Sozialismus im 21. Jahrhundert Die Programm- und Bildungsarbeit der Linken hat über den üblichen Rahmen hinaus eine besondere Aufgabe: sie muss die unterschiedlichen Strömungen in der Partei aufgreifen und sie, ohne ihnen Gewalt anzutun, unter gemeinsame Gesichtspunkte stellen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Linke nicht nur aus dem Zusammenschluss zweier Parteien mit verschiedener Geschichte und verschiedenen Kulturen entstanden ist; in ihr sind auch alt- und neomarxistische, linksliberale, christliche und andere Perspektiven vertreten. Diese Pluralität birgt Risiken und Chancen: sie kann die Einheit der Partei gefährden, sie kann aber auch die Unterschiedlichkeit der Ansätze zusammenfassen und fruchtbar machen. Wichtig ist dabei, dass keine Richtung Dominanz über die anderen anstrebt, sondern sich selbst als Teilaspekt versteht, der für bestimmte Konstellationen und Probleme gelten mag, aber nur im Zusammenklang mit anderen Stimmen das Ganze erklären hilft. Unser Welt-, Gesellschafts- und Menschenbild darf nicht statisch sein, denn alles ist in ständiger Entwicklung begriffen, womit sich auch Aufgaben und Herausforderungen fortlaufend ändern. Ein Endziel oder gar ein Ende der Geschichte zu erwarten und anzustreben führt in die Irre. Sozialismus ist ein dynamischer und im Prinzip offener Prozess und kein zu erreichender Endzustand. Damit verbietet sich jeder Dogmatismus in der innerparteilichen Diskussion und in den programmatischen Aussagen. Es sei daran erinnert, dass selbst Marx sich ausdrücklich nicht als Marxisten verstanden hat (vgl. MEW 37, S. 436). Die Vielfalt innerhalb der sozialistischen Diskussion selbst ist beeindruckend, man denke nur an die Frankfurter Schule und ihre Ausläufer. Zur Erhaltung der Vielfalt muss die Diskussion für neue Inhalte offen gehalten werden. Das Freiheitsproblem und die Menschenrechtsfrage sind einzubeziehen. Auch wer sich dem dialektischen Prinzip verpflichtet fühlt, muss in Betracht ziehen, dass Dialektik sinnvoll nur als offener Prozess verstanden werden kann (vgl. z.B. Theodor W. Adorno und Ernst Bloch). Nun ist es sicherlich auch erforderlich, die Analyse von real existiert habenden oder noch existierenden Erscheinungsweisen des Sozialismus nebst den gemachten Fehlern (und auch, das darf nicht verschwiegen werden, von begangenen Staatsverbrechen) in die Diskussion einzubeziehen. Es ist in der Tat wichtig zu wissen, warum es nicht gelungen ist, dem Kapitalismus eine attraktive und erkennbar überlegene Alternative entgegenzustellen. Dabei aber darf es nicht bleiben. Es muss darüber hinaus ein zeitgemäßes, nicht doktrinäres, künftigen Entwicklungen gegenüber offenes und in praktische Politik umsetzbares Sozialismusverständnis entwickelt werden. Das Ergebnis wäre sonst eine verzerrte Wahrnehmung der Linken in der Öffentlichkeit und weitgehendes Unverständnis bei den an einer Verbesserung ihrer Lebenssituation interessierten Mitgliedern und Bürgern. Ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert kann nicht so aussehen, dass man der neoliberalen Theorie schlicht eine andere geschlossene Theorie entgegensetzt und diese mit Monopolanspruch durchzusetzen trachtet. Es ist ein grundsätzlicher Fehler zu glauben, dass eine Theorie die Wirklichkeit eins zu eins vollständig wiedergibt und ihre Ziele ohne Bruch in Praxis umgesetzt werden können. Jede Theorie nämlich arbeitet mit Modellen, und Modelle sind immer nur vereinfachte Abbildungen eines Ausschnitts aus der Realität. Theorien sind der Versuch, eine komplexe, unübersichtliche und in ihrer Gänze schwer durchschaubare Wirklichkeit nach bestimmten Gesichtspunkten zu ordnen und zu verstehen. So betrachtet haben sie durchaus ihren Wert. Man muss sich aber stets vor Augen halten, dass eine Theorie niemals das Ganze, sondern immer nur Teilaspekte umfasst. Eine Theorie, die alle Aspekte erklärt und für alle Zeiten und alle Umstände Gültigkeit hat, gibt es nicht. (Das trifft auch auf die Dialektik und ihre Spielarten zu, vgl. Adorno „Negative Dialektik“.) Etwas überspitzt formuliert: es gibt keine Wahrheit, sondern nur Wahrheiten. Was also bleibt? Welche Grundideen sind unverzichtbar, damit der sozialistische Anspruch im Kern erhalten bleibt und nicht in konturenlose Beliebigkeit abgleitet? Es sind im wesentlichen zwei: erstens die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und zweitens ein Menschenbild, welches den Menschen als „Gattungswesen“ (Marx), also als auf Gemeinschaft angelegtes Wesen sieht. Das ist natürlich zunächst eine formelhafte Festlegung, die der inhaltlichen Ausfüllung bedarf. Diese Ausfüllung darf aber weder in einer starren Ideologie noch in richtunglosem Pragmatismus bestehen. Für die innerparteiliche Überzeugungsbildung wie auch für die praktische politische Arbeit gilt es einen Weg zu finden, der gleicherweise dogmatische Erstarrung wie auch standpunktlose Beliebigkeit vermeidet. Menschen, Gesellschaft und Konstellationen sind irrational und wandelbar, und darum werden sich Forderungen und Erscheinungsweisen sozialer Gerechtigkeit ständig wandeln. Zwischen Utopie und Pragmatismus besteht eine ständige Spannung, aber diese Spannung gilt es nicht nur auszuhalten, sondern zu gestalten und fruchtbar zu machen. Die Mittel hierzu sind Kritik und Praxis, die politischen Voraussetzungen sind eine Kombination von Grundwerten, Beweglichkeit und Mut zum Perspektivenwechsel. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist ein dynamischer und pluralistischer Sozialismus. Dieter Sienknecht