Vom Chaos in den Boom Das Begleitbuch zur ARD-Serie „Unsere 50er Jahre“ zeigt ein reizhungriges Volk im Aufbruch Von Dietmar Jochum Zuallererst: Geschichtsbücher mögen ein unverzichtbares (didaktisches) Mittel zum Eintrichtern von historischen Fakten und den Daten von geschichtlichen Persönlichkeiten sein; sie dürften allerdings kaum dazu taugen, (Einzel-)Schicksale und Lebensläufe so lebendig und einprägsam darzustellen, wie das das Begleitbuch des Historikers Rudolf Großkopff zur ARD-Serie „Unsere 50er Jahre“ durch Verknüpfung der geschichtlichen Hintergründe mit den persönlichen Geschichten und Erfolgsgeschichten der Deutschen nach dem Krieg zu leisten vermag. Nachdem im Herbst 1949 durch Gründung der beiden deutschen Staaten, Bundesrepublik und DDR, eine Ernüchterung auf eine absehbare (Wieder-)Vereinigung eingetreten war, begannen die Menschen in Ost und West langsam zu begreifen, daß sie sich in ihren jeweiligen geographischen und nun auch politisch unterschiedlichen Staatsgebieten (wenigstens vorläufig) einzurichten hatten. Während in dem einen Staat der „Aufbau des Sozialismus planmäßig“ vorangetrieben wurde, wurden in dem anderen die Rahmenbedingungen für jenen ökonomischen Kurs geschaffen, der dem westlichen Teil Deutschlands und Westberlin den größten Aufschwung des Jahrhunderts bescherte: die soziale Marktwirtschaft. Davon wollten dann auch die profitieren, die sich in dem anderen Teil des Landes zu kurz gekommen fühlten, und daher den Weg über die immer schwerer zu überwindende Grenze ins „Wirtschaftswunderland“ Westdeutschland suchten. Diese „Abstimmung mit den Füßen“ gegen den Sozialismus und für die Marktwirtschaft endete bekanntlich mit dem Bau der Berliner Mauer und völliger Abriegelung der DDR-Grenzen ab August 1961. Im Westteil ging der wirtschaftliche Aufstieg in den Fünfzigern dagegen so rasant voran, daß der englische Schriftsteller George Mikes „das Tempo des Wiederaufbaus und die Tüchtigkeit der Deutschen beängstigend (fand)“. So ginge es Deutschen „gut, besser als den Engländern und viel besser als den Franzosen“, zitiert Großkopff den Briten, der sich darüber hinaus (spöttisch) gefragt haben soll: „Wie schaffe ich es am besten, besiegt zu werden?“ Die Niederlage der Deutschen im „Dritten Reich“ mag das eine, vielleicht die vielgerühmten oder auch geschmähten Sekundärtugenden (jene Fähigkeit, angeblich das materiell „Gute“ zu verwirklichen) die andere Seite gewesen sein, die die Menschen dann „aus dem Chaos in den Boom“ führten. Es schien, als wäre der Deutsche nicht mehr kleinzukriegen oder aufzuhalten, wenn es darum geht, sozusagen vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden. So gehören Unternehmer wie Neckermann, Fischer (Dübel), Nordhoff, Grundig, Borgward (Autoindustrie), Reinhard Mohn (Bertelsmann) und andere, wie Rudolf Großkopff weiß, zu denjenigen, „die teilweise aus dem Nichts mit hohem persönlichen Risiko kleine oder große Imperien aus dem Boden stampften“. Nicht Neckermann, sondern der „Übervater“ Ludwig Erhard habe das mit seinem ökonomischen Kurs möglich gemacht. Die Menschen schienen sich zur rechten Zeit am rechten Ort zu fühlen und der Überschwang der Gefühle in dem Slogan zu gipfeln: „Wir sind wieder wer.“ So „flog“ etwa der Petticoat, der Motorroller schnurrte, das Transistorradio trällerte, die ersten Fernsehgeräte überschwemmten das Land, Jugendliche muckten auf und tanzten Rock'n Roll, die deutsche Fußballnationalmannschaft wurde Weltmeister. Sogar verurteilte NaziVerbrecher kamen vorzeitig frei, andere wieder in Amt und Würden. Der Hunger während des Krieges und der danach war dem Reizhunger nach dem Sinnlichen, nach dem Vergnügen gewichen. Jeder wollte auf seine Weise am „Wirtschaftswunder“ teilhaben. Nur die Mädchen hatten noch Angst, vom Küssen Kinder zu kriegen. Die DDR ging dagegen immer wieder, so Großkopff, in fast regelmäßigen Abständen durch große Krisen, von denen der 17. Juni 1953 nur die erste war. Dennoch war Großkopff zufolge die Schicht derer, die nach wie vor auf ein anderes, auf ein „besseres“ Deutschland hofften, breiter, als man in der Bundesrepublik - „wo das Schwarz-WeißDenken bekanntlich Hochkonjunktur hatte“ - wahrnehmen wollte. So habe die DDR eben nicht nur aus Stasi, Zentralkomitee, Volkspolizei und Nationaler Volksarmee, sondern auch aus Menschen bestanden, die trotz allem den Sozialismus für das menschenfreundlichere und auf die Dauer überlegene System hielten. Als Beleg nennt Großkopff auch den Schriftsteller Erich Loest. Die 50er Jahre waren aber auch eine Dekade der „Auferstehung der Toten“. So kehrten plötzlich und unerwartet solche Soldaten aus der Gefangenschaft zurück, die ihre Frauen (Jahre) zuvor für tot erklärt hatten, um wieder heiraten zu können, aber auch einen Ernährer für sich und ihr(e) Kind(er) zu haben. Viele Menschen suchten und fanden sich wieder. Andere wiederum verschwanden – spurlos. Der Kalte Krieg forderte auf perfide Weise seinen Tribut. Eine beträchtliche, wenn auch nicht immer konfliktfreie Leistung, stellte die Integrierung der vielen Millionen Flüchtlinge oder Vertriebene aus den so genannten Ostgebieten dar. Als es Bundeskanzler Adenauer im Herbst 1955 erreichte, auch die mutmaßlich letzten Kriegsgefangenen aus Rußland frei zu bekommen, waren sogar Russen perplex: „Zehn Jahre nach dem Krieg gibt es noch immer Gefangene, das haben sie nicht gewußt“, zitiert Großkopff einige Heimkehrer, die von einigen Russen bei einem Zwischenstopp nach ihrer Identität gefragt worden waren. In Westdeutschland war zu diesem Zeitpunkt längst durch eine Änderung des Grundgesetzes die Voraussetzung für die Bundeswehr geschaffen worden. Der heiße Krieg war zwar längst einem kalten gewichen, wenngleich ein „heißer“ nicht völlig ausgeschlossen war. Rudolf Großkopff: Unsere 50er Jahre. Wie wir wurden, was wir sind. Eichborn Verlag, Franfurt/Main 2005. 256 Seiten, 19,90 Euro.