Smartphone verdrängt Stechuhr

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Smartphone verdrängt Stechuhr
Arbeitszeit 4.0 – das Ende der zentralen Organisation
Die zunehmende intelligente Vernetzung in der Produktion
revolutioniert auch die Personaleinsatzsteuerung. Künftig
organisieren sich die Mitarbeiter mit Hilfe von Smartphones und
Social-Media-Methoden selbst. In einem Forschungsprojekt
sammeln Firmen damit erste Erfahrungen.
Stuttgart. Klaus Ottlieb ist Facharbeiter in einem großen
Maschinenbauunternehmen. Er beendet gerade seine Schicht,
als sich sein Smartphone meldet. Auf dem Bildschirm erscheint
die Information, dass für einen kurzfristigen Auftrag, in zwei
Tagen, am Samstag, eine Sonderschicht gefahren werden
muss. Gesucht werden dafür insgesamt fünf Mitarbeiter mit
unterschiedlichen Fachkenntnissen. Als der gelernte
Zerspanungsmechaniker gerade noch überlegt, ob er das
hinbekommt, sieht er auf dem Display, dass Kevin Stark, mit
dem er eine Fahrgemeinschaft hat, auch mitmacht. Das passt
ja, freut sich der junge Mann. Er bestätigt daher die Anfrage.
Wenig später haben weitere drei Kolleginnen und Kollegen
zugesagt. Der Sonderschicht am Samstag steht nichts mehr im
Wege.
„Schicht-Doodle“ nennt Stefan Gerlach dieses System, in
Anlehnung an das bekannte Planungstool im Internet, das es
einfacher macht, einen gemeinsamen Termin mit mehreren
Beteiligten zu finden. Bei der Wortschöpfung von Gerlach geht
es jedoch nicht um Ausflüge, Partys oder Essenstermine,
sondern um die flexible Arbeitszeitgestaltung der Zukunft.
Zusammen mit seinem Kollegen Moritz Hämmerle steht er vor
der Herausforderung die fiktive Eingangsszene bald Wirklichkeit
werden zu lassen. Die beiden Wissenschaftler vom FraunhoferInstitut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO in Stuttgart
sind federführend im Projekt „KapaflexCy“ (selbstorganisierte
Kapazitätsflexibilität in Cyber-Physical-Systems).
Hinter dem kryptischen Namen verbirgt sich ein auf drei Jahre
angelegtes Forschungsprojekt, das mit Mitteln des
Bundeministeriums für Bildung und Forschung (BMBF)
gefördert wird und an dem neben zahlreichen Experten und
Organisationen auch mehrere Firmen der Metall- und ElektroIndustrie teilnehmen. Ziel des seit einem Jahr laufenden
Projekte ist es, Lösungen zu entwickeln, „die es Unternehmen
erlauben, ihre Produktionskapazität gemeinsam mit den
Mitarbeitern hochflexibel, kurzfristig und
unternehmensübergreifen zu steuern“. Natürlich gäbe es schon
viele Flexi-Modelle, räumen die beiden Wissenschaftler ein. „All
diese verbindet jedoch“, sagt Hämmerle, „dass sie einen hohen
Steuerungsaufwand erfordern und in der Regel nicht kurzfristig
reagieren können.“
Ist es bisher an der Tagesordnung, dass Teamleiter oder
Schichtführer oft recht mühsam mit allen Mitarbeitern
Schichtänderungen aushandeln, soll es künftig mit
Smartphones und Social-Media-Methoden einfacher, schneller
und vor allem dezentraler gehen. Die Voraussetzungen dafür
sind nicht schlecht. Schließlich gehört Social Media längst zum
Alltag vieler vor allem jüngerer Menschen und Smartphones
sind ebenfalls weit verbreitet. Die Vorteile dieser „zeitgemäßen
Herangehensweise“ liegen für die Fraunhofer-Experten auf der
Hand: „Wir erreichen die Mitarbeiter schneller, bekommen
genau die, deren Qualifizierung wir jeweils brauchen, verkürzen
dadurch die Reaktionszeiten und binden die Beschäftigten in
die Verteilung flexibler Arbeitseinsätze aktiv mit ein und damit
gleichzeitig in die Flexibilität des Unternehmens.“ Profitieren
würden beide Seiten: „Die Unternehmen werden
wettbewerbsfähiger und die Arbeitsplätze der Beschäftigten
damit sicherer.“
Eine besondere Bedeutung bekommt die Flexibilität im
Zusammenhang mit dem Thema Industrie 4.0. Die vierte
industrielle Revolution, wie sie auch genannt wird, sorgt dafür,
dass sich Produktionsprozesse weitgehend selbst organisieren
und steuern. Eine intelligente Vernetzung von Maschinen und
Steuerungen über das Internet soll es künftig möglich machen,
dass einhegende Aufträge notwendige Produktions-Kapazitäten
reservieren, Materialien ihren Transport und ihre Bearbeitung
steuern sowie Anlagen ihre Wartung selbst organisieren. Das
erfordert natürlich eine ganz andere Form des flexiblen
Mitarbeitereinsatzes.
Was sich auf den ersten Blick so schlüssig anhört, weckt jedoch
auch Ängste bei den Betroffenen. „Im ersten Jahr von
KapaflexCy“, so Gerlach, „war Überzeugungsarbeit für uns
daher die zentrale Aufgabe.“ Bei vielen Arbeitnehmern, fährt
Hämmerle fort, würde Flexibilisierung eher noch „als Element
zur Ausnutzung“ gesehen. Im Forschungsprojekt wird viel Wert
darauf gelegt, allen Beteiligten zu vermitteln, dass genau das
Gegenteil der Fall sein muss, wenn es funktionieren soll. „Es
gibt auch nicht eine Lösung für alle“, sagen die beiden
Wissenschaftler, „vielmehr müssen in jedem Unternehmen
Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter den individuellen
Bedarf erkennen und ein entsprechendes detailliertes
Regelwerk erstellen.“
Beim Thema Flexibilität geht es nach Ansicht der FraunhoferForscher längst nicht mehr ums Wollen, vielmehr sei das
schnelle Reagieren „künftig ein Muss“. Dies zeige auch die
jüngste Fraunhofer IAO-Studie „Produktionsarbeit der Zukunft –
Industrie 4.0“. Die weist nach, dass die Schwankungen der
Absatzmärkte in den letzten Jahren zugenommen haben.
„Zeiten mit geringem Auftragseingang wechseln fliegend mit
Zeiten der Vollauslastung, die bis an die Grenzen des
Machbaren heranreicht. Zudem sind Marktprognosen und die
Trendbestimmung für Unternehmen zunehmend schwerer und
mit sehr viel mehr Unsicherheit behaftet“, schreiben die
Wissenschaftler.
Für viele Unternehmen würde sich die Frage, ob sie flexibel
sein müssen, daher gar nicht mehr stellen. Entscheidend sei
vielmehr, „mit welchem Vorlauf und in welchen Zyklen die
Märkte schwanken“. Heute würden die meisten Unternehmen
noch im Wochen- oder Monatsraster planen, also mit
Vorlaufzeiten zwischen fünf und zwanzig Tagen. Das würde in
Zukunft deutlich kurzfristiger. „Der Trend geht in Richtung
Tages- oder sogar Stundenschwankungen, die kompensiert
werden müssen“, so die Studie.
Aber auch bei den Mitarbeitern kommt, trotz möglicher Ängste,
Flexibilität gut an. So haben bei der aktuellen
Beschäftigtenbefragung der IG Metall mehr als 75 Prozent der
Beschäftigten angegeben, dass sie gut mit Flexibilität umgehen
können und kein Problem damit haben. Allerdings ist Flexibilität
nicht zum Nulltarif zu bekommen. Gefordert wird ein Rahmen
zur Gestaltung und zur Kompensation der zukünftig steigenden
Flexibilitätsanforderungen, ähnlich wie Gerlach und Hämmerle
es im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt sehen.
KapaflexCy sorgt in diesem Zusammenhang jedenfalls jetzt
schon für reges Interesse in der Industrie. „Obwohl wir noch in
der Vorphase der konkreten praktischen Umsetzung sind“, so
Hämmerle, „bekommen wir zunehmend Anfragen von
Unternehmen. „Der Schicht-Doodle“, da ist sich Gerlach sicher,
„wird am Ende des Projektes ein erprobtes Instrument sein und
das Smartphone wird die Stechuhr schlagen.“
Ansprechpartner:
Fraunhofer IAO
Moritz Hämmerle
Tel: 0711 – 970 2284
[email protected]
Fotos zum Artikel
Schicht-Doodle mit dem Smartphone
Moritz Hämmerle (links) und Stefan
Gerlach in der Forschungswerkstatt
des Fraunhofer IAO
Das Smartphone als individueller
Arbeitszeit-Organisator
Fotos: Gesamtmetall/Pit Junker
Die Bilder können Sie als Farbfoto auf unserer Internet-Seite
(www.gesamtmetall.de, Pressestelle – Reportagen) herunterladen.
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