wieder in Richtung Nisch, welches wir am 30. passieren, um über den dahinter liegenden
Gebirgszug nach Pirot39 zu gelangen. Ungefähr 6 km hinter Nisch müssen wir Notquartier
beziehen, da es unmöglich ist, noch heute den Marsch über das Gebirge zu wagen. Hier ist eine
Heilanstalt, ein Kurort direkt am Berg gelegen40. Schwefelhaltige warme Quellen sind der
Hauptfaktor. Wir benutzen die Gelegenheit, ein schönes Bad in den großartig angelegten
Baderäumen zu nehmen.
36
Niš
Laut Duden ein einfacher, von einem Pferd zu ziehender Holzwagen
38
Aleksinac, ca. 30 km Luftlinie NW von Niš
39
ca. 60 km Luftlinie östlich von Niš und 30 km westlich der (heutigen) Grenze Serbiens zu Bulgarien.
40
Das dürfte Niška Banja sein, ein Vorort von Niš.
37
19
Karte 7: Niš (1), Alexinac (2), Niška Banja (Badekurort bei Niš, 3), Pirot (4)
Am 1. Dezember 1915
geht es hinein in das Gebirge. Den ganzen Tag über und die folgende Nacht laufen wir, um die
über 900 m Höhe auf dem vereisten Wege zu überwinden. An allerhand Unfällen und
Schwierigkeiten fehlt es nicht, besonders bergab, da auf der einen Seite der Straße oft tiefe
Abgründe gähnten, während auf der anderen Felsen schroff aufstiegen. Diese Fahrt wird
allgemein die Todesfahrt vom 1. Dezember genannt.
Am 2. Dezember
ist Ruhe mitten im Gebirge. Noch ist ein über 1800 m hoher Gebirgszug zu überwinden. Zum
Glück tritt Tauwetter ein, so dass wir am selben Tage drüber hinweg kommen und nicht weit von
der serbischen Grenzfestung Pirot, wo wir verladen werden sollen, ankommen und in einem
Dorfe unweit derselben bis zur Abfahrt am 8. Dezember unser Quartier aufschlagen.
Die Einwohnerschaft hier macht den schlechtesten Eindruck, den wir bis jetzt von den Serben
eingefangen haben.
20
Am Abend des 8. Dezember
fahren wir ab nach Bulgarien, anfangs durch ein romantisches, felsiges Gebirge, das sich
allmählich abflacht. Auf allen Bahnhöfen ist reichlich geflaggt, uns zu Ehren. An
Willkommensgrüßen wie zum Beispiel „Seien Sie uns willkommen, tapfere Verbündete“ fehlt es
nicht, ebenso nicht an guter Verpflegung. Alle bulgarischen Städte und Dörfer machen einen
vorzüglichen besseren Eindruck als die serbischen. Über Sofia, Plewen41 fahrend kommen wir am
10. Dezember an unserem Ziel, der Stadt und Festung Schumen (Schumla)42 an. Bahnhof und
Straßen mit bulgarischen und deutschen Flaggen geschmückt. Viele Menschen, die uns
erwarten. Ein ziemlich orientalisches Gepräge durch die vielen Türken in ihren bunten Trachten.
Als wir an einer höheren Mädchenschule vorbeifahren, singen die Schülerinnen auf Deutsch das
Lied „Deutschland, Deutschland über alles“.
Karte 8: Zugfahrt von Pirot (1), über Sofia (2) und Plewen (3) nach Schumen (4)
Wir beziehen eine über 270 Jahre alte frühere türkische Kaserne und bald entwickelt sich ein
Leben wie in irgendeiner deutschen Garnison. Am Geburtstage des Kaisers43 findet eine Parade
unter zahlreicher bulgarischer Zuschauerschaft statt. Bis zum 6. Juni 1916 sind wir hier, und es
gefiel uns allen, was Land und Leute anbelangt, sehr gut.
Am 6. Juni 1916
müssen wir Schumen verlassen, um an der macedonischen Front mitzuwirken. Drei Tage dauert
die sehr interessante Bahnfahrt. Es geht durch blühende Gefilde und herrliche Gebirgsgegenden,
besonders die Fahrt von Sofia bis Nisch und speziell der letztere Teil ist sehr romantisch. An
turmhohen Felsen führte uns die Bahn dahin, während auf der anderen Seite derselben ein
wilder, ebenfalls von hohen Felsen begrenzter Gebirgsfluss dahinrauscht. An 30 Tunnels
passieren wir.
41
Plewen (Pleven) liegt ca. 130 km NO von Sofia
Schumen, heute Shumen, liegt ca. 80 km Luftlinie W von Varna, von Plewen aus etwa 190 km östlich.
43
Kaiser Wilhem II., geboren am 27. Januar 1859
42
21
Am Freitag, 9. Juni 1916
gegen Mittag kommen wir an unserem Orte Gradetz (Hudowo)44 an, die Hitze ist schier
unerträglich geworden. Nach einigen Stunden Marsch schlagen wir Biwak auf in einer
Maulbeerbaumplantage, die zur Seidenraupenzucht dient. Wir befinden uns in einem Talkessel,
der einer Wüste gleicht, kein Baum und Strauch. Unsere kleinen Maulbeerbäume geben so gut
wie keinen Schatten. Des Nachts ist es kalt. Die Ernte ist schon ziemlich eingeheimst, wo sich
noch ein wenig Getreide befindet. Am Tage können wir kaum etwas tun. Man schwitzt schon
mächtig nur beim Stilleliegen. Unangenehm ist die Fliegenplage.
Karte 9: Lage des Dojran-Sees mit Gradetz und Hudowo (1)
Mittwoch 14.6.1916
4 Uhr morgens unter dem Gesurre feindlicher Flieger marschieren wir nach Hudowo, wo wir
verladen werden und gegen 8 Uhr abfahren nach Galizien45.
44
Gradec liegt am Fluss Vardar, etwa 30 km NW des Dojran-Sees. Dieser liegt an der Grenze zwischen dem
heutigen Mazedonen und Griechenland, rund 65 km nördlich von Thessaloniki. Udovo liegt rund 5 km
flussaufwärts, SO von Gradec.
45
Galizien ist ein historisches Territorium, das sich im Westen der heutigen Ukraine und im Süden Polens
erstreckt.
22
Karte 10: Orientierungspunkte für die nachfolgenden Ereignisse: Lemberg (Lviv, 1) und Ivano-Frankivs’k
(2), ehemals Stanislawow.
Freitag, 16.6.1916
früh um 4 Uhr Belgrad, Sonnabend, 17. nachts Budapest, Sonntag, 18. Karpaten, Stry46
Am Montag, 19.
kommen wir am Endziel Kussowa47 an. Wir beziehen Quartier im selben Orte. Die Reise ist vielen
schlecht bekommen, infolge des schnellen Temperaturwechsels leiden viele an Durchfall. Ich
selbst auch.
Am 23.
geht es weiter, ungefähr 30 km nach Beckersdorf48, wo wir wieder bis Sonnabend 25. liegen. Ich
bin jetzt zum Divisionszug kommandiert. Täglich Beschießung feindlicher Flieger.
46
Stryj, Ukraine, ca. 75 km WNW von Ivano-Frankivs’k.
Kozova, Ukraine
48
Heute Pidhajzi oder Podgaytsy, Ukraine, ca. 90 km Luftlinie SO von Lviv (Lemberg), Luftlinie 18 km
südlich von Kozova
47
23
Sonntag 25.6.1916
Plötzlich Alarm. Weitermarsch gegen Abend 7 Uhr. Es geht die ganze Nacht hindurch immer
dicht hinter der Front entlang. Die andauernd in die Höhe gehenden Leuchtkugeln zeigen uns,
dass wir höchstens 5 bis 8 km hinter der Front sind. Ein reges Leben während der ganzen Nacht
auf der Chaussee. Zahlreiche Lastautos rasen an uns vorbei, Infanterie befördernd, denn die
Russen sollen irgendwo durchgebrochen sein. Wie es Tag wird, fällt es uns auf, dass die Leute ein
ganz anderes Aussehen und Tracht haben. Die Männer in weißem Gewandhosen und darüber
ein hemdartiges Gewand, die Frauen klein und dick, fast eine wie die andere auch nur mit Hemd
und einem kurzen Rock bekleidet, im Übrigen barfuß. Sie tragen wie die Männer die Haare lang
bis zum Hals, nur der mittlere Teil des Kopfhaares zu einem Zopf geflochten. Es sind Ruthenen49.
Gegen 8 Uhr machen wir vor einer kleinen Stadt Nicsniow50 Halt. Zwei große Brücken über den
Dnjestr sind in der Nähe. Ein russischer Flieger sucht sie durch Bombenwurf zu zerstören. Die
Bombe verfehlt ihr Ziel, ebenso zahlreiche auf den Flieger gerichtete Maschinengewehre und
Geschütze. Am Abend gegen 9 rücken wir wieder ab. Wir kommen nicht weit, ein Pferd hat sich
einen Nagel eingetreten. Wir bleiben mit unserem Wagen zurück. Ein mit einem entzweien
Fahrrad zurückgebliebener Befehlsempfänger der leichten Kolonne gesellt sich zu uns. Wir
fahren unserem Trupp nach. Gegen 12 nachts macht ein Pferd schlapp, wir quartieren uns
deshalb ein in einem Bauernhof. Die Tochter kann gut Deutsch, sie war zwei Jahre in Berlin.
Während Mutter und Tochter in einem Bett schlafen, legen wir uns auf einer Holzpritsche, die in
der anderen Ecke steht, zur Ruhe.
Dienstag 27.6.1916
Früh um 5 Uhr stehen wir auf und fahren gegen 7 weiter. Nach einigen Stunden kommen wir in
Ticzminieza51 an, einer ganz leidlichen Stadt. Empfangen hier von Ostreichern Hafer für die
Pferde, für uns Brot und Fleischkonserven.
Gegen Mittag kochen wir in einem Dorfe bei einem Besitzer uns Kartoffeln und
Fleischkonserven, fahren weiter und kommen dann gegen Abend in Ottinia52 an und
übernachten.
49
Heute auch Russinen oder Russynen genannt, eine Volksgruppe der ukrainischen Habsburger
Nizniow gehört zum Bezirk Iwano-Frankiwsk, u.a. auch als Nyzhniv bekannt. Es liegt etwa 20 km östlich
von Iwano-Frankiwsk. Die Stadt Iwano-Frankiwsk hieß früher Stanislau oder Stanislawow.
51
Tysmenyzja, etwa 20 km WSW von Nyzhniv
52
Otyniya, anscheinend Ortsteil von Uhornyky, ca. 20 km SSO von Iwano-Frankiwsk
50
24
Karte 11: Kussowo (1), Beckersdorf (2), Nicsniow (3) und Ticzminieza (4). Im unteren Teil der Karte ist
der Fluss Dnjestr erkennbar.
25
Mittwoch, 28.6.1916
Früh fahren wir weiter und gelangen gegen 4 Uhr nachmittags nach Kolomea53, wo wir unsere
Batterie zu finden hoffen. Wir erfahren, dass wir zu weit gefahren sind. Die Russen nähern sich
rasch der Stadt, sie in einem Halbkreis einschließend. Erst vereinzelt, dann in endlosen Zügen zu
zweit und dritt nebeneinander hasten die österreichischen Bagagen und mit Verwundeten
beladenen Wagen zurück. Dann folgt auch österreichische Infanterie. Während zahlreiche meist
von Juden beschickte Marktbuden allerhand Dinge zum Verkauf feilbieten, laufen andere
Bewohner ängstlich umher, um was Bestimmtes zu hören. Wir halten am Markte, viele Leute
fragen uns um Rat, was sie tun sollen. Die Lage soll ernst sein. Auf Anraten der Kommandantur
quartieren wir uns ein, um den Morgen abzuwarten.
Am anderen Morgen, Donnerstag, 29.,
wird uns der Bescheid gegeben, sofort die Stadt zu verlassen, da die Lage sehr brenzlig ist. Keine
zurückgehenden Bagagen sind mehr zu sehen, nur zahlreiche Verwundete und versprengte
Infanteristen. Wir schlagen die Richtung nach Ottinia ein. Am Nachmittag kommen wir da an und
quartieren uns in einem leeren Hause ein.
Am anderen Morgen, den 30.,
treffen wir hier unsere Batterie, welche bei Owertyn54 in harten Kämpfen gestanden hatte.
Am Mittag ziehen wir uns weiter zurück, machen Halt in einem Dorfe. Am anderen Tag, den 1.
Juli, wieder Quartierwechsel. Am Abend wollen wir uns gerade hinlegen, da heißt es fertig
machen. Bei großer Dunkelheit geht es auf schwierigen Wegen die ganze Nacht hindurch.
Am 2. Juli
früh machen wir Halt in einem Parke der Stadt Tlumacz55, wo wir einige Stunden rasten. Dann
geht es weiter bis gegen 5 Uhr nachmittags., wo wir in Niczniow56 ankommen und daselbst für
einige Tage Quartier beziehen, bis zum 4. in der Stadt selbst, dann auf einem großen Gute, etwas
außerhalb derselben.
53
Kolomya, ca. 50 km südlich von Nyzhniv am Fluss Pruth
Obertyn, ca. 20 km N von Kolomya
55
Etwa 20 km OSO von Iwano-Frankiwsk
56
Nizniow, Nyzhniv, s.o.
54
26
Karte 12: Ticzmenieza (1), Ottinia (2), Kolomea (3), Tlumacz (4), Niczniow (5) und Owertyn (6)
Am 5.
gegen ½ 1 Uhr nachts Alarm. Wir fahren bis gegen 3 Uhr weiter, um auf einem freien Platze
Biwak zu beziehen und daselbst bis zum 8. Juli zu bleiben.
Am Sonnabend, 8. Juli 1916
beziehen wir unser Quartier in einem Dorfe. Vom 10.7. ab Marsch mit einigen Unterbrechungen
durch Tiesminisza nach Nadworna57. Hier liegen unsere Batterien, welche heftige Kämpfe zu
bestehen hatten in den letzten Wochen und auch Verluste. Ich komme deshalb zur Batterie an
den Beobachtungswagen.
57
Nadwirna, weitere 20 km nach Süden den Fluss Bystryza entlang.
27
Am 13.
haben wir wieder Marsch bis Niczniow, wo wir wieder auf dem Gute einquartiert werden und bis
zum 21.7. liegen. Am 20. Besichtigung der Batterien durch den österreichischen Thronfolger.
Am 21.
beziehen wir in einem Dorfe westlich von Tlumacz namens Kalinsk58 Quartier, um von hier aus
wieder eingesetzt zu werden.
Am 27.7.1916
Nachts macht sich heftiges Geschützfeuer bemerkbar, ebenso am Freitag, 28. Im Laufe des
Vormittags kommt Befehl: „Alles marschbereit“. Große Spannung. Jeden Augenblick kann der
Befehl kommen: „Abrücken ins Gefecht“. Gegen ½ 2 Uhr heißt es plötzlich anspannen. Im
Galopp geht es vor in Feuerstellung. Kaum angekommen, erhalten wir schon russisches
Artilleriefeuer. Nach einigen Stunden Stellungswechsel mit Hindernissen, diesmal sausen uns die
blauen Bohnen um die Ohren. Es ist ziemlich finster geworden. Einsam stehen wir auf freiem
Felde. Plötzlich kommt die traurige Nachricht: „Der Hauptmann durch Kopfschuss gefallen.“
Unseren treuen Führer verloren. Wir können es kaum fassen. Tausendmal hat er den Kugeln
getrotzt, heute hat es ihn ereilt. Bei der Beobachtung der Schusswirkung etwas zu weit aus dem
Schützengraben gewagt, traf ihn ein Infanteriekugel-Querschläger an die Stirn. Wir stehen bis 11
Uhr nachts nicht ahnend, dass der Feind bis ziemlich an uns heran ist. Schnell müssen wir zurück
zur alten Stellung, dann bei Morgengrauen in eine andere südlich von Tlumacz am Sonnabend,
29.
Am 30. Juli 1916
wieder uns gefährlich werdendes russisches Granatfeuer. Bin gerade beim Kartoffeln kaufen, als
eine kaum 20 Schritt entfernt in einen Wassertümpel einschlägt. Es wird immer schlimmer und
so müssen wir mit den Protzen weiter zurück, quartieren uns in den ersten Häusern von Tlumacz
ein. Am Dienstagabend (1. August) müssen wir die Geschütze holen, werden von einer anderen
Batterie abgelöst, um wieder eine neue Stellung zu beziehen.
Mittwoch, 2.8.1916
Früh kommen wir in derselben an. In einem Wäldchen gehen wir mit den Protzen in Deckung,
die Geschütze etwa 1½ km weiter vorn. Wir bauen uns kleine Hütten, denn diese Stellung soll
gehalten werden, es stehen unserer einen aber vier russische Divisionen gegenüber. Täglich
deutsche und feindliche Flieger. Der Feind verhält sich ruhig.
58
Vermutlich Kolintsi, knapp außerhalb von Tlumatsch
28
Am Montag, 7. August
plötzlich ein kolossales Trommelfeuer, dass alles dröhnt und zittert. Es ist klar: der Russe will
angreifen. Einen halben Tag ein furchtbares Getöse. Zischen, Heulen, Krachen, da heißt es auch
schon aufpassen. Dann im Galopp zu den Geschützen. Diese im heftigen Schnellfeuer, was das
Zeug hält. Die Pferde werden unruhig, bäumen sich auf. Der Feind hat den hat den ersten
Graben genommen in starker Übermacht. Wenige Inf. fast die einzigen kommen zurück mit
dieser Meldung, aber ruhig ertönt das Kommando weiter 30 hundert 50 weniger 28 hundert
usw59. In Eilmärschen kommt der Feind heran unter dem Feuer unserer Geschütze. Schon ist es
höchste Zeit. Die russischen Brummer werden ungemütlich. Es wird aufgeprotzt, und im Galopp
geht’s zurück. Das erste Mal, dass unsere Batterie weichen muss der starken Übermacht. Eine
Haubitzbatterie kommt nicht mehr rechtzeitig weg. Sie wird mit Mann und Maus eine Beute der
Russen. Hinter einer Höhe machen wir Halt, und die Geschütze reden wieder, aber bald ist der
Feind von der einen Seite an 1500 m wieder heran. Schon pfeifen wieder die Kugeln. Zwei
Geschütze haben die Aufgabe, bis zum Äußersten zu feuern. Kaum sind sie den Berg herunter,
als aber schon die Ruskis erscheinen. Unsere Inf. 129 und 21 haben schwere Verluste. Erstere
von einem Bataillon 53 Mann, letztere soll von zwei Bataillonen 400 Mann übrig behalten haben.
Wir stehen am Abend auf einer Wiese. Ein kalter Regen setzt ein und hält die ganze Nacht an.
Wir ruhen auf Stroh in Zeltdecken eingewickelt bis 3 Uhr morgens, dann gehen wir bis zum Dorfe
Kumanawa60 in Stellung, wo wir bis Dienstag 8. bleiben.
59
60
Damit sind vermutlich Korrekturen der Artilleriebeobachter für die Geschütze gemeint.
Unklar. Es könnte Komariv gemeint sein, rund 18 km NNW von Iwano-Frankiwsk
29
Karte 13: Jezupol (1) und Halicz (2)
Gegen 3 Uhr nachmittags geht’s wieder zurück, die Nacht hindurch Marsch, dann wieder in
Feuerstellung. So geht es einige Tage bis über den Dnjestr am 13. August in der Nähe von
Jezupol61. Zahlreiche Landbewohner flüchteten mit ihren Rindern und sonstigem Vieh. Traurige
Bilder. Mütter mit ihren Säuglingen und Kindern müssen auf den Landstraßen Tage und Nächte
zubringen – wie traurig, wenn es unseren Angehörigen in Deutschland so ginge. Wir bleiben
ungefähr eine Woche in verschiedenen Stellungen, dann abgelöst von F.A.R.62 259 und hinter
Halicz63 einquartiert. Es heißt, wir sollen verladen werden entweder nach Rumänien oder
Saloniki.
61
Yezupil, etwa 15 km NNO von Iwano-Frankiwsk
F.A.R. = Feldartillerieregiment?
63
Halytsch, 10 km NNW von Yezupil
62
30
Nach einigen Tagen müssen wir plötzlich wieder zurück in Feuerstellung östlich von Halicz zur
Unterstützung österreichischer Kavallerie. Nach einigen Tagen sucht der Feind mit aller Gewalt
durchzubrechen. Drei Sturmangriffe hintereinander. Unsere Geschütze feuern, was sie können.
Die Rohre sind heiß, wir müssen Wasser schleppen und mit nassen Säcken kühlen. Kolossales
Schnellfeuer. Alle Angriffe werden blutig abgeschlagen. Die österreichische Kavallerie hält dem
russischen Feuer gut stand. Am Abend gehen wir etwas zurück.
Artillerieverstärkung kommt, wir werden an anderer Stelle eingesetzt, wo es auch schwer fällt
und unsere ganze Division ist. Auch hier wieder fürchterliche Sturmangriffe der Russen mit
Minen und schwerer Artillerie, welche die Schützengräben einebnet und viel Menschenmaterial.
Unsere Inf. 129 hat kolossale Verluste. Beispiel: von einem Zug sind noch 40 Mann übrig. Unter
starkem Artilleriefeuer müssen wir aufprotzen und samt der Infanterie die Stellung räumen.
Infolge des kolossalen Schnellfeuers haben wir einige Rohrzerspringer, sodass nur ein heiles
Geschütz bleibt. Mit zwei Kanonen wurden an einem Tage 1800 Schuss abgegeben. Bei diesem
Rückzug haben wir zwei Vermisste: Vizewachtmeister Ruschke und Unteroffizier Reufs. Später
stellt sich heraus, sie sind gefangen. Kolossal durch alle Kämpfe mitgenommen wird unsere
Division durch eine andere ersetzt.
Einige Male bekam unsere Infanterie vollständig Ersatz und wurde nach kurzer Zeit aufgerieben.
Jetzt werden wir endgültig herausgezogen und in Cadorow64 verladen.
Unsere Fahrt geht über Lemberg65, Calm66, Brest-Litowsk67, Gradno68 ungefähr drei Tage. In
Merzendorf-Mitte zwischen Riga und Dünaburg69 werden wir ausgeladen, liegen einige Tage in
der Stellung Sille, kommen dann weiter südlich in die Gegend von Tomsdorf. Nachdem wir uns in
sieben- bis achtwöchiger Arbeit schön eingerichtet haben, müssen wir plötzlich wieder fort am
16. November in die Gegend von Dautsewus - Jakobstadt70. Eine schreckliche Stadt, Bahnfahrt
bei starker Kälte. Auf russischen Gütern werden wir in sumpfiger Gegend einquartiert. Vom 5.
bis 23. Dezember habe ich Urlaub. Ich verlebe hier in stiller Waldeinsamkeit den Übergang 1916
– 1917. Was wird uns das neue Jahr bringen? Den ersehnten Frieden?
64
Chodoriw, auf halbem Weg zwischen Lemberg (Lviv) und Iwano-Frankiwsk, jeweils ca. 60 km Luftlinie
Lviv
66
Chelm, ca. 65 km östlich von Lublin in Polen
67
Heutiger Name: Brest, an der Grenze Weißrusslands zu Polen
68
Heute Hrodna, an der Grenze Weißrusslands zu Polen nahe dem polnischen Bialystok
69
Heute Daugavpils, im äußersten Südosten Lettlands nahe dem Dreiländereck Lettland – Litauen –
Weißrussland, zweitgrößte Stadt des Landes.
70
Jekabpils in Lettland, ca. 80 km NW von Daugavpils und 120 km OSO von Riga
65
31
Karte 14: Übersichtskarte Lettland mit Jakobstadt / Jekabpils (1), Riga (2) und Dünaburg / Daugavpils (3)
32
***
Das neue Jahr fängt mit strenger Kälte und Schneefall an, öfters bis -35° Kälte, bald ein Meter
Schnee.
Anfang März müssen wir wieder wandern und sind gar nicht böse darüber, das kalte Kurland mit
dem warmen Süden vertauschen zu können, denn es soll nach Macedonien gehen zu unserem
Regiment zurück.
Am 3. März 1917
verlassen wir Tizau und Parum zum Marsch nach dem Bahnhof Siking. In Swille machen wir noch
einen Tag Halt. Am 5. werden wir verladen. Unsere Fahrt geht zunächst über Mitau71,
Bjelostok72, Warschau nach Sosnowice73, wo wir einen Tag Halt machen. Fahrzeit von Montag, 5.
abends bis Donnerstag, 8. 10 Uhr vormittags. Die ersten Tage ist es kalt, wir liegen meist in
unsere Decken gehüllt. Dann wird es milder. In der Gegend von Warschau liegt nicht mehr viel
Schnee, ab da immer weniger.
Sosnowice unweit der schlesischen Grenze … [hier wurden anderthalb Zeilen in Steno notiert74]
Am Freitag, 8. abends
fahren wir weiter über Kattowitz, Oppeln75 durch Österreich Richtung Budapest, Belgrad. Je
weiter südlich, desto weniger Schnee liegt. In der Gegend um Budapest liegt kein Schnee mehr,
aber hier ist schönes Wetter, während es in Deutschland noch schneite und fror. Interessantes
Stück Fahrt zwischen Neusatz76 und Belgrad. Durch Neusatz hindurch geht es zunächst über
einen Fluss, dessen anderes Ufer von Bergen und Felsen gebildet wird, auf welchen stolz die
Festung Peterwardein77 thront, und da gleich durch einen Tunnel. Nun fährt man eine ziemliche
Strecke an der hier sehr breiten Donau entlang, immer bergauf, sodass unser Zug eine zweite
Maschine erhält. Bis Belgrad geht es dann auf einem Hochplateau entlang. Am jenseitigen Ufer
der Donau gelegen, die hier die Grenze zwischen Serbien und Ungarn bildet, bietet Belgrad in
seinem terrassenförmigen Aufbau einen schönen Anblick. Ein Stadtteil liegt meist in Trümmern.
Während wir in Österreich oft um Tabak angegangen werden, so war hier das Anfragen nach
Tabak und Brot von Seiten österreichischen Militärs am tollsten. Russische Gefangene bieten für
Brot oder Tabak selbstgefertigte Ringe aus Kupfer oder Aluminium an.
71
Jelgava in Lettland
Bialystok in Polen
73
Sosnowiec in Polen, knapp 10 km ONO von Katowice
74
Die Kurzschrift von 1916 unterscheidet sich von der heute üblichen erheblich. Willy Thalmanns Tochter
Irmgard, die stenografieren kann, konnte den Text nicht entziffern.
75
Opole, ca. 95 km NW von Katowice
76
Novi Sad, Serbien
77
Petrovaradin, Stadtteil von Novi Sad
72
33
Abends gegen 9 fuhren wir in Belgrad los, Richtung Jagodina, Alexinac78, Nisch, Uskub79 in
schneller Fahrt. Am zweitfolgenden Tag, am 15.3., wurden wir eine Station vor Hudowo80
ausgeladen bei einem Wetter wie im Frühling. Beim Besteigen des Zuges vor zehn Tagen war
grimmige Kälte und Schnee.
Einige Stunden Marsch in die öden Felsengebirge Macedoniens bis zu einem ziemlich hoch
gelegenen alten türkischen Bergdorfe. Wir beziehen Quartier in den alten baufälligen
Steinhäusern, die Nacht und der folgende Tag bringen uns Sturm, Schnee und Regen. Es gibt
keine Gelegenheit, sich einmal aufzuwärmen. Nachts werden die Geschütze nach der
Feuerstellung gebracht, während wir mit der Staffel und Bagage am 17. unsere Protzenstellung
beziehen, die in einem öden Talkessel liegt, in dem muntere Gebirgsbächlein herabplätschern.
Das Wetter ist inzwischen angenehmer geworden unseren luftigen Wachräumen entsprechend.
Wir befinden uns in der Nähe des Dairau-See81. Neben uns erhebt sich der ca. 500 Meter hohe
Furkaberg82. Hinter ihm das alte Türkendorf Furka83. Von hier aus erstreckt sich eine größere
Talebene bis zur Front. Große Maulbeerbaumplantagen gibt es in derselben, ferner zahlreiche
Weinpflanzungen und Feigenbäume. Jetzt, Mitte April, ist schon alles grün und die Feigenbäume
haben bereits ihre Früchte.
78
Aleksinac, ca. 30 km NNW von Niš
wahrscheinlich Okrug Pirot
80
Udovo, s.o., Fußnote Nr. 41
81
Dojran-See, im SO Macedoniens. Durch ihn verläuft die heutige Grenze zwischen Macedonien und
Griechenland.
82
Furka dere, 480 m hoch, westlich von Furka.
83
Furka liegt etwa 10 km westlich des Dojran-Sees, 5 km NO von Bogdanci. Die beschriebene Stellung
muss also in der Gegend zwischen Smokvica und Prdejci (Pardovica) im Tal des Flusses Vardar gelegen
haben.
79
34
Karte 15: Dojran-See (4) an der Grenze Macedoniens zu Griechenland. Gradec (1), Hudowo (2) und Furka
(3). Mit dem grünen Symbol markiert ist der Furka-Berg. Westlich davon der Fluss Vardar.
Nach einer Leerseite folgt dieser in lateinischer Schrift geschriebene Text:
Schumla Maritza
okita wawecina
platsche wamena.
Marsch marsch generale
generale Marsch
platsche wawitza
lata ramna
rasdwa drie
napret waimici
Es handelt sich dabei offenbar um einen Teil der zwischen 1886 und 1944 geltenden bulgarischen
Nationalhymne „Shumi Maritsa“, die im folgenden im kyrillischen Original, einer Transliteration
und einer deutschen Übersetzung wiedergegeben wird. Der Text wurde der Wikipedia84
entnommen, ebenso wie der einleitende Text85.
84
85
en.wikipedia.org/wiki/Shumi_Maritsa
de.wikipedia.org/wiki/Nationalhymne_Bulgariens
Schumi Maritza
Der ursprüngliche Text von Schumi Maritza (Es rauscht die Maritza) ist von Nikola Schiwkow, der
Lehrer in Veles (heute Republik Mazedonien) war. Das Lied entsteht als patriotischrevolutionäres Lied während der Phase der bulgarischen „Wiedergeburt“. Eine besondere
Bedeutung hat das Lied in den Balkankriegen erlangt. Der Löwe, der im Text erwähnt wird, gilt
als Symbol für Bulgarien. Ein Löwe wird im bulgarischen Wappen abgebildet und die bulgarische
Währungseinheit heißt Lew (altertümlich für Löwe).
Шуми Марица
окървавена,
плаче вдовица
люто ранена.
Shumi Maritsa
okarvavena,
plache vdovitsa
lyuto ranena.
Припев:
Марш, марш,
с генерала наш!
В бой да летим,
враг да победим!
Pripev:
Marsh, marsh,
s generala nash!
V boy da letim,
vrag da pobedim!
Български чеда,
цял свят ни гледа.
Хай към победа
славна да вървим.
Balgarski cheda,
tsyal svyat ni gleda.
Hay kam pobeda
slavna da varvim.
Припев
Pripev
Левът балкански
в бой великански
с орди душмански
води ни крилат.
Levat Balkanski
v boy velikanski
s ordi dushmanski
vodi ni krilat.
Припев
Pripev
Млади и знойни,
в вихрите бойни.
Ний сме достойни
лаври да берем.
Mladi i znoyni,
vav vihrite boyni.
Niy sme dostoyni
lavri da berem.
Припев
Pripev
Ний сме народа,
за чест и свобода,
за мила рода
който знай да мре.
Niy sme naroda,
za chest i svoboda,
za mila roda
koyto znay da mre.
Припев
Pripev
Die blutgetränkte Maritza rauscht,
die schwerverwundete Witwe
weint.
Refrain:
Marsch, marsch
mit unserem General!
Stürzen wir uns in die Schlacht,
besiegen wir den Feind!
Bulgarische Brüder, die ganze
Welt schaut auf uns.
Lasst uns den ruhmreichen Sieg
erstreiten.
Refrain
Der geflügelte balkanische Löwe
führt uns
In die gigantische Schlacht gegen
die Scharen von Unterdrückern.
Refrain
Jung und heißblütig im
Schlachtgetümmel
Sind wir würdig, den Lorbeer zu
pflücken.
Refrain
Wir sind das Volk, das für Ehre
und Freiheit
Und für die geliebte Heimat zu
sterben weiß.
Refrain
Dieser Gefechtskalender befand sich wie die beiden im
Text gezeigten Fotos im Nachlass von Willy Thalmann.
Er ist der einzige Hinweis auf seine Truppenzugehörigkeit zum Feldartillerie-Regiment Nr. 209.
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