Was macht die Schweizer so reich

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Was macht die Schweizer so reich?
Kaspar Näf
Als ich kürzlich in einer Schule in Estland einen Vortrag zur Schweiz hielt und zum Einstieg die
Frage stellte, woran die Schüler denken, wenn sie das Wort Schweiz hören, rief jemand aus der
Gruppe: Reichtum. Ich muss gestehen, dass ich nicht mit dieser Antwort gerechnet hatte. Aber es
stimmt natürlich, dass die Schweiz ein reiches und damit auch erfolgreiches Land ist. Es stellt sich
damit die Frage, was hinter diesem Reichtum steht und warum die Schweiz als Land so erfolgreich
ist und es geschafft hat, als multikultureller, vielsprachiger Staat im Herzen Europas über 160 Jahre
lang in Frieden zu leben und dabei noch eine ausgeklügelte direkte Demokratie betreiben kann, vor
deren Einführung Politiker in anderen Ländern mit dem Hinweis auf populistische Fallstricke
warnen.
Würde man die Frage mit in der estnischen Politik geläufigen Kategorien beantworten, so müsste
man wohl sagen, dass die Schweiz dank tiefer Steuern und hoher Löhne so reich und erfolgreich
geworden ist. Diese Denkhaltung liegt auch dem vor einigen Jahren eingeführten „steuerfreien
Freitag“ zugrunde, der zur Steigerung des Reichtums seinen Anteil beisteuern sollte. Insofern
erstaunt es nicht, dass die gegenwärtige Regierung gleich im zweiten Absatz quasi als
programmatisches Einleitungswort in ihren mehrere Dutzend Seiten starken, mit Widersprüchen nur
so durchsetzten Koalitionsvertrag nach einigen Plattitüden wie dem Wort „konkurrenzfähig“ „die
Steigerung der Einkommen der Menschen“ (welche Menschen?) zur Priorität erklärt hat.
Tatsächlich sind in der Schweiz viele Steuern sehr tief. Im Gegensatz zu Estland sind die
Einkommenssteuern aber fast überall progressiv ausgestaltet. Meist gibt es 12 bis 13
Progressionsstufen und bei der direkten Bundessteuer bezahlen ganz wenige etwa 90 % des
Steueraufkommens. Demgegenüber liegt die Mehrwertsteuer nur gerade bei 8 % und der Verkauf
von Lebensmitteln wird nur gerade mit 2,5 % besteuert. Dies alles widerspricht den in Estland
verbreiteten Denkschemen. Folglich sind die entscheidenden Faktoren für das Schweizer
Erfolgsmodell anderswo zu suchen. Ausschlaggebend scheinen mir die vielfältigen Bildungs- und
Ausbildungsmöglichkeiten in der Schweiz zu sein, deren Ziel es ist, Kinder und Jugendliche zu
befähigen, selbständig und verantwortungsvoll zu handelnd und auch als Staatsbürger unabhängig
zu denken und zu entscheiden.
Eine erste Eigenheit der schweizerischen Bildungslandschaft ist deren extrem föderale
Ausgestaltung. Ein schweizerisches Bildungssystem als solches gibt es nämlich nicht. Zusammen
mit dem Gesundheitswesen, der inneren Sicherheit (Polizei), dem Bauwesen, der Justiz und dem
Steuersystem ist Bildung nämlich sowohl in inhaltlicher wie auch in struktureller Hinsicht eine
Kernaufgabe der Kantone (vgl. § 62 der Schweizerischen Bundesverfassung). Folglich existieren in
der Schweiz 26 verschiedene Bildungssysteme, die nur bedingt kompatibel sind und denen fast
ebensoviele Lehrmittelverlage zur Seite stehen, die wiederum für viele Fächer eigene Schulbücher
erarbeiten. Erst am 21. Mai 2006 stimmte die Bevölkerung Ergänzungen der Bundesverfassung zu,
die für das ganze Land einen gemeinsamen Bildungsraum – selbstverständlich mit einer weiterhin
sehr vielfältigen Bildungslandschaft – vorsehen. Namentlich wurden damit die Kantone
verpflichtet, in wichtigen Bereichen wie dem Schuleintrittsalter, der Schulpflicht, der Dauer und
den Zielen der Bildungsstufen, den Übergängen im System und der Anerkennung von Abschlüssen
durch Koordination eine gesamtschweizerisch harmonisierte Lösung zu erarbeiten.
Auf der Basis dieser Verfassungsbestimmung entstand in den letzten Jahren das Projekt HarmoS,
ein auf Freiwilligkeit basierender Zusammenschluss zwischen den Kantonen zur Harmonisierung
der Volksschule. Diesem Projekt sind aber bei weitem nicht alle Kantone beigetreten. Zeitweise war
sogar das erforderliche Quorum von zehn Kantonen für das Zustandekommen des Projekts in Frage
gestellt. In vielen Kantonen wurde von Gegnern der Schulreform gegen den Beitritt zu HarmoS das
Referendum ergriffen, was die Angelegenheit an die Urne brachte und im Vorfeld der
Volksabstimmungen lokal zum Teil zu sehr emotionalen Diskussionen führte. In einigen Kantonen
wurde der Beitritt zu HarmoS abgelehnt und überall fielen die Abstimmungsresultate relativ knapp
aus.
Diese Abstimmungsresultate zeigen, dass die Schweizerinnen und Schweizer in vielen Kantonen
nicht bereit sind, trotz offensichtlich hoher Kosten (und damit höherer Steuern) auf eine
weitgehende Autonomie in der Bildung zu verzichten. Qualität, Flexibilität (schnelle
Anpassungsfähigkeit), Bürgernähe und vor allem ein Mitspracherecht gehen vor. Das kann etwa
soweit führen, dass der Hausmeister eines Einkaufszentrums in Luzern an einem Elternabend eine
Diskussion darüber initiiert, ob es zulässig sei, dass die Geschichtslehrerin in der Klasse seiner
Tochter auf Sekundarschulstufe (7.-9. Schuljahr) ein anerkanntermaßen gutes Lehrmittel des
Kantons Zürich verwende. Damit, so der besorgte Vater, bestünde die Gefahr, dass seine Tochter
die Geschichte Zürichs und nicht diejenige Luzerns lernen würde. In Luzern möchte
selbstverständlich niemand, dass aus den Kindern Zürcher werden.
Eine zweite wichtige Eigenschaft des schweizerischen Bildungswesens ist die duale Ausgestaltung
der Bildungswege. Da ist zum einen die praxisnahe Berufsausbildung, welche im
gesamtschweizerischen Durchschnitt von mehr als 70 % der Jugendlichen gewählt wird. Dieser
Berufsausbildung steht zum anderen eine relativ anspruchsvolle allgemeinbildende
Gymnasialbildung gegenüber, die nur von einer Minderheit der Jugendlichen – in einigen Kantonen
gar nur rund 15 % eines Jahrganges – absolviert wird. Wichtig ist aber, dass es für Absolventen des
Berufsbildungsweges immer wieder Abzweigungen nach oben gibt, die im Einzelfall sogar zu
einem Universitätsabschluss führen können. Die Bildungswege sind als durchlässig und genießen
beide in der Gesellschaft eine hohe Reputation. Mit der Neuordnung der Verfassungsbestimmungen
zur Bildung wurden der Bundesstaat (d.h. die Schweiz) und die Kantone sogar dazu verpflichtet,
sich explizit dafür einzusetzen, „dass allgemein bildende und berufsbezogene Bildungswege eine
gleichwertige gesellschaftliche Anerkennung finden.“ (§ 61a Absatz 3 der Schweizerischen
Bundesverfassung.)
Da mit der zunehmenden Harmonisierung die Primarschule nun mit zwei Ausnahmen (Kantone
Aargau und Tessin) in allen Kantonen sechs Jahre dauert, steht heute im sechsten Schuljahr mit der
Wahl zwischen dem Eintritt in ein so genanntes Langzeitgymnasium (meist 6 Jahre) oder eines der
drei Niveaus der Sekundarschule (3 Jahre) eine erste Entscheidung an. Der Eintritt ins Gymnasium
ist in vielen Kantonen an eine Prüfung geknüpft. In einigen anderen Kantonen entscheidet allein der
Notendurchschnitt des sechsten Primarschuljahres. Der Eintritt ins Gymnasium ist aber immer mit
einer Probezeit verbunden. Ein ungenügender Notenschnitt an deren Ende hat den Austritt und die
Herabstufung in eine Sekundarschule zur Folge. Für die Wahl des Niveaus der Sekundarschule (A,
B oder C) ist ebenfalls der Notenschnitt im letzten Primarschuljahr ausschlaggebend. Zum Teil gibt
es die Möglichkeit, über eine Prüfung den Eintritt in ein höheres Niveau zu versuchen.
Die Wahl zwischen Gymnasium und Sekundarschule ist ein erster Richtungsentscheid. Wer
nämlich nicht ins Langzeitgymnasium geht, hat zwar nach zwei Jahren Sekundarschule auf dem
Niveau A erneut die Möglichkeit, ins so genannte Kurzzeitgymnasium (meist 4 Jahre) zu wechseln
und kann diesen Wechsel gegebenenfalls auch nach dem dritten Sekundarschuljahr ein weiteres
Mal versuchen. Dennoch ist die Sekundarschule grundsätzlich auf die Vorbereitung für eine
Berufsausbildung ausgelegt. Wichtig ist im Übrigen auch die Rolle des Primarlehrers bzw. der
Primarlehrerin: Er bzw. sie hat wegen des hohen Stellenwerts des Notendurchschnitts im letzten
Primarschuljahr eine wichtige Funktion in der Selektion zu: Mit den Noten sagt er bzw. sie dem
Schüler oder der Schülerin ein erstes Mal, welchen Bildungsweg er für richtig hält. Das kann im
Einzelfall und gerade dort, wo keine Prüfungen bestehen, allerdings zu schwierigen Gesprächen mit
den Eltern führen.
Die drei Jahre Sekundarschule mögen für einige Jugendlichen eine Zeit sein, in der sie ihre
anfängliche Entscheidung nochmals überdenken. Wer die für eine Gymnasialbildung nötigen
schulischen Leistungen nicht erbringen kann oder auch einfach nicht an ein Gymnasium möchte
oder, was auch nicht selten ist, wegen Nichtgefallen („genug von der Schule“) wieder aus dem
Gymnasium austreten möchte, muss sich in diesem Jahr für einen Beruf entscheiden. Um die
Berufswahl zu erleichtern, werden einerseits in der Schule verschiedene Berufe vorgestellt und
andererseits von vielen Betrieben möglichen Bewerberinnen und Bewerbern während der
Schulferien so genannte Schnupperlehren angeboten. Darunter werden einwöchige unbezahlte
Praktika verstanden, in denen Jugendlichen die Möglichkeit geboten wird, Einblick in den einen
oder anderen Beruf zu bekommen.
Anschließend muss der zukünftige Lehrling bzw. die zukünftige Lehrtochter sich um eine so
genannte Lehrstelle bemühen – am besten natürlich in dem Betrieb, in dem er bzw. sie eine
Schnupperlehre absolviert hat. Unter einer Lehrstelle versteht man in der Schweiz eine spezielle
Arbeitsstelle in einem beliebigen Betrieb, deren Ziel es ist, je nach Berufsgattung in drei oder vier
Jahren einen Beruf zu erlernen und ein Berufsdiplom zu erhalten. Um dies zu ermöglichen und um
auch gewisse Qualitätskriterien zu garantieren, ist der Lehrvertrag im schweizerischen Zivilrecht
(Obligationenrecht) als spezieller Arbeitsvertrag geregelt. Damit erhält der Lehrling bzw. die
Lehrtochter gewisse Sicherheiten. Gleichzeitig wird der Lehrmeister, welcher im Betrieb für die
fachliche Ausbildung verantwortlich ist und bei Bedarf beim Staat für die Ausbildung Gelder
beantragen kann, in die Pflicht genommen. Inhaltlich erfolgt der größte Teil der berufspraktischen
Ausbildung direkt in den Ausbildungsbetrieben, in denen die Auszubildenden drei bis vier Tage die
Woche arbeiten. Auszubildende gleicher oder ähnlicher Berufe treffen sich jeweils nur 1-2 Tage die
Woche in der Berufsschule, wo sie in Grundlagenfächern wie Mathematik, Muttersprache und
mindestens eine Fremdsprache unterrichtet werden und die theoretische Basis zu ihrem Beruf
vermittelt bekommen. So erhalten etwa Detailhandelsfachleute – landläufig Verkäufer und
Verkäuferinnen – etwa in den Fächern Detailhandelskenntnisse, Buchhaltung sowie Wirtschaft und
Recht theoretisches Wissen zu ihrem Beruf. Friseure wiederum lernen in der Berufsschule gewisse
Schneidetechniken und das Benennen der Arbeitsschritte oder auch Kenntnisse zu verschiedenen
Frisuren. Fragen aber, wie man aber beim Haareschneiden praktisch und konkret vorgeht oder mit
dem Kunden oder der Kundin die gewünschte Frisur bespricht, werden bei der täglichen Arbeit
gezeigt und anschließend möglichst viel geübt. Für diese Arbeit erhalten die Lernenden auch vom
ersten Tag an einen Lohn, der mit jedem Lehrjahr ansteigt.
Neben der beruflichen Grundausbildung in der Berufsschule besteht in Absprache mit dem
Lehrbetrieb und je nach Fähigkeiten die Möglichkeit, weitergehende allgemeinbildende Fächer zu
belegen und die Lehre nicht nur mit einer normalen Abschlussprüfung zu beenden, sondern eine so
genanntes Berufsabitur (in der Schweiz selbst Berufsmatur genannt) zu erlangen. Diese steht je
nach Angebot in der Berufsschule allen Berufen offen. So kann durchaus auch eine Friseurin oder
ein Detailhändler, ein Schneider oder eine Schreinerin, aber auch ein Informatiker oder eine
Automechanikerin ergänzend zur Lehre eine Berufsmatur machen. Diese Berufsmatur berechtigt zu
einem Studium an einer Fachhochschule. Für ein Studium an einer Universität hingegen wären
Zusatzprüfungen nötig. Es gibt aber auch andere Weiterbildungsmöglichkeiten, etwa höhere
Fachschulen, an denen etwa Fähigkeitszeugnisse erlangt werden können, die dazu berechtigen,
selbst als Ausbildner oder Ausbildnerin im Betrieb selbst tätig zu werden.
Dieses System der Berufsausbildung hat sich als sehr vielversprechend erwiesen und bewährt, denn
die Auszubildenden lernen vom ersten Arbeitstag an, genau und präzise zu arbeiten. Sie müssen für
Ihre Arbeiten selbst Verantwortung übernehmen und diese auch tragen lernen lernen, denn ihre
Produkte und Dienstleistungen sind nicht etwa für den Papierkorb bestimmt, sondern für einen
Kunden oder eine Kundin. Dies wiederum erzeugt bei den Lernenden das befriedigende Gefühl,
etwas machen zu können, was wirklich gebraucht wird. Gleichzeitig lernen die Auszubildenden,
welche Fragen in der Berufspraxis von den Kunden gestellt werden und welche Probleme eine
echte Herausforderung darstellen. Gegebenenfalls können Erfahrungen aus dem Berufsalltag auch
in der Schule besprochen werden. Ebenso klar ist aber, dass nicht alles in jedem Betrieb genau
gleich gemacht wird. Dies führt zum Primat der Praxis vor der Theorie in der Schule. Kleine
Unterschiede in gewissen Arbeitsschritten können dabei zu eigenständigem Denken anregen und im
besten Fall zu innovativen Ideen und Weiterentwicklungen führen. Abweichungen vom theoretisch
gelernten Wissen werden somit nicht als Wissenslücken bestraft und können vielmehr auf positive
Weise genutzt werden. Damit werden auch wichtige Fähigkeiten eingeübt, um im Markt bestehen
zu können, denn letztlich ist für den Erfolg eine Unterscheidung von den Konkurrenten wichtig. Für
die Kundinnen und Kunden wiederum hat das System den Vorteil, es auch in einfacheren Berufen
(etwa im Verkauf) mit gut ausgebildetem Personal zu tun zu haben, das fähig ist, Fragen selbständig
und fachkundig zu beantworten. Das erhöht die Bereitschaft, mehr für eine Dienstleistung oder ein
Produkt zu bezahlen.
Darüber hinaus werden durch das schweizerische Berufsbildungssystem auch soziale Kompetenzen
wie etwa den Umgang mit Vorgesetzten und weiteren Mitarbeitenden gefördert. Damit lernen die
Lehrlinge und Lehrtöchter sich in Hierarchien zurecht zu finden. In Betrieben, in denen mehrere
Lernende in Ausbildung sind, kommt noch der Effekt hinzu, während der Ausbildungszeit selbst
aufzusteigen und sich mit verschiedenen Rollen als Auszubildende (jüngere Lernende (in der
Schweiz: Unterstift/in), ältere Lernende (Oberstift/in)) auseinanderzusetzen. Dass sich dies positiv
auswirken kann, haben auch Forschungen in Klassen gezeigt, in denen mehrere Jahrgänge (z.B. 1.
und 2. Klasse) zusammen unterrichtet werden.
Demgegenüber ist das Ziel der schweizerischen Gymnasien darin, so die Konferenz der kantonalen
Bildungsdirektoren EDK im Jahre 1995 anlässlich der Gymnasialreform, dass die „Schülerinnen
und Schüler [...] zu jener persönlichen Reife [gelangen], die Voraussetzung für ein
Hochschulstudium ist und die sie auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft vorbereitet.“
Und: „Die [gymnasialen] Schulen streben eine breit gefächerte, ausgewogene und kohärente
Bildung an, nicht aber eine fachspezifische oder berufliche Ausbildung.“ Deshalb steht im Zentrum
jeder Gymnasialbildung eine umfassende Allgemeinbildung. So erhält jeder Gymnasiast und jede
Gymnasiastin eine weitreichende mathematisch-naturwissenschaftliche, sprachliche und geistesund sozialwissenschaftliche und musische Schulbildung. Als Leitfaden für die Lehrenden gilt dabei
immer, den Schülern möglichst viel Orientierungswissen zu vermitteln, das heißt Lerninhalte,
welche die Schülerinnen und Schüler befähigen, das Fach als solches zu verstehen und
Alltagsfragen disziplinär zu analysieren. So stehen etwa bei der Behandlung der Amerikanischen
Verfassung von 1787 deren Prinzipien (Stichwort „checks and balances“) und die Frage im
Vordergrund, warum es auf der Basis dieser Verfassung fast unmöglich, in den USA eine absolute
Herrschaft zu errichten. Demgegenüber nehmen die historischen Fakten eine eher sekundäre Rolle
ein. Oder im Fach Rechtslehre, das am Wirtschaftsgymnasium unterrichtet wird, geht es darum, die
Schüler zu befähigen, selbst Rechtsfälle zu lösen und zu beurteilen. Die Theorie der
Volkswirtschaftslehre wiederum wird anhand der Lektüre von Zeitungsartikeln eingeübt und immer
die Frage gestellt, wo sich der Fachautor mit seinen Aussagen in der Theorie gerade befindet. Im
Gegensatz zu anderen Ländern fällt auch auf, dass die Schweiz als Staat und auch ihre Geschichte
in den Lehrplänen der meisten Kantone eine eher sekundäre Rolle einnehmen. Dies hängt sicherlich
damit zusammen, dass die Schweizer einerseits, wie oben dargelegt, vor allem in kantonalen
Kategorien denken und andererseits das Ziel der Bildung darin geht, selbständig zu werden und die
Welt zu verstehen, in der die Schweiz selbst eine untergeordnete Rolle einnimmt.
Trotz diesem Fokus auf der Allgemeinbildung und Analyse gibt es in der Schweiz kein
einheitliches Abitur (Matur). Vielmehr müssen sich die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten vier
Jahre vor den Maturitätsprüfungen für ein Profil entscheiden. Bis 1995 standen dafür fünf
Maturitätstypen (Altgriechisch und Latein, Latein, Naturwissenschaften, Neuere Sprachen,
Wirtschaftswissenschaften) zur Auswahl. Mit Beginn des Schuljahres 1996/97 wurden diese Typen
ersetzt. Seither muss jeder sein Profil selbst zusammenstellen und eines von acht
Schwerpunktfächern (alte Sprachen (Griechisch und/oder Latein); eine moderne Fremdsprache
(eine dritte Landessprache, Englisch, Spanisch oder Russisch); Physik und Anwendungen der
Mathematik; Biologie und Chemie; Wirtschaft und Recht; Philosophie/Pädagogik/Psychologie;
Bildnerisches Gestalten; Musik) mit einem Ergänzungsfach (Physik, Chemie, Biologie,
Anwendungen der Mathematik, Geschichte, Geographie, Philosophie, Religionslehre, Wirtschaft
und Recht, Pädagogik/Psychologie, Bildnerisches Gestalten, Musik, Sport) kombinieren. Damit
kann jeder und jede neben der Allgemeinbildung seinen persönlichen Neigungen Rechnung tragen.
Bis zur Maturitätsreform 1995 war übrigens die Matur mit Latein als Schwerpunktfach die am
meisten gewählte und damit beliebtest. Dies mag auf den ersten Blick erstaunen. Der Grund lag
wohl zum einen in einer langen Latein-Tradition im Bildungsbürgertum. Die Typen ohne Latein
wurden erst in der Nachkriegszeit nach und nach geschaffen. Zum anderen waren Lateinkenntnisse
bis zur Einführung des Bologna-Systems an allen Schweizer Universitäten für viele Studienfächer
und insbesondere alle großen Philologien angefordert. Darüber hinaus waren Lateinschüler auch in
naturwissenschaftlichen Studienfächern gerne gesehen. Es galt bis in die 1990er Jahre hinein als
offenes Geheimnis, dass man anhand des Latein ganz offensichtlich sehr viel Implizites lernen
konnte – nicht zuletzt, wie eine systematische Sprache funktioniert und wie man bei der Analyse
und Lösung von fast unlösbaren Problemen vorgehen muss.
Abschließend ist zu sagen, dass sich die Schweizer Art, junge Menschen auf ihr Leben und dessen
Herausforderungen vorzubereiten, auch in einem so wichtigen Gebiet wie der Sexualaufklärung und
der Drogenprävention bewährt. Der Rückgang von HIV-Ansteckungen in den letzten Jahren wie
auch der Drogensüchtigen und -toten sprechen dabei eine eindeutige Sprache. Gerade auf diesen
beiden Feldern zeigt sich, ob die Schule es schafft, ihren Abgängern auch in manchmal schwierigen
Situationen vernünftig und verantwortungsbewusst zu handeln.
Verantwortungsvolles Handeln und Interesse für sich und sein Bildungsumfeld spart (vor allem)
Kosten und führt zu Erfolg und Reichtum, auch wenn die Bildungslandschaft, die das ermöglicht,
auf den ersten Blick föderalistisch kleinkariert, kompliziert und viel zu teuer zu sein scheint.
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Kaspar Näf, geboren in Zürich, studierte an der Universität Zürich und Basel Allgemeine Geschichte mit Schwerpunkt
Osteuropa, Russische Sprachwissenschaft und Betriebswirtschaftslehre und lernte im Rahmen des Programms Studia
Baltica der Universität Münster Estnisch und Litauisch. Seit 2007 kommentiert er regelmässig in verschiedenen
estnischen Zeitungen die estnische und internationale Politik und nimmt auch Stellung zu Wirtschaftsfragen und
gesellschaftlichen Problemen. Im Vikerradio analysiert er Ereignisse in der Schweiz und Österreich.
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